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Mit ruhiger Hand öffnete sie den Verschluss des Etuis. Unter der Silberlegierung pellte sich bereits die kupferfarbene Schicht hervor. Das Scharnier klickte leise als sie den Deckel zurückbog und sich ihr die zerzausten Köpfe der Zigarillos entgegenreckten, aufeinander gereiht wie Weinflaschen, stumm die Jahre abwartend. Geduldig. Zu starr. Zu geordnet.

Vorsichtig nahm sie eine nach der anderen heraus und rollte sie zärtlich und ganz sanft über das gebohnerte Holz des Tisches. Ein paar Tabakkrümel lösten sich und blieben an ihren Hemdsärmeln hängen. Jeden Montag ein paar Krümel mehr. Zigarillos waren anders als Wein, sie wurden nicht besser, wenn man sie fünfundvierzig Jahre in der Dunkelheit aufbewahrte. Aber sie hatte nie geraucht, und jeden Montag stellte sie aufs Neue fest, dass sie noch immer nicht so weit war damit zu beginnen. Und so harrten die Zigarillos geduldig der Zeit, waren zuerst ausgetrocknet, hatten dann Falten geworfen und zuletzt kleine Risse bekommen, aus denen nun der Tabak hevorquoll – fast so, als wollte er nachsehen, warum sie zögerte.

Sie ließ das Bier schwungvoll gen Rand schwappen, ehe sie ihre von der Zeit gefalteten Lippen ansetzte. Die Schaumkrone leckte an ihrer Oberlippe wie die Wellen am Rand des Ozeans. Sie war noch nie am Meer gewesen, aber immer wenn sie einen Schluck Bier trank und sich dann im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand betrachtete, den Kopf abschätzend hin und her drehend, war sie sich sicher, dass Bier und Ozean mit der gleichen ursprünglichen Eleganz an Rändern schwappten - an Glasrändern, Oberlippenrändern, Sandstrandrändern. Dem Schaum war es sicher egal, an welchen Rändern er schwappte. Und auch, ob er auf einem Bier oder auf dem Ozean ritt.

Sie trank in ruhigen Schlucken, vorsichtig nippend, als wolle sie lediglich einen zärtlichen Kuss loswerden. Schon ein paar Mal hatte sie versucht langsamer zu schlucken, die Flüssigkeit länger in der Speiseröhre zu halten, den Schluckreiz vielleicht sogar zu unterdrücken, aber es gelang nicht. Der goldene Ozean und seine Schaumkronen rannen rast- und zeitlos ihren Körper hinab wie eine kühle Meeresströmung.

Theo beobachtete sie durch den Spiegel, während seine Hände geübt die Reste von Meeresschaum aus den Gläsern wischten und sie mit einstudierter Geste zurück an ihren Platz über der Theke hängten. Als sich ihre Blicke trafen, musterte er sie einen Augenblick zu lange, ehe er die Augen niederschlug und dann zur Seite trat, aus ihrem Blickfeld heraus.

Sie wischte sich den Mund trocken. Seit Jahrzehnten kannten sie sich – montags, gegen acht, an diesem Tisch. Montags hatte sie das Gefühl, ihn zu kennen. Sie mochte ihn und bald würde sie ihn zu sich einladen. In ihr kleines grünes Holzhaus am Stadtrand, das versteckt in einem kleinen Waldstück lag, beschützt von den Bäumen, so dass die Farbe des Holzes noch immer von einem satten Ton war, dem die Sonne durch das dichte Blätterdach im Sommer nichts anhaben konnte. Im Winter waren ihre Strahlen zu schwach, da konnte man sogar ohne Angst vor Sonnenbrand in einem dicken Mantel im Liegestuhl liegen und auf den See blicken mit dem kleinen Bootsanleger, an dem ein kleines Holzboot wie eine Nussschale lag und sich geduldig vom Wind hin und herschaukeln ließ, als würde es in den Schlaf gewogen werden. Schaumkronen gab es dort nicht, aber auf dem Holzanleger konnte man wunderbar sitzen und rauchen, die Füße in das kühlende Nass getaucht – abends, an viel versprechenden Sommerabenden zum Beispiel, wenn die nahe gelegenen Berge den Sonnenuntergang hüteten wie ein Geheimnis, das sich lediglich durch die Rotfärbung der Bergketten verriet. Jack, der Hund, dessen Fell so braun war, dass er zwischen den Bäumen nicht zu sehen war, wenn er regungslos dasaß, wie nur er es konnte und mit einem wehmütig anmutenden Blick in die Ferne schaute, sprang gern einmal vom Bootsanleger mit einem riesigen Satz ins Wasser. Dann war er nass bis auf die Haut und sein dichtes Fell sog das Wasser auf wie ein Schwamm, so dass sie ihn zum Trocknen erst einmal ums Haus jagen musste, mit einem karierten Küchentuch bewaffnet und laut mit den Armen rudernd, als wäre sie auf hoher See. Er dachte jedes Mal, sie würde mit ihm spielen wollen.

