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Bei einer Anwältin

 

 

Er vernahm aus dem Büro der Rechtsanwältin die Stimme der Sekretärin, die im Empfangsbereich mit einem anderen Mandanten telefonierte. Dann blickte er von der hohen, angelehnten Tür zum Schreibtisch der Anwältin für Strafrecht. Es war ein mittelgroßes, hohes Anwaltsbüro. An den Wänden prangten Fotos des brasilianischen Fotografen Sebastian Salgado und von Dali, die wie Bildnisse,  andere  Formen des Fegefeuers wirkten.


Der Mann mit dem stämmigen, hochgewachsenen Profil eines Boxers, er war 1,97 Meter groß und dem rasierten Gesicht nahm Platz am Schreibtisch und blickte im Anwaltsbüro umher. Er musterte die gegenüberliegende Bibliothekswand und einen Tisch mit weiteren Stapeln von Akten und blickte zu einem Bild Dalis neben dem Fenster mit einem rippendürren, ausgehungerten Pferd, wie in einem unendlichen Ozean versinkend und auf ein vergrößertes Foto Salgados, auf dem ein Feuerwehrmann vor mehreren in Flammen stehenden Ölfeldern und einem schwarzschwarzen, bedrohlichen Himmel steht.

 

Dann flog sein Blick zu einem Foto Salgados mit einer abgelichteten Goldmine, in der die Menschen wie auf einem Vulkan oder eher nahe der Hölle und der Verdammnis scheinen, als einem Eldorado, ausgemergelt, ausgebeutet. Einem weit über die Erde läutenden Traum von einem einfacheren, bessergestellten, würdevolleren Morgen, dem sie wohl wie eine Herde voller Träumer und Irrer folgten und dabei der Armut und Chancenlosigkeit ihrer Schicht entfliehen wollten, ehrgeizig, ausgezehrt, wohl noch immer chancenlos.

Durch den Türspalt flogen Sätze der Sekretärin, die weiter mit jemandem telefonierte.

Bald schritt die Anwältin hinein und schloss die hohe Tür. Sie begrüßten sich und sie blickte bald über die juristischen Bücher auf dem Schreibtisch zum Mandanten. Sie gebot ihm etwas zu trinken von dem Kaffee und Wasser auf dem Tablett vor ihm links auf dem breiten Schreibtisch.

Dann blätterte sie in dem Aktenordner zum Gerichtsfall mit der Anklage der räuberischen Erpressung. Er nahm einige Schlücke vom schwarzen Kaffee. Die Tasse stellte er wieder ab.

Er trug eine Glatze, hatte ein helles, ein mazedonisch oder kroatisch aussehendes, nun auch ermattet und ernst schauendes Gesicht.

Seine Blicke flogen bald von den Fotos Salgados wieder zur Anwältin, die sich zunächst nach dessen derzeitigen Lebenssituation, dem Wohnort, der Befindlichkeit erkundigte und dann die kurzzeitig abgenommene, schwarzgerahmte Brille mit der rechten Hand wieder aufsetzte. Sie hatte einen energischen Ausdruck im Gesicht, in den Augen, im Kinn. Eine Frau mit klarem Profil, attraktiv, eine wohl auch kämpferische Rhetorikerin und Verteidigerin.

Dann begann sie mit ihren ersten Fragen zum behandelten Gerichtsfall:


"Sagen Sie, wann und wo wurde die Festnahme durchgeführt und brachte die Polizei sie zur Polizeistation an der Bremer Straße?"

"Etwa um 14. 50 Uhr", erwiderte er.

"Die Festnahme erfolgte in ihrer Wohnung?"

"Nein, in der Nähe der ehemaligen britischen Barracks Kaserne."

Er stellte die kurz zuvor aufgenommene Kaffeetasse wieder ab.

"Nahe der ehemaligen Barracks Kaserne stoppten mich zwei Streifenwagen und drei oder vier Polizisten, darunter eine Polizistin."

Sie notierte es.

"War die räuberische Erpressung schon länger geplant? Hatten Sie es vorbereitet?", fragte sie dann nach kurzer Pause.

"Nein, ich hatte es nicht geplant."

"Sie hatten die räuberische Erpressung nicht geplant?", wiederholte sie.

"Ich hatte es nicht geplant, wirklich nicht."

 

"Sie haben jemanden überfallen und dem Opfer dabei 30 000 Euro abnehmen wollen und sagen, es war nicht geplant."

