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Gerichtsverhandlung im Saal 1876

Das Amtsgericht hatte für den 17. Januar ein Verfahren wegen des Vorwurfs des mutmaßlich versuchten Bankenbetrugs in zwei Fällen angesetzt und der Richter schritt an jenem Vormittag bereits zum Flur hinaus. Doch noch hörte man nicht dessen der Hauptversammlung geltenden Stimme durch den Gerichtsflur hallen, wie ein hellhöriges Läuten zu einer heiklen, heiklen Angelegenheit. Man hörte das leise Stimmengewirr der vor dem Gerichtssaal 1876 zusammenkommenden Schöffen wegen jener Verhandlung unter dem Aktenzeichen: 117 DS 257/10.

Draußen trat vor der dürren, von Schneeflecken gefleckten Böschung und der Parkplatzschranke der Angeklagte hervor und schritt auf das Gerichtsgebäude zu, ohne es zu betreten. Der anstehende Verhandlungstag, der dreckige Schnee, ein mögliches Urteil, was könnte alles Verfluchtes passieren. Hoffentlich wird der Richter an einer gerechten Lösung interessiert sein und nicht wie ein Feind auftreten, der nur an einem Sieg des Apparates interessiert ist, dachte er.
Der Vorgeladene blickte bald zum Gerichtsgebäude mit den zigfachen, spiegelnden Fenstern, zuvor waren ihm die vielfachen emporkletternden Fenster und die üble, irritierende, hämische Wucht der fünfzig, sechzig Fenster in der Waagerechte, in keins konnte er hineinsehen, noch nie derart ins Auge gesprungen.

Er wandte sich ab vom Justizgebäude und blickte dann umher: Unter zwei von der Winterkälte der Vorwochen geschwächten, kahlen, kargen Bäumen ging ein Arzt entlang. Dann vernahm er das Schreiten dreier Ordnungsbediensteter, die sich mit Koffern zu einem Parkhaus begaben. Unweit vernahm man das Bellen von Hunden. Er blickte die Straße hinab, in der Ferne nahm er Wohnblocks mit rauchenden Schornsteinen und Fenstern in sein Blickfeld. Dürre Wohnblocks, die mit ihren noch dünneren Fenstern das Licht einer verhangenen, grauen Morgensonne abfingen. Das Abbild eines für die meisten Stadtleute gewöhnlichen Wintervormittags.
Doch im Fall der angeklagten Personen Abbild und Darstellung eines außergewöhnlichen Wintervormittags, an dem im Gerichtssaal über die Schuld im mutmaßlichen Bankenbetrug, über Reue und einen möglichen Bruch im Leben verhandelt werden sollte.

Er blickte von den Wohnblocks mit den Arbeitern und vereinzelten Flüchtlingsfamilien zum Himmel und dann wieder zum Gerichtsgebäude. Dann blickte er vom Gerichtsgebäude zum Himmel und wieder zu den Wohnblocks mit dem dünnen, weißen Sonnenlicht.

Die Hauptverhandlung steht wirklich an. Aber es wird sich schon erklären lassen gegenüber dem Richter mit der Sache im September. Hoffentlich wird er nicht wie ein Feind auftreten. Denn wir haben ja niemand gekillt oder einem der Bankangestellten ins Gesicht geschlagen oder die Angestellten erpresst. Vor etwa 16 Monaten hatte er jemanden geschlagen in einer Bar, jemandem in einer Bar gegen 3 Uhr morgens die Nase gebrochen mit einem Kopfstoß, es war dabei zu keiner Gerichtsverhandlung oder polizeilichen Vorladung gekommen, erinnerte er sich, aber in dieser Bankenangelegenheit hatte er keinen der Angestellten geschlagen oder bedroht.

