Gabriel schreitet am leeren Cafe Journal und an einer evakuierten Bank entlang. Die Menschen fliehen wie vor einem Bombenabwurf oder vor anrückenden Panzereinheiten, denkt er. Die Friedensverträge zwischen Berlin und den Alliierten sind wohl für kurze Zeit aufgehoben. Irgendwo hier muss es sein. Der alte Mann, heute wohl ebenso Teil des Einsatzteams, gab ihm Auskunft beim Anruf im Büro.
Ein Pärchen, die Frau in einem gelben Mantel und mit klugem, schmalem Gesicht, der Mann etwas hinkend in einem grauen, älteren und abgenutzten Mantel, eilt vor ihm bald aus dem Cafe Celona die Straße hinab. Gabriel schreitet bald am Cafe entlang. Der Mann blickt die Straße hinab und späht mit hastigem Puls, ebenso die Frau mit ängstlichen Pupillen, nach einem abgestellten Koffer, aber er sieht keinen möglichen Sprengstoffkoffer oder Polizeitrupp, der etwas abschirmt. Das Verderben und Unrecht in dieser Straße abhält. Sie blicken umher, eilende Leute fliegen vorüber. Ein Büroangestellter auf einem Rennrad drängt die Straße hinunter, ein anderer springt in einen Militärjeep und lenkt in Richtung Stadtzentrum. Neben einer Laterne hebt der Mann im abgenutzten Mantel, die Hand zur Stirn, als decke er seine Augen gegen eine viel zu grelle Mittagssonne und blickt dann mit aufgesetzter Nüchternheit in die Wölbung der Straße, an einen Knotenpunkt, an dem er vielleicht einen Koffer entdeckt, um die Abstinenz von Vernunft und das mögliche Zerbersten eines Autos oder einfachen Koffers zu beobachten, die grausam in der Stadt eine unsägliche Komposition aus Detonationen, Blut, schwelendem Rauch, Tod und kriegerischem Verderben loslösen, eine böse Welle und Apokalypse in diese Stadt schleudern, weil die Welt in einen asymmetrischen, unbarmherzigen Krieg gesogen wurde, und jener Bombenkoffer verantwortlich für die Evakuierung dieses Stadtteils nahe dem Hauptbahnhof dieser Großstadt sein müsste, aber es ist nirgends ein feindlicher Koffer in der Straße sehbar, oder irgendein sich unheilvoll öffnender Kriegshimmel. Die Sonne über der Stadt und keilförmige Wolken am Himmel. Nirgends ein scheinbar verfinsternder, aufbrechender Weltkriegshimmel ...
Der ältere Mann zündet sich eine Zigarette an und blickt sich um.
„Da drüben sind zwei Polizisten!“, sagt er bald. „Zu ihnen, komm!“, ruft er bestimmend.
Die Frau schreitet neben ihm voran.
Im gesamten Stadtteil löst sich der Vormittag immer weiter wie eine widerliche Welle aus den letzten Jahren: Die Straßen sind mit Anwohnern, einem Mann vor einer kleinen Buchhandlung, zwei Arbeitern vor einem Farben- und Lampengeschäft, mit Frau Borgmann und McCullom vom Antikgeschäft, Herrn Kenan vom Urfa Restaurant, von Cafebesuchern, Arbeitern, Straßenmusikern, Soldaten, Ärzten, Gangstern, Trinkern, Anwälten gesäumt, als seien sie alle Flüchtlinge vor einem Höllenszenario und sehr Gewaltträchtigem ... Es gab an diesen Tagen keinen Kriegsausbruch, Kofferfund, aber die Straßen sind bedrängt, in diesen seltsamen Minuten Straßen einer marternden, auflebenden Vergangenheit und voller ausgelieferter, ängstlich forteilender Menschen wie in einem grässlichen Strudel der Zeit und auf der Flucht vor einer zuschlagenden, unsäglichen Stunde des Todes ...
Das Grelle der Sirenenkreisel ädert stumm und bedrohlich auf den Gesichtern der Leute, entlang der Gassen. Es streift über die rissige Wand eines Artilleriegebäudes und evakuierten Cafés, während Gabriel weiter schreitet und Ausschau nach einem der Kommandeure hält. Er geht bald an zwei Lagerhäusern vorüber. Erneut flitzen Leute über Treppenstufen aus den Eingängen der aschefarbenen Wohnhäuser zur Sportarena. Manche halten sie an den Wirtshäusern, einem Bistro und Billardsalon, wo sie flüstern inmitten der rasierten Zeit, dabei vernehmen sie noch die gellenden Lautsprechersätze.
„Verlassen Sie alle Ihre Wohnhäuser! Bitte verlassen Sie alle Ihre Wohnhäuser und machen sich auf den Weg zur Arena!“
Kinder rennen neben den aufhorchenden Alten im Affentempo an die Sperrbänder. Einige Jungs spucken und kichern, ein fünfjähriger Junge will darunter her laufen, während ein Jugendlicher ihm einen leichten Hieb an den Hinterkopf versetzt, herbeizieht und sie fortrennen, in die Nähe der Frauen, Anwohnern, Alten, vormals Bettlägerigen des Viertels, die fort trotten wie in einem langen, brüchigen Tunnel. Manchmal blicken sie sich zur Ausgrabungsstelle um, mit zappeligen Köpfen oder flinken Hälsen, ängstlich und vieldeutig wie in einer längst vergessenen Flucht. Gabriel Canova unterdessen orientiert sich am Team der Sprengstoff-Entschärfungsfirma.
Zu dieser Tageszeit haben sich Bereitschaftspolizisten und Frauen des städtischen Hilfsdienstes im Bezirk eingefunden. Vor den Absperrbändern entladen sie Kartons von einer LKW-Ladefläche, versuchen nichts einer hilflosen Eilfertigkeit oder brüsken Überforderung hervorlugen zu lassen, schneiden mit ruhigen Fingern die Pakete mit Messern oder Scheren auf und reichen einigen Anwohnern Decken. Aber sie wissen ebenso wenig wie die Flüchtlinge etwas über die ausgegrabene Fracht, wie ewig Bedrängte einer menschlichen Zivilisation, deren Abgründe und kriegerischen Flammen, für Stunden, inmitten dieser modernen, getakteten Straßenzüge, plötzlich fürwahr werden, als grässlicher Kokon in der Erde versteckt. Undeutlich, wie an einer vagen, hämischen, radikalen Fülle, die auf nichts, kein Menschenschicksal, auf kein Cafe oder hundertjährig bewohntes Haus Rücksicht nehmen will, auf keine längst verstaubten und archivierten Friedensverträge zwischen den Alliierten und Berlin.
Gabriel geht weiter. Er setzt sich vor die Hilfsgruppen. Zwei Jungen mit langem Körpermaß rennen an ihm und dem Kegel der Lautsprecherwarnungen vorüber, zu einem Schuppen. Sie verschwinden stumm in einer Gasse, inmitten der grellen, gespenstischen Minuten. Gabriel indes schreitet weiter in Richtung des Sprengkommandos. Er denkt an die Willkür der Kriegsfracht und ihren dreckigen, erbarmungslosen Radius.
Er geht weiter. Das Team wird da sein, denkt er. Bald gelangt er zum Schauplatz der Ohnmacht und finsteren Traumlandschaft. An den Straßenecken parken Polizeiwagen, Feuerwehrwagen und wollen einige Feuerwehrleute aufklären und Stärke zeigen. Den Fliehenden wollen sie etwas des Riskanten und der aufgebrochenen Angst in diesen Gassen ausreden. Sicherheit vermitteln, aber dennoch verschärft sich die aggressive Stille, die Regungslosigkeit, der Phlegmatismus in der Siedlung. Niemand kann eine abschließende Antwort geben. Vielleicht werden viele sterben?
Dieser Einsatz ist auch eine sehr späte Folge des Weltenbrandes von vor 70 Jahren, überlegt er. Der Einsatz hängt auch mit dem faschistischen Apparateumbau in den Dreißigern zusammen. Er führt sich einen Bericht, den er zu einem Gedenktag des Holocaust geschrieben hatte, der in der HAZ erschien, vor Augen: Diese düstere Dimension war in den vergangenen Monaten ins Hintertreffen geraten, nun kommt sie her: Etwas des Erklärungsansatzes für jene Zeit: Das Heroisieren der zerschlagenen Weimarer Republik, das Vergiften der Bevölkerung in perfiden, winzigen und großen Schritten mit der menschenvernichtenden Rassenideologie, mit Plakaten, Filmen, das Locken mit billiger Butter, heroisierten Wirtschaftsprojekten, das heroisierte Trommeln der Massen, die in braunen Uniformen als Vorboten des Zivilisationsbruches marschierten, dann die heroisierten, düsteren Erweckungsfantasien, das Wegsehen oder Bejubeln der Gesetzesverordungen ab 1933, die zur totalitären Naziherrschaft, in Repression, Terror, im Ausschalten der Opposition und schließlich in den Weltenbrand mit etwa 50 Millionen Toten führte. Eine brennende Welt und vernichtete Zivilisation. Die finsteren Judenverfolgungen, Treblinka, Dachau. Aber die Alliierten, das demokratische, das überwiegend schöne, freiheitliche, demokratische Deutschland siegten am Ende über den NSDAP-Totalitarismus, denkt er. Er hält für eine Minute inne, dann schreitet er weiter.
Bald sucht sein Blick hinter einer Absperrung nach dem Einsatzteam. Gabriel stakt weiter. Ich telefonierte mit ihrem Büro und sie fanden es in Ordnung. Sie werden schon da sein und es vorbereiten. Bald hält er seinen Presseausweis einem der Feuerwehrmänner vor dem Sperrband entgegen.
„Reporter?“, fragt der Mann und blickt über seinem Funkgerät hinweg.
„Sie sollten nicht am Abgrund dieses Viertels sein. Es ist hier fast wie im Krieg.“
„Ich bin freier Reporter für die Allgemeine dieser Stadt“, entgegnet Gabriel.
„Ein Moment. Ein Moment, der Herr.“
Der Mann horcht kurz auf, dann verknotet er ein Absperrband an einen Zaunpfosten und legt die Rolle auf die Pflastersteine.
„Verflucht“, sagt der Feuerwehrmann und rückt schlampig seinen Helm zurecht. „Und ich dachte, das wird nicht mehr schlimmer kommen. So was hatten wir seit dem großen Krieg nicht mehr. Das ist ein schamloser, verwünschter April. Erst vor ner Woche wurde uns auf m Land etwa 25 Kilometer nordwestlich dieser Stadt der Strom abgeschaltet, weil eine Riesenlake, eine Plane von nem Maisfeld oder Kartoffelfeld rüberwehte und sich in nem Strommasten verknotete und es fast zum endgültigen Unheil kam, als ein Junge aus der Siedlung dabei einen Stromschlag abbekam, nachdem er hochgeklettert war, aber immerhin durch einen tapferen Zivilisten noch wiederbelebt werden konnte. Wirklich schlimm! Jeder Arzt wäre zu spät gewesen. Die Stadt wusste sich nicht anders zu helfen, als den Strom unserer Gemeinde für zwei Stunden abzustellen. Und heute ist diese Stadt dran. Wenn das nicht ein schlechter April und ein angekündigtes Unheil ist!“
„Das kann noch niemand sagen. Aber die Straßen sind leer, als wäre diese Stadt in einem Kriegszustand“, sagt Gabriel.
„So was hatten wir seit dem großen Krieg nicht mehr. Wir müssen hier jeden aus der Siedlung lotsen, als bräche gleich der Dritte Weltkrieg aus.“
„Soweit sind wir hier zum Glück noch nicht“, gibt Gabriel als Antwort.
Der Feuerwehrmann filzt sein Sakko. „Da behalten sie aber ne ruhige Hand, was?“, er klopft mit dem angewinkelten Zeigefinger auf die Zigarettenschachtel.
„Was?“
„Ihre Zigaretten.“
„Ja.“
„Wir wären auch gern auf der Feuerwehrwache geblieben oder in der Puerto Bar für ein Bier, wo wir mit ein, zwei süßen Frauen an der Theke etwas getrunken hätten, aber keiner, der da heute etwas verändern kann und im Einsatzplan steht, will sich da raushalten. Ein Kellerbrand ist da ja noch schwach gegen.“
Gabriel lächelte und blickt die Gasse hinab.
„Das glaube ich Ihnen“, erwidert er. „Jetzt muss ich aber wirklich weiter zum Platz mit dem Einsatzteam und der lauernden Falle“, drängt er bald.
Nachdem der Wachmann ein Handy zückt, telefoniert, schreitet Gabriel weiter. Bald sieht er an einer entfernten Erdmündung zwei Overallrücken des Sprengkommandos. Sie wurden beauftragt. Inmitten einer leer gefegten, kahlen Straße eilt er auf das Sprengkommando zu. Der Fund in dieser östlichen Siedlung der Großstadt? Eine Fliegerbombe, die jemand im Wohnviertel nahe der Kreuzung der Admiralstraße und Krebsstraße entdeckt hat, dann die Polizei anrief, diese die Stadt alarmierte, ehe sie dann das Bombenentschärfungsteam anriefen und die Männer aus ihrem Büro im südlichen Stadtteil dieser Großstadt aufbrachen - ehe es zum Unheil in diesem Stadtteil kam ... Da nistet eine Fliegerbombe, die das Viertel wie ein feindliches Heer belagert hat. Sie kann töten wie mehrere Henker oder Killer zusammen. Neben ihr sind wohl alle bezwingbar, denkt er.
