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Erwartungen

 

 

Er war Kaufmann in einem Unternehmen für Baustoffe, die Errichtung einer größeren Parkplatzfläche nahe eines Flugsportvereins mit Pflastersteinen ihres Unternehmens, gehörte zu einem jüngeren Auftrag der Tiefbauabteilung, aber an diesem Tag war er froh, die Frau und den Jungen bei sich zu haben. Ihre Absicht war es den See und vielleicht ein Restaurant in der besseren Gegend zu besuchen. Sie hatten einiges, dass sie wertschätzen konnten, dachte er. Es war ja so und man musste es sehen, um voranzukommen. Sie litten nicht Hunger, waren nicht in ein Flüchtlingscontainer am Rande dieser Stadt einquartiert, nahe einer Autobahn oder einer Eisenbahntrasse aufgestellt, wie andere Menschen, die darin hausten und bedrängter waren und sich über geheizte Räumlichkeiten, genügend Brot und den weiteren Verbleib im neuen Land sorgen mussten, und vor Kriegen im Orient flohen wegen der dort vermutlich betriebenen Neuordnung. Sie hatten einiges, was sie zufriedener stimmen sollte: Sie konnten zusammen den See besuchen und später ein Restaurant, das war doch schon etwas und würde sie voranbringen, dachte der Mann. Zudem ließ es die Witterung an diesem Tag zu. 

 

Hellgraue, breite Wolken und graue, dicke Wolken flogen ineinanderverwoben neben der Sonne am Himmel. In der Gasse parkten von Touristen geliehene Fahrräder und schritten einige Leute in eine Apotheke. Der Mann und Junge schritten bald in einen Tabakladen, der sich daneben befand. Er schaute in eine Zeitschrift mit Geschichtskapiteln, die über die Arbeiterbewegung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg, über Karrieristen, zerstörte Straßen, und über Erwartungen zum Neuanfang berichteten, dann von einem Krieg in einem entfernten Land berichteten mit detonierenden Landminen und Sperrgebieten für Zivilisten. Er legte es bald weg, als der Junge zu ihm kam und mit ihm über eine Sportzeitschrift mit Basketballteams aus den USA redete. Er kaufte die Zeitschrift und Zigaretten, dann trafen sie in der Gasse wieder mit der Frau zusammen, die einige Lebensmittel in einem Laden nebenan gekauft hatte und dann vom See sprach, den sie gemeinsam aufsuchten. 

 

Bald gelangten sie zum See und beobachteten die Boote und Ruderer auf dem Wasser. Einige Boote blinkten in der Sonne und an manchen Stellen leuchtete das Wasser des Sees. Die Boote fuhren über kräuselnde Wellen, die das Sonnenlicht und die glatte Ebene des Sees brachen. Im Zweiten Weltkrieg war der See von Alliierten bombardiert worden. Doch das Todesurteil über Soldatenverbänden, Familien und deren Auseinanderbrechen und die Brände wegen der verführenden Ideologien waren nur etwas in der Erinnerung und viele Menschen kamen hierher, zum Wasser, wie zu einem friedfertigen Platz und einer Stätte der Demut und Stille und Gegenentwurf zum städtischen Schmutz und Übermaß. Wie zu einer anderen, herrlichen, nicht belauernden Seite der Großstadt, dachte er. Es würde ihnen, der Frau, ihm und dem Jungen und ihrem gemeinsamen Weg bestimmt gut tun. 

 

Sie spazierten weiter neben zwei Paaren entlang des Sees und entlang eines Touristendampfers. Die Sonne strahlte auf einen Fleck des Sees, als triebe da eine Boje voller Licht. Boote, Restaurantbesuche, die Aufträge im Büro. Übel und schwere Schicksalschläge unserer Zeit war nicht ihnen, sondern in dieser Zeit vielmehr den armen Leuten im Krieg vorbehalten, nahe der IS Bastionen, wenngleich es auch manches bei uns gab, bei mir und ihr, dass ihn am gemeinsamen Weg kurz zweifeln ließ, dachte er. Aber heute werden wir diesen Tag für unser Vorankommen nutzen.

 

Er blickte von ihnen wieder zum Gewässer. Kormorane flogen über einige Boote, die nicht hinausgefahren und am Ufer festgebunden waren, wie unter grauschwarzen, verächtlichen Wolken, doch die Vögel strichen über dem Wasser zum Fang der Fische. Die Vögel flogen über zwei gelbe Boote auf der linken Seite des Sees, die in Richtung eines Sportclubs mit gut verdienenden Leuten steuerten. Die Frau verwies plötzlich auf den Club der sehr gut Verdienenden und ob er ihnen auch einmal ein eigenes Boot bieten könne, fragte sie ihn plötzlich. Aber der Mann ging nicht darauf ein. Er sprach von der Zeit ohne Kriegen und ohne Bomben über der Stadt und das er in der Baustoffirma ordentlich verdiente und ihnen ja schon etwas bieten könne. 