Wenig später war er im Gebäude und hörte den leitenden Richter, der die Sache unter dem Aktenzeichen 117 DS 257/10 endlich aufrief. Der Protokollführer schritt vorneweg und in den Gerichtssaal. Der Vorgeladene schritt bald ebenso hinein. So fand sich er sich im Gerichtssaal Nummer 1876 ein.
Punkt 11:30 Uhr begann die Gerichtsverhandlung.
"Das Amtsgericht verhandelt unter dem Aktenzeichen 117 DS 257/10 gegen Sie, Herr R. -- wegen des Vorwurfs des mutmaßlichen Betrugs von zwei Banken: Der Bank in der Limmerstraße 10 am 10.9.2017 und der Bank in der Hannoverschen Straße 110 am 17.9.2017", schwang die anklagende, bestimmte Stimme des Richters durch den Saal Nummer 1876.
"Stimmt es, dass Sie am 10. September die Bank in der Limmerstraße Nummer 10 mit ihrer Partnerin Sara T. -- aufsuchten?"
Als er zum Richter blickte, sah er dessen schmächtiges Gesicht, die Amtskleidung und das dürre Profil eines etwa 52-jährigen Mannes, der auch sonst wo in einem Verwaltungsapparat eingesetzt werden konnte, dachte er.
Aber er führte hier ja das Wort. Das war jetzt nicht mehr veränderbar. Jemand mit einer immensen Verantwortung, die jetzt die nächsten Jahre in seinem Leben mitentschied, über Freiheit entschied, über eine mögliche längere Haftzeit und schlagende Schatten im Leben. Hoffentlich wird dieser Richter es gerecht und anständig zu Ende bringen.
Die Amtskleidung machte ihn nun zu dem Mann der Justiz und zu einer wirkungsreichen Instanz im Juristenapparat, denn der Gerichtsprozess wegen des Vorwurfs des zweifachen Bankenbetrugs war nicht verschoben worden und diese Realität hatte jetzt Gültigkeit, sprach er sich zu.
Er wollte dann an Gutes denken und redete sich Sicherheit zu, wenngleich ihn kurz das eigene Isoliertsein gegenüber der Seite der Ankläger irritierte, aber er wollte ja keinen Anwalt und sprach sich erneut zu: Wir haben niemandem ins Gesicht geschlagen oder einen der Bankangestellten erpresst. Vielleicht ergibt sich deswegen alles in der für sie vorgesehenen Ordnung und Konsequenz.

"Sie ist nicht mehr meine Partnerin. Weder Lebensgefährtin noch sonst irgendetwas."
"Beantworten Sie die Frage!"
Der Richter blickte mit abschätzigen, dünnen Augen zum Angeklagten.
"Stimmt es, dass Sie gemeinsam dort waren zum Darlehensantrag von 29.500 Euro?"
"Wir waren im September leider in einer sehr schlechten Situation, --", erwiderte der Angeklagte und ergänzte nach kurzer Unterbrechung:
"Aber wir waren zusammen in den Banken für ein Darlehen von 29.500 Euro."

Der Richter vernahm es und richtete seine Augen von dem Angeklagten auf einen vor ihm geöffneten Aktenordner. Der Vorgeladene hob seinen Blick zu den Schöffen, zum Staatsanwalt und dann wieder zum ersten Mann und Kadi der Hauptverhandlung.
Er sah dessen blasses, etwas abgearbeitetes Verwaltergesicht und dachte: Hoffentlich wird er kein falsches Urteil heute fällen und die Freiheit der nächsten Jahre ganz zerbrechen und jemand von uns länger ins Gefängnis kommen.
Hoffentlich wird er es nicht wie ein Feind, wie eine Hyäne angehen, nicht als sehr kleinlicher, rachsüchtiger Beamter zur Anklage vortragen und nicht an einer Rache des Apparates interessiert sein, sondern an einer wirklichen Lösung und Aufarbeitung, sprach sich der Vorgeladene wieder kurz zu.

Es hing mit ihren aufgegebenen Geschäften, dem Café und Restaurant zusammen, dachte er kurz an die Entwicklungen vor dem Aufsuchen der Banken. 

"Dem Mitarbeiter ihrer Bank Herr Yaschar R., wurden drei gefälschte Gehaltsnachweise, die ihren Namen tragen, Gehaltsnachweise vom August, Juli und Juni 2017 der Firma H. vorgelegt. Dort waren sie meines Wissens angestellt oder befanden sich in einer Lehre zum Kaufmann im Express/Kurier Wesen."