Er blickt zum Ältesten: Gemeinsam mit der Polizei und Stadtverwaltung ordnete er, unter anderem, das Lahmlegen der naheliegenden Straßenbahngleise, der Bahngleise und vorüber donnernden Züge (nicht jedoch des Hauptbahnhofs; doch durch dieses Viertel rattern nun keine Öl beladene Züge, pendeln keine Intercity Züge von dieser Großstadt in die Kreisstädte und Großstädte weiter im Süden), der Autokolonnen und das Evakuieren der städtischen, sowie zivilen Gebäude, die alle im Nu, mit ihrer Moderne und ihrem fortschrittlichen Status, im Netz einer sprungbereiten, tödlichen Spinne, an einer fürchterlichen, historischen, ewig weisenden Schlacht der Menschheit verharren, wie Insekten vor einem unsäglichen Spinnennetz. Der alte Sprengstoffmeister (den Namen „Kommandant“ und „Kommandeur“ hatte ihm vor Jahren der Schotte im Büro verliehen, so wie er selbst auch Kommandeur genannt wurde) orderte an, die Wohngegend solle im Radius von 1, 5 Quadratkilometern abgesperrt werden. So sperrten sie alles in 1500 tödlichen Metern des Einzugsgebietes ab. Per Lautsprecher erschallt noch die Warnung über den dunklen, halb sichtbaren, tödlichen Fund an den Decks der Polizeivans. „Weiträumig abzusperren!“, kreischt es.
„Achtunngg! Achtunnnggg! Fliegerbombe – Fliegerr --- bombe ausgehobbeennn!“, hören sie wiederholt. Die Warnungen schallen über die häßlichen, öden Bordsteine und jagen zu den Fliehenden, irgendwo in den Querstraßen der Siedlung, fliegen durch die gespenstischen Gassen, als wären es plötzlich wieder Orte des Krieges. Der Tod lauert wie ein Henker in den Gassen dieser hübschen, deutschen Großstadt …
Das gerufene Sprengkommando? Der Dienstälteste des Entschärfungsteams: Josef Richtland, der Sohn eines deutschen, aus der russischen Kriegsgefangenschaft in den 50ern zurückgekehrten ehemaligen Soldaten und einer Polin aus Hannover. Seit den Siebzigern im Metier. Der andere Kommandeur: Ian Callaghan. Schottischer Sprengstoffexperte, gebürtig in Glasgow, der seit über 10 Jahren und 9 Monaten in jenem Sprengteam keine Ausreden gegenüber einer Operation billigte und sich ebenso durch das Labyrinth der Falschmeldungen und tatsächlichen Fliegerbombenoperationen, den Weg aus Hannover zum Fundort in der Republik bahnte. Er ähnelt in der ersten Erscheinung einem Boxer oder Straßenschläger. Die Sprengstoffexperten sind aus dem südlichen Hannover hierher angereist. Dazu der dritte Mann, ein 18-Jähriger, gebürtig in Hannover-Kleefeld, dürrer Statur, mit zu jungem Gesicht und einem etwas dümmlichen Ausdruck und herausstechenden Augen, der eher wie ein Statist im Bild wirkt, wie jemand, der einen Schlag kassiert und runtergeht als das er austeilt, und der am Montag zuvor, nicht mehr an der zweiten Fahrerlaubnisprüfung scheiterte und im ersten Ausbildungsjahr der Firma für Bombenentschärfungen und mehr steckt. Alle tragen sie Overalls und auf jedermanns Kopf soll ein orangefarbener Helm vor tödlichen Splittern oder dergleichen schützen. Die Drei werden Gabriel später von einer grausamen Operation in Göttingen erzählen. Einer ihrer Berufskollegen aus Göttingen, der anders als drei erfahrene Arbeiter nicht umgekommen war, läge noch im Koma, nach einer Fehlzündung einer 50 Kilo Bombe mit Rotationszünder ...
Gabriel blickt zu J. Richtland und will die Lage erfassen, entlang des ungeheuren, vernichtenden Volumens. Wie viel sie wiegt? Das Gewicht der Fliegerbombe? Sage und schreibe zwischen einer halben und ganzen Tonne. Die Gestalt? Sie schaut aus, als wäre sie aus einem vulkanischen Erz oder ungeheuren Meteorstück gefräst und mit der Zeit, nach der Neuordnung des europäischen Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem vermeitlichen Ende des Kalten Krieges, gefärbt worden wie ein Stein, die Erde selbst über den petroluemfarbenen, listigen Stellen. Eine fast siebzigjährige Fliegerbombe des Zweiten Weltkriegs. Wahrscheinlich hält sie noch immer einen rostigen, teils unterschätzten Zünder und diese ewige Zerstörungskraft einer Kriegswaffe inne, denkt Gabriel, als er über einen Erdwall kraxelt, neben einem Kran.
Er nähert sich mit raschem Puls dem Sprengkommando an der Ausgrabungsstelle. Gabriel begegnet ihnen und stellt sich vor. J. Richtland marschiert gerade von einem Korridor her, der von einem einem ausgedorrten, zwergenhaften Feld zwischen Lagerhäusern herführt. Dabei funkt er etwas durch. Gabriel schaut zum hageren Mann mit dem Overall, Senatorengesicht, dem grauen Haarrist am Nacken und den dünnen, graubraunen Schläfen. Er wirkt für Momente beinahe zu alt, denkt er. Der Mann schaut niemanden an. Währenddessen blickt der Schotte, der andere Kommandeur der Sprengentschärfungsfirma, zum Erdloch und dem gräßlichen, listigen Erbe des letzten Weltkrieges der Menschheit.
„Eine englische eher als ne amerikanische 42er Bauart“, sagt der Schotte Callaghan. „Vielleicht ne 44er“, und begutachtet sie unaufgeregt, wie den Motorenbausatz eines ausgeschlachteten Luchspanzers oder eines Leopard Panzers. Der schottische Kommandeur ist ohne Sohn dort. Der dritte Mann kauert im Transporter, wird bald von Ian Callaghan hergerufen. Daraufhin rückt er seinen Helm zurecht, haspelt die Zündschnur einer Trommel schlampig auf und kippt sie auf die linke Ladefläche des Transporters und springt dann hinab. Der zweite Mann pfeift.
„Nimm das zur Seite“, hört er den Mann mit dem Straßenkämpfergesicht rufen.
„Was?“
„Stell es an die Wand, Junge.“
Der dürre Dritte nickt und greift ein hastig umgestoßenes Rennrad im Schatten des Fundortes auf. Er hievt es auf die Schulter und lehnt es an eine Hausfassade.
"Gut so?"
"Gut."
Dann läuft er wieder her und stellt sich neben den Ältesten nahe der Fundstelle.
Der Fundort? Die Gasse befindet sich in List unweit der Straßenbahnschienen nach Wettbergen, Altwarmbüchen und zum Hauptbahnhof, in denen die Pendlerstimmen der Banker aus Hamburg, Beamtinnen aus Linden und Lehrte, bummelnden Touristen aus Osnabrück und städtischen Arbeiter, Soldaten, Unternehmer, Straßendiebe und Verkäufer tausendfach wimmeln, während hier die Operation des Sprengteams alles aus der zerrissenen Zeit heben soll ... Am nördlichen Ende des Viertels, an der Weisskreuzstraße zelten Flüchtlinge aus dem Sudan in einem winzigen Park, angepflockt sind geflickte Zelte, dazwischen picken gurrende Tauben nach Brotstücken, stehen mit Wasser gefüllte Benzinkanister und Suppenkanonen auf Holztischen.
Unweit gelangen sonst Busse und Postwagen über eine lang gezogene Kurvenstraße zur Berliner Allee, fahren Radfahrer, betteln in einer Seitengasse manchmal Alte und einarmige Trickdiebe, die vom Bahnhof hertrotten, spielen Straßenmusiker mit Gitarren und ausgelegten Panamahüten rumänisch und ungarische klingende Lieder, und flanieren sonst, parallel zu dieser Seitenstraße der Lister Meile, Anwohner aus der oberen Schicht zur Reiseagentur „Weißer Elefant“, zum köstlichen, deutschen Restaurant „Feimanns“, britischen Juwelier „Imperium" oder Besucher zum Farben- und Lampengeschäft. Aber in diesen Minuten ist es nichts dergleichen. Niemand arbeitet dort mehr.
Einige Querstraßen weiter liegen ein Waschbetrieb, sowie Büroräume, die an Versicherungsgesellschaften verpachtet wurden. Niemand arbeitet und versichert dort in diesen Minuten. All sind sie wie im Echo einer grässlichen Nachkriegsmelodie evakuiert worden und haben ihren Büros und Betrieben den Rücken gekehrt ... Alle sind sie Fliehende vor der grässlichen, tödlichen Fliegerbombe des Zweiten Weltkrieges ...
In diesen Minuten verriegelt ein Polizeitrupp weitere Zufahrten zur Gasse, zum Viertel. 70 Meter weiter stolpert ein Pärchen aus einer spanischen Bar auf die Straße, drei Herumstreuner und Tagediebe eilen aus einem Wettenbüro und Billardsalon zum rettenden Ausgang. Andere bewegen sich mit Koffern, die sie in ihre Autos packen, oder auf Rädern, gehetzt wie Diebe und Bankräuber, an dem Goldaufkäufer „Akin“ und an toten Läden vorüber ins nächste Stadtviertel. In Distanz, riesiger Distanz zur wachsenden, blitzschnellen Unberechenbarkeit der Fliegerbombe … Die Evakuierung läuft noch voran… Polizisten und Feuerwehrleute schirmen Gebäude ab, die neben einem Fahrradgeschäft, einer Apotheke, einer Postfiliale und Bank der Siedlung in den Verlauf starren, blockieren Zufahrtsstraßen zur Gasse, als ginge es plötzlich um eine Ebene, die sich zwischen gigantischen Polen von Freiheit und Krieg, dem Weltbrand und Nachkriegsfrieden zu einem irren Takt einer Todes- und Kriegsmelodie in diesem Viertel erhebt ...
Gabriel blickt bald von den Gesichtern in die Gasse mit den Verzweigungen am oberen Verlauf. Westlich der Gasse mit der Kriegsfracht biegt man auf ein Gelände einer Postfiliale. Fährt man die Straße einige Minuten weiter schnurgerade in Richtung des Hauptbahnhofs, biegt östlich ab, gelangt man bald in Straßenzüge, in denen keine bürgerlichen Familien und Mehrfamilienhäuser mit der Mittelschicht mehr beheimatet sind. Es flankieren eine Speditionsfirma und einige platte, triste Wohnsiedlungsblöcke die Straße, in denen eher Hilfsarbeiter wohnen, Arbeitslose, Trinker, Gepeinigte, ehemalige Boxer, Junkies, Sippenführer, Gangster, Lagerdiebe, Tagelöhner und Huren einander begegnen, und Jugendliche mit geklautem Whiskey und geklauten Breitling Uhren herumlungern, und mögliche Einbrüche bei einem Juwelier oder Kleinladen in Kleefeld bereden.
Auch dort wurde seitens der Feuerwehr und Polizei gewarnt. Im Nu wurden Flüchtlingsströme in Bussen untergebracht, die zu Sporthallen gefahren wurden. Östlich der Gasse öffnet sich ein Feldabschnitt. Daneben ruht ein Artilleriegebäude aus der Erstweltkriegszeit. Die Gasse ist mit regengewaschenen Backsteinen gepflastert. Sie wirkt wie vernagelt und glänzt eisern und hämisch, wie bei einer hässlichen Vorahnung.
„Solange sie nicht explodiert wie in Göttingen. Oder im letzten Jahr in Düsseldorf und alle mit in den Tod reißt“, sagt der Jüngste des Entschärfungskommandos.
„Dafür sind wir hier, Junge. Diese Stadt soll heute keine falschen Sieger sehen“, entgegnet Ian Callaghan mit entschlossener Mine und dem unebenen Straßemschlägergesicht. Gabriel will das Material für seinen journalistischen Bericht in der Zeitung über diesen Einsatz während der gesamten Operation sammeln, fragt noch nicht, schreibt noch nicht in sein Notizheft. Er ist still und beobachtet das Team. Bald schreitet er mit den beiden anderen Männern des Sprengkommandos auf die fast quadratisch ausgestanzte Erdöffnung zu. Etwas des Lehms bröckelt aus der Lehmwand neben Steine und Wurzeln.
Die Sprenggefahr?
„Natürlich sind es teuflische Viecher. Drecksteile, die nicht von einem LKW fallen, der eine Fabrikhalle verlässt, sondern wie ein mörderischer Regen vom Himmel des Zweiten Weltkriegs gefallen sind. Aber auch diese Fliegerbomben müssen entschärft werden – oder sie entschärfen sich in einem dreckigen Moment selbst, mitten unter uns, mitten in einer friedlichen Stadt, wie von Geisterhand und wie ein Gott verfluchter fanatisierter Selbstmordattentäter in Madrid oder New York“, sagt der Schotte mit entschiedenen, drastischen Tonfall im Satz. Nach einer Pause:
„Also Sie verstehen, wir müssens tun, sonst wird in dieser Siedlung kein Mann mehr in die schicken, herrlichen Restaurants gehen und seine Frau zum Dinner einladen. Sonst wird hier wieder ein Tag von 1915 oder 1944 auferstehen.“
Der Jüngste in der Hierarchie blickt zur Ausgrabungsstelle und sammelt eine kalte, schlecht überspielte Unsicherheit in seinem Gesicht, die er mit einem jähen Profilieren wollen und einer entsprechenden Geste vor der Brusttasche des Overalls ausmerzen will. Dann fügt er eilfertig und mit hochtrabendem Schnellmut hinzu: „Dann werd ich schon im Loch anfangen.“ Die großen Augen auf Gabriel geheftet. Der dritte Mann zappelt herum, schreitet näher an Ian Callaghan heran.
„Was!“
Der Junge guckt mit eingeschüchterten Pupillen zum schottischen Kommandeur.
„Ich we…“
„Du machst gar nix, Junge. Ich gebe dir Ohrfeigen, wenn du alleine hingehst. Wir machen es gleich, wenn der Alte alles mit dem Einsatzteam, der Polizei und den roten Leuten abgestimmt hat“, unterbricht der Schotte seinen Satz, bestimmt und klar. Seine Hand stößt seine Schulter zurück. Der dritte Mann zappelt zurück, dümmlich lächelnd und etwas eingeschüchtert, und bleibt still.