Er wiederholte es.

"Sie haben einen Arzt aus Frankfurt überfallen und dabei 30 000 Euro abnehmen wollen, der dem Bild nach dem berühmten Arzt Albert Schweitzer ähnlich sieht. Doch derzeit zur Unterstützung der Völker eine Poliklinik in der dort proklamierten Föderation Nord - und Osttsyrien mit errichtet."

Der Andere zeigte in seiner Mimik ein Zug des Bedauerns, aber schien es ebenso überhören zu wollen als mochte er jene politische, humanitäre Dimension des Opfers nicht und wartete die nächste Frage ab.


"Sie waren bewaffnet. Hatten Sie die Waffe bei dem Treffen bezüglich des Bootes gezogen?"

"Ja, ich war bewaffnet und hatte sie gezogen. Aber es war eine Gaspistole, keine scharfe Waffe. Und die Waffe hatte ich zur Selbstverteidigung dabei, falls mein Gegenüber bei der Bootsbesichtigung irgendwas Dummes geplant hätte zur Einschüchterung."

Die Anwältin griff wieder zum Kugelschreiber und notierte etwas auf dem Schreibblock auf dem Aktenordner.

 

Hinter ihr gab es an der Wand Fotografien des Brasilianers Sebastian Salgado und Salvador Dalis und er blickte von den Bildern und der erweiterten Bibliothekswand links daneben mit juristischen Büchern und Rechtsmagazinen und aufgestellten Urlaubsbildern wieder zur Anwältin. Sie war etwa 37 Jahre alt, hatte braune Haare, ein kräftiges Kinn und war von mittelgroßer Statur.

Seit etwa 5 Jahren führte sie in diesem Stadtteil die Anwaltskanzlei mit den Schwerpunkten Strafrecht, Ausländerrecht. In der Stadt bereits bekannt als kämpferische, erfolgreiche Strafverteidigerin. 

Eine kurze Haft hatte er bereits erlebt, aber war dann entlassen worden und wohnte bei den Eltern im Dachgeschoss.

Es bestünde keine Fluchtgefahr. Er hatte zuletzt in einer Autoverleihfirma gearbeitet, wo er im Fuhrpark Wartungen durchführte und Autos in ganz Deutschland zustellte, doch der Arbeitsvertrag war nicht verlängert worden. Das lag drei Monate zurück. Dieser Vorfall hatte sich wie in einem unseligen Rausch ereignet, dachte er.

Und mit der Juristin konnte er wohl nun eine bessere Verteidigungsstrategie wegen der gegen ihn seitens des Amtsgerichts erhobenen Anklage der räuberischen Erpressung schaffen.

 

"Es gibt kein Faustrecht, kein Recht zur Gewalt in diesem Land", sagte sie.

Er nickte und blickte zum Fenster und dann wieder zu ihr.

 

Nach einer Weile erklärte er weiter:

"Es passierte nach einer kleinen Feier. Es gibt auch diese merkwürdigen Tage im Leben. Wir hatten mit einem Partner am Abend davor eine Fahrt nach Belgien wegen einiger Geschäftsfahrten geplant. Eigentlich hätte ich einfach diesen Tag mit dem Stadionbesuch und einem Champions League Abend verbringen sollen, aber es verlief dann alles unkontrolliert."


"Von welchen Geschäften sprechen Sie?"

Sie fragte ihn dreimal.

Er ging nicht darauf ein.

"Ich entnehme ihrer Akte, dass sie im vergangenen Jahr zu einer Gerichtsverhandlung wegen des Vorwurfs des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz vorgeladen wurden, aber nicht schuldig gesprochen wurden. Es hängt wohl damit zusammen."

Er nickte, aber wollte nicht weiter darauf eingehen. Hoffentlich wird es dennoch alles für eine gute Verteidigung ausreichen, dachte er 

 

Die Anwältin nahm kurz die Brille ab. 


"Aber in dieser Angelegenheit klären Sie auf zur bestmöglichen Verteidigung."

"Das werde ich", sagte er lächelnd.

"Sie hatten den Kaufinteressenten wegen des Verkaufs des Fischerbootes im Hafen des Kanals kontaktiert. Über welche Wege geschah das? Über ein Gebrauchtbootportal im Internet?"

"Ja."