Der Angeklagte nickte, aber sagte nichts. Dann blickte er umher, zu den Schöffen und kargen Lampen.
"Sagen Sie uns, haben Sie persönlich diese Fälschungen vorgenommen?"
Keine Antwort.
"Oder fälschte die Unterlagen Ihre ehemalige Lebensgefährtin Sara T.?"
Kurzes Pausieren und Umherblicken im Saal 1876. 20, 30, 35, 40 Sekunden verflogen.
"Fälschte die Unterlagen Ihre ehemalige Lebensgefährtin Sara T.?", rief der Leiter der Hauptverhandlung erneut.

 

Ich kann sie jetzt an diesem Ort nicht verraten, dachte er. Er wiederholte diesen Satz. Sie begleitete mich an so vielen  Plätzen in den vergangenen Jahren.
Mit dem Guten, den Träumen, den Illusionen, dem Glück und den Brüchen.

Er wollte sie jetzt an diesem Platz der möglichen schweren Urteile nicht verraten.
Hier nähmen wohl das Leben und jener Richter Rache und Vergeltung an ihm, an begangenen Fehlern, doch noch immer war sie in seinem Herzen wie eine schöne, schwierige, gebliebene Welt.
Vielleicht war es auch ein Platz hier mit Feinden, wie entlang von Messern und Schwierigem, und wartete ein hartes Urteil, aber er wollte sie jetzt nicht verraten.

Er wischte über das Gesicht wie bei einem reinigenden Gebet.

Dann hob er den Blick und bemerkte die inspizierenden, lauernden Blicke des Richters, Staatsanwalts und der Schöffen. Wie Feinde, wie dreckige Hyänen lauerten sie, wie Hyänen und Gefängnisaufseher, dachte er mit aufgewühltem, wildem Blut plötzlich. Seine Augen suchten die Lichter der Lampen, die Teile des Raums mit grellweißem Licht beschienen. Plötzlich spürte er mit dem Gedanken an die Verhaftung der Frau, an seine Inhaftierung eine seltsam aufkommende Furcht in seinem Blut und zerrten die Verhandlungssekunden wie schwere Schatten an seinen Armen, Schultern, dem jetzt für Sekunden matten, ernüchterten Gesicht mit dem Dreitagebart und den breiten Boxerhänden, mit denen er schon einige Leute auf der Straße oder in einer Bar niedergeschlagen hatte, wie in einer widerlichen Zeit seines Lebens, wie von Eisen und seltsamen, schwergewichtigen Wochen niedergehalten. Wohin führte ihn die Hauptverhandlung? Es war eine verfluchte Zeit mit einer seltsamen Ordnung und Weichenstellung in seiner Welt! Was könnte noch Verfluchtes passieren?

"Antworten Sie! Fälschte die Unterlagen Ihre ehemalige Lebensgefährtin Sara T.?", hörte er die fordernde Stimme des Richters erneut.

In seiner Vorstellung stellte er den Richter für Sekunden einem juristischen Henker des damaligen, totalitären Apparates, während des Zweiten Weltkriegs gleich, aber es war damals eine andere Dimension und zertrümmerte Demokratie und es herrschte wirklich Krieg und Verderben, Krieg und die Diktatur. Heute ist es eine demokratische Republik. Es gibt das Recht und Staatsanwälte und Richter, die es bestimmt auch verteidigen und achten und nicht willkürlich urteilen. Es wird kein verdammter Prozess vor einem Scharfrichter sein und wohl kein Racheakt des Apparats, flog es durch seine Gedanken. Auch nicht bei diesem Richter! Denk an einen angemessenen, maßvollen Richterspruch in dieser Bankensache. Er ist kein Hund, keine Hyäne! Sie wollen uns nicht für sieben, acht Jahre oder immer wegsperren. Sie wird es überstehen und nicht die Hoffnung und alles in der Welt verlieren. Ich werde es überstehen und es wird wieder gutes wachsen. Jeder wird es damit auf seine Weise überstehen und in den nächsten Jahren mitnehmen und es wird dennoch weitergehen in unseren Welten, in unserer Welt. Niemand wird alles verlieren, dachte er dann.