Außerdem gehörte in seinem Büro die Errichtung einer größeren Parkplatzfläche nahe eines Flugsportvereins mit Pflastersteinen ihres Unternehmens zu einem jüngeren, erfolgreichen Auftrag der Tiefbauabteilung, aber an diesem Tag war er froh, die Frau und den Jungen bei sich zu haben und es sollten keine Bedenken aufkommen an dieser Bande.

Trotz einiger Erwartungen, sie wären nicht ohne Perspektiven, sagte er bald, die Arbeit im Baustoffhandel ermöglichte einiges, wenngleich er Grenzen hatte, denn er war ein Arbeitersohn und könne nicht alles bieten, schränkte er dann ein. So war es in ihrer Welt ...

Er sprach dann auch kurz über eine jüngeren Auftrag der Tiefbauabteilung, die Errichtung einer Parkplatzfläche nahe eines Flugsportvereins mit den Pflastersteinen des Bauhandelunternehmens, die Frau hörte ihm zu und blickte von ihm zum entfernten Sportclub am Ufer und dann zu den fahrenen Booten auf dem See ...

 

Das Paddeln und Rudern einiger Leute vor ihnen war bald hörbar. Ringsum war der See mit Cafes, Booten mit Doppelpaddeln, Kajaks und Bäumen gesäumt. Entlang des Sees fuhren Arbeiter, Unternehmer, joggten Studentinnen der städtischen Universität und weitere Stadtleute ins Zentrum. Blauer Himmel und hellgraue und graugraue Wolken in der Ferne. Einige Leute hielten am Pier 51, unweit von ihnen. Es tat ihnen wohl gut, hergereist zu sein, dachte der Mann. Er hatte eine ordentliche Arbeit, der Lohn reichte für einiges, wenngleich er ihnen auch mehr hätte bieten wollen, aber es musste reichen, dachte er.

 

Das Wetter ist herrlich an diesem Tag. Sie lehnten bald an einem Geländer nahe den Paddelbooten.

Der Wind flog über den See. Dann redeten der Mann und der Junge über das Viererboot ohne Steuermann, das vom Ufer fort paddelte. Der Junge erzählte vom Roman Moby Dick... Fragte, ob es auch an jenem See Aufbrüche zu Besserem in der Welt gebe, es Harpunen zu kaufen gebe gegen Schiffe zerbrechende oder Seeleute tötende Wale wie in H. Melvilles Roman - Leute mit Träumen, Erwartungen, mit Demut und Ehrgeiz... und es neben Schiffseignern auch heute sterbensbereite Jäger gäbe, die für ihr Brot, ihre Familien und ihren Bestand zur See fuhren. Natürlich gab es das in jeder Generation der Menschheit, sagte er. Aber es sei auch anders. Jene Tage seien wohl härter als in den heutigen Fabriken und Unternehmen gewesen. Es gebe in jeder Generation Erwartungen und Enttäuschungen seitens der Menschen, Illusionen und ehrliche, würdevolle Aufbrüche. Manche hätten damals sehr hart gearbeitet, unter perfiden Konditionen, billigstem Lohn oder hätten nichts dafür bekommen. Andere wären reich geworden, aber im allgemeinen lebten alle Figuren von dort als langes Abenteuer auf See im Roman Melvilles weiter.

 

Dann gingen sie weiter am Ufer entlang, ehe sie zum Jeep gelangten. Sie fuhren bald zu einem Restaurant in einem besseren Stadtteil. Es hieß Piazza Milano. Der Mann und die Frau gingen mit ineinander gehakten Armen zum Restaurantplatz. In der Allee gab es weitere Restaurants, das bürgerliche Rehnmanns, ein indisches, türkisch-kurdisches, chinesisches, ein anderes italienisches Restaurant. Sie gingen voran zur Piazza Milano. Die Frau hatte teils Vorbehalte gegenüber der Mentalität in jenem Stadtteil, den sehr bürgerlichen Kreisen, und zu der sie wohl eigentlich gerne zugehören wollte, denn deren Löhne und Wohnsituationen wären viel besser und vieles andere doch auch. Aber der Mann machte sich nicht viel daraus und beachtete nicht die Provokation. Er wollte es nicht zerbrechen lassen. So sprach er vom guten Essen dort. Der Junge lief bald nach, fiel plötzlich hin, rappelte sich auf seine Hände und Knie auf dem eisenfarbenen Straßenpflaster und kam nach. Sie gingen zu einem der leeren Tische.

