"Nachts spazierten wir da als Familie. Die Temperaturen waren erträglicher als am Tag oder in der Innenstadt. Man sah den wunderschönen, goldenen Schrein sich auch in der Wasseranlage spiegeln, oben die silbernen und weißen Sterne", erklärte er.
Jetzt war es Mittag und der freie Reporter befand sich in der Nordstadt der deutschen Großstadt in einem kleinen, indischen Restaurant nahe einer Strassenbahnstation und hörte das Gespräch zwischen dem Restaurantinhaber, einem Sikh und Gast. Einer der Köche bereitete Garlic Naan zu, es roch bald nach im Ofen gebackenem Brot und Knoblauch und wohliger Wärme.
Der Restaurantinhaber, ein Mann etwa 50-jährig, vollbartig, mit Turban, am Handgelenk ein silberner Reif, sprach über die Speisung in Amritsar und gegenüber ihm am Tresen der deutsche Gast.
Es sei notwendig und eine unerlässliche Pflicht gegenüber den Schwächeren....
"Ich war im vergangenen September da. Da kochen sie jeden Tag für Tausende Menschen, auch für Leute, die sich das nicht leisten können", erklärte der Inhaber.
"Sie meinen Amritsar?"
"Amritsar im Punjab, ja natürlich."
Das regelmäßige, kostenfreie Speisen von zig Tausenden Hungernden, Armen und Bedürftigen sei ein Akt der Nächstenliebe und Solidarität mit den Armen der Gesellschaft. So gelte es in Amritsar seit den ersten Tagen als eine selbstverständliche, segensreiche Tat der Mitmenschlichkeit, hörte er ...
Es waren Sikhs und er mochte das Essen des familiengeführten Restaurants in der Nordstadt, ihre sehr freundliche, ungespielt freundliche Art, und während ein Kellner das Onion Naan und Boondi Raita mit an den kleinen Tisch brachte, erzählte der Chef am Tesen von der Speisung der Armen in Amritsar und das Guru Nanak, der Begründer der Religion, es derart wollte, Fleiß, wirtschaftlicher Ehrgeiz und die Speisung der Bedürftigen und im Schartten und Schwierigen befindlichen, gehörte zu den heilvollen, bedeutenden Pflichten eines guten Gläubigen.
Man hörte Guru Nanak Musik im Laden, in der der gerechte, würdevolle Weg gepriesen wurde
Bald probierte er mit der Gabel vom Joghurt und dem gebratenen Kichererbsenmehl des Boondi Raita. Dann biss er vom Onion Naan ab und dippte das Zwiebelbrot in die dazugestellte kühl und frisch schmeckende Minz Sauce und aß weiter davon.
Drinnen war es klein, jedoch mit neuen Tischen, Stühlen und modern eingerichtet. Es roch jetzt nach Brot, Gewürzen und auch gebratenem Fleisch.
Er blickte aus dem Fenster zur Straßenbahnstation. Die Fassade war heruntergekommen. Ein Teil der Bauanlage war von einem Unternehmen für Erdarbeiten und Abrissarbeiten bereits abgetragen worden. Über der Baustelle flatterten Tauben. Hinter der Baustelle hielten sich Raben auf einem kleinen, brachen Feld mit Schutt und Abfällen. Davor eine alte Frau, die in einen verdreckten Mülleimer griff und hoffte Pfandflaschen zu ergattern inmitten des über den Rand des Metalleimers quillenden Abfalls...
Leute gingen am indischen Schnellrestaurant vorüber zur Strassenbahnstation...
Bald dachte er an Peter S., und an dessen Klage vor dem Verwaltungsgericht. Früher hatte er als KFZ Meister in Feldmanns Autohaus abgegebene Autos inspiziert, die Reparaturarbeiten des Teams koordiniert und geleitet. Er war ein ehemaliger Mieter im Nachbarhaus gewesen. Es schien so weit zurück.
Am Morgen hatte er für einen Bericht die Obdachlosenunterkunft, nördlich des Bahnhofs, am Industriegebiet gelegen, aufgesucht und im Zimmer 217 mit dem vor Monaten wohnungslos gewordenen Mann gesprochen. Der nun vor Gericht zog....