Der Richter wiederholte die Frage zum vierten Mal im aggressiveren Tonfall.
Bald gab er zur Antwort: "Sie hat die Fälschungen der Gehaltsnachweise nicht vorgenommen."
"Dann wollen Sie jetzt mit dem Gericht zusammen arbeiten und über die zwei Betrugsvorwürfe in der Limmerstraße und Hannoverschen Straße und Ihr Vorgehen dabei vollständig aufklären?", prozessierte der Richter weiter.

"Wissen Sie, es war eine wirklich schwierige Situation im September", erwiderte er. "Sie hatte ihre zwei Geschäftsexistenzen, das Café und Restaurant zwei Monate vorher aufgeben müssen, alles verloren, obwohl sie es mit viel Freude, großem Einsatz und Herzblut betrieb. Es hatte unter anderem eine neue, länger geplante Baustelle direkt an der Straße vor dem Gebäude mit dem Café und Restaurant gegeben, das Fußpublikum brach ganz weg. Das führte mit zur schwierigen Situation in den Geschäften. So hatte ich es ihr vorgeschlagen mit den zwei Banken in der Großstadt."

Der Richter blickte vom Vorgeladenen auf den Ordner und die Notizen vor sich, wartete kurze Zeit und fuhr dann fort:
"Es wird Ihnen vorgeworfen, dass Sie dem Bankangestellten, dem Zeugen Yaschar R., in der Bank in der Limmerstraße 10, ein Nettoeinkommen von 2140,55 € vortäuschten, während Ihres Antrags auf ein 29.500 Euro Darlehen?"
"Das 29.500 Euro Darlehen sollte zwei Menschen wieder Luft verschaffen und Hoffnung geben."
"Es wurde zur Tatzeit keine weitere Person durch den Bankangestellten und Zeugen Yaschar R. gesehen und belastet. Auch Sie haben niemanden weiteres aufgeführt. Demnach haben Sie die Lohnnachweise für Juni bis August 2017 gefälscht und es dann wissentlich, nach Absprache mit Frau Sara T., der besagten Bank vorgelegt?"

Der Angeklagte fühlte sich zwischen einem Spannungsfeld aus Abfälligkeit gegenüber der Überlegenheitsmanier des Richters, einer eigenen Angeschlagenheit, Wut wegen des tatsächlich erfolgten Prozesses und einer elendigen Verpflichtung, die die Position eines Vorgeladenen plötzlich in ihm schuf. Er sagte nichts. Die Erinnerung an die Frau kam auf. Sein Blick flog zu den grellen, hämischen Lampen, nun sitzend in einer Verhandlung, irgendwo zwischen unnachgiebigen Fragen, erforderlichen Antworten mit den weitreichenden, rechtlichen Folgen und einem Verhör zwischen Hyänen und Henkern.

"Na los, sagen Sie die Wahrheit", beharrte der Richter. Er wollte eine klare Antwort.
"Antworten Sie!"
Er antwortete nicht.
"Klären Sie uns endlich auf, verdammt noch mal!"
Noch immer gab er keine Antwort.
Es dauerte noch eine halbe Minute, ehe er erklärte, dass es nicht der Plan der Frau gewesen sei und sie nicht die Gehaltsnachweise für die Bank gefälscht hätte.
"Na, endlich!"
Der Richter hob wie ein überlegener Sportler den Kopf und erwartete weitere entlarvende Aussagen.
"Es war mein Plan mit den gefälschten Gehaltsnachweisen für die Bank. Das ist die Wahrheit: Wegen den üblen Umständen, habe ich die Unterlagen gefälscht und wollte die Sache mit dem Darlehen umsetzen."

Schließlich wieder kurzes Pausieren – mit einer nun triumphierenden Luft im Saal 1876 für die Juristen, bemerkte er den seltsamen, bedrohenden Schwall.