“Lass uns an diesen Tisch”, sagte der Mann zur Frau.
„Wollen wir nicht woanders hin? Vielleicht zum Inder, wo es bessere Preise für Arbeiter und einfache Angestellte gibt“, sagte sie. Der Mann warf einen stolzen Blick zu ihr, aber wollte sich nicht provozieren lassen. 
„Nein. Glaub mir, es wird schon gut sein“, entgegnete er. Der Mann ging voran. Sie setzten sich alle an einen Tisch mit vier Stühlen am rechten Platzrand. Er stand unter einem Terrassenschirm und neben einem aufgestellten Brunnen. Das Plätschern des Wassers war angenehm hörbar auf der Terrasse des Restaurants. Er zeigte dorthin, aber die Frau blickte zur Tür. Noch war keine Kellnerin im Türrahmen erschienen.

   

Er kannte das Restaurant, hatte dort schon vor Wochen einen Kaffee getrunken, Zeitung gelesen. Abends ein Gericht mit argentinischem Steak und Reis und Salat gegessen. Damals hatte der Chef, ein hochgewachsener, hagerer, grauhaariger Mann mit einem weißen Hemd, der freundlich und distanziert war, neben einer hübschen Bedienung, per Telefon Essensbuchungen für den nächsten Abend angenommen. Dann in einem Buch am Tresen eingetragen. Neben den Weinflaschen und der kleinen Küche. Später vernahm er, dass der Mann aus Istanbul, dessen Arbeiterfamilie lebte unweit des Flusses und im Blickfang einer osmanischen, herrlichen Villa des frühen 19. Jahrhunderts, in der einst wohl ein osmanischer General und Großwesir arbeiteten, die zwischen der Hohen Pforte in Istanbul und dem Balkan herreisten, aber das ist eine eigene Erzählung wert ...

 

Er war nach einigen Besuchen gänzlich in diese Stadt in Norderuopa gekommen und mochte mit der Zeit die Stadt immer mehr. Aber das gibt  widerum etwas für einen Zeitungsbericht der Sparte Einwanderer mit Unternehmerbiographien her. Jetzt wollte er mit ihnen hier essen und es sich gut mit ihnen gehen lassen. Sie lebten in einer Stadt, in der kein Krieg herrschte. Fielen Bomben wie anderswo auf eine belagerte und überfallene Stadt? Neben Sternen und Mond fallende Bomben über dem Bahnhof, den Lagerhallen? Als er daran dachte, die Frau und der Junge waren sicher, an den ordentlichen Verdienst in der Baustoffhandelsfirma, verbunden mit dem Tag und dem Platz, gefiel es ihm. Er wollte ihre Provokationen zum Verdienst und den Aussagen zu Besserverdienern aus dem Blickfeld lassen, diese Welt heil belassen. Er blickte zu den anderen Tischen und dann in die stahlfarbene Gasse und blickte dann zur Tür des Restaurants. Der Mann erinnerte sich an eine hübsche, zuvorkommende Kellnerin, diesmal war es eine andere Bedienstete. Die Kellnerin blieb mit mürrischem, eigenem Hals am Restauranteingang, blickte nicht zu ihnen und ging bald hinein.

 


„Sie hasst wohl ihren Beruf, dieses --“, sagte die Frau bald und sprach nicht weiter aus. Ihre Augen zeigten, dass sie Rücksicht auf den Jungen nehmen wollte. 
Der Mann beließ es dabei. Er hatte hier zuvor ohne einer Beschwerde gegessen und getrunken. Er blickte in die Gasse und dann zu den vorderen Tischen. Die anderen Tische waren leer bis auf zwei Paare. Ein anderes Paar schlenderte in das Rehnmanns Restaurant einige Schaufenster entfernt. Ihr Fortbleiben brachte sie gegen sich auf.
„Lass uns gehen, schau sie dir an. Lass uns ins Rehnmanns, ins indische oder Urfa Restaurant. Sie hat nicht einmal Willkommen gesagt. Sie ist eine riesengroße Katastrophe als Gastgeberin und Serviererin. Vielleicht riecht sie auch, ob es sehr reiche oder einfache, normale Arbeitergäste sind."
„Sie wird bestimmt etwas an der Kasse erledigen“, entgegnete er.
„Vielleicht riecht sie die einfachen Büroleute und Arbeitergäste. Vielleicht riecht sie Arbeiter und Unternehmer."