"Und danach?"
"Hätte ich ihn betrügen wollen, hätte ich ihm falsche Ausweiskopien, falsche Bilder gezeigt und nicht die echten Bilder des Fischerbootes, dass einem Bekannten, einem Unternehmer, einem Inhaber einer Versicherungsagentur gehört. Damit fischte er oft vor der Küste Dänemarks, Frankreichs und Norwegens. Ich erklärte mich bereit, es für ihn zu vermitteln. Er war zu der Zeit in Südamerika zu einer Geschäftsreise unterwegs und ich sollte es dem Doktor aus Frankfurt zeigen."

Die Anwältin griff den zuvor weggelegten Kugelschreiber wieder vom Schreibblock auf der Akte auf.

"Um welches Fischerboot Modell handelt es sich?", fragte sie dann.

"Um das Modell Starfischer 840 CC. Es ist ein wirklich schönes Modell, wissen Sie, mit einer Kabine, beinahe 8 Meter lang. Diesel betrieben und mit einem Volvo Motor ausgestattet. Mit über 1000 Motorstunden."

"Es wurde als Gebrauchtboot angeboten?"

"Ja."

"Wie heißt der Bekannte und Eigentümer des Bootes?"

"Das werde ich dem Richter dann schon sagen und ihnen vorher auch noch."

"Okay."

Sie schrieb, wohl dazu, eine Notiz auf ein Blatt auf dem aufgeschlagenen Aktenordner.

"Wir sprachen dann per WhatsApp den Treffpunkt und Zeitpunkt aus. Die echten Papiere zum Starfischer Boot, eine Vollmacht zum Verkauf hatte ich bei mir und bei Gefallen des Bootes sollte der Doktor mir dann schon etwas des Geldes überreichen."

Die Anwältin blickte wieder über den Schreibtisch zu ihm.

"Der Doktor schrieb mich an, bezeugte sein Interesse für das Fischerboot und wollte mit 30. 000 Euro zum Parkplatz nahe der Barracks Kaserne kommen. Von da aus wollten wir zusammen zum Hafen und ich ihm das Boot zeigen."

"Ja."

"Ich sagte ihm, nachdem er ankam und wir im Wagen saßen, dass das Boot schon etwas Großartiges sei, perfekt, um in der weiten Welt herumzureisen, dabei zu fischen und Abenteuer in der Welt zu erleben. Aber im Hafen befand sich auch eine Yacht eines Bekannten, die bereits für eine Nacht bei gezahlten etwa 20 000 Euro auch bereits in St. Tropez in Südfrankreich anlag, und wo man auch die Wonder Woman Gal Gadot auf einer der Yachten nebenan treffen würde, oder Bruce Willis, Alain Delon, Boban, Davor Suker, Lenox Lewis, Deschamps, der ehemalige Weltmeistertrainer Frankreichs und General, nebenan gegessen hätten."

Die Anwältin schmunzelte.

"Aber es blieb bei dem auch sehr gut erhaltenen Fischerboot und dann stellt er weitere Fragen zum Baujahr, zum Halter, Motor, zum Frischwassertank, Brennstofftank, zu Mängeln und technischen Details", erklärte er und trank bald etwas vom Wasser.

Am angelehnten Fenster hörte man das Wirbeln des Windes.

Bald fuhr er fort: Das Opfer, der Arzt aus Frankfurt, etwa 55 Jahre alt, erzählte ihm während der Fahrt zum Hafen von einem Auslandsaufenthalt in einem Kriegsgebiet, der Notwendigkeit der medizinischen Hilfe, dann von der Behandlung einer Morbus-Crohn Patientin in jenen Tagen und von einem Patienten, der sich wegen eines Sportunfalls einer Operation unterziehen musste. Ein ehemaliger Boxer, der ein Trommelfellriss erlitt wie der US-Amerikaner Deontay Wilder im Schwergewichtsweltmeisterschaftskampf gegen den Iren Tyson Fury, er hörte ihm zu und wartete wie in lauernder Stellung eines Schützen oder Jaguars, der im hohen Schilf einen Hirsch oder Affen oder Lamm erspähte und sehr nah herangeschlichen war, den richtigen Moment ab.

"Wann geriet es außer Kontrolle?"