Die Ordnung des Lebens schien zu brechen und mit ihr schien das lauernde Urteil die Freiheit der kommenden Jahre in diesem Gebäude wohl mit wenigen Sätzen zunichtezumachen. Die Ausbildung, Pläne und Sicherheit im Leben, die Erwartungen des Elternhauses schienen wie an dem Platz eines Henkers. Wie Messer flogen Bedenken vor dem Verlieren der sicheren Zukunft durch sein Blut und seine bisherigen Lebenspläne. Er befand sich wie an einem Abhang, dachte er kurz und wischte über das Gesicht und die Schläfen.

"Ihnen wird auch ein Vergehen gegen geltendes Recht wegen der Manipulation von Gehaltsnachweisen bei dem Darlehensantrag von ebenfalls 29.500 Euro in der Hannoverschen Straße 110 am 17. September vorgeworfen. Die Zeugin, Andrea B., hat anhand der Unterlagen schon im Gespräch mit Ihnen diese als Manipulationen erkannt und später den Bankdirektor und die Polizei alarmiert", fuhr der erste Mann, der Vorsitzende mit dem nun voller und heiter wirkenden Verwaltergesicht fort in der Anklage.

Die Gerichtsverhandlung zog sich noch weiter. Doch der Angeklagte R. akzeptierte die Vorwürfe, wenngleich er von finanziellen Schwierigkeiten in der Ausbildung zum Kaufmann im Express-/Kurierwesen sprach. Es sei aus einer Affekthandlung entstanden, die wiederum aus den überraschenden Geschäftsaufgaben der ehemaligen Partnerin Sara T. resultierten. Eine Affekthandlung, aus der sie handelten, sagte er.

Er erläuterte mit seltsamem Gemüt und schwerer, etwas trauriger Brust, wie die Partnerin öfters wie aus dem Nichts zusammengebrochen war, am Morgen im Büro, vor dem Postgebäude, beim Stehen in der Straßenbahn oder auf der Wiese des städtischen Schwimmbads. Auf dem Balkon ihrer Wohnung fand er sie einmal vor, als wäre sie von einem Einbrecher niedergeschlagen worden. Sie blieben ohne Antworten. Die Ärzte konnten damals nichts Abschließendes mitteilen. Sie hatte gar einmal gedroht sich mit einem Messer oder einer Waffe zu töten.

Dann verstummten sie.

Kurz dachte er an eine Gefängnisstrafe und demütigende, schmutzige Zelle in einer Haftanstalt am Stadtrand, die vielleicht beide Beteiligten, die Frau und ihn, erwartete. Vieles im Leben vernichtete, wenngleich sie niemanden geschlagen oder erpresst hatten. Kurz wischte er über sein Gesicht wie beim Reinigen des Gesichts vor einem Gebet. Aber die verdunkelnden Ahnungen bündelten sich weiter. Wartete das üble Urteil mit der geraubten Freiheit oder die Ermahnung und das mildere Strafmaß seitens der Justiz?
Es war keine sechsstellige Summe, die beim Besuch in den Banken vereinbart worden war. Aber all das würde er wohl dennoch nicht als Vergehen, sondern als schwere Straftat wiegen wollen. Fliegenden Gedanken, Überlegungen, Vorwürfe. Dann dachte er, vielleicht hatten seine Äußerungen die Waage mit den relevanten Fakten in den Folgeminuten etwas zu ihren Gunsten beeinflusst.

 

Aber es war an dieser Stätte der Justiz und in diesem Fall eine verfluchte Verteilung der Positionen, Macht, der Machtfülle und Möglichkeiten. Hoffentlich war er kein Hund, keine Hyäne, sondern ein ehrbarer Richter, der am Ende ein maßvolles Urteil sprach.