„Junge, du machst manches ordentlich, aber niemand darf sich hier die kleinste Schlampigkeit erlauben, sonst wirst nicht nur du geopfert auf einem riesigen Minenfeld. Inmitten dieser funktionierenden Demokratie. Die Industrie der 30er und 40er Jahre und der Krieg haben sie leider geboren, du wirst schön neben uns bleiben und ein Schatten von uns bleiben“, sagt Callaghan dann mit freundlicherem Tonlaut und der Art eines in positiver Intention verweilenden Mentors. Der Jüngste löscht etwas der eingeschüchterten Anspannung in der Haltung und den Augen.
„Was ist, wenn sie wirklich hoch geht?“
„Das weiß keiner. Nur Gott weiß es“, erwidert der Schotte. „Noch sind nicht alle Leute von hier evakuiert. Manche werden mit Bussen weggebracht, in andere Viertel wie die Oststadt und Bothfeld. Einige sind aber noch nicht aus dem Viertel. Deswegen bleibst du still und da wo du bist“, beharrt der Schotte, mit einer aufreibenden Anspannung in den Pupillen, die er zumindest im Gesicht, an den Wangen, am Mund, mit einem Anflug des in den Vorjahren anerzogenen Rituals, kleinzukriegen vermag.
„Wie lange wird es noch dauern, bis alle aus ihren Wohnungen und den Lagerhäusern hinaus sind?“, fragt Gabriel.
„Das wird Ihnen keiner sagen können, nicht von der Polizei, nicht von der Wohnungsgesellschaft. Wissen Sie, manchmal gibt es Spaßvögel, die sich um die Sprengkraft dieser Fliegerbombe keinen Gedanken machen und es hinauszögern und dann wirds gefährlich. Jede Stunde, in der sie hier liegt, kann eine böse Stunde werden. Ein verdammtes Schicksal für diese kleine Welt hier werden, wie die Feuer von vor hundert oder vor siebzig Jahren.“
Gabriel schaut ihn an, will keine Furcht in seinem Blut aufkommen lassen. Er versucht das gesamte Bild mit kaltem Reporterblut aufzugreifen. Er hat auch seinen Auftrag, will eine Story für die Tageszeitung bringen und nicht das Niederringen sehen. Der Erste und Zweite Weltkrieg rang mit einer nationalistischen Politik und fahrlässigen Rüstungspolitik in Europa Millionen Soldaten, Zivilisten, Heckenschützen, scheiternde Generäle und erfolgreichere Generäle nieder, denkt er, wie General Georges Nivelle und General Petain für Frankreich im ersten Weltenbrand, rang an manchen Schlachten in den Karpaten ein Heer von 80 000 Mann an nur einem Tag nieder. Massenopfer. Weltkriege, die Dörfer, Städte, Länder verschlangen, die die zivilisierte Welt erneut nach Hitlers Machtergreifung niederbrannten. So notiert er kurz einen Bezug zum Wüten und Tosen des Wahns von 1914 und 1939. Jahre, in denen die Welt mit lauten Parolen in die Hölle marschierten. Die Revolution in Russland und Wilsons 14 Punkte Programm brachten für eine Weile Frieden nach 1918, ehe 1933 die Machtergreifung Hitlers die Zivilisation zerreißen sollte. So brannte die Welt. Regnete es als Reaktion solche Fliegerbomben von den Alliierten wie hier über dem völkermordenden Dritten Reich. Erst viel Leid kam. Aber zum Glück in Deutschland wieder die Menschlichkeit und Demokratie siegte nach dem Krieg und wir auch deswegen hier sind, in einem guten Land.
Er blättert das Notizheft um. Notiert dann etwas zum Ausdruck des Mannes und zum Platz, zur Stadt, die sich jedoch in einer gesunden Demokratie befand, welch Glück!
„Aber wir werden bald alles einleiten“, schließt der Schotte nach einer Minute mit der selbstbewussten Stimme eines Kommandeurs.
Etwas später schreitet J. Richtland die Straße hinauf.
Kurz hält er unter einer Laterne und blickt mit aufgesteckter Brille, mit die er abends, oft in südamerikanische Romane von Vargas Llosa auf dem Küchenstuhl liest, und nun über eine Broschüre mit Informationen zur Herstellung und Zusammensetzung verschiedener Fliegerbomben aus dem amerikanischen und englischen Arsenal der Dreißiger und vierziger Jahre blickt. Zuvor teile er die gesamten Daten mit Ian Callaghan, der in eine ähnliche Broschüre im Transporter gelesen hat. Bald steckt J. Richtland die Broschüre in seine Overalltasche, schiebt die Brille auf die alte Stirn und schreitet mit hinter dem Rücken verschränkten Händen her. Gabriel und der Älteste, Richtland, begrüßen einander.
„Von der Zeitung also?“
Gabriel stellt sich vor und erwähnt den beabsichtigten Artikel in der HAZ.
„Später können Sie mehr dazu aufschreiben. Bleiben Sie in der Nähe, wenn Sie in Kauf nehmen wollen, bei einem Fehler an der Bombe draufzugehen.“
„Okay.“
„Bleiben Sie immer nur bei uns.“
„Okay. Es wird hier wohl schon niemanden bezwingen und töten“, erwidert Gabriel.
"Es bleibt immer etwas zwischen Himmel und Hölle", sagt der Alte nüchtern, öffnet dann eine Schnupftabakdose und schnieft den Tabak. Gabriel blickt zur Tabakdose und zum bislang allem trotzenden Gesicht.
„Wir sind als Team hier. Das macht keiner aus purer Lust an einer neuen Herausforderung“, sagt der Dritte grinsend.
„Das hier gehört auch zum Frieden im Land“, ergreift Ian Callaghan das Wort. Der Dritte weicht seinem Blick aus. „Diese Fliegerbombe bedroht nach dem Kalten Krieg auch den neuen Frieden, das neue Jahrzehnt dieses Jahrtausends. Damals befreiten die Amerikaner Deutschland, aber in unserer Zeit hat diese Bombe nichts mehr zu suchen. Sie tötet, wen sie will und diese Willkür steht in einer zivilisierten Zeit weder einem Imperium noch einer Maschine oder einem Verwaltungsapparat zu, zu keiner Zeit“ verbessert sich Ian Callaghan.
„Unsere Zeit erlaubt es nicht“, sagt der Alte und blickt wie ein Unbeugsamer zur Ausgrabungsstelle.
Ian Callaghan dreht sich von J. Richtland zu Gabriel, packt ihn am Unterarm, berichtet:
„Im Vorjahr hatten wir acht Fliegerbomben, insbesondere vom amerikanischen Typus 101 – S in ganz Deutschland ausgehoben. Und jetzt ist es schon der achte verfluchte Blindgänger und Teufel, der aus der Nachkriegserde heraus will.“ Er lässt seinen Arm los, macht ein Schritt zurück. Ian Callaghan, in Glasgow gebürtig, ist ein mittelgroßer Mann, mit braunem Stoppelhaar, leicht gebogener Boxernase (und einer „Dean“ Namenstätowierung am Handrücken. Es ist der Name seines Sohnes, der vor Jahren eine Ausbildung in der Sprengstoffentschärfungsfirma begonnen hatte, neben seinem Vater, aber alles hingeschmissen hatte und zurück nach Glasgow in Schottland ausgewandert war). Ian Callaghan hat eine gefurchte Stirn und durch sein gealtertes, rasiertes Gesicht ziehen sich am linken Wangenknochen zwei tätowierte Buchstaben und aalt sich eine Narbe über der linken unteren Wangenseite, wie von einem Messerkampf oder Splitter, ebenso über seiner rechten Hand. Dann dreht er sich zu den nähernden, unsicheren Schritten des dritten Mannes, der wieder zum Team stakt.
Er wendet sich an J. Richtland.
„Erledige deine Aufgaben im Transporter.“ Der dritte Mann der Hierarchie nickt mit baumelndem Helm.
„In Ordnung, Boss.“
„Wir haben hier ne widerliche, rachsüchtige Fliegerbombe, die wird ihm keinen schnellen Aufstieg möglich machen“, sagt der zweite Mann. „Eine schnelle Karriere mit einem schnellen Tod braucht er und auch wir nicht.“ Sie lächeln.
„Das brauchen wir nicht.“
„Der Junge macht es bisher ordentlich unter unsere Augen und Anweisungen“, sagt Ian Callaghan, mit einer schwach ausgewaschenen schottischen Sprachfärbung.
„Ich lerne dazu, Boss“, erwiderte der Dritte.
„Das wirst du, Junge, wie für einen unsichtbaren Kampf. Der Kampf gegen die List und Erbschaft des Großen Kriegs hat nicht aufgehört. Aber erledige erstmal deine Arbeiten im Transporter, bevor wir an die Eingeweide herangehen. Na, Los“, befiehlt der schottische Vize-Kommandeur.
Der Junge trabt mit starrem Knochengerüst wie ein folgsamer Assistent oder ein Maultier, ohne sich umzuschauen, unentschlossen und schlaksig, zum Firmenwagen und bugsiert das Wasserstrahlschneidegerät und einige Späten mit Eimern im hinteren Bereich und schaut sich um ... Der schottische Kommandeur justiert derweil mit kalkulierendem Gemüt und Argwohn die Fliegerbombe. Sie kann so schnell morden, denkt er.
Neben ihm befindet sich J. Richtland.
Josef Richtland, der dienstälteste Mann in der Rangkonstellation, hat graues, teils braunes, kurzes glattes Haar, welches rings am Helm, im Nacken und am seitlichen Schädel lichtet, und ist mittelgroß gewachsen. Für Momente denkt Gabriel erneut, er sei vielleicht zu alt für solch eine Operation. Was ist wenn er plötzlich zittert und unkonzentriert ist? Er sagt nichts. Am Hals zieht sich eine Narbe, dick wie ein Tausendfüßler, hinauf bis zum rechten Ohr des Mannes, als hätte ein Bombensplitter dessen Hinrichtung beabsichtigt. Erbe eines Splitters, der ihn vor Nürnberg, bei der Entschärfung einer Phosphorbombe traf. Er ist für Momente wie ein mühsamer Schatten am weiten Schatten des Zweiten Weltkrieges. Damals der nationalistische, zestörerische Wahn in Gesetzesverordnungen, im gesellschaftlichen Alltag, wahnhaft sich steigernde Rüstungsindustrien und Erlösungsvisionen und die späteren mörderischen Lager, denkt der Reporter beim Anblick. Aber der Alte sieht es wohl nüchterner und nur das Jetzt: Auch jetzt will er kein schnelles Blut in sich jagen lassen. Die Ruhe ist ein großer Vektor in seinem Kosmos …
Abends gießt Richtland deswegen auch hin und wieder ein Glas Whiskey ein oder spielt eine Partie Karten. Allmorgendlich, wenn J. Richtland um 6.15 Uhr durch die Morgendämmerung oder die Rufe des Weckers auf der Nachtkonsole aufwacht, nach den Waschungen, dem Putzen mit gewaxter Zahnseide und dem Rasieren mit einem Rasiermesser, trinkt er einen Johanniskrauttee, den er gegen seine Schlafstörungen seit geraumer Zeit aufgießt. In 300 Gramm Päckchen hatte er ihn bei einer Apotheke in Hannover-Ahlem bestellt. Einige Löffel aus der Tüte. Dann übergießt er ihn mit siedendem Wasser aus dem Teekocher, wo er ihn am Küchentisch neben seiner Frau, die Lehrerin für Englisch ist, in Schlucken trinkt, ehe er aufbricht; an die Front gegen die Schrecken und verheerenden Ausgeburten des satanischen Zweiten Weltkriegs … Nun schabt er etwas des Lehms vom Overall und Mantel und bereitet es in Gedanken vor, mit ernster, reflektierender Mine und trotzenden Augen.
„In Göttingen hat es einen Sieg unseres Gegners gegeben“, sagt er. „Auch hier wird es keine einfache Operation werden, es gibt nie eine einfache. Manchmal gibt es sehr schöne Bombenentschärfungen. Aber nie wird es einfach sein mit dem vergangenen und gegenwärtigen Krieg.“
„Das glaube ich ihnen“, erwidert Gabriel. „Aber die Menschen müssen sich dem stellen, dann wird alles so kommen, wie es sein soll.“
„Sonst wird man zu viel verlieren“, sagt der schottische Vize-Kommandeur. Mittlerweile fliegt aus den Umgebungsstraßen kein Laut mehr her. Die Blaulichter der Polizeiwagen flirren entfernt, hinter den Kaffeehäusern, Wohnhäusern und Büroetagen, wie schrille Mahnungen über die Wände. Beide führenden Männer spüren die Vierteltonnenbombe in ihren Eingeweiden, jeder nimmt ihre karge, mächtige, höllische Trägheit wahr und Unberechenbarkeit, aber noch nistet sie als mörderisches Erbe der Alliierten, einst im Einsatz gegen die Organisationsstrukturen des NS-Regimes, in der Erde. Der schottische Sprengkommandeur breitet für kurze Zeit die topografische Karte der Gegend auf der Transporterfront aus. Gabriel blickt umher, guckt zum Birkenbaum, wo einige Vögel aufflattern, einige in die höheren Zweige fliegen, andere über die verlassenen Häuser in den Himmel fortfliegen …
Es vergeht eine Weile und dann hören sie den dritten Mann am Transporter.
„Wo is es? Find es nicht, Bosss“, ruft der dritte Mann vom Aufstiegsbrett des Transporters. Ein blondhaariger, dünner Junge mit einem grobschlächtigen Ausdruck, dessen Rufe aus dem Laderaum des Transporters hallen.
„Bring es endlich her“, ruft der Schotte bald.
Der Junge gibt keine Antwort. Man hört leises Reden im Transporter.
Ian Callaghan packt die Karte ein. Dann eilt er im raschen Schritttempo zum Wagen, durchforstet bald mit ihm die geradlinige und chaotische Ansammlung aus Messgeräten, Absperrbändern, Schnüren und Weiterem und blickt zum obersten Schrankregal. Mit dem Jungen geht er zurück.