Theo brachte ihren Rotwein. Sein Gesicht war regungslos. Er taute meist erst gegen Ende des Abends auf. Dann konnte sie das Zucken eines Lächelns um seine Mundwinkel erkennen. In Gedanken prostete sie ihm zu. „Bier auf Wein, das lass’ sein“ – sie hielt sich daran. Und irgendwie ging es ihr danach auch weniger schlecht. Solche Redensarten hatten einen Ursprung. Es war besser, sich daran zu halten, auch wenn man nicht genau wusste, warum. Vieles war überhaupt besser, wenn man nicht genau wusste, warum. Und wenn man vieles überhaupt gar nicht erst wusste, war es am Besten.

Rotwein schwang eleganter im Glas als Bier. Das stellte sie jeden Montag fest. Und mit jedem Glas sah man es deutlicher, so als würden die Augen sich erst einmal an das tiefe Rot des Weines gewöhnen müssen, um diesen feinen Unterschied erkennen zu können. Rot legte sich mit viel mehr Leidenschaft in die bauchigen Rundungen des Glases als Gelb. Sie hatte es ausprobiert, ein Bier im Rotweinglas bestellt und umgekehrt. An der Schwungfreundlichkeit der Gläser konnte es also nicht liegen. Aber daran, dass sie zuviel getrunken hatte, wie Theo scherzte. Jeden Montag. Da war es dann, sein Lächeln. Dieses warme Lächeln, das genauso schnell in ihrem Bauch verschwand wie Bier und Wein und dasselbe wohlige, warme Gefühl hervorrief.

Der letzte Schluck war getrunken. Sie schob den Stuhl zurück und versuchte nicht, ihn aufzufangen, als er hinter ihr auf den Boden fiel. Es bereitete ihr Mühe, die Zigarillos auf dem Tisch zu fassen zu kriegen. Ihre rauen, jetzt zittrigen Hände bekamen keinen Halt an der trockenen Oberfläche. Als endlich alle Zigarillos wieder im Etui steckten, schnippste sie mit dem Zeigefinger die noch hervorschauenden Köpfe in die Dunkelheit zurück. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schnalzte dann laut, so als müsste sie auch diesem Montag einen hörbaren Schlusspunkt setzen, ehe sie gehen konnte.

Sie glaubte, es im Etui rascheln zu hören, so wie jeden Montag. ‚Heute nicht’, wollte sie ihnen zuflüstern, ‚aber nächste Woche’. Doch sie schwieg. Sie wussten es ja – nächsten Montag, da würde sie es wagen. Dann würde sie das Etui mit der abgeplatzten Silberlegierung öffnen, mit besonders viel Liebe hineingreifen und ein Zigarillo herausziehen, mit den Fingern die Dellen und Risse glatt streichen, vorsichtig die losen Tabakkrümel wieder hinein schieben, ein Streichholz an seiner Schachtel entzünden und langsam an den kleinen, ausgefransten Kopf führen, es würde kurz knistern, kaum merklich, so lautlos wie alter, trockener Tabak eben knistert – und sie würde ihren ersten Zug nehmen. Nächsten Montag, da würde es klappen. Da würde sie das Rauchen beginnen. Und wenn sie es erst geschafft hatte zu rauchen, dann, ja dann brauchte sie auch einen Bootssteg, auf dem sie sitzen, rauchen und den Sonnenuntergang beobachten konnte, im Hintergrund ein kleines, grünes Haus, das so versteckt unter dem Blätterdach des Waldes lag, das es noch immer von einem satten Ton war, dem die Sonne im Sommer nichts anhaben konnte. Im Winter könnte sie dann in einem dicken Mantel im Liegestuhl liegen und auf den See blicken, auf dem ein kleines Boot wie eine Nussschale schwimmen und vom Wind in den Schlaf geschaukelt würde. Jack, der Hund mit dem braunen Fell, das ihn zwischen den Bäumen verschwinden ließ, wenn er regungslos dasaß, wie nur er es konnte und mit einem wehmütig anmutenden Blick in die Ferne schaute, würde wieder und wieder mit einem riesigen Satz vom Bootsanleger ins Wasser springen. Sie würde ihn zum Trocknen erstmal ums Haus jagen, mit einem karierten Küchentuch bewaffnet und laut mit den Armen rudernd, als wäre sie auf hoher See. Er würde jedes Mal denken, dass sie mit ihm spielen wollten – sie und Theo.

Sie hielt das kalte Etui in der tiefen Tasche ihres großen Mantels fest umklammert, als sie die Kneipe verließ – stumm, ohne sich umzublicken, aber wissend, dass Theo ihr nachlächelte. So wie er es immer tat. Immer montags, gegen acht.

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Texte: Coverphoto © Eva Bali

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