Was würde noch passieren und auf die Beteiligten warten? Wie würde sein Vater reagieren, ihn bestimmt ohrfeigen wollen oder aus der im elterlichen Besitz befindlichen Wohnung innerhalb des Einfamilienhauses werfen wollen. Er war Filialleiter einer Poststelle und angesehen in der Gemeinde. Mit seinem Pflichtbewusstsein – wie ein osmanischer Beamter in der langen Regierungszeit des osmanischen Sultan Abdulhamid, des Zweiten oder Hauptmann der Infanterie – würde er es nicht hören wollen. Es wäre eine Schmach für ihn. Sein Sohn als möglicher Hauptverantwortlicher in einem Bankenbetrugsprozess? Er würde ihn aus dem Haus werfen. Die Gemeinde würde darüber sprechen. Die Mutter würde ihn bestimmt verteidigen. Ihr Herz ist anders, vor ihren Füßen das Paradies. Sie wird bestimmt wie zuvor zu mir halten. Wie bei einigen Bagatellfällen mit Verstößen im Straßenverkehr in den vergangenen fünf Jahren, die ihm Punkte in Flensburg und Strafzahlungen brachten, aber nicht ins Gefängnis brachten, hielt sie zu ihm und ging es irgendwie noch voran. Denk auch daran. Es ist kein politischer Prozess oder Militärrichter da, es wird kein Racheakt des Apparates sein, redete er sich dann zu. Eine scheiß zivile Anklage wegen zweier Bankengeschichten.

Der Richter des Amtsgerichts vernahm die Erklärungen zum schlechten gesundheitlichen Zustand und zu den Zusammenbrüchen der Mitangeklagten mit weniger kühler, eiserner Mine. Er machte ebenso eine Pause, blickte zu den Schöffen und blätterte dann in dem Aktenordner vor ihm. Dann verwies er dennoch wieder in fast kühler-mechanischer Manier auf das rechtswidrige Verhalten der Frau, der Ex-Partnerin und Komplizin. Am Vormittag war die Angeklagte nicht zum Verhandlungstermin erschienen. Dazu konnte der Angeklagte jedoch keine Äußerungen vornehmen, da er sie seit Anfang Dezember nicht mehr gesehen hätte, gab er zu Protokoll.

Er erinnerte sich an andere Aktenvermerke der Frau, die sie im Beisammensein im Café erwähnt hatte. Demnach gab es zwei Jahre zuvor einen Vorwurf des Drogendelikts, des Kokainkonsums. Weißes Pulver wäre aufgefunden worden bei einer polizeilichen Wagenkontrolle am Rand der Stadt. Wegen dieses Vorwurfs hatte er ihr einmal eine Ohrfeige geben wollen, aber es war im Streit ohne jeglicher Handgreiflichkeit auseinander gebrochen, zumindest für einige Wochen, ehe sie sich wieder als Paar zusammenrissen, erinnerte sich der Vorgeladene. Außerdem hätte sie ein Verfahren am Hals gehabt wegen des früheren Vergehens des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte des Gerichts, der staatlichen Institution. Aber der Mann verlor jetzt kein Wort darüber. Er spürte Trauer und einen Schmerz, als er daran dachte, was noch kommen könnte und wie vieles wohl ein für allemal vorüber war, wie ein gemeinsamer Traum oder vor ihm brennendes Feld erschien, unwiederbringlich, verloren, entschieden. Wieder flogen seine Blicke umher. Die Lichter blieben grelle Lichter und Speere auf diesen Wochen und vor einer möglichen Gefängnisstrafe.

 

Sein Puls wirbelte heftiger in Erwartung des Urteils.
Er hatte gestanden, damit es vielleicht ein besseres Urteil und ihm ebenso etwas Sicherheit und Gewissheit verschaffte. Er hatte gestanden, aber es hatte ihm kaum Sicherheit, Gewissheit und Ordnung in dieser Angelegenheit verschafft, dachte er.
Etwas später vernahm er den Verkündungstermin für den all entscheidenden, zukunftsträchtigen Richtspruch aus dem Mund des kargen, alten, aber machtvollen Verwaltergesichts.

Am 12. Februar sollte er verlesen werden in einer weiteren öffentlichen Sitzung.

Doch der Vorgeladene schnappte im Flur auf, es würde wohl nach der Rechtsgrundlage mit dem Urteil einer 18-monatigen Freiheitsstrafe mit Bewährung in der Justizvollzugsanstalt der Nachbarstadt zu rechnen sein. Der Mann würde dem rechtskräftigen Urteil wohl sehr bald begegnen müssen.

