Cover

Die Druckerschwärze der Tageszeitung hinterließ Spuren auf meinen schweißnassen Händen. Die Buchstaben schienen sich in meine Haut pressen zu wollen und ich hatte das Gefühl, dass sie sich mir beinahe aufdrängen, ja noch mehr Aufmerksamkeit erlangen wollten.
Mein Artikel war auf Seite 1. Ich kam aus einer bekannten Journalisten-Familie. Meine Großmutter war Auslandskorrespondentin eines kleinen Fernsehsenders gewesen. Dort hatte sie meinen Großvater kennengelernt – einen Kriegsberichterstatter, dessen Stimme genauso unvergesslich war wie die Bilder, die er vor der Kamera dokumentierte. Er war mit Mitte fünfzig in eine Anstalt eingewiesen worden. Die Erlebnisse hatten ihn von innen wie kleine Parasiten zerfressen.
Mein Vater hatte es bis zum Chefredakteur einer lokalen Tageszeitung gebracht bevor er sich in meine Mutter verliebte – die Frau, die sich um seinen Posten bewarb als er nach Höherem strebte und die Zeitung verlassen wollte. Meine beiden älteren Schwestern waren ebenfalls Journalistinnen. Nur mein Bruder fiel aus dem Rahmen dieses journalistischen Familienportraits. Er war drogensüchtig und saß seit einem Jahr wegen Drogenhandels im Gefängnis.

Worte waren der Lebensinhalt meiner Familie. Um sie hatte sich alles gedreht. Das gesprochene, das geschriebene und das bildhafte Wort. Wir hatten viel gesprochen – miteinander, voneinander und übereinander. Über die Welt, das Leben in ihr. Über Ängste und Träume und richtig und falsch. Ja, besonders darüber. Moral war ein wichtiges Wort in der Sammlung all jener Worte, die von uns benutzt, missbraucht oder neu geschaffen worden waren. „Journalisten benutzen die Sprache und es ist ihre Aufgabe, sie zu pflegen, damit auch noch andere sie verwenden können.“ Das waren die Worte meines Vaters, eines wirklich erfahrenen Journalisten. Ich musste lächeln, während meine Finger über das raue Papier mit dem Artikel strichen. Wie viele Mitglieder unserer Familie hatten es auf die erste Seite dieser größten Tageszeitung der Stadt geschafft? Ein oder zwei vielleicht. Und hier saß nun ich, auf steinigen, kalten Treppenstufen und dachte an diesen wahren Ausspruch meines Vaters, in den Händen meinen Seite 1-Artikel, der die Lebensgeschichte einer jungen Frau erzählt, die statt Worten ihre Hände benutzte und einen Menschen umbrachte. Die falsche Zeit, der falsche Ort, die falschen Freunde und die falsche Entscheidung. Eine lebenslange Entscheidung.

Ich zerknüllte die Zeitung. Ich wünschte, ich hätte die Chance, diese traurige Geschichte noch einmal neu schreiben zu können.
Ich wünschte, der Artikel wäre von

mir und nicht über

mich.

Impressum

Texte: Coverphoto Marianne Moosherr
Tag der Veröffentlichung: 28.12.2008

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