"Als ich mit dem Doktor etwa 2 Kilometer vor dem Hafen war, zeigte er mir schon das Geld in einer kleinen Reisetasche, in einem roten Lederbeutel. Sie wissen schon, so wie ihn manche Unternehmer nutzen, die damit ihre Wocheneinnahmen bei der Bank einzahlen. Ein Arzt aus Frankfurt direkt oder aus dem Umland Frankfurts. Dann zog ich die Waffe und nahm ihm das ganze Geld ab. Dann ließ ich den Arzt an einer Kreuzung raus, die zum Land hinführt und unbewohnt war."

"Sie haben davon gesprochen, dass all das zuvor nicht geplant und beabsichtigt war."

"Es war nicht geplant."

 

Er erzählte der Juristin, dass er etwa 30 Minuten, ehe er den Kaufinteressenten und Geschädigten aus Frankfurt traf, das Kokain konsumierte.


"Sie hatten das Rauschmittel unmittelbar vor dem Treffen zu sich genommen."

"Ja."

"Sie hatten es kurz davor eingenommen", wollte sie sicher festhalten.

"Ja, etwa 30 Minuten vorher."

 

"Später rief er die Polizei an, die sie dann verhaftete. Die Verhaftung war gegen 14. 50 Uhr sagten sie. Und vorher schrieben sie noch einmal den Arzt an per WhatsApp und wollten eine Vereinbarung mit ihm treffen."

"Ja."

 

Er versuchte der Anwältin plausibel und verständlich zu machen, dass es wegen des Kokains zu der Affekthandlung gekommen sei und er das nicht geplant habe.


Sie sagte ihm, dass dies für die Verteidigung und Verhandlung wichtig sei, denn es gab schon seltsame Folgeaktionen: Etwa 10 Minuten nach der räuberischen Erpressung hatte er, so erzählte er der Anwältin ebenso, jenen Doktor aus Frankfurt angerufen und ihm gesagt, dass es ihm sehr leidtäte. Er könne 10 000 Euro der abgeknöpften 30 000 Euro zurückerhalten, aber dürfte es nicht der Polizei melden, da er ihn sonst killen würde.

Die Rechtsanwältin wollte darauf eingehen, als die Sekretärin kurz anrief und die Rechtsanwältin hinausschritt.

Am Fenster hörte man wieder das Heulen und Wirbeln des Windes.

 

Vielleicht gab es in meinem Fall einige Entwicklungen, dachte er dabei. Aber es ist wirklich schwierig. Es drohte der Himmel zu zerbrechen, wie unter heftigen, unentrinnbaren Schlägen des Schicksals oder Richtenden oder eines boshaften Schmieds.

Er erinnerte sich an frühere Delikte, wo er mit den Partnern unter anderem in einer Nacht ein Großhandelslager leerräumte mit erbeuteten Zigarettenstangen, teuren schottischen Whiskey Flaschen und Tabakdosen, neben einem kleinen Briefumschlag eines Tresors, mit einem Wert von knapp 15 000 Euro. Beim fünften Versuch hatten sie das Bürofenster aufhebeln können, waren dann Herr der Lage. Die Beute war herrlich. Niemand hatte sie inhaftiert. Sie rauchten später und tranken wie im Rausch den sehr teuren schottischen und irischen Whiskey. Es fanden sich später etliche Käufer im Viertel und mit einem bekannten Kroaten in Münster.

Er war in jenen Tagen zufrieden mit jenem Leben, wenngleich ihn der ältere Cousin, der im Notfalldienst eines Krankenhauses arbeitete, etliche Male zu Demonstrationen und Veranstaltungen der Bürgerrechtsbewegung einlud, wo sie sich wie auf dem Pfade Che Guevaras, Ghandis, Eamon de Vallera oder anderer heroischer Revolutionäre und Rebellen gegen Ungerechtigkeiten in der Welt, gegen Armut, Ausbeutung, Rassismus und Kriege stellten, und er auf den besseren Pfad kommen sollte, aber er hörte nicht darauf.

 

Er erinnerte sich auch, wie der Arzt ihm vom Projekt für Basisdemokratie, Gleichheit in Nordsyrien erzählte, die Kämpfer kämpften in Rojava wie einst die irischen Freiheitskämpfer Michael Collins und Eamon de Valera in Bataillonen oder Mandela in Johannesburg gegen Faschismus, Barbarei, Unterdrückung, Unrecht in der Welt und für eine dann folgende rechtliche, politische, vertragliche Absicherung ihrer Errungenschaften, das unterstützte jener Arzt auch in Frankfurt. 