„Du kriegst es nicht hin, Junge.“
„Entschuldige, Boss.“
„Dir könnte man einen Tresor mit Diamanten und Rolex Uhren vor die Füße hinstellen und du würdest nichts damit anzufangen wissen, was?!“
Der Dritte sagt nichts mit verschwitzter, rötlicher Stirn und dümmlichem, hilflosem Ausdruck.
„Hatte es vergessen.“
„Gib schon her.“ Sie lachen und stellen sich bald an die Fracht. In wenigen Augenblicken erkennt jeder wieder die Schwere der Fliegerbombe und den Ernst an der Erdmündung. Die Bösartigkeit hat sie durch die vielen Jahre unter der Erde und auch über die Erde, in diese demokratische, weltgewandte Stadt getragen.
Der Zünder? „Der Teufel soll jeden holen, wenn es einer ist …“, sagt Callaghan.
„Wenn es ein Säurezünder ist … Das wäre ein verfluchter Gegner und Kriegsschauplatz, bei dem niemand bloß verbluten würde“, sagt J. Richtland und erklärt: „Diese Viecher lösen sich ruckartig wie an einem Jagdgewehr, dann zerschellen sie mit dem Metallmantel und zerfetzen jede Eisenbahnlinie, Fabrikmauer, Bar und verfluchte, unglückliche Haut, die sie umgibt.“
„Hoffentlich ist es kein Säurezünder!“, echot der Jungspund murmelnd. „Hoffentlich ist es kein Säurezünder!“
Richtland spuckt zur Seite und berichtet: „Im Januar hat es mehrere Kommandoleute mit hässlichen Brandverletzungen, verbrannten Hälsen und Armen gegeben und leider auch einen toten Zivilisten, als in Bremen bei einem Gleisabschnitt eine Weltkriegsbombe, die abgesperrt werden sollte, auf einmal explodierte.“
Sein Gesicht nimmt kurz traurige Züge an. Der kleine Trupp verstummt.
Es ist die blutige, zermalmende Kraft der Weltkriegsbomben, die weiter existiert, denkt Gabriel. Der Reporter sieht sich im Nu wie an einem Hohn der Kriegsjahre und boshaften, ungenauen Befund der Gegenwart.
„Wissen Sie“, erklärt der grauhaarige Mann dann und wendet sich in den Halbkreis Gabriels, „Straßenarbeiter einer Baufirma hatten vorher für ne Tiefbaugeschichte in einem von der Stadt ausgeschriebenen Projekt und ner Entwässerung mit KG-Rohren die Fläche durchpflügt und aufgegraben, aber das Ganze ist dann in Bremen auf schreckliche Art gekippt.“
„Trotz des Teams, dass sich an die Fliegerbombe traute“, sagt Ian Callaghan. „Sie reißt Väter und Söhne in den Tod. Das ist ihr schmutziger Handel mit der Nachkriegszeit.“ Die Anderen verstummen.
„Was ist mit diesem Quartal?“, fragt Gabriel.
„Warten Sie“, entgegnet J. Richtland plötzlich. Tastet bald nach seinem klingelnden Handy, schreitet einige Meter vom Fundort fort, eher er das Gespräch beginnt. Spricht etwas ab mit einem der Polizisten, der mit zwei Wachmännern vor einer leeren Bäckerei einige Evakuierte betreut. Die anderen Männer bleiben am Erdwall.
„In diesem Quartal gab es das zum Glück noch nicht“, erklärt Ian Callaghan und dreht seinen Kopf dem Reporter zu.
„Sehr gut“, sagt Gabriel.
Die anderen Männer blicken von Gabriel zu Richtland, der zurückkehrt. Nachdenklich kniet er sich bald, neben dem Schotten, nahe an den Erdwall hin und betrachtet die Fliegerbombe. Sie führen sich die möglichen Zünder vor Augen und die Modellierungen, jedoch kaum aufgeregt, sondern ernst, erfahren und wachsam.
„Ein Säurezünder wird es nicht sein“, sagt Ian Callaghan und richtet sich auf. Gabriel blickt in die Gesichter der beiden Männer neben ihm.
„Wenn, dann können alle heilfroh sein“, stammelt das Milchgesicht.
„Wir, der Goldhändler weiter oben bis hin zu den Arbeitern und Straßendieben vom Bahnhof, die hier vorhin noch herkamen oder herumgestrichen sind. Sie spuckt auf die Geschäfte und Menschen der Stadt - und vernichtet sie dann.“
„Das würde sie.“
„Die Stadt kann nichts ohne uns machen. Wegen des Alters und dieser Anfälligkeit ist es ein Metallkorb mit Verderben und Tod darin“, weist Ian Callaghan hin. Dann blickt er an Gabriel entlang zu einer der lehmverkrusteten Schubkarren am Transporter.
„Diese Viecher sind die Überbleibsel der letzten Angriffe im Zweiten Weltkrieg auf das Naziregime und wissen nichts von dem neuen Deutschland, von dem guten, demokratischen Deutschland“, fügt Ian mit schärferer Stimme und blickt den Jungen an, dessen Augen erneut denen des schottischen Kommandeurs ausweichen. „Diese wird die Liste erweitern. Bislang sind in diesem Quartal sieben verfluchte Fliegerbomben auf unserer Liste.“
„Na dann sollte diese Fliegerbombe unsere Liste und die europäische Seele dieser Stadt nicht in Stücke reißen“, antwortet der Dritte.
„Warten wirs ab, Junge“, erwidert Ian Callaghan.
„Hol bitte einen der Eimer und Spaten her“, hören sie den Ältesten. „Auch das Schneidegerät.“
„Okay“, erwidert der Jüngste.
Der dritte Mann geht zum Absperrband am Gassenende und rollt vom Transporter einen weiteren verdreckten Spaten samt Eimer und Wasserstrahlschneidegerät in einem Schubkarren herbei. Zwischenzeitlich klettert Ian Callaghan einen Erdwall hinauf. Er langt nach einer Wasserflasche, trinkt, dann greift er einen Spaten von dem zurückgekehrten Jungen und gräbt, bald neben den beiden Anderen, am linken Rand der schrecklichen, höllischen Ader, einen Streifen frei, einen weiteren Winkel an der Fliegerbombe.
„Hier noch etwas.“
„Los, Männer.“
„Rüber.“
„Damit wir `s beginnen und beenden und dieser Stadtteil nicht wieder in einem Inferno wie zu Weltkriegstagen aufflammt“, sagt Ian Callaghan. Dann wechseln seine Augen zum Ältesten.
„Wir werdens beenden, aber mit dem Jungen hier und nicht mit meinem Sohn Dean“, stellt er gedankenversunken fest und sticht den Spaten in die unnachgiebige, sture Erde. Der dritte Mann erhebt sich nicht, verweilt in seiner nervösen, arbeitenden Haltung. Ian Callaghan gräbt und gräbt, ebenso J. Richtland. Der Schlaksige rollt die stein-und erdbeladene Schubkarre fort. Die beiden ersten Männer des Kommandoteams stechen die Bodenschichten wie grobe Quader und Würfel aus, und schleudern sie mit den innewohnenden Scherben auf die Karre, die der Lange dann fortschleppt und zu einem weiteren Erdkegel schüttet. Der Reporter notiert etwas in seinem Notizblock.
„Habt ihr das gehört? Sind einige Jungens des Viertels noch hier?“, hört er den Jüngsten. Für einen Moment streckt dieser plötzlich seinen Giraffenhals, als hörte er etwas. Vielleicht beschweren sich einige der Anwohner und verlieren sich an der unsäglichen, erbarmungslosen, entflammbaren Stille der Gassen. Ratlos späht er zur Straßenecke.
„Mach weiter“, weist der Schotte an.
„Ich dachte, ich hätte da was gehört“, sagt der Dritte, der zurückgewichen ist. Tritt gegen einen Erdhaufen, an dem Plastikflaschen herunterkullern und blickt wieder auf zur Arbeit der beiden Kommandeure.
„Los weiter!“, befiehlt der Schotte.
Sie arbeiten weiter, doch bald ebbt das aushöhlende, grabende Geräusch an der verwaisten Schreckensstelle ab.
Quer zur Ausgrabungsstelle der Weltkriegsbombe liegt der abgetragene Grasstrich und formieren sich ein zwergengroßer und großer Erdwall. Die Fliegerbombe steckt am Gassenrand, entlang der beginnenden Wohnhäuser und Lagerhäuser. Endlich haben sie den Zugang zur Entschärfung geschaffen. Wenig später geht der Älteste zur Erdmündung und blickt auf den Blindgänger, auf der Schnupftabakdose in der oberen Tasche seines Overalls klopfend. Die beiden Anderen kraxeln aus der Mündung herauf und dann stellen sich, Gabriel Canova etwas abseits, der Älteste, vielleicht ist er zu alt und unkonzentriert, denkt Gabriel plötzlich wieder, der Schotte und der Jüngste in eine Reihe auf.
„Ist das eine aus einer britischen oder amerikanischen Staffel?“, fragt der dritte Mann.
„Eine britische“, erwidert J. Richtland.
„Wohl aus einer bri---“, unterbricht der Schotte seinen Satz, rückt seinen Helm zurecht und horcht auf wegen lauter Schreie in einer der anliegenden Gassen … Plötzlich werden sie wieder still. Niemand sagt etwas. Eine unheimliche Stille schwelt im Bezirk. Gabriel spürt seinen heftigen Puls. Nicht einmal unbeladene Züge des Güterverkehrs des zwei Kilometer entfernten Bahnhofs rattern über die Gleise. Um zehn Minuten vor einer vollen Stunde und 21 Minuten nach einer pendeln sonst zivile Zugwaggons nach Stadthagen, Dortmund, Köln, Düsseldorf oder nach Hamburg. Eine Ewigkeit dauerte es scheinbar, ehe die Stille erneut zerreißt …
Während J. Richtland das Funkgerät aufdreht, schwillt plötzlich ein Knall, eine Welle durch die Gassen. Schwarzer Rauch springt über die Dächer an der südlichen Flanke der Gasse. Rauch frisst sich durch den Himmel. Nervös blickt Gabriel herum. Was ist es? Zu einer Straßenecke einige Hundert Meter weiter brausend, sieht er an einer Gasse einen Schuppen, der zuvor am Straßenrand als schmaler, übersehener Bretterbestand dastand, aufflammen. Gelbrote, hochschlagende Flammen … Der dritte Mann des Teams läuft zu ihm.
„Was für Schweinehunde!“, ruft der Jungspund. „Das ist bestimmt von den Jungs von der Heronstraße. Von diesen Hurensöhnen!“
Es rasen schon bald drei Polizisten und mehrere Feuerwehrleute aus den Querstraßen, von den Barrikaden, mit Löschgeräten zum ächzenden, krachenden, im Feuer versinkenden Schuppen, auch die Stimme des Sprengkommandeurs mit dem Boxergesicht fliegt zu ihnen: „Los, Leute.“
Sie schnappen zwei Löschgeräte aus dem Transporter. Ian Callaghan stemmt sich neben J. Richtland in den Schwall der Polizisten, Feuerwehrmänner. Bald erstickt das Feuer. Es kokelt nur noch etwas des splitterigen, harschen Holzes. Irgendwoher rennen einige Anwohner glotzend her, die vom Brand und Gestank angezogen werden, und sogleich von den restlichen Polizisten verscheucht werden. In eilfertiger Art drängen sie diese wie graue Aasgeier von einem Kadaver zurück. Derb riecht das verbrannte Holz und Benzin.
Einige Minuten später hört man die Sirenen von zwei Polizeiwagen, fluchende Stimmen. Polizisten, die zwei Jungen abführen, von denen einer einen Stofflappen mit dem getränkten Brennstoff aus der Hand wirft, und die sie an den Handgelenken und Köpfen zerrend, gegen deren Flüche, in den Wagen mit angelegten Handschellen drängen. Nach wenigen Minuten findet sich Ian Callaghan neben Gabriel und dem Sprengkommando wieder am ursprünglichen Gefahrenort ein, die Weltkriegsbombe lauert zum listigen Anschlag ... Noch immer nistet eines der unsäglichsten, finstersten Kapitel der Menschheitsgeschichte, lauert der Zweite Weltkrieg mit dem heroisierten Militarismus, den Erweckungsvisionen, dem revisionistischen, totalitären Staatsdenken, Mitläufertum, Denunziantentum, faschistischen Apparatebau, den Verbrechen gegenüber Andersdenkenden und Kz's, im Viertel …
„Verflucht, diese Jungen hätten Schläge und mindestens einige Ohrfeigen kriegen sollen“, sagt J. Richtland. „Als wäre es nicht schon genug an diesem Tag … Dein Junge hätte dir nie so ne Situation beschert, was Ian.“
„Diese Jungen werden ihre Gerichtsprozesse kriegen und von ihren Vätern hoffentlich die verdienten Ohrfeigen“, erwidert Callghan. „Mein Junge Dean hat seine Sachen gemacht. Der ist manchmal mit den anderen Jungs im Viertel abgehangen und hat sich nicht für eine Ausbildung oder Studium entscheiden können, aber so eine Brandstiftung hat er uns zum Glück erspart. Sonst hätte ich ihn geschlagen", fährt der Mann mit dem derben Gesicht fort. "Aber er fing ja hier im Unternehmen an und hat sich dann leider gegen diesen Job zwischen Frieden und Hölle entschieden. Aber das ist etwas anderes."
"Die werden sie bald vor Gericht bringen."
"Die Jungens mit der Brandstiftung werden ihre verdammten Strafen dafür noch kriegen, aber jetzt müssen wir diese Bombenentschärfung hinter uns bringen", sagt der Schotte dann.
Der dritte Mann im Team nickt in einer zurückhaltenden, neutralen Art, die dem fehlenden Gewicht in der Hierarchie gleichkommt. Er kann sich nicht mehr erlauben und will es sich nicht vermasseln.