Der Mann fühlte sich kurz provoziert, aber wollte sich nicht darauf einlassen. Der Junge, das bevorstehende Essen. Lass es, er hielt sich zurück.


Die Frau verwies auf den Stadtteil, in dem viele Bürgerliche, Angehörige der Mittelschicht wohnten. Der Mann blickte von der Frau zum Jungen, der vom Stuhl zu einigen brotpickenden Tauben am Brunnen blickte, und schaute dann mit stolzem Kopf in die Straße mit den Leuten.

 

"Das Geld scheint für den Chef nicht sehr wichtig zu sein, er bediente mich zuletzt freundlich und an einem auberen Tisch, so wie es sich gehört. Außerdem wird ihr Vorgesetzter dafür sorgen, dass sie uns bedient, wie es sich gehört. Das Konto schien ihm nicht an erster Stelle. Letztens sah ich auch einen ärmeren Mann, ähnelte einem Schizophrenen oder Verwirrten, ein armer Mann, der wie ein Lehrer aussieht oder Physiker, und hier öfters durch die Straßen läuft und lange Selbstgespräche vor jedermanns Augen führt, aber hier Kaffee trinkt. Sie haben ihn noch nie verscheucht wie einen Straßenhund."

Die Frau entgegnete:
"Das kann ja sein, aber ich sehe jedenfalls keine Kellnerin und sehe auch den Chef nicht. Sie wirkt so, als wüsste sie um die Arbeitergäste und die Reichen oder sehr Reichen, die sie hier haben will und kann da trennen und sich Zeit nehmen, wie sie will", sagte sie. "Bei der Arbeiterschicht lässt sie sich einfach mal mehr Zeit."

Der Mann wollte sie zurechtweisen, aber nahm sich zurück wegen dem Jungen und sagte:
"Das ist deine Interpretation. Aber es ist nicht richtig: Die Kellnerin wird nicht darüber entscheiden. Sie richtet sich nach ihm, weil er sie auszahlt und so auftreten muss, wie es sich gehört. Der Restaurantbesitzer nimmt vielleicht wieder Buchungen per Telefon entgegen und bestimmt das mit ihr, auch morgen und übermorgen. Gleich schickt er sie zu uns oder sie kommt schon von alleine freundlich und höflich an den Tisch."

"Meinst du?"

"Sie kommt jeden Moment", sagte der Mann lächelnd und zufrieden, dass sie hier waren zusammen. Er wollte sich nicht wegen Falschem ärgern.

"Vielleicht riecht sie auch das Geld der sehr reichen Gäste, die mehr als du verdienen und hierher kommen und an deren Tischen sie schneller steht", beharrte sie. 
"Glaubst du? Ich glaube es nicht. Sie wird gleich etwas vom Chef zu hören bekommen und die Speisekarten an unserem Tisch abnehmen."
Der Mann wollte es dabei belassen. Er wollte sich nicht gänzlich provozieren lassen.

 

Sie redete erneut von besseren Verdiensten eines höheren Beamten bei der Stadtverwaltung und Unternehmerverdienste, aber er ging nicht darauf ein. Der Mann blickte in die Straße. Es gab keinen Krieg wie in anderen Ländern. Sie hungerten nicht, und eine Kündigungswelle stand bei ihnen im Baustoffunternehmen nicht an. Er wollte zufrieden sein. Keine Minen, die wie anderswo in den Kriegsgebieten an einer Straßenkreuzung zerbarsten, Menschen in den Tod rissen. Bestattungen in der Nachbarschaft, bei bekannten Menschen, mit schweren Abschieden. Gab es das nicht woanders? Dankbarkeit, Demut waren etwas wichtiges in dieser Zeit, dachte er. Außerdem hatte ihm der Kaffee damals geschmeckt. Die Leute waren für sich in diesem Restaurant, aber nicht unfreundlich.

"Was würde die Kellnerin wohl machen, wenn hier eine Gruppe von Arbeitern und Gewerkschaftlern essen würden?"
Die Frau überhörte es scheinbar. Der Junge neben ihnen lächelte.
"Sie könnte nicht weglaufen, wenn gleich mehrere Arbeiter und Gewerkschaftler bestellen würden, und dabei ihren Blick für Geld, Geld und vielleicht sogar ihre Arbeiterfeindseligkeit aufdecken würden."

Der Mann blickte zu ihnen:

"Lass doch sein."
Die Frau schien noch immer unzufrieden. Sie blickte zur Tür und dem Fenster des Restaurants mit den steinernen, hellenisch aussehenden Statuen davor und der eingerahmten Speisekarte mit den Weinen, Nudelgerichten, Meeresgerichten.