Der Richter schloss sodann die Hauptverhandlung und erließ gleichzeitig einen Haftbefehl gegen die Mitangeklagte, die nicht zum Termin der Hauptverhandlung, angesetzt für 9.30 Uhr, gekommen war. Dann erhob er sich mit einem Aktenordner in der rechten Hand, während Ordnungsbeamte den Vorgeladenen bald abführten. Ein Vergehen wegen Bankenbetrugs, dass ich nicht wirklich geplant habe, drang eine Stimme in sein Blut, mit Zorn, verworren wie bei einer beinahe feststehenden Niederlage an einem kriegerischen Platz inmitten der Stadt. Was wird noch kommen, würde sich ein Einspruchsverfahren bei einem harten Urteil lohnen?

Noch am Tag der Hauptverhandlung, dem die Frau ferngeblieben war, hatten Vollstreckungsbeamte die Wohnanlage der Mitangeklagten aufgesucht. Die Wohnungstür der Frau blieb den Ordnungskräften jedoch verschlossen. Niemand regierte im Wohnungsinneren. Auf Erlass des Leiters wurde so schließlich die Wohnungstür aufgebrochen. Ordnungskräfte gelangten hinein und hörten das Plätschern von Wasser an der Küchenspüle aus einem geöffneten Wasserhahn.

Der Einsatzkommandeur schloss den Wasserhahn und gelangte wie durch eine Sammlung von dunklen Pfützen stapfend ins Wohnzimmer. In der Ecke lag neben mehreren Aktenordnern die gesuchte Frau mit linkem, ausgestrecktem Arm, auf dem rechten Arm mit der Brust liegend. Sie ähnelte einer niedergeschlagenen Hausbewohnerin nach einem Gewaltdelikt. Vielleicht war sie bereits tot. In Blitzschnelle führte sie der Anblick dann in eine andere Richtung: An der Wand schwamm eine leere Packung mit Schlaftabletten in einer Wasserpfütze - höchstwahrscheinlich hatte sie die am Morgen, vor dem Prozessbeginn im Amtsgericht, geschluckt. Zwei Rettungskräften traten rasch heran und belebten sie wieder. Der Zustand blieb aber heikel. Die schlanke, braunhaarige Frau mit dem hübschen, schmalen Gesicht wurde kurz darauf ins Krankenhaus transportiert, wo sie am nächsten Morgen die Augen öffnete.

Auch am nächsten Tag blieb sie noch für viele Stunden ohne Worte. Kein einziges Wort fiel aus dem Mund der Frau im sonst so stillen Patientenzimmer, welches nach dem Desinfektionsmittelspender im Flur roch und sonst still war. Der Mann wusste noch nichts davon. Nur zum mageren Licht an der Deckenlampe und dem Fenster mit einem baumelnden Kalender, auf dem religiöse Sinnsprüche zur Vergänglichkeit, Trauer und Geburt standen, blickte sie im Patientenzimmer. Vor der Dämmerung erhob sie sich aus dem weißen Bett und blickte aus dem Fenster zu einem Teich mit Bäumen rings herum. Teils bedeckte Schnee das Gras und die Holzbank neben den Bäumen - es wirkte wie zwischen Sterben, Vergänglichkeit und dem Stillstand der Zeit. Die gelben Wolken und Bäume blieben stumm und spiegelnd im Wasser, waren wie Fische, Schilf oder Steine im grünbraunen Wasser. Eine merkwürdige Zeit.

Bald wandte sie sich um, als eine Krankenschwester anklopfte, hinein trat und ihr das karge, dampfende Essen, eine Suppe, auf den Tisch stellte.
"Sie müssen endlich etwas essen, sonst können Sie nicht aus der Klinik", sagte die etwa 40-jährige, korpulente Krankenschwester lächelnd.
Die Frau nickte, aber erwiderte nichts. Sie dachte an ihren ehemaligen Partner und Vorgeladenen und die Bankenbetrugsgeschichte, aber blieb still und in Gedanken und verlor auch bei der Krankenschwester kein Wort dazu.