Sie schreiten zurück. Der Schotte und Jüngste trinken bald etwas am Transporter, waschen ihr Gesicht mit dem Wasser der Trinkflasche und sammeln sich wieder am Erdloch, Gabriel neben ihnen. Kurz denken sie noch an das Feuer, dann erkundigt sich Gabriel wieder nach dem großen Höllenfeuer und den Gründen und der Art der Bombenabwürfe der Alliierten …
„Sie wird wohl aus einer britischen Hawker-Staffel abgeworfen.“
„Wol´ aus einer britischen Hawker - Staffel“, echot der Jüngste.
„Zum Ende des Krieges waren viele Jagdflotten überm Raum zwischen der Havel und der Spree im Einsatz, wo ich viel unterwegs war mit meinem Sohn im letzten September und Oktober. Da wurde die Erde genauso vom NSDAP-Regime befreit, aber auch querbeet mit Kriegsfracht und Fliegerbomben verseucht; die ehemaligen strategischen Punkte wie Waffenfabriken, Werften, Baufirmen, aber auch das Umland wurde getroffen von den alliierten Staffeln“, erklärt J. Richtland.
„Wie viele tausende haben sie abgeworfen?“, fragt der Jüngste.
„Was für tausende! ‘s waren wohl um die 2 Millionen Bomben im Krieg, Junge. Aus dem Himmel für die irre Welt hier unten.“
Der Junge erwidert nichts, lächelt kurz. Gabriel schreibt etwas in sein Notizbuch.
Richtland wendet sich ab. Ian Callaghan nimmt eine Prise vom eigenen Schnupftabak, dann schreitet er neben J. Richtland zu einem der Erdwälle, an dem dieser stehen bleibt und Dokumente mit Entwürfen zur Infrastruktur des Stadtteils hinauf legt. J. Richtland wischt mit einem Tuch die Hände sauber. Seine rechte Hand weist Brandnarben auf. Gabriel bewegt sich von der rechten Erdlochseite zum Sprengkommando. Der dritte Mann stakt her. Aus dem Hintergrund vernimmt man das Niederzischen der Spaten und seine zurückgehaltene Stimme. Der zweite Mann fährt fort: „Wisst ihr Leute, jeder wollte den anderen in dessen Land kleinkriegen. Über dem Land der Queen waren die deutschen Salamander Staffeln und Messerschmitts unterwegs, und ab 42 die amerikanischen Liberator und Short Sterling über dem Nazireich, Tag und Nacht bombardierten sie.“
„Tag und Nacht und jede große Stadt war vom Feuerteufel gefasst worden, ob Paris, London oder Bremen, Hannover und Hamburg“, sagt der zweite Mann. J. Richtland hebt seinen Kopf.
„Die englischen, polnischen und deutschen Schulen, Städte, Straßen und viele ihrer Menschen brannten und in den Konzentrationslagern von Auschwitz und Treblinka gab es den Völkermord“, sagt er mit Blick in die Gesichter der Gruppe. „Das Jahrhundert hat in der Zeit den hässlichen, gewissenlosen, schuldigen Menschen geboren.“
Sie verstummen eine Weile. Der dritte Mann blickt zu einem leeren Wohnhaus und dem Absperrband. Niemand sagt etwas. Gabriel klappt seine Mappe zu, blickt in die leere Gasse. Nach einer Weile beginnt der dritte Mann wieder, mit einer sich etwas fürchtenden und ehrfürchtigen Tonsequenz gegenüber der Schwere des Vorgestellten.
„Welche Staffeln waren es über England? Welche waren unterwegs?“
Richtland faltet die Papierskizze zusammen und steckt sie zum Tabak in die Overallbrusttasche.
„Ab 44 flogen, glaube ich die Salamander - Jagdflugzeuge und Messerschmitts Me 323 und Bf 110 Typen über der Insel. Die braunen Flieger nahmen die Sonnenseite und zerstörten dabei Munitionsfabriken, Rolls Roys Firmen, Eisenbahnen, Tower, Offiziersstützpunkte, und Kernpunkte der Städte.“
„Verfluchte Flieger“, sagt der dritte Mann.
„Der Vernichtungsfeldzug sollte noch weitere Räume umfassen, der Osten reichte der völkermordernden Rassen- und Lebensraumideologie nicht“, gibt der Älteste zur Antwort. "Deswegen produzierte die Rüstungsindustrie wie im Wahn, auch die tausenden Flugzeuge für die Luftwaffe."
„Der Krieg war mit eine extreme Rüstungsproduktion hochgefahren worden, der Weltkrieg war dann von den Nazis in ihrem Wahn erzwungen worden. Der Blitzkrieg gegen Polen und andere Völker. Und musste dann von die Alliierten für den Weltfrieden ausgekämpft werden, mit der Befreiung Europas, der Normandie und die eingesetzten Einheiten am Ende der Welt und dann kam nach 49 auch das Licht wieder hier in Deutschland“, sagt Ian Callaghan.
Der schottische Sprengexperte tritt mit seinen Schuhen gegen einen Stein und schleudert ihn wie einen Tennisball über den Erdhügel, und fährt fort: „Wie konnten die Alliierten noch wegschauen? Ab 41 oder 42 habn dann die Amerikaner angefangen mit ihre Liberator - Bombern über die europäischen Fronten zu fliegen. Die Briten habn tagsüber und auch die Nachtbombardierungen unter ihren Luftwaffenmarschall Harris, Sir Harris hieß der Mann, glaube ich, geflogen. Aber sie habn auch auf die Ölvorratslager zugejagt und nicht nur auf die Kasernen.“
„Die Welt verstand, was noch kommen würde. So haben sie ordentliche Brückenköpfe gebildet“, sagt J. Richtland, „sie haben Brückenköpfe gebildet und dann diese Abstriche unter ihre Jägerstaffeln und Liberator Maschinen genommen.“
„Und später?“, fragt der Jungspund.
„Nach den Jägerstaffeln kamen dann die Divisionen der Amerikaner.“
„Ich glaub, die eine kam über den Kölner Raum.“
„Die Amerikaner kamen jedenfalls erst übers große Meer, landeten in Frankreich, eroberten die Strände und feindliche Bunker und mit ihnen kamen die anderen Alliierten und dann kam endlich die Befreiung von der Tyrannei und das Licht zurück in die Welt“, sagt Callaghan. Nach einer halben Minute der Stille wiederholt er gedankenvoll. „Später kam dann die erste und neunte Division der Yankees. Ich glaub, die kamen über den Kölner Raum, nicht hier.“ Er tritt mit der verwitterten Schuhspitze gegen einen Erdhügel, an dem Erdbrocken hinab fallen. Dann blickt er wieder zu J. Richtland.
„So oder so waren es zu viele Opfer“, sagt J. Richtland. „In der Normandie die Toten am Strand als auch im Rest Europas. Die Welt darf niemals feige sein gegen eine Tyrannei. Die Nazi Tyrannei muss immer eine Lehre bleiben.“
„Hoffentlich ist es so im künftigen Europa - und bleibt es eine Lehre zum Rassismus, Faschismus."
"Wer weiß."
"In der ganzen Welt, von Pearl Harbor bis Stalingrad waren es damals zu viele Opfer, unschuldige Zivilisten“, erweitert Ian Callaghan. „Und Hannovers Rathaus war nach 45 wie n Rathaus einer anderen Stadt, das war `n Trümmerskelett.“
„Im Rathaus war ich erst am 14. März, bevor ich zum Pier Cafe am Maschsee fuhr. Es ist ein schönes Gebäude. Damals musste den Zustand von 45 aber jeder alliierte Stadtkommandant gut gefunden haben, bestimmt auch einige Verwaltungsleute, die sich dann für unsere da noch junge Demokratie einsetzten, und die sich ja gelohnt hat“, sagt J. Richtland. „Während die Amerikaner die NS-Lehre im Weißen Haus in Washington zum Bösen erklärt hatten, was sie auch war, weil sie die Menschlichkeit zutiefst verachtete, wurden gleichzeitig die alliierten Fliegerbomber vom Nazi-Rundfunk und dem Goebbels zu Feinden erklärt, weil die Alliierten, anders als sie, die Menschlichkeit und Menschheit verteidigen wollten. Aber jeder Mensch kennt doch Stolz und muss sein Recht auf ein freies, gutes, respektiertes Leben haben. Heute klappt das wohl besser hierzulande. Was soll jede sonst so wunderbare Wirtschaft sonst wert sein, wenn alles den Menschen und Frieden klein macht. Damals war der Wahn leider in der Stadtverwaltung und Schullektüre drin. Ich weiß es von meinem Vater, der mir nach seiner Rückkehr aus Russland, aber erst etwas später, viel erzählte von der Zeit.“
Er macht eine kurze Pause.
„Jedenfalls flogen die alliierten Flieger auch hier und zerstörten überall im Reich die Lager, Schaltstellen und die Diktatur.“
Erneute Pause. Er richtet seinen Overall an der Schulter zurecht.
„Bei Gott! Das war ein schlimmes Blutvergießen. Wir haben hier unsere Invaliden und Toten in den Familien gehabt, wie meinen Onkel Richard in Hamburg, der bei einer Zeitung arbeitete. Er schrieb über die Ostfront. Bei einem Bombardement kam er um.“
Wieder unterbricht er sein Reden. Die anderen blicken zu ihm.
„Wir hatten in Deutschland die verbrannten Häuser, Rathäuser, Bunker, die zerbombten Hotels, Suppenküchen, Fabriken, Arbeiterlager. Aber heute haben wir ne ordentliche Republik und Denkmäler gegen den Faschismus. Als Symbole für unsere gewonnene Demokratie, verflucht, die wir immer hochhalten müssen, weil der Wahnsinn der Mordindustrie damals wirklich passiert ist. Ich würde den Job hinschmeißen, wenn wir in ner Tyrannei die Erde ausheben und wir den Sprengstoff der Bomben, nicht zu den Hochöfen, sondern an ein tyrannisches Bataillon in irgendeiner europäischen Stadt abliefern oder schicken müssten.“
„Da würde ich mit dir hinschmeißen“, pflichtet der Schotte bei.
Josef Richtland fährt fort: „Von der Familie meiner Mutter, die aus Warschau stammt, gab es schon im Herbst 39 in ihrer Verwandtschaft 17 Todesopfer bei den Fliegerangriffen der Nazis. Auch ihr 54-jähriger Vater Aleksander war dabei. Du weißt das.“
Ian Callaghan bejaht und sie verstummen wieder etwas. Er blickt in die Gesichter und Gasse. Einige Vögel fliegen die Gasse entlang und sind dann an einem Mauervorsprung fort. Es dauerte eine Weile, dann erzählt er ... „Du kannst dich ja noch an Jonas, den Langen, den Trinker erinnern, der 2004, noch vor meinem Jungen aufgehört hatte bei uns.“ Ian Callaghan wendet sich zu Gabriel und dem Jungspund.
„Der Lange war ein früherer Mitarbeiter, der selbst bei einer Entschärfungsoperation nahe Hamburg, bei der Minen und Panzerteile aufgespült wurden, fast ums Leben kam, aber später von sich aus aufgehört hatte … Er erzählte mir mal, dass sein Onkel ´45 seine Schwester Sarah und Mutter vom Hof in einem Vorort von Hamburg etwas abholten, nur eine Milchkanne und etwas Brennholz geholt hatten. Als er dahin kam, fand er die Leichenstücke von seine Verwandten wieder. Es war der richtige Krieg gegen die NSDAP, traf aber auch zwischen den Mördern Unschuldige“, sagt der Mann von der britischen Insel mit höflicher, bedächtiger Art.
„Der Krieg war ein großer, unbarmherziger Krieg, wir müssen für unsere Zeit etwas machen“, erwidert J. Richtland. „Es darf kein Dritter Weltkrieg losbrechen in Europa, dafür braucht es große Staatsmänner, die die Entscheidungen und den fatalen Kriegseintritt von 1914 vor Augen haben, und ein Diplomatiegeschick für ein ganzes Jahrhundert haben, das wären dann große Staatsmänner.“
„Hoffen wirs für die Leute von 2015 und 2025. Aber so oder so ist es mit diesen Fliegerbomben noch immer `n ungesehener, verstummter Krieg. Jedenfalls ist mit diesen Drecksteilen auch das Unheilvolle einer barbarischen, kranken Ideologie begraben und man kann es riechen, wenn man lange dabei ist.“ Der Jüngste beobachtet ihn und sagt nichts. Gabriel notiert etwas im Block.
„Heute ist es ein wortloser Krieg. Aber der große Krieg damals war n Krieg für die Freiheit und den kleinen und großen Frieden in der Welt“, sagt J. Richtland. „Deswegen dürfen Obama, Hollande, Merkel und der Osten nicht den Fehler von 1914 oder den 30ern mit dem blinden Expansionismus machen und sich in irgendwas auf nem europäischen Schauplatz reinziehen lassen. Sie sollten lieber alles gegen den IS bündeln. Die Menschheit darf nicht in einen Dritten Weltkrieg gezogen werden.“
„Die Welt hat immer nur ihren kleinen Frieden, nie ihren großen“, setzt Ian Callaghan hinzu.
„Der Krieg ist ein Schatten der Menschheit und sie wird diesen Schatten nie abwerfen.“
„Die Menschheit und ihr enges, dunkles Schicksal mit dem Krieg.“
Sie verstummen kurz.
„Aber weiter jetzt, Leute“, sagt der mittelgroße Kommandeur.
„Boss, heute weiß man` s aber wohl, was es gebracht hat mit dem Einmarsch der Amerikaner in Europa gegen Hitler“, bemerkt der dritte Mann.
„Es war ein hässliches Jahrhundert der industriellen Barbarei, aber brachte durch die Amerikaner den Sieg der freien Völker, auch des guten, demokratischen Deutschlands“, stellt der Älteste mit monotoner, unruhiger Stimme fest. „Weiter jetzt, Männer! Grabt links auch weiter etwas“, befiehlt er dann ebenso. Sie graben drei ellbogenlang tiefer. Der dritte Mann streift seine Handschuhe aus dem Overall nicht über und gräbt so. Bald rollt er einen von einem der fliehenden Passanten zurückgelassenen Koffer zur Häuserwand.