 

"Sie wird nicht kommen“, sagte sie. 
„Gib ihr noch 30 Sekunden. Dann sehen wir sie. Wahrscheinlich tippt sie eine Rechnung in die Kasse oder poliert das Besteck am Korb und deckt einen Tisch drin“, entgegnete er.
„Das glaube ich nicht.“
„Wenn nicht, dann hat sie ihren Auftritt und den Empfang verpatzt. Ein Pech für den Umsatz und das Geschäft“, sagte der Junge. Der Mann lächelte. 
„Sie ist schlecht für den Chef und ihre Gäste“, sagte sie. Nach einer Weile: „Sie hat keine Zeit und will keine Zeit haben für diesen Tisch. Vieleicht müsste man mehr verdienen als der Normalbürger und normaler Kaufmann. Wieso kommt sie nicht zu den neuen Gästen?“
„Sie wird sofort kommen und uns die drei Speisekarten abnehmen“, sagte der Mann mit kurzem, ernsten Blick zu ihr, aber er würde sich nicht so provozieren lassen, dass er sich verlor. Aber wer weiß, wie es sich weiter entwickeln würde? Sie wollte wohl wirklich jemanden, der verdiente wie ein höherer Beamter der Stadtverwaltung, wie ein Richter oder Bankdirektor, ihre Aussagen waren etwas dickfellig, aber er wollte sich nicht in einem falschen Wort finden und sie vor dem Jungen jetzt zurechtweisen ...

„Sie will keine Zeit haben für Arbeiter, für diese Gruppe“, sagte sie.
„Das kann sich niemand erlauben“, sagte der Mann dann mit einem souveränen Ausdruck "Aber lass jetzt bitte", sagte er jetzt lauter und bestimmt.

  

Er wollte in den vergangenen Monaten, dass es der Frau und dem Jungen gut ginge und er genügend verdiente, um ihnen etwas mehr zu ermöglichen. Er vertrieb im Büro Baustoffe, Pflastersteine, Gartenprodukte an andere Händler und Endkunden in der Stadt und Region und wenngleich er auch besser verdienen konnte, war es möglich, mit ihnen hinauszufahren, an Plätze in Hannover, Bremen und einmal schon zu einer Grachtenfahrt nach Amsterdam, die sie unbedingt wiederholen wollten, mit einer Besichtigung der Heineken Brauerei und einem Besuch des Ajax Amsterdam Stadions. Sie konnten das angehen, hungerten nicht und mussten in keinem veschmutzten, engen Container hausen - wie etliche Flüchtlinge in dieser Zeit. Aber da hatte sich die Frau noch nicht in dieser Art und mit jenen höheren Erwartungen gezeigt. Ihre Maske fiel vielleicht, dachte er kurz, sie provozierte und er würde, wenn es sein musste, sie schon zurechtweisen, aber hoffte, dass es vielleicht falsch interpretiert wurde und es sich legen würde. Das wird sich ja bald noch zeigen.

"Wo ist sie denn?"

Die Frau neben ihm blickte zu den zwei anderen Tischen und in die kaum bevölkerte Straße.


„Sie wird gleich kommen, weil der Chef sie hier her schickt. Ein Allerweltsauftritt wird das“, sagte der Junge dann amüsiert. Er blickte zum Rand des Platzes, wo sich ein Ehepaar vor einem Touristenbüro, in dem Werbeflüge nach Barcelona und Zypern in der Vitrine aushingen, abwandte, entlang des indischen Restaurants und an ihnen vorüber ging mit Trenchcoat, Hut und Stock und drehte sich um. Der Junge schnippte gegen die Olivenölflasche auf dem Tisch, wandte sich unruhig zu den anderen Gästen, die Rotwein tranken. Gaffte zum blauen Dunst einer Zigarillo an dem kargen Profil einer Frau und drehte sich erneut zum Tisch. Die Ankunft der Kellnerin derweil mit der riesigen Kaffeebohne auf dem Kopf, dem Zopf, zögerte sich hinaus, weil sie bestimmt auf Toilette säße, sagte der Junge. Der Mann lachte. Auch die Frau.

Bessergestellte Leute würden nicht derart warten müssen, sagte sie dann andeutend. Der Mann wollte sich nicht provozieren lassen oder sie vor dem Jungen demütigen. Lass jetzt noch!