Der dünne, hochgewachsen Mann hielt mit unruhiger Hand die Zigarette, er war ermatteten, blasses Gesichtes, in der anderen Hand das Schreiben der städtischen Behörde. Er war ängstlichen Blickes und ungewiss der kommenden Wochen und Monate und Zukunft, immer wieder hob er und zeigte er auf das Schreiben jener Leute, die sicher, standfest, überlegen schienen und ebenso auch ganz unverschämt in dieser Sache waren, und hörte dessen Worte noch.
"Ich konnte mir keinen neuen Mantel leisten, musste vom Schnaps und dem Dreck und Leid der Hinterhöfe wegkommen. Es war was der Hölle! Verdreckt, schmutzig. Ich hatte alles verloren, aber war dann wirklich, vielleicht auch mit Gottes Hilfe, von der Straße wenigstens weggekommen ... Aber mit dem schamlos hoch gedrückten und zu sofort eingeforderten Gebührengeld, könnte ich wieder auf die Straße kommen. Aber diesmal dann nicht mehr von der harten Straße zurückkommen."
Unter Zeitungspapier, im Regen, im Dreck schlief er für einige Zeit, erklärte er. Er erlebte die Obdachlosigkeit an unglaublich heißen Julitagen bei 41 Grad und unter Sternennächten und schweren, eisigen Regennächten.
Er kämpfte gegen die Härte und das Leben auf der Straße und zog vor Gericht gegen die Stadtverwaltung wegen der schamlosen, hohen Beitragssätze für einen wohnungslos gewordenen ...
Seine Worte im Ohr:
"Ich musste vom Dreck und Leid der Hinterhöfe wegkommen, es war was der Hölle."
In einem kargen Zimmer mit Spind und Metallbett sprach er mit dem Mann.
Peter S., dieser Gefallene, war wegen Alkoholexzessen und der Alkoholsucht auf die Straße geraten. Die Miete konnte er nicht mehr zahlen. Später wurde er in eine Unterkunft für Obdachlose unterwiesen.
Im Zimmer roch es nach ungewaschenen Kleidern, Zigaretten.
"Ich lebte mehrere Monate in Zimmer 217 dieses Gebäudes wie am Ende der Welt gelegen. Es war ehemals eine Kaserne der Briten. Aber zum Glück habe ich den Entzug vom scheiß Mariacron und Schnaps geschafft und bezog vor Tagen eine eigene, kleine, für den Neustart wirklich gute Wohnung", klangen dessen Worte nach.
In jenem abgelegenen Zmmer holte er seine letzten Kleidungsstücke ab: Vier Tüten mit Hosen, Socken, einen von der Nässe, den Nächten und Dreck der Strasse geschundenen Mantel und Schuhe...
"Aber wegen des Aufenthalts in diesem armseligen Zimmer, bin ich jetzt mit dem Anwalt, dem Javier Dias, gegen die Stadt vor das Verwaltungsgericht gezogen."
Er sprach von einem Gängelband, einer Repression und unglaublichen Vorgehensweise der Stadt. Einen Gefallenen würden sie mit der gewissenlosen, verbrecherischen Forderung wieder zu Boden und auf die Straße zwingen.
Wie ein Messerhieb fühlte es sich an. Die Nachricht erwischte ihn wie ein Steinschlag, riss wieder einen widerlichen, gefährlichen Abgrund auf, die Erde unter ihm auf..
Unter Zeitungspapier, im Regen, im Dreck schlief er doch für viele Monate ...
Beim Anziehen seines Mantels und Verschließen des Spindes, ehe er sich wieder an den leeren Tisch setzte, sagte er:
"Die Obdachlosen werden angespuckt und geschlagen. Ich sah letztens Marvin, einen Obdachlosen, der letztes Wochenende angegriffen und mit gebrochenem Arm ins Krankenhaus gebracht wurde", erklärte er am Metallspind.
"Es ist ein Unding, die Gewerkschaften verteidigen die Arbeiter in den guten Betrieben", sagte er ihm. "Die Eliten in der Politik machen alles für die Oberschicht und den Mittelstand. Aber wer kämpt für die Obdachlosen und diese Getretenen auf der Straße und in den Hinterhöfen? Und jetzt diese unglaubliche Forderung..."
Kurz stützte er sich am Holzstuhl ab.