Er lehnt ihn wie zuvor das Rennrad an und gelangt zurück zur Gruppe. Er hört die Stimme des hageren Mannes, der fort fährt: „Die Engländer konnten sich sehr oft auf die furiosen Hawker - Hurricane Jägerstaffeln in ihrer Luftwaffe verlassen, die wendig waren gegen die Messerschmitts, aber die Bomben über den Städten kamen nicht aus ihren Bäuchen“, erklärt bald der Dienstälteste des Teams. „Sie haben sie, glaube ich aus den verfluchten ´Short Sterlings´ geworfen. Die alliierten Piloten hatten sich mit ihrem Leben den viermotorigen Maschinen anvertraut. Sie müssen sie oft auch gehasst und zur Hölle gewünscht haben, wenn einer ihrer Brüder von den Verteidigungsschützen getroffen wurde.“
Gabriel notiert im Stakkatostil etwas in seiner Notizmappe. Der Dritte blickt zum Reporter, ehe ihn der Schotte herbeordert, der dritte Mann rückt seinen Helm zurecht und wirft mit der linken Hand eine Schaufel in den Schubkarren. Er spuckt neben die Karre. Richtland klopft auf der Overalloberseite, trommelt auf der Tabakdose mit den Fingern.
„Da sind schon Geschichten dabei.“
„Ja, ganz viele üble. Diese Fliegerbombe schert sich auch heute nicht um irgendein Schicksal“, sagt Ian Callaghan. Sie ist hässlich und will sich, wenn sie nur kann, an dieser Zeit rächen, denkt er. Sie beneidet diese Zeit, diesen glänzenden Frieden und Zustand.
„Zum Teufel, der damalige Krieg war `n Sumpf für die Menschheit. Der Wahnsinn und die Hölle durch hasserfüllte Ideologien und verheerlichten Militarismus“, sagt J. Richtland. „Diese Fliegerbombe hier weiß nichts von den vielen Opfern in den Freiheitskämpfen gegen den Faschismus in Europa und der Welt. Sie waren der wunderbare Kampf für ein besseres Jahrhundert und unsere Demokratien. Die Brücke für das Bündnis zwischen Europa und der freien Welt gegen die verfluchten mörderischen Systeme.“
„Das ist so.“
„Gewiß.“
„Aber ob dieses Jahrhundert nicht auch in nen großen Krieg hineinstolpert.“
„Das könnte sein.“
„Wegen den IS-Verbrechen wird es wohl zum totalen Kampf der Blöcke gegen den IS kommen, weil sie sich gegen ihn stellen und den Weltbrand der Zivilisation keiner will.“
„Die Völker wollen sich nicht bekriegen.“
„Die Anti-IS-Allianz um Amerika, Kanada, Frankreich, Deutschland und die mutigen Kämpfer aus Kobane und Peschmerga-Armee aus Irakisch-Kurdistan am Boden mit den Milan Raketen, die sie von der Bundeswehr erhielten, als auch die irakische Armee und natürlich die Russen mit ihrer Luftwaffe wollen den IS bezwingen. Da kämpft man gemeinsam gegen den richtigen Feind.“
„Das wäre sehr gut, weil man miteinander redet und den IS zusammen bekämpft, ehe der sich noch weiter ausbreitet wie ein Geschwür.“
„Das wäre es, aber wie stark die Diplomatie und Bündnispolitk ist, wird sich zeigen.“
„Sie kämpfen gegen den IS, aber auch nach den Siegen über den IS ziehen manche zu Felde gegen ihn.“
„Was meinst du?“
„Ihre Sprengfallen.“
„Ja, das sind teuflische Fallen!“
„Genau. Wisst ihr, wir ringen hier in Deutschland mit den Geistern des Zweiten Weltkriegs. Aber im Einsatz gegen den extremistischen IS, muss die Speerspitze der internationalen Anti-IS-Koalition, müssen die verbündeten Peschmerga und SDG Kämpfer, wie ich kürzlich in einer Meldung las, die Befreiung der Stadt Hasakas oder Kobanes oder das Umland vom IS nicht weniger fürchten als die Zeit der Besatzung. Die haben eine Masse an Sprengfallen hinterlassen. Wahrscheinlich werden den kurdischen Sprengteams kanadische, amerikanische und einige europäische Spezialisten helfen. Bestimmt auch gute Leute von der Bundeswehr. Hier können wir es schneller überschauen, aber es ist nicht weniger gefährlich. Jede Sprengfalle ist eine perfide Konstruktion für Zivilisten, Profis und für viel Leid gebaut.“
Die anderen hören zu, sagen für eine Weile nichts ...
„Leider ist sie das, aber wenn sie da operieren und den mörderischen IS fernhalten und danach die Städte sauber bekommen, wird es gut für sie und auch alles leichter für uns sein.“
„Und solange auch die Machtblöcke einen kühlen Kopf behalten, werden sie nicht wie im Ersten Weltkrieg in die Hölle eintreten ...“
„Wenn nicht, kann es vielleicht einen Dritten Weltkrieg geben. In den Ersten marschierten sie wegen einem Schuss in Sarajevo oder Belgrad rein, diesmal darf keiner sich darauf einlassen. Die Ordnung, egal wo, muss man, zumindest ausschöpfen bis zum letzten Moment, und letztlich mit der Diplomatie erreichen.“ Sie verstummen kurz. Gabriel blickt zum Baum, in dem kein Vogel, scheinbar auch kein helles Sonnenlicht mehr ist, dann in die wie eingefrorene Gasse an deren Seiten keine Bäume, sondern dunkle, unebene Gemäuer empor wachsen und klemmt seine Mappe unter seinen Oberarm.
„Ich will nicht soweit denken.“
„Die Welt wirkt mancherorts nicht reifer und gewappneter gegen die Tyrannei.“
„So ist es.“
„Jedenfalls ist die Fliegerbombe früher ein Befreier gegen die Diktatur gewesen, der leider auch Tote in Kauf nehmen musste, aber auch heute würde sie töten, aber keinen einzigen Toten rechtfertigen.“
„Sie würd jeden Frieden in dieser Stadt begraben wie ein Scharfrichter oder Totengräber“, sagt Ian Callaghan.
„Sie hat keine Freude am Frieden … Der einfache Frieden bringt manchen kein Geld und keine Freude.“
„Dieser Dreckshund will morden. Das würde diese Fliegerbombe sofort, aber den größeren Frieden unserer Demokratie kann sie nicht besiegen. Das schafft sie nicht.“
Der andere gibt keine Antwort, lächelt. Gabriel stellt sich zwei Schritte vor J. Richtland.
„Nein, nein, Josef“, sagt Callaghan gedankenversunken. „Das schafft kein Dreckshund.“
„Kein Dreckshund“, echot der Jüngste.
Der erste Mann verschränkt die Hände hinterm Rücken. Er geht einige Meter, langt dann im Transporter nach einer Wasserflasche und einem Brotbeutel, in dem drei Brote mit Butter und Käse eingepackt sind, aber er fühlt keinen Hunger, trinkt etwas und legt beides zurück.
Dann kommt er zurück.
„In ihr steckt zumindest kein Säurezünder“, sagt J. Richtland.
„Das wird wohl ein Aufschlagzünder sein, den wir rausschrauben werden, wenn es kein verrosteter Zünder ist“, ergänzt der Schotte. Der Jüngste hört es wieder mit dicker Freude. „Sonst werden wir mit dem Wasserstrahlschneidegerät ran müssen ... Damals setzten sie viele mit Säure ein. So eine verbrannte alles im Höllentempo und alles ging hoch. Das war wunderbar, als die Ladung damals beim Abwurf auf das Dach einer Fabrik fiel, wo sie Stiefel oder Munition für die Ostfront produzierten oder einen Verwaltungstrakt der NSDAP treffen sollte“, erklärt der Schotte. Gabriel nickt.
„Ein Säurezünder ist immer eine Hure.“
Der Jüngste grinst.
„Wahrscheinlich ist es ein mechanischer, herausschraubbarer Zünder“, sagt Callaghan.
„Es muss einer sein“, sagt der Jüngste. „Damit hätten wir wirklich Glück.“
„Wir müssen den Rost an ihm sehen, um zu wissen, wie viel Glück die Stadt hat.“
„Sonst fräsen wir ihn aus der Bombe.“
Richtland wendet seinen Kopf zu Gabriel.
„Jedenfalls ist es kein verfluchter Säurezünder, wie bei einer Fliegerbombe vor Hannover im letzten Quartal. Das Dreckszeug hatte sich in der Glasampulle durchgeätzt und einen verfluchten Schaden verursacht. Hier können wir es wenigstens mit etwas Glück und Geschick beeinflussen“, erläutert der Mann mit dem bräunlich-silbernen Kopf. Plötzlich rauscht das Funkgerät. Es ist der Kanal zur polizeilichen Einsatzzentrale. Kurzerhand verlässt er den Schauplatz. Er marschiert zwischen den Erdwällen zum Artilleriegebäude und den Polizeiwagen; wo sie vor einem Druckerladen, einer leeren Bäckerei, drei Wagen abgestellt haben. An ihnen und den toten Läden läuft ein Hund vorüber wie in einer Geisterstadt und duckt sich unter einem Zaun hindurch, fort zwischen einem Hof und einer stillen, uneben gepflasterten Gasse.
„Kein Säurezünder, bei Gott, es ist kein verfluchter Säurezünder!“, sagt der dritte Mann wieder.
Sein Gesicht löscht etwas einer Ängstlichkeit, nicht mehr zur Gassenecke stierend. Plötzlich wendet er sich auf einem Bein drehend um.
„Boss“, sagt der Jungspund, „da, haben Sie das Kichern gehört? Da war`s wieder. Neben dem leeren Cafe an der Ecke.“
Der Schotte blickt zum Gassenrand. Die fragenden Augen des Jungspundes schwenken ebenso. Der Jüngste ballt seine Aufmerksamkeit und stiert wütend und neugierig zum Häusereck, aber bald jagt der vor der leeren Druckerei schnüffelnde Hund aus einer Böschung in das Labyrinth der Wohnblocks. Lautes Lachen.
„Da waren bestimmt noch Gaffer“, vermutet der dritte Mann.
„Kann sein. Aber die werden schon aus dem Sperrbezirk raus gejagt, sonst werden sie ne satte Strafe von der Polizei kriegen“, sagt Ian Callghan.
Dann schreiten sie zum Transporter. Drei, vier Minuten der Wortlosigkeit. Jeder der Männer trinkt etwas. Am Himmel einige Wolken, die flach über die Dächer fliegen. Am Firmentransporter kommen sie zusammen.
Noch ist der Älteste nicht zurück. Die Erlaubnis zögert sich wohl hinaus. Der Polizeibeamte Krämer unterrichtet Richtland wohl gerade oder wird sich wegen der Sicherung des Stadtviertels noch melden.
Callaghan weiß um die Bedeutung der richtigen Zerstreuung zum richtigen Zeitpunkt.
„Mittwoch wird Atletico gegen Liverpool spielen, richtig? Im Calderon?“, fragt er bald.
„Ja richtig“, antwortet der Jüngste. „Im Estaadioo Vicente Calderoon zum Spiel der C Gruppe um die Tabellenführung“, ergänzt er mit heller Stimme, Betonung auf den spanischen Begriffen und mit einer freudvollen Art, als moderierte er soeben den Einlauf der beiden Teams für einen übertragenden Radiosender.
„Atletico ist ein ordentliches Team“, sagt Callaghan.
„Ein wieder großes Team in Europa.“
„Hätte mir lieber einen Verein aus Glasgow oder die Bayern bei Atletico gewünscht!“, sagt Callaghan.
„Mittwoch wird es gegen Liverpool sein!“
„Die Reds spielen nicht mehr so klug wie noch wenige Jahre zuvor“, räumt Callaghan ein.
„Die werden verlieren. Die werden Mittwochabend verlieren.“
„Diego Simeone macht einen exzellenten Job bei Atletico“, sagt Callaghan.
"Ja."
Sie blicken, nun mit weniger Spannung vor der stillen Gefahr, einer möglichen Explosion, in die sich wölbende Straße, mit fast friedlichen Gesichtern.
Es ist wichtig sich nicht wahnsinnig zu machen mit dem Warten und bösen Fantasieren.
„Er ist ein Killer, killt die anderen Teams, wenn es darauf ankommt, ob die klasse Spieler von Valencia oder Juventus. Mit einer klugen, passenden, schlagbereiten Strategie“, sagt Callaghan dann.
"Es wird schwierig."
„Natürlich, aber er ist ein kluger Anführer an der Linie im Calderon.“
„Auch wir brauchen hier einen Simeone, der die Fliegerbombe und ihren Zünder lahmlegt", sagte der Jüngste.
Sie schmunzeln.
„Die Fliegerbombe werden wir noch vor der Fahrt zurück zum Büro lahmlegen“, sagt der Schotte mit einem erneut blitzenden Eifer in den Augen und dem wieder straffer werdenden, sich sammelnden Falkengesicht.
Gabriel kommt von der Gebäudewand, wo er etwas zum Einstiegssatz des Berichts überlegte und schreitet zu ihnen. Denn soeben heftet sich das Funkgerät an das Kinn des Ältesten, der wieder mit ihnen ist.