   

Dann sagte der Junge plötzlich:

„Bei dem Spiel der WM werden die auch hier um die Welttrophäe laufen.“

Er blickte zum Mann und zu einem auf einem Tisch aufgebahrten, lautlosen Fernsehgerät, auf dem die Weltmeisterschaftsspiele liefen. Jetzt fiel es ihm vor einem der Restaurantfenster auf. Auf dem Platz hörte man sonst nur leises Reden der anderen wenigen Gäste, die gerade ihren Wein tranken. 
Der Junge zeigte zum Fernseher.
„Was tippst du für das Halbfinale gegen Holland, Elias?“, fragte er den Jungen.
„Ich tippe auf die Argentinier.“
Die Frau fasste an ihre goldenen Armreife und blieb wegen der ignoranten Serviererin unruhig. 
„Ich tippe auch auf die Gauchos, Elias“, erwiderte der Mann mit einem wechselnden Blick zwischen dem Jungen und der Frau.

“Auch wenn ich Amsterdam und seine Grachten und das Goldene Zeitalter von 1650 mit der sehr effizienten westlichen und östlichen Handelsgesellschaft wirklich klasse finde, den Handel mit Sumatra, Indonesien , den dynamischen und manchmal schwierigen deutschen Nachbarn und mit dem Osmanischen Reich, von denen sie ja die Tulpen vom Orient nach Europa mitbrachten."

Kurz glomm in den Augen der Frau scheinbar wieder Heiterkeit und Licht auf, als sie an den Ausflug auf den Amsterdamer Grachten in dem Hop-On-Hop-Off-Tour-Boot dachte. Der Junge zeigte wieder zum Spiel.

 

"Wenn es sich ergibt, werde ich mit euch wieder eine Reise dahin buchen, aber in diesem Spiel setze ich auf die Gauchos", sagte der Mann dann.

"Sie werden es vielleicht schaffen. Bis es im Finale gegen Deutschland geht."

"Deutschland spielte großartig zuletzt."

"Richtig."

"Die Argentinier müssen auf mehr Positionen großartig spielen, damit sie es schaffen. Sie müssen dafür mit Hundertzwanzigprozent laufen. Sonst werden sie wie vom Platz gescheucht wie Anfänger. Aber zurzeit geht es ja auch der argentinischen Wirtschaft und Gesellschaft sehr schlecht, sie haben wirtschaftlich eine Masse an Vertrauen und Investoren verloren. Dann die Zahl der Selbstmorde." Den letzten Satz erwähnte er vor dem Jungen fast nicht hörbar.

 

Der Mann fuhr fort:
"Argentinien wird derzeit von ausländischen Banken und Finanzgeiern wieder arg angegangen. Bestimmt wird es Entlassungen geben und vielleicht sogar Tote. Aber sie müssen standhaft bleiben, sonst war es das wieder für Jahre und Tausende wandern aus. Die Allmächtigen wollen das Volk und die Arbeiterschaft zermürben und enteignen, nicht die Oligarchen. Die Arbeiterschaft verliert sehr viel. Sie verliert am meißten. Weißt du, Buenos Aires kann diese Stimmung um Messi deswegen bei der Weltmeisterschaft gut gebrauchen. Er ist fabelhaft und kann ne Legende wie Maradonna werden, ein großer und glücklicher oder großer und halb weinender Held seines Volkes, wenn er wieder zuschlägt und die Holländer im Halbfinale bezwingt, so wie einst Maradonna, den sie seit 86 wie einen Gesalbten aus dem Volk lieben.“
Der Junge lächelte.

"Und dann wie Maradonna im Finale 86 weiter spielt."
„Messi muss wie Maradonna oder wie im Nou Camp in Barcelona spielen“, sagte der Junge, als plötzlich die Kellnerin auftauchte. Endlich kam sie zum Tisch. Zwischenzeitlich hatten sie in die Restaurantkarte geschaut und sie auf die Mitte des karierten Tischtuchs zurückgelegt.