 

Es war wohl ein anderer Weg für ihn bestimmt. In jenen Tagen konnte er nicht viel damit anfangen.

Seine Eltern hatten einige Tage in Süddeutschland wegen der Hochzeit eines Verwandten dort verbracht.

Er war im elterlichen Haus geblieben. Sie wussten um seinen Aufenthaltsort. Vielleicht war er observiert worden. Es hatte keine angeordnete Untersuchungshaft gegeben.


Er hatte unter anderem einige Jahre in der Nachtschicht in einr Fabrik für Recyclinganlagen gearbeitet, dabei Metallelemente für Förderanlagen an Rollbändern aufgehängt und nach der Lackierung abgehangen, doch die Arbeit war schindend für die Lagerkräfte aus Polen, neben einigen Deutschen, aus Sri Lanka, dem Kosovo und der Verdienst mäßig. Dann hatte er in einer Fabrik zur Produktion von Schnapsgetränken gearbeitet und dann in die Autoverleihfirma gewechselt. Ein Bekannter hatte ihm die Stelle vermittelt. Nebenbei hatte er einige Schmuggeltouren gefahren und einige Monate in der Autoverleihfirma gearbeitet, doch jetzt zerschlug er mit dem Versuch der räuberischen Erpressung während des Kokainrausches wohl die Freiheit und Zukunft für viele Jahre …

Jetzt hatte ihn dieses Gleichgültige gegenüber zu vielem im Leben in diese Falle geführt. Es drohte der Himmel zu zerbrechen, wie unter heftigen, unentrinnbaren Schlägen des Schicksals oder Richtenden oder eines boshaften Schmieds.


Die bevorstehende Gerichtsverhandlung und der Prozess machten ihm zu schaffen. Er merkte einen sirrenden, taumelnden Schwall aus Wut und Zweifeln, wenngleich es noch keine Selbstverurteilung oder Selbstverdammnis war. Der Gerichtsprozess, die Koks Aktion, das Wissen um die Hilfestellungen des Arztes unter anderem beim Kampf gegen religiösen Extremismus, der humanitäre Einsatz gegen das frenetische IS-Kalifat aufseiten Rojavas, die Bilder der Vertriebenen und Flüchtlingstrecks im Fernsehen hatte er im Auge und Bewusstsein. Eine Verfassung der Irritationen und Wut wurde Herr seiner Seelenlage.

Das Gewissen drängte sich auf, rang mit ihm auch in der vergangenen Nacht … In der Nacht saß er in einem gemieteten Schrebergarten, rauchte, trank Wodka und neun, zehn Bier. Oben am Himmel die verglühenden, weißen Sterne …

Draußen hörte man den starken, fast sturmartigen Wind.

Jetzt saß er im Büro der Rechtsanwältin und dachte auch: Wie konnte es so weit kommen? Es war sehr dumm, sehr sehr riskant gewesen. Eine Affekthandlung. Er wollte es belächeln, aber es war sehr ernst und weitreichend geworden.

 

 

******


Doch wenigstens war er hier. Bei der Rechtsanwältin handelte es sich um eine ehemalige Freundin des Partners mit dem er einige Geschäftsfahrten wegen der Drogenfahrten in Belgien und der Niederlande unternommen hatte. Der Partner hatte sie während ihres Jurastudiums in einem Club in Bielefeld kennengelernt und sie hatten knapp ein Jahr lang eine Beziehung gehabt.

Doch diese Angelegenheit war leider keine Bagatelle; vielleicht würde sie ihm eine bessere Zukunft und Welt aufzeigen können, zumindest eine kürzere Haftstrafe erkämpfen …

Es war wie an einer dünnen Eisfläche, die er weiter beschritt zwischen dem verfinsterten, fast zerbrechenden Himmel, den niedergeschmetterten Träumen von einer unendlichen Freiheit eines freien, wilden, unbeugsamen Mannes und dessen Unbesiegbarkeit …

Er konnte ihr nichts von den Schmuggelgeschäften von Haschisch von Belgien nach Deutschland erzählen, er hielt sich damit zurück und verlor darüber und über den größeren Partner kein Wort. Da blieb er verschworen. Vermutlich sollte das sowieso für immer vorbei sein. Das Gerichtsverfahren wartete.