Am späten Abend besuchte sie noch ihr Bruder. Er war als Beamter im Marktwesen der städtischen Behörde angestellt und war heilfroh, dass es ihr wohl besser ging. Dann hörte die Frau auch vom Richtspruch gegenüber ihrem ehemaligen Partner, der während der Gerichtsverhandlung dickfellig gelogen hatte. Denn der Lügner hatte sich als Haupttäter und Verantwortliche der manipulierten, gefälschten Lohnnachweise und Unterlagen für die Banken und Bankangestellten ausgegeben. Er hatte sie nicht angefertigt. Es war eine Lüge, ein Blendwerk, dieser Verrückte, dachte die Mitangeklagte im Bankenbetrug. Als ihr Bruder fortging, schritt sie zum Fenster im Flur und blickte zu den Laternen am Teich mit dem schneeweißen, kargen Ufer, beinahe wirkte es für Sekunden wie an einem Märchen oder einer Traumlandschaft. Sie liebte ihn noch immer. Er hatte die Banken im Herbst mit betrogen, den Richter belogen und ginge wohl ins Gefängnis am Rand der nächsten Kreisstadt, aber wohl auch ihretwegen, dachte sie. Aber er hatte einen besonderen Platz in ihrem Herzen, war das Licht ihrer Welt gewesen, fühlte sie.

Sie wollte dem Richter gestehen, dass sie die Manipulationen vorgestellt, geplant und alleine umgesetzt habe, wer weiß, wie es mit ihnen als ehemaligem Paar weiter ginge. Noch ehe die Uhr im Flur des Krankenhauses auf 22 Uhr zuging, beschloss sie dem Richter aus dem Patientenzimmer alles zu schreiben.

Der Vorgeladene erfuhr Tage später von dem Brief der angeschlagenen, braunhaarigen und im Patientenzimmer wieder aufstehenden Frau, den sie an den führenden Mann des Gerichts abgeschickt hatte. Sie hatte sich von der Krankenschwester Papier und Stift bringen lassen und begann sofort mit dem Notieren der Anschrift des Amtsgerichtes, die sie vom Brief der Terminvorladung ablas und notierte die ersten Sätze: "Sehr geehrte Damen und Herren, Sehr geehrter Herr Richter Z--, es gab einige Schwierigkeiten wegen des ehemaligen Cafes und Restaurants und der Bankengeschichten im September, aber ich will zur Aufklärung des Vorwurfs des zweifachen Bankenbetrugs in vollem Umfang beitragen. Mit dem Aktenzeichen und der Nummer 117 DS 257/10. Die Wahrheit ist, dass die gefälschten Gehaltsnachweise zumeist durch mich angefertigt wurden. Sie wurden durch mich angefertigt, um dann den Banken vorgelegt zu werden. Mit ihrem vorschnellen und falschen Urteil würde die falsche Person als Hauptverantwortliche zur rechenschaft gezogen. Der von ihnen Verdächtigte und wohl zur Hauptverantwortung gezogene ist der Falsche. Deswegen muss das Urteil revidiert werden. Durch den in der nächsten Großstadt bald beauftragten Rechtsanwalt David Rejas wird ein Einspruchsverfahren eingeleitet werden ... "
Das waren die größeren Ambitionen und Vorhaben.

Dann verstrichen weitere Wochen und erfolgte am 12. Februar schließlich das Richterurteil. Die Angeklagten hatten schlussendlich ihre Mitschuld eingeräumt mittels des eingeschalteten Rechtsanwalts David Rejas. Doch sie wollten sich gleich des Urteils nicht brechen lassen und würden ihre gemeinsame Welt nicht vernichten lassen. Es gab weiterhin das Licht über ihrer Welt, auch Schatten, aber weiterhin Hoffnung, Träume und Licht in ihrer Welt. Demnach waren beide Angeklagten an den Fälschungen und dem beabsichtigten Bankenbetrug beteiligt, doch der Angeklagte hatte das angefragte Darlehen auf eine vierstellige Summe gehoben und den Plan auf eine zweite Bank erweitert.
So vernahmen sie in Anwesenheit die Richterurteile:
Dabei wurde die Frau zu einer Bewährungsstrafe von 14 Monaten verurteilt, während für den Angeklagten eine Bewährungsstrafe von 2 Jahren verhängt wurde.

(C) Deniz C. Kacan

 

 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 19.02.2018

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