„Was wünscht die Dame?“, fragte sie. Die Kellnerin hatte einen Notizblock bei sich.
„Da sind sie ja“, sagte die Frau am Tisch mit wieder erzürnten Pupillen und einem schlingernden Unterton. Es waren kurze Zeit die ringenden Blicke von vier hübschen Augen.
„Entschuldigen Sie. Der Koch hatte mich um Hilfe gebeten.“
„Der Koch hatte sie gebeten ... Der Koch hatte sie gerufen“ echote sie. „Wir bestellen Carpaccio und ein Mediterana Salat“, sagte sie.
„Bringen Sie mir die Nummer 12, das Gericht mit Muscheln, Meeresfrüchten. Dem Jungen Spaghetti Alba“, sagte er.
„Die Nummer 12 und Spaghetti Alba. Außerdem?“, erwiderte die Kellnerin, senkte ihren Blick und notierte es mit einem schwarzen Stift auf ihrem Block.
„Bringen Sie auch drei stille Wasser“, antwortete der Mann.
"Außerdem?"
"Noch ein Bier, bitte. Das wäre es dann soweit", schloss der Mann.
Alle bestellten sie bei der Kellnerin. Der Erklärungsansatz zum Fernbleiben und Verhalten der Kellnerin, die nach Meinung der Frau auf gesellschaftlich Bessergestellte, Besserverdienende schneller reagierte, und von Gästen, die Unternehmer waren oder den Beruf des Arztes oder Anwalts innehatten, von ihr schneller geködert und besser behandelt werden würden als ein Arbeiter oder einfache Kaufleute, schien jetzt vorüber, dachte der Mann. Bald aßen sie.

 

Sie pfefferte ihren Salat und träufte Olivenöl darüber, alle aßen sie. Man hörte das Kauen und Wasser vom Steinbrunnen. Manchmal leises Reden der Gäste. In der Stadt hatten sie einen abenteuerlichen, zumeist großartigen Tag erlebt, redete sich der Mann zu. Doch die Frau schien noch immer nicht wirklich zufrieden ... 
„Ich werde euch in den nächsten Jahren die besten Plätze der Stadt zeigen, von den Herrenhäuser Gärten, wo man herrlich spazieren kann, zum Pier 51 des Maschsees, den Bootsfahrten da, zum Fußballstadion und Rathaus, wo man die ausgebrannte Stadt aus dem Zweiten Weltkrieg und neue, nicht sehr schöne mit den vielen direkt nach dem Krieg errichteten Bauten, aber wieder funktioerende Stadt an einem Miniaturtisch vergleichen kann, dann zum Landesparlament, zu den anderen schöneren Plätzen der Regiont", sagte der Mann und stellte das Bierglas mit der zusammengefallenen Schaumkrone ab. 
Doch wenige Sekunden später begann sie wieder mit einem seltsamen Unterton.

Sie sprach von ihrem Ex-Mann, der sie in einen Urlaub nach Goa und Indonesien eingeladen hatte. Plötzlich sprang der Streit mit dem Ex-Mann am Juweliergeschäft herbei:

"Du hast wohl vergessen, was kürzlich passiert ist?"

"Was meinst du?"

"Ich dachte, du hättest gesehn, dass es mehr als den Verdienst gibt und ich es euch zeigte. Und du diesen Jammerlappen aus der anderen Stadt endlich vergisst...“

Er war höherer Beamter im Landesamt oder in der städtischen Verwaltung.


„Laß bitte. Nicht vor dem Jungen“, entgegnete sie.
„Er soll wissen, dass er selbst die Schuld dafür hatte und es provozierte“, sagte er heftiger.
Der Mann zwinkerte dem Jungen zu und blickte vom Jungen und der Frau entlang des Platzes zur fast menschenleeren und stählern grauen Gasse, dann trank er vom Bier.

 

Am vorherigen Tag hatte er seinen Streit mit ihrem früheren Partner gehabt, aber es war nicht ausgeartet. Er hatte dem Mann, der etwa 1, 75 Meter war, etwa 36 Jahre alt, als Beamter arbeitete, stämmiger war als er, fast wie Bluto aus dem Cartoon aussah mit dem Vollbart und Gesicht eines Fleischers, und sich als ehemaliger Ringer und Judoka rühmte, und schamlos um seine Freundin warb, vor einem Juweliergeschäft eine Ohrfeige gegeben und eine gerade Rechte verpasst, nachdem er jene Frau beleidigt hatte. Er hatte einen Schwinger vermieden, weil die sehr schwer landeten, dachte er. Er trainierte im Ju-Jutsu-Verein, aber wollte so etwas vermeiden. Nun lief der Andere mit einem lilafarbenen Veilchen und einer geschwollenen Lippe herum, wie nach einem katastrophalen Auftritt bei einem Boxkampf oder Ju-Jutsu-Wettkampf. Merkwürdigerweise war es jedoch nicht zu einem Polizeieinsatz oder einer Anzeige gekommen, sie hatten sich schnell getrennt. 
Er fühlte einen kleinen Stolz in seiner Aktion, selbst der Junge hatte es gehört und bewunderte ihn etwas. Aber er tat es als Verteidigen wollen und Beschützen wollen und Beschützen müssen ab vor dem Jungen. Doch die Frau schien es zu vergessen oder maß dem viel weniger bei, als er es tat ...