Er konnte ihr nichts beichten vom Partner und ihm, wenngleich ihm der großgewachsene Partner und Gangster ihm das Beichten in jener Angelegenheit der räuberischen Erpressung nahelegte, damit es besser für ihn ausginge. Bestimmt würde sie ein annehmbares und besseres Urteil dem leitenden Richter abringen.

Dann blitzte ein anderer Gedanke auf: Wer weiß, ob sie nicht auch Staatsanwälte konsultierten oder sich in einem anderen Büro und Hinterzimmer mit ihr absprachen in einigen Fällen. Er wollte ihr trauen, aber es war sehr schwierig.

In diesen Tagen behandelte und bereitete sie also diesen Gerichtsfall vor, der bald zur Verhandlung anberaumt war.

Dem Schwierigen hielt sich wieder ein reiner, starker Gedanke entgegen: Mit ihr wird es einfacher und besser. Sie wird mich gut verteidigen, wog es dann wie ein hoffnungsvolles Schimmern in der Welt in seinem Gedankenstrom. Sie wirkt wie eine auch in dieser wichtigen Angelegenheit sich hineinarbeitende, für ihren Mandanten hart und langatmige kämpfende Rechtsanwältin. Dies hörte er auch von anderen Leuten in der Stadt. Die sich mit aller Ungewissheit in der Welt in ihr Büro und als wieder planende, hoffende Mandaten aus ihrem Büro verabschiedeten. Vielleicht würde es bei ihm auch so sein, trotz des Schwerwiegenden. Er sagte ihr noch den Namen des Bootsinhabers und einige Minuten später verabschiedeten sie sich.

So reiste er zurück mit dem Wagen über den Fluss auf die andere Seite der Stadt, zu den vielen Wohnblöcken und Arbeitersiedlungen auf der Ostseite der Stadt, und er fühlte sein Leben in diesen Tagen wie von einem Schwerthieb bedroht, geteilt in Zufriedenheit und ein mögliches Unglück, in Gewohnheiten und eine bleierne Zukunft.

 

Es verstrich eine Woche und er traf in einem Café jemanden, der mehr vom Arzt aus Frankfurt wusste und ihm weiteres erzählte. Er hörte mehr vom Arzt, der hohen Idealen folgte in jener international agierenden Hilfsorganisation und einer höheren Bestimmung für mehr Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit in der Welt nachging. Dafür kämpfte. Wie einst Freiheitskämpfer in Paris gegen die Faschisten, auf dem Balkan gegen Salafisten und Faschisten kämpften, erzählte er, wie Revolutionäre an der Flanke Che Guevaras einst kämpften oder die Sinn Fein gegen die Ausbeutung der irischen Erde kämpfte oder zuletzt die YPG in Kobanê im Kampf gegen den Terror des IS Kalifats kämpfte. Jener Arzt setzte auf zivile Projekte statt dem Kampf mit der AK 47 in einer Einheit der Rakka erobernden Syrischen Demokratischen Kräfte, die, so fuhr der Andere im Café fort, als Speerspitze der internationalen Anti-IS Koalition gegen den Wahn, Takfirismus, und Vormarsch des IS ins Feld und in die Schlacht zogen. Nach der erfolgreichen Eroberung der IS Hauptstadt Rakka baute der Frankfurter Arzt mit anderen lokalen und internationalen Ärztinnen und Ärzten eine medizinische Poliklinik in der nordsyrischen Föderation mit auf, operierte, heilte.

Der Mediziner aus Frankfurt, so hörte er, war ein Streiter für mehr Gerechtigkeit auf diesem Planeten zwischen den Polen des Guten und Bösen, zwischen Demokratien und Diktaturen wie dem IS in der Welt. Jemand, der sich in verschiedenen Krisengebieten der Welt engagierte. In Südamerika gearbeitet hatte, in Chile, Kroatien, Sarajevo und auch unterstützend in Krankenhäusern in Rojava mitgearbeitet hatte. Mehrfach hätte jener Frankfurter Arzt Kobanê und die Föderation Nord- und Ostsyrien, Rojava besucht, wo er seinen Kolleginnen und Kollegen vor Ort zur Seite stand, beim Einsatz gegen Kriegsverletzungen, Cholera, und beim Wiederaufbau medizinischer Institute, mit dem Fachwissen und den gesammelten Spendengeldern.

Als er das hörte, bemerkte er das schwere, heftige, laute Gewissen und fühlte sich sehr schlecht und elend. Er hatte es nicht geplant mit der räuberischen Erpressung bei jenem Mann. Es war wirklich falsch gewesen, dachte er, aber er war jetzt im Schlamassel.