Die Polizei hätte noch einige Diebe in einer nahen Seitenstraße geschnappt, die in einem Café vermutlich, die Kasse klauen wollten, erzählt er. Sie suchten noch zwei Jungs, die wohl die Türen aufhebeln und so in die verlassenen Wohnungen schleichen wollten. Noch können sie sich nicht abschließend an die Arbeit machen, um die Fliegerbombe zu überlisten und die Entwarnung für diese Stadt zu vermelden, ehe alles um sie herum zur totalen Kriegssphäre wird … Der Schotte schreitet mit Gabriel und wieder ernsterem Gesicht zum Transporter …
Dann erzählt er dem Reporter, der Zünder niste sich im vorderen Teil der Bombe ein. Es ginge um das Leben selbst und darum das ein Stadtteil künftig nicht in Ruinen und als Mondkrater dastehen dürfe, er habe verschiedene, verflucht heikle Operationen gesehen im Lauf der Jahre ... Habe Minenräumungen und Bohrlochsprengungen durchgeführt. Panzerteile geborgen, Stahlhelme und einige verweste Weltkriegsleichen. Es wäre immer eine verfluchte Sache gewesen. Außerdem hatte er Unterwasser - und Eissprengungen mit seinem Sohn Dean an der Kieler Küste vorgenommen, und mehrere Jahre in Kieswerken im Bremer Raum gesprengt, sein Sohn Dean begleitete ihn noch zu jener Zeit, aber dann kam alles anders für ihn ...
Seit über 18 Jahren und 3 1/3 Monaten sprengte Ian Callaghan in verschiedenen Sprengkommandos, berichtet er Gabriel, der es niederschreibt, seit mehr als 10 Jahren sprenge er neben J. Richtland. In den vielen Auftragsreisen nach Norddeutschland und in den Westen kam er sich vor wie ein Soldat, der sich einem Scharfschützen entgegen an die Front wagte, wo es ihn in jeder bösen Minute erwischen könnte... Er gesteht ein … An manchen Tagen hatte er flüchten wollen und sich vom dreckigen Erbe des Krieges abwenden wollen.
Manchmal dachte er sogar daran, irgendwelche unschuldigen Toten zu billigen, aber irgendwie tat er es dann doch nie. Selbst wenn er sich schon so oft vom Jenseits an seiner Stirn, seinem Blut bedrängt fühlte, wenn wieder einmal das Telefon im Büro schellte, die Fliegerbombenmeldungen herangeschart wurden und sie in das seltsame Labyrinth aus Vergangenheit und Aggressivität gesogen wurden und er den Widerwillen gegen die unsäglichen Minuten spürte. In den 18 Jahren (3 Jahre davon mit seinem 21-jährigen Sohn Dean) habe er dabei etliche Tonnen Beton in staatlichen und privaten Gebäuden zerbersten sehen. Er habe so viele Bomben zur Notsprengung entzündet, dass sie mit den Fundstücken ein beachtliches Waffenlager und Arsenal hätten errichten können, wie ein Außenposten der Amerikaner oder Schotten, erzählt er Gabriel, ehe sie für die BRD, vielleicht auch für Amerika oder Großbritannien weggeschafft wurden, und im Silo, zur kontrollierten Sprengung beseitigt wurden. In Bremen sei es ähnlich gewesen. Auch in London oder Straßburg, immer glich es einem Sprung aus dem zumeist festen Leben in ein mögliches, boshaftes Martyrium; und Ian Callaghan wusste um den ungeheuren Höllenschlag dieser Minuten. Gabriel schreibt in sein Notizbuch. Manchmal auch verhasste Minuten. Höllenminuten, die den Tod bedeuten konnten …
Aber er hatte seinen Verdienst, seine monatlichen etwa 4200 Euro nach steuerlichen Abzügen. Außerdem brauchte der Frieden nach dem großen Krieg solche Teams … Wenngleich er oft nachts und in den ruhigeren, trübseligeren Stunden an seine Ex-Frau in Schottland dachte, mit ihr manchmal am Sonntagabend oder auch nach der Arbeit telefonierte, ihr und den Kindern dort Briefe, E-Mails schrieb. Zumindest hatte er seinen Sohn Alec bei sich, der sich nicht für das andere Leben in Glasgow entschieden hatte. Das machte ihn glücklich.
Sein zweiter Sohn Dean hatte mit der deutschen Fremde gebrochen und war wieder zu seiner Frau nach Glasgow gekehrt. Auch sein Mädchen Gwen war dort. Er hatte Stadionbilder aus dem Urlaub von 2009 und 2013 bei sich, es waren Erinnerungen mit glänzenden, goldenen Momenten, ihre Tage. Unter anderem ein Ticket und Foto vom Bremen – Barcelona Champions League Spiel, dass er im Weser Stadion gemeinsam mit seinen beiden Söhnen Dean und Alec besucht hatte, blieben auf seinem Arbeitstisch, und er schaute danach wie nach dem Entfernten und Ureigensten. Dieses Entfernte und Sehnsüchtige flossen in seinem Blut. Bald spricht Callaghan vor Gabriel über die Überlieferungen seines Großvaters, dem alten Alex Callaghan: im Ersten Weltkrieg flog der Mann mit dem bulligen Churchill-Gesicht in einer englischen Camelstaffel gegen eine Fokkerstaffel … Fast dreißig Jahre später sei sein Onkel George in der britischen Staffel ab 44 über Deutschland geflogen und habe als Pilot der Luftbrigaden einige Tonnen an 101-1 und 250-Kilo Fliegerbomben regnen lassen über dem von den Braunen beherrschten Hamburg, Bremen und so fort und war nicht tödlich runtergefischt worden durch die feindlichen Flakgeschütze. Anders der alte Alex Callaghan. Sein Großvater, der sich ehrenvoll zur Luftwaffe gemeldet hatte, aber an einem Kriegstag im Jahr 1915 in einem Höllenritt nahe Hamburg, nach heftigem Beschuss aus dem Himmel hinabstürzte, notlandete. Doch den Krieg, industriellen Mordtrieb des 20. Jahrhunderts und die Wiedergeburt der europäischen Zivilisation nach 1945 mit viel Glück überlebte. Danach in Schottland bis zu seinem, sage und schreibe 102. Lebensjahr, gelebt hatte ...
Weiter erzählt er, wenn sie in den nächsten Minuten endgültig grünes Licht von der Polizei bekommen, müsse er selbst, hofft er, nicht lange an dem Auftrag arbeiten, dennoch respektierte jeder Mann auch diesen Zünder, diese Fliegerbombe, weil es nie etwas Einfaches und Unbedachtes war. Denn alles könnte plötzlich wie das Gift einer Kobra töten. Zum außerordentlichen Zustand in der Stadt führen, zur Nullstunde. J. Richtland hatte, so erzählt Ian Callaghan, aus Geschichten seines Vaters und Onkels vom Krieg vernommen, der anders als der Vater, der an der Ostfront im Einsatz war, im Westen (gegen die Amerikaner und Franzosen) in einem Landverband gekämpft hatte. Und dann hörte er noch mehr ...
Nach der Stunde Null und der Kapitulation Hitlerdeutschlands, sowohl an den amerikanischen Kasernen in Westdeutschland, als auch in den zerrissenen Straßen und neuen Fernsehern der 50 Jahre von den neuen Plänen für Deutschland, den Plänen der Alliierten für ein demokratisches, künftig im internationalen Staatenbund verwurzeltes Deutschland. Ende der 60er, mit der 68er-Bewegung, hatte er sich immer mehr von seinem Vater gelöst, der die Kriegsschuld nicht bei der braunen, perfiden Ideologie, sondern gerne noch fieberhaft bei jüdischen Familien wie den Wolfssohn oder Brombergs aus der ehemals nachbarlichen Wilhelmstraße suchte, oder im Jüdischen an der London Stock Exchange oder an der Wall Street. Sein Vater konnte sich nicht vom idealisierten Bild des NSDAP Apparats loslösen. Gabriel schreibt über drei Seiten, steckt den Stift kurz in sein Sakko.
„Das reicht für mehrere Berichte“, sagt er.
Bald geht Ian Callaghan zurück zum Erdloch und blickt hinab. Seziert gedanklich eine Weile die Zusammensetzung der Fliegerbombe. Heftiger schwelt die gespenstische Stille in der Gasse. Gabriels Blick fliegt neben einen der Erdwälle, an dem die Spurenfährte eines Hundes oder Fuchses verläuft, die zum jenseitigen Unterholz entlang einer Bahntrasse reicht, und dann zur ausgegrabenen Fliegerbombe, bald beugt er sich neben Callaghan. Gabriel spürt den Puls und sein Herz heftiger schlagen ... Niemand sagt etwas. Direkt an der Bombe. Dann hören sie den dritten Mann, der zu ihnen stakt. Es sei eine verfluchte Sünde. Die Polizisten evakuierten noch immer Leute im Viertel oder schnappten Diebe in den Wohnblöcken.
Eine verfluchte Zeit in der Luft, die quält. Aber so ist es sehr oft mit der unsäglichen Stille, denkt der Schotte und weiß um die Rituale vor dem Forttreiben der Todesfracht. Nach einer Weile dreht sich Gabriel zu den Männern und erkundigt sich nach der Lizenz. Während der dritte Mann lächelt, stiert ihn der Mann mit dem hellbraunen Boxergesicht und den ausgeprägten Wangenknochen in milder Strenge an und zwingt seine Ehrfurcht zurück ins Gesicht. Der Schlaksige sagt, nicht rasch, jedoch unmittelbar und ausweichend zu Gabriel:
„Der Schein, also die Erlaubnis zur Sprengung gemäß Auflagen muss immer im Transporter liegen oder zumindest bei den beiden Kommandeuren.“
Er blickt umher und dann zu Gabriel, der etwas notiert.
„Aber selbst die bloße Erlaubnis reicht nicht aus, für all das.“
Gabriel stoppt die Notizen.
„Die Lizenz ist ein Papier für die Stadt – dieser listige Hund schert sich nicht um ein offizielles Dokument oder die Obliegenheiten der Stadt, wie wir aus Göttingen wissen.“
„Solange sie nicht bezwungen ist, ist es was wie bis zur Verdammnis. Wissen Sie ich hab zwei Jungen und n Mädchen und will sie nicht als Waisen bei ihrer Mutter wissen.“
Gabriel notiert wieder einiges im Block.
„Es hört auch nicht auf. Aber für das Brot auf dem Tisch und meine Familie werde ich an jeden heiklen Platz der Republik reisen“, sagt der Schotte.
„Einer am Straßenrand sagte mir mal, ’Euer Job ist doch wie ein Sprung aus ein Flugzeug über einem neblige Gebirge, dass man nicht kennt, und mit einem Fallschirm, von dem man nicht wirklich weiß, ob er verlässlich genug ist ... Man weiß nicht, ob man abends seine Familie wieder sieht. Außerdem weiß man, dass es nie abgeschlossen sein wird, weil so viele Bomben über das Hitlerreich von den Alliierten abgeworfen wurden.“
„Das weiß auch die Stadtverwaltung, das wissen wir und jeder Kriegsveteran, aber sollen sie deswegen alles sich selbst überlassen und den Frieden in diesem schönen Land dem Zufall ...“
„Natürlich nicht. Die von der Stadtverwaltung wissen es, aber ich würd im Handstand die Straße herunterlaufen, wenn einer von denen selbst mal alles hier riskieren würde, aber die kriegen schon beim Hören Hasenfüße.“
„Diese Hasenfüße.“
„Ein ganzes Dutzend Hasenfüße.“
Sie lachen.
„Aber niemand kann sich zu lange dieses lauernde Tier im Frieden leisten.“
Der dritte Mann im Team nickt. Zwei Minuten später ist es soweit, grünes Licht deranderen Ordnungskräfte. Alle wurden evakuiert, teilt der alte Mann mit.
„Jetzt beginnt es“, ruft der Schotte unruhig aus.
„Wir werden uns ihr jetzt stellen, noch bevor es dunkel wird“, ergänzt der Sprengmeister in einer rauen Selbstverständlichkeit. „Verfluchter Teufel!"
„Ich werde es machen, wenn du mir noch immer den Vortritt lassen willst. Heute will ich mich wieder direkt einer stellen.“
„Das ist okay. Wir hatten uns beim letzten Mal darauf geeinigt. Du weißt, worum es geht.“
„Ja.“
„Wir sind Frontkämpfer und auch Verwalter dieser Angelegenheiten und stehen zu unserem Wort.“
Sie lächeln.
„Dann einen kühlen Kopf, Ian.“
Der Mann mit dem Falkengesicht sagt nichts.
Sprengmeister Callaghan bereitet bald seine Arbeit mit misstrauischen Blicken zur Bombe vor. Klettert in die Erdkuhle, während eine Libelle von der Erde zum dürren Gras schwirrt, und stützt seine Handfläche auf der rechten Mündungsseite ab. Neigt sich hinab. Will die Operation zum Zenit tragen und die Stadt entwarnen. Unterdessen nähert sich der Kommandeur dem Zünder und hält inne.
Diese Bombe kann alle verwunden, geißeln, alle morden, diesen Stadtteil und dieses moderne, demokratische Land in Blut und Verderben tränken, denkt Gabriel mit Blick zu Callaghan ... Der Mann schaut niemanden an. Es erweckt den Eindruck, als sei er ein Offizier an dieser nun eingegrenzten, verdunkelten Welt, dieser verschobenen Gegenwart, die blitzschnell zerreißen kann. Weder verlangsamt er sein Tempo, noch unterstellt er sich einer rituellen, dummen Eilfertigkeit und bereitet alles vor ... J. Richtland, der Dienstälteste und Gabriel, der Reporter hören einen schweren Wagen an der Straße hinabfahren, einen der Polizeitransporter.
Der Jungspund fährt plötzlich auf: „Es muss eine 800er sein.“
Dann fragt er:
„Was genau wollten sie damit sprengen?“
„Wahrscheinlich wollten sie unter ihren Luftgarde - Leutnants kriegswichtige Eisenbahnlinien oder die Gleisführung zu den Stahlfabriken stoppen und sprengen“, übernimmt der Dienstälteste. „Diese Fliegerbombe hätte gereicht um die Bahnstrecken von hier bis zum Hauptbahnhof zu durchbrechen und den Nachschub für die Front aufzuhalten. Sie hätte auch geholfen dem Hauptbahnhof zuzusetzen und einige Rüstungsfirmen in den Vororten lahm zu legen: Dann hätten sie die Nachbarschaft im Dunklen essen und aufstehen lassen. Das hätte für Panik gesorgt und die Demokraten in Deutschland und der Welt noch mehr hoffen lassen“, sagt J. Richtland.