 

Nach einer Weile hatten sie ausgetrunken. Der Mann stellte das leere Bierglas in die Mitte des Tisches. Er zahlte bald und ging vom Platz, die Frau und der Mann neben ihm. Die vergangenen Tage waren schwierig gewesen. Aber es war kein Krieg im Land, woanders tobte er, noch düster und blutig. Die Arbeit im Großhandel war ordentlich, auch wenn er hätte besser verdienen wollen. Zudem hatten sie sich gegen einige Schwierigkeiten in den Vortagen behauptet. Das war ihm für diesen kleinen Kreis in dieser Welt wichtig. Die Fragen nach Geld und einem besseren Status in der Gesellschaft waren in dieser Zeit nicht allentscheidend für ihn. Doch er irrte sich, wenn er der Auffassung war, dass die Frau es genauso sähe ... Er sprach über die wahre Lebenskunst des nichtmateriellen Denkens. Doch die Frau führte andere Dinge des Zusammenseins ins Feld ... Gerade wollte er von einer Boxveranstaltung und der Rennbahn mit den Pferderennen über 2000 Meter sprechen, zu die er sie alle einladen wollte am Sonntag, als die Frau begann: Er sollte sich einen besserbezahlten Job suchen! Was wäre schon ein einfacher Kaufmann? Dann müsste er ihnen einen Urlaubsflug auf die Malediven buchen, denn eine bekannte Ärztin hätte es ihr in der Praxis empfohlen und es wäre ein großartige Sache. Sie wiederholte es ungeniert, dachte bald. Ihre Provokationen hörten nicht auf. Sie sollte ihre Grenzen kennen, sagte sich der Mann. Sie sollte vorsichtig sein bei manchen Wörtern, sonst wird sie zu viel aufs Spiel setzen bei uns.

 

Am nächsten Tag gab es ähnliche Streitigkeiten zu besseren Verdiensten, nicht über die parlamentarische Debatte in der Hauptstadt zum fernen Krieg und dem möglichen Beitrag Deutschlands zum Frieden mittels Diplomatie und Wirtschaftssanktionen gegenüber den Kriegsparteien, sondern das reine Sprechen über berufliche Verdienste, seinen eher geringen Verdienst als Kaufmann beim Bauhhandelsunternehmen und ihre Aussage der Höherwertigkeit eines Besserverdienenden in der Gesellschaft. Dann stritten sie sich und er ließ kein gutes Haar mehr an ihr. Wo war ihr Respekt, ihre Moral, ihre Achtung vor der Beziehung? Sie sollte sich schämen. Es folgten weitere Beleidigungen.

Es war schade, aber sie war unverschämt geworden und er hatte sie zurechtgewiesen und mehr, dachte er in dem Augenblick. Es war der Anfang vom Ende. Ihre kleine, scheinbar heile Welt zerfiel sehr schnell vor dem Riesenwall der Erwartungen. Er gab ihr beinahe eine schalllende Ohrfeige, hielt sich aber noch zurück und wies sie mit den passenden Worten zurecht. Wir hatten viel Spaß zusammen, aber es sollte wohl wirklich auseinander gehen. Wiso er es die ganze Zeit nicht sehen wollte, fragte er sich dann. Woran es lag, an einer Furcht beim Eingestehen der wirklichen Welt?

 

Dann machte er sich mit dem Bus auf dem Weg zum Baustoffunternehmen, wo noch Justierungen und Details bearbeitet werden mussten bei dem Auftrag zur Errichtung einer 70 Meter mal 30 Meter großen Parkplatzfläche nahe eines Flugsportvereins mit Pflastersteinen ihres Unternehmens. Er wollte jetzt an den jüngeren Auftrag der Tiefbauabteilung denken und schritt dann mit angezündeter Zigarette aus dem Bus und auf das am Stadtrand liegende Baustoffunternehmen zu. Er schritt bald am Lager mit dem Steingut, den Entwässerungsrinnen vorbei und gelangte dann durch den rechten Zugang für Mitarbeiter in den Flur, wo er auf den am Flurende, unterhalb der Treppen, befindlichen Unternehmenstresor blickte, kurz stehenblieb, innehielt, nocheinmal hinblickte, ehe er dann nach einer halben Minute das vordere linke Büro der Tiefbaubteilung betrat und schon ein Telefonat wartete wegen des Auftrags zur Errichtung der Parkplatzfläche nahe eines Flugsportvereins, den er übernommen hatte und jetzt wieder anging.

 

© Deniz Civan Kacan

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.07.2014

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