In den Folgewochen hing jetzt vieles auch von der Rechtsanwältin und ihrer Verteidigung mit der Untermauerung des Kokainkonsums, dem Willen zur Wiederintegration, der Reue ab. Im Café hörte er von diesen Plätzen des Kampfes und fühlte sich sehr schlecht. 

Er vernahm es von jemandem, der den Frankfurter Arzt an einem Stand der Hilfsorganisation, während einer Aufklärungskampagne zu den zivilen Projekten des Wiederaufbaus in Krisengebieten und entlang einer Demonstration in ihrer Stadt getroffen hatte. Er berichtete von dessen Einsatz und Kampf:

Für das Gerechte in der Welt, wie nach dem Kampf zwischen Heil, Feuer und Untergang, erklärte jener Demonstrationsteilnehmer und Projekthelfer, wie einst eine internationale Allianz gegen Milosevic und gegen die Faschisten und Mördertruppen kämpfte, so kämpften auch jene Tag um Tag, Nacht um Nacht, monatelang in der Schlacht von Kobanê gegen die Finsternis des IS, wie nach einem Streit um das Sein und Licht in der Welt. Und beim Wiederaufbau wollte der Arzt nicht fehlen und anpacken und zur Seite stehen, erklärte er.

Für den Frieden, für das Licht, die Freiheit und das Wohl der Völker, errichteten sie dort wieder – wie nach schwersten Angriffen, Mörsereinschlägen, Bombardements des fundamentalistischen Feindes, der, so erklärte er, die extremistischen Gesetze über die Menschenwürde, über den Frieden der Völker, über Vernunft, Laizismus, Respekt vor Mensch und Natur und Geschlechtergleichheit stellte – so bauten sie wieder intakte Straßen auf. Sie errichteten Fabriken, Kooperativen, funktionierende, demokratische, pluralistische Kommunen und Parlamente.

Für den Fortschritt und Sieg der Mutigen und der konföderalen Gesellschaft Rojavas, bei der auch der zivile Kämpfer aus der bedeutenden deutschen Finanzstadt half, beim Wiederaufbau der Gesundheitszentren und Krankenhäuser …

Der Arzt hatte eine hohe, wohl heilige Aufgabe und half im Kampf gegen die Barbarei und gegen Genozide und stellte sich auf die Seite der Internationalen Brigaden und internationalen Anti-IS-Koalition. Das hörte er vom Frankfurter Arzt. Selbst hatte er Überlebende und Fliehende kennengelernt, Jesiden, Christen, die vor dem IS nahe Mosul einst geflohen waren und in Deutschland eine sichere Heimat fanden, hatte von ihren traumatischen, grausamen Erlebnissen gehört, von Henkern, Hinrichtungen von Gruppen.

 

Er fühlte die heftige Scham und das Unrecht wegeni seiner begangenen Tat, schüttelte mit dem Kopf, sich nicht verstehend. Jener Arzt half den Armen, Leidenden, Entrechteten. Wie ein Albert Schweitzer, klangen die Worte der Rechtsanwältin nach, oder wie ein helfender Orden und ich erspresste ihn und bedrohte ihn mit der Waffe, verspottete ihn, zog ihn noch auf, demütigte ihn. Hätte ich es bloß gewusst, unsere Wege hätten sich bei Gott nicht an jenem Tag gekreuzt,. Möge Gott es mir verzeihen, sprach in ihm nun die Pein und Scham.

 

Er dachte im Café an jenen an internationalen Krisenherden arbeitenden Arzt und ebenso an die Anwältin. Sie wird für das Kommende hilfreich sein. Sie ist eine Kämpferin gewesen und wohl auch unbeugsam, klug und siegend im Gerichtssaal, hoffte er. Selbst wenn bereits der Klageweg gegen ihn eingeleitet worden war, er hoffte bei diesem Prozess auf ein milderes Strafurteil mittels der Anwältin, die etwas einer attraktiven, zähen Verteidigerin und wirklichen Rechtshilfe hatte. Wohl der bestmögliche Rechtsbeistand in diesen Tagen. Statt der 3 Jahre ergab sich vielleicht eine geringere Haftstrafe.

Schließlich war der Termin zur Gerichtsverhandlung anberaumt.