"Haben die überhaupt kein Anstand, kein Schamgefühl?!
Die wollen über 5000 Euro von mir an Wohnkosten. Das alles, weil die ihre Beitragssätze innerhalb kürzester Zeit in unverschämter Weise hochgeschraubt haben, ohne vorab darüber die Betroffenen in Kenntnis zu setzen", erklärte er im kalten, schattigen, nach Zigaretten riechenden Zimmer.
"Sie hatten auf einmal ohne Vorankündigung die Beitragssätze auf über 511 Euro monatlich gesetzt. Wie sollen Menschen auf der Straße, so wie ich, die nicht arbeiten konnten, eine verflucht schwere Sucht hatten, keine Wohnung, und gefallen sind, das schaffen? Schämen die sich nicht, diese Schweinehunde?!"
Der ehemalige Trinker, Alkoholsüchtige, Gefallene sollte für seinen zehn Monate währenden Aufenthalt im Obdachlosenheim, im Obdachlosenheim, im Obdachlosenheim, um der Straße und Gewalt zu entkommen, den Hinterhöfen, Bordsteinen, U-Bahn Hallen, den Drogen, dem harten Schnaps und gefährlichen Situationen unter Sternen und verfinsterten Nächten, um dem Tod zu entkommen, über 5000 Euro an die Stadt zahlen.
Monatlich über 511 Euro. Obgleich er sich kein besseres Hemd, keine besseren Tage leisten konnte. Von der Beitragsänderung hatte er erst mit dem amtlichen Schreiben erfahren.. Wie konnten sie so eine Gesetzesänderung gegen die Abgedrängten und Angespuckten dieses Landes veranlassen, hörte er noch dessen Anklage.
"Dagegen gehe ich jetzt mit dem Dias vor. Ein guter Anwalt mit Herz, guter Arbeit und Rückgrat", erklärte er. "Denn es gab doch für alle die gleichen Kosten für diese Unterkunft. Mit der so kurzfristig geschaffenen Gebührenerhebung der Stadt verstoßen sie gegen das Gleichbehandlungsgesetz. Das sind menschenverachtende Beschlüsse, die man nicht akzeptieren darf'", sagte er.
"Ich werde es nicht akzeptieren."
Er hörte wieder die Sikh Musik mit der Sitar.
Bald dippte er das Onion Naan wieder in die frische Minze Sauce und aß das Zwiebelbrot ganz auf, ehe er vom Kellner hörte, der es bemerkt hatte:
"Das Malai Kofta Gericht bringen wir Ihnen gleich."
"Danke."
Der freie Journalist nickte, lächelte, wischt seinen Mund mit der gelben Serviette ab und lauschte der indischen Punjab Musik. Von der Straßenbahnstation und vor der Baustelle her kam ein Gast hinein, bestellte und ging vor das Geschäft, wo er eine Zigarette ansteckte.
Weiter lief die indische Musik.
Am frühen Morgen fuhr er über eine Schnellstraße etwa 30 Minuten hinaus aus der Stadt, parkte dann an einer Bucht an einem Eichenwald.
Von dort schritt er dann noch einige Minuten ehe er das Strassenschild und eingezäunte Gelände und Gebäude erblickte. Nur der Himmel glänzte, blau, die Sonne, golden über der Anlage und der ganzen Region, Stadt, den Behörden und Erde, prachtvoll, unberührt, mit Antlitz.
Er sollte das Leben genießen und mehr daraus machen und nach vorne schauen. Stattdessen kämpfte er gegen das sich auf der Straße verlieren.
Er hatte hatte nichts und niemanden. Aber die Stadtverwaltung will von diesem schon einmal ausgeknockten Mann trotzdem ne Menge abnehmen, während Reiche in der Gesellschaft immer reicher wurden, es kein weiteres Anheben der Reichensteuer gab. Sie lachen über die Armen und auf der Straße Gelandeten und packen die dicken, aufquellenden Geldbörsen der Reichen nicht an.
Wo ist die Solidarität mit den hart Getroffenen im europäischen Deutschland, das er sonst liebte, dachte er. Wo ist da die notwendige Solidarität und Menschlichkeit?
Wäre das Tragen dieser Gebühren von 331 Obdachlosen in der Unterkunft dieser deutschen Stadt, im Jahr 2022, nicht durch die Mehrheitsgesellschaft möglich?