„Bestimmt zerbombten sie auch Elektrowerke“, fügt der Jungspund hinzu. „Bevor es Nachschub an die West- oder Ostfront gegen die Russen und Amis geben konnte, sollte in der Nähe des Hauptbahnhofs schon ein Riesenschlamassel entstehen.“
Richtland blickt zurückgehalten, der dritte Mann mit unsicheren, nervösen Zügen, die durch seine Iris flackern, auf das Erdloch und die allbereite Fliegerbombe.
„Das sollte allen ne Botschaft von Übersee für ein freies Europa und wieder befreites, menschliches Deutschland sein“, sagt J. Richtland. „Später gab es den Sieg der Alliierten und ab den 50ern den demokratischen und industriellen Aufschwung in Deutschland.“ Der andere lächelt. Nach einer Weile der Jüngste:
„Hoffentlich schafft es Ian.“
„Er muss jetzt der mutige und überlegene Mann in dieser Stadt sein“, sagt Gabriel.
„Sie hat es an sich, gerade die sehr Mutigen zu töten“, entgegnet der Andere.
„Wie viele davon sind es noch im Umland und Marschland?“, fragt Gabriel, um sich aus dem nervösen Malstrom zu heben. Er spürt sein schnelles Blut und den Puls jagen.
„Einige Dutzend?“
„Im Marschland zwischen Bremen, Hamburg und Hannover sind es genügend Operationen und Aufträge für die anderen Teams; die werden sich auch noch orten lassen in dieser Zeit. In Deutschland könnten es an die hunderttausend Fliegerbomben sein.“
Gabriel erwidert nichts, als würde die Zahl einen gespenstischen, schwarzen Drall entwickeln und sich zu einer realen, ihre Zeit überflutenden Masse an Kriegserinnerungen aufrichten. Dann schreibt der grauhaarige Mann etwas in seine Auftragspapiere.
„Welche sind es, Herr Richtland?“
„Oft sind es englische Geschosse, die wir bergen“, berichtet er dann. „Aber wegen den vielen Flugeinsätzen der Briten und Alliierten kann man es noch nicht ausreichend abmessen. Auch jetzt nicht nach dem Krieg. Wir können es nur langsam in einer Landkarte abstecken.“
„Ja.“
Sie verstummten kurz und in Gedanken an die Vergangenheit verweilend.
„Aber heute wollen die Bürger, die Kranken und Bettlägerigen sicherlich noch vor Mitternacht zurück in ihre Häuser, fast so wie die müden, gefangenen Soldaten im großen Krieg damals schnellstmöglich zurück wollten.“
„Richtig, Junge. Es hat hier etwas der seltsamen Kriegstage“, sagt der Sprengmeister und fasst an seinen Helm, den er zwischenzeitlich abnahm, seinen verschwitzten Kopf mit einem Tuch trocken tupfte. Dann streift er über seine mit Falten, die sich lang und dünn übereinander einkerben, durchzogene Stirn.
„Aber am Ende hat die Zivilisation auch hier über die Finsternis gesiegt und heute haben wir ein verteidigenswertes, demokratisches und dynamisches Deutschland hier.“
Die anderen lächeln.
Der Grauhaarige wird nun aber auch unruhig. Er will den baldigen Sieg in ihr Auftragsbuch, den Auftrag gab ihnen die Stadtverwaltung, eintragen, entgegen jedweder boshaften Stunde und Führungslosigkeit.
Bald hören sie einen Kippwagen, der gekommen ist, obgleich noch die Bombe tickt und nicht entschärft ist ... Etwas später beginnt Callaghan, der schottische Sprengmeister, endlich an der Bombe ... Sie schauen zu einem seltsamen Mann. Wie zu einem modernen Hirten, der nun über das Leben einer menschlichen Herde und gemeinschaftlichen Hoffnung wacht. Gleichsam mit einem Antlitz der erhabenen Ferne im Gesicht.
Jetzt wirkt es noch stärker wie ein groteskes Schauspiel der Nachkriegszeit, denkt Gabriel hinter der Absperrung. In Göttingen ist vor einigen Monaten ein Entschärfungstrupp drauf gegangen, denkt Gabriel. Da wütete die Bombe als Henker. Aber er wird ein großer Mann sein heute, hofft Gabriel. Den kolossalen Krater solcher britischen Fliegerbombentypen hat er sicherlich oft ausgelotet. Eine Mulde, in der ein Leopard Panzer oder Wachturm versinken würden. In seiner Breite erfasst es etwas eines ungeheuren Abgrunds oder tötenden Arsenals. Bald arbeitet sich der führende Mann zum Zünder vor, haargenau und detailliert als ginge es um den Bestand des Weltfriedens oder dem Verhindern der Säbelei der Staaten zum Krieg.
Einige Minuten verstreichen wie am Schlund der Hölle ... Alle sind sie still, wie an einer Stunde, in der man den Verlauf eines Gefechtes an einer Kriegsfront direkt miterlebt, als seien sie in einem fernen Land oder in einer fernen, unwirklichen Zeit.
Bald steigt der Schotte der Firma Richtland aus der Erdmündung. Er klopft den Lehm von seinen Knien, säubert seine Hände. Dann endlich schreiten die beiden anderen Männer zum Loch. Wieder bündeln sich die Overallstreifen. Gabriel geht unterm Signalband her, während der dritte Mann etwas daher ruft, wie ein kleiner Junge. Er geht nach einigem Zögern wieder hinüber. Ian Callaghan schreitet mit dem erobertem Zünder weiter von der Erdmündung fort, wie aus einer Grube ans sich verbreitende, sichere Tageslicht.
Oder wie ein Eroberer einer Festung.
Der Schotte trinkt vor dem Transporter etwas und die anderen Männer sind bald bei ihm, gratulieren ihm.
Erleichterte Sprengmeister. Alle Mann, auch die Gruppe, am Lastwagen sind glücklich ...
„Dieser Teufel wollte in die Wochenliste eingetragen werden“, sagt er lauter und mit heiterem Ton. Keiner ist dem verjährten Krieg geopfert worden. Der Tod für jemanden im Kommandoteam hat auf sich warten lassen. Der Dienstälteste greift ihn erleichtert an der Schulter, wie nach einer zerreißenden, dramatischen Strecke, die aufgelöst scheint und nimmt ihm den Zünder ab.
„Jetzt ist es die zweite verfluchte Fliegerbombe auf der Wochenliste“, stellt er fest.
„Der wird die Zahlen im Vergleich zum Quartal vom Vorjahr aufbessern“, äußert der Dritte.
„Wir haben uns ihr gestellt, Männer“, sagt Ian Callaghan und wischt über die verschwitzten, dünn rasierten Schläfen. Sein Helm baumelt in der Hand.
„Aber auch bei diesem Auftrag hallte etwas des Jenseits heran.“
Erneut wischt er mit dem Handrücken über die rechte Schläfe.
„Verflucht seien die Blindgänger! Unser Kontinent braucht nicht mehr den dreckigen, stummen Krieg und die versteckten Bomben und diese Art von Minen. Das mit den Weltkriegen und zuletzt Jugoslawien war genug in Europa“, sagt J. Richtland. Der Fall der Menschheit dort reichte.
Obwohl da noch so viele entlang der Bahngleise (und auch an den früheren Öllagern) liegen und noch Tote bringen können, führt er in Gedanken fort. Aber jetzt haben wir erst einmal einige Gebäude, Lager und Cafes gerettet. Gabriel blickt heiter zum Sprengteam. Schreibt dann etwas in seine Unterlagen.
Um 14.01 Uhr haben sie es endlich geschafft.
„Vielleicht finden und graben sie noch eine Fliegerbombe an der früheren Munitionsfabrik aus.“
„Vielleicht, Junge.“
„Das wird kommen.“
„Vielleicht.“
Der Jüngste lächelt.
„Vielleicht wird es ein Auftrag. Ohne Tote.“
Gabriel blickt mit ruhigerem Blick in die Gasse. Ein verfluchter langer Tag, denkt er. Später kann ich im Pera Café den Bericht fertigstellen, weil sie wieder ihr Pera aufschließen können, nachdem man die ganze Straße, wie ein sinkendes Schiff, verließen, den Espresso und Cappuccino für die Gäste aufbrühen und die Zivilisation erstmal ne Zivilisation bleibt. Die schöne Stadt Hannover eine Stadt ohne belagertem, wutentbranntem Viertel, denkt Gabriel.
Der Anwalt am Eck kann in seine Kanzlei, die Stadtleute in das Lampen- und Farbgeschäft, in die Blumenläden, zu Frau Jordan und Herrn Blohm, in die Goldankaufgeschäfte, zu Herrn Kenan ins Urfa Restaurant, die Handtaschendiebe wieder über den Hannoveraner Hauptbahnhof zu ihren anvisierten Punkten, die Ausbilder und Majore können wieder durch das Viertel zu ihrer Bundeswehrkaserne an der Vahrenwalderstraße fahren, wo sie die künftigen Soldaten und Bataillone für ein freies, demokratisches Deutschland, eingebunden in den demokratischen, internationalen Staatenbund, drillen und wir zurück zum Büro. Diese listige Fliegerbombe ist hier was für die Chronik der Stadt, erklärt Ian Callaghan.
„Da ist kein Schaufenster einer Bank zerfetzt worden und die Stadtleute können wieder normal mit der Straßenbahn von der Station Lister Meile/ Sedanstraße über den Hauptbahnhof fahren, wir ins Büro und die Straßendiebe können versuchen die Omega-Uhren, Golduhren und Handtaschen zu klauen und alles ohne einem brennenden Viertel“, sagt der Jüngste lachend.
„Gott behüte! Kein Radiosender wird was über Bombentote und Gefallene in dieser Stadt in ner Nachmittagssendung melden, der Krieg bleibt für die meisten nur ein Thema für die Geschichtsschreibung und sowas wie ein Kapitel des Zweiten Weltkriegs“, sagt Callaghan dann. Einige Minuten später hört man das Rollen des Verladekrans, der sich an die Erdöffnung und Fliegerbombe wälzt.
Währenddessen funkt und meldet Ian Callaghan etwas sachlich erklärend weiter. Gabriel beobachtet, wie die 500 Kilo Bombe, aus den Episoden des Zweiten Weltkriegs nun das Viertel dieser wunderbaren Stadt verlässt, unter der Obhut des Sprengkommandos, endlich abtransportiert wird. Alles wirkt unspektakulär, mumifiziert, eine stille Weltnarbe.
„Sie werden es in Münster verbrennen.“
„Das werden sie, aber der nächste Platz in der Republik wird wohl wieder ne mörderische Fracht hervorbringen und sie wird zuschlagen wollen wie in Göttingen.“
„In Göttingen hat sie einige gute Männer getötet.“
„Das kann sie immer. Wir kämpfen – und entweder es wird uns und unseren Familien zum bösen Schicksal und wir zu Bezwungenen oder zur Ehre und wir zu Bezwingern, dazwischen gibt es an diesen Plätzen der Republik, wo man uns hinschickt, nicht viel.“
Bald biegt Gabriel in eine Seitengasse mit geschlossenen Kiosken und Bäckereien, geht an einem geschlossenen Taxistand vorüber und macht sich auf den Weg in das Cafe Pera nahe des Hauptbahnhofs. Die Straßen sind fahl und noch immer leer. Das Sprengkommando hat heute gesiegt, denkt er. Zwischen der Verdammnis: All dem, in einem Moment der Explosion, einem tollwütigen Wolfsrudel oder Werwolf ausgeliefert zu sein oder einem Fliegergeschwader und weiteren Aufträgen, zwischen dem Begegnen und sich Stellen, dem möglichen Sterben, im Ablauf eines Auftrags in der Stadt, einer hässlichen, heiklen Operation, liegt das ganze Leben.
Er denkt an die Worte des Schotten: Jener plane nach wie vor nicht für Schottland, weil er zufrieden wäre mit dem Lohn und der Situation, wie sie sei. Sein Junge und andere Familienmitglieder seien in Glasgow, aber er würde hier wohl alt werden und vielleicht sogar die Pensionärzeit erleben. Zudem wollte er nicht die Risse der alten Tage, die Bitterkeit der gescheiterten Ehe wieder an sich heranlassen.
Zwei Wochen später hatten sie einen Auftrag nahe Osnabrück, bei dem der Jüngste der List einer englischen Fliegerbombe zum Opfer fiel. Es machte alle sehr traurig. Ein finsterer Tag im Büro und im Kreise der Verwandten und Bekannten. Sie trauerten alle in jenen Tagen und empfanden einen gemeinen Verlust.
Als er sich mit jenem Leid und ebenso einer Dickhäutigkeit wieder im Büro befand, dachte er: Es gehe weiter um den stummen Krieg und darum, dass der Frieden solche Männer wie Josef Richtland, den tapferen, toten, jungen Kollegen, diesen Bruder, dieser Zustand sie brauchte und brauche. Denn jede Zeit nach einem Krieg hat ihre bittere Zeit. Ihren Schmerz und ihr Aufbäumen, ihre Bombensprengteams, ihre Toten, Überlebenden, Hoffenden, Vergessenden, Erzählenden, Gerichtsprozesse gegen die Schuldigen, und hier, den Wiederaufbau des modernen, freiheitlichen Landes; außerdem den Weg der persönlichen Geschicke mit den Verlusten, und die steten Beauftragungen der Kommandeure und stellvertretenden Kommandeure. So ist es mit der Menschheit. Noch, denkt er, will er ein Teil des Teams und ihrer Arbeit mit dem unsäglichen, listigen Welterbe entlang des vernichtenden Faschismus und der siegreichen Demokratie bleiben, mit den Aufträgen dieser Zeit.
© Deniz Civan Kacan
Tag der Veröffentlichung: 11.12.2014
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