 

Über die Anwaltskosten, weitere Verhandlungstage und wegen eines längeren Prozesses machte er sich keine Gedanken. Die Anklage war erdrückend. Die klare, ihn erdrückende Beweislast schien schnell aufgeführt und alles schnell rekonstruiert, doch er verwies auf den Kokainrausch zur Entlastung. Insbesondere dies griff die Anwältin in der Verteidigungsstrategie vor dem führenden Richter und der Staatsanwaltschaft auf, zudem die gezeigte Reue ihres Mandanten und dessen Willen zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft. 

In ihrer Verteidigung verwies sie zudem immer wieder auf das Nichtplanen der Tat. All dies müsste berücksichtigt werden bei der Urteilsgebung. Der Richter erkannte dies an und verurteile den Mann zu 2 Jahren statt 3 Jahren Haft …

Dann fand die Haftzeit ein Ende. Nach der Gefängniszeit beabsichtigte er sich einem der weltweit agierenden Projekte der Hilfsorganisationen anzuschließen …

Es wartete ein anderes, wohl besseres Leben und eine bessere Welt … Ich sollte eines der Büros der Hilfsorganisation besuchen, und mich vielleicht beim Wiederaufbau einer Klinik oder eines Gesundheitszentrums auf dem Balkan, im United Kingdom oder in Rojava oder irgendwo anders in der Welt anschließen. Er wollte beim notwendigen Aufbau gegen Armut, Ungerechtigkeit mitarbeiten. Das waren seine Gedanken und neuen Vorstellungen. Wie es sich dann alles weiter entwickeln würde, und ob er auf diesem abenteuerlichen, neuen Pfad lange bleiben würde, war ungewiss. Aber er wollte es angehen, diesen Kampf mitkämpfen eine Zeit lang.

Vielleicht würde er wieder beim Kokain schwach werden, und mit dem hin und wieder genommenen Kokain diesen Kampf kämpfen oder ohne dem und ohne einem Ausrutscher eines Überfalls oder einer räuberischen Erpressung.

Er fühlte sich gut mit diesen Plänen und Vorhaben. Es war Zeit für etwas Neues. Jetzt warteten bessere Abenteuer in der Welt.

Er dachte manchmal an den Arzt. Am Tag vor der räuberischen Erpressung, erinnerte er sich an das Gehörte, sei er noch bei einer Benefizveranstaltung oder Werbeveranstaltung gewesen, die für Projekte im Gesundheitsbereich in Belfast, Dublin, Kroatien, Sarajevo, für ein Spital Aufbau im Berner Kanton, Barcelona, Katalonien und Rojava warben, das breite Volk dafür gewinnen wollten mit Informations- und Aufklärungskampagnen … Vollbrachten sie damit nicht auch Heldentaten? Was hatte er für wichtige Zeit verloren? Welchen Pfad und Irrweg war er wohl gegangen? Er empfand einen Schmerz und belächelte einiges in seinem Leben. Vielleicht würde er den besseren Pfad begehen können für längere Zeit.

Er hatte Fehler begangen, und wollte etwas Besseres auf der weiten, wieder eroberbaren Erde, unter dem weiten Himmel angehen, der auch ihm einen richtigen Platz bot … Er hatte viel gebetet und Gott gedankt, dass er ihm Kraft und neue Vorstellungen verlieh für die Kämpfe und Herausforderungen an dem Neuen der Erde und in der Welt. Er wollte sich in diese neue weite Welt begeben, von einem Traum voller Herausforderungen, Kämpfen und Abenteuern, dahin begeben, wenn möglich mit besten Energien und Kräften hinkatapultieren, es war keine Zeit mehr zum Warten. Denn in der neuen Welt warteten bessere Aufgaben, vielleicht in jener Gruppe mit dem Bau eines Gesundheitszentrums für Patientinnen/ Patienten, Minenopfer, Kriegsopfer, Cholerakranke ...

Und so betrat er an einem Dienstagmorgen das Büro der an den vielen Plätzen der Welt arbeitenden Hilfsorganisation und wollte sich einem Projekt im Kriesengebiet anschließen ... 

Es warteten neue Abenteuer und eine reichere, weite, gütigere Welt, von der oft geträumt hatte … Er beabsichtigte dies anzugehen und an diesen Plätzen nun zu kämpfen und sich darauf einzulassen …

 

© Deniz Civan Kacan  

 

 

 

Impressum

Texte: Deniz Civan Kacan
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2021

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