Das wäre gerechtfertigt und solidarisch.
Statt dem Hohn gegenüber einem auf Bordsteinen schlafenden, in die Wohnungslosigkeit Gefallenen Einem Getretenen, dem das Geld für eine saubere Hose, für Zigaretten und einen neuen Mantel gegen den Regen und eisernen Wind fehlte.
Zunächst war er wegen Alkoholexzessen und der Sucht auf der Straße gelandet.
Seit Jahren trank er.
"Die Wohnungsgesellschaft hatte mir wegen drei nicht gezahlten Mieten die 2-Zimmer-Erdgeschosswohnung gekündigt und mit meinem Suffkopf flog ich so aus der guten Bleibe in der Fritz Reuter Straße", erklärte er ihm.
Davor hatte er seine Vollzeitstelle in Feldmanns KFZ Werkstatt verloren und folgende mehrere Helferjobs, die Frau war 4 Jahre zuvor ausgezogen.
So wurde er wohnungslos und hatte ihn Monate später ein Sozialarbeiter in jene Unterkunft für Obdachlose in der Bödeckerstrasse untergebracht.
Er blickte zum Kellner, der dem wieder hinein gekommenen Kunden das Essen in zwei Tüten am Tresen übergab und hinüberging zur Kasse, wo er den Rechnungsbon ausdruckte und restliches Münzgeld zum 50 Euro Schein zurückgab. Der Kunde ging zur Tür hinaus zur Straßenbahnstation.
Der ehemalige Werkstattmitarbeiter lebte 10 Monate und 17 Tage im Obdachlosenheim, schaffte es vom Alkohol wegzukommen und bezog eine eigene, kleine Wohnung in der Nordstadt. Jetzt plagten ihn die Sorge der Zahlung dieser hohen Forderung. Wegen dieses Aufenthaltes geriet er in weitere Probleme....
Er mochte Deutschland, aber er verstand so etwas nicht. Dann dachte an den goldenen Schrein in Amritsar, die steten Speisungen Tausender...
Wie konnte das eine moderne, demokratische, sozial starke Gesellschaft zulassen?
Hoffentlich gewinnt er den Gerichtsfall, dachte er bald für sich.
Für eine EU-Nation und starke Wirtschaftsnation wie Deutschland war es unwürdig.
Es vergingen zwei, drei Minuten...
Wieder trank er vom Mango Lhassi.
Plötzlich tauchte ein Kindheitsbild auf:
Sie waren mit einer Gruppe von sieben Spielern auf dem Weg zum Basketballplatz am Geschwister Scholl Jugendhaus, und hatten zwei Straßenzüge davor an einem Kiosk gehalten. Auch Peter S. stand da, mit einer Schnapsflasche, betrunken, mit ihm ein weiterer besoffener Kumpane.
Wie Comanchen umringten sie dann beide johlend, pfiffen und langten hin und wieder lachend nach den Flachmännern und Bierflaschen auf dem Stehtisch und in deren Händen, sprangen wieder zurück, tanzten und heulten in Comanchen Art.
Im Gewimmel der Gruppe schrie Peter S dann nach Frank W., einem vermeintlichen Schwarzgurt im Jiu-Jitsu und Judoka, ehe sie lachend abließen und zum Streetballplatz weiter gingen...
Im Laden ertönte wieder die kurz ausgestellte Sikh Musik. Bald aß er vom servierten Malai Kofta, den Bällchen aus Kartoffeln, Käse und Nüssen, in Sahne-Currysauce und riss ein Stück vom Onion Naan ab und probierte es mit dem Minzdip, während weitere Gäste hineinkamen. Etwa 10 Minuten später verließ er das kleine Restaurant in Richtung Straßenbahn.
Den Bericht zum eröffneten Gerichtsprozess des Peter S. gegen die von der Stadt erhobenen immensen Gebühren nach dessen Aufenthalt im Obdachlosenheim wollte er noch bis zum folgenden Morgengrauen fertig schreiben und per Mail an den Lokalredakteur der städtischen Tageszeitung zusenden...
von Deniz Civan Kacan
Texte: Deniz Civan Kacan
Tag der Veröffentlichung: 15.07.2023
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