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Nachts am Fluss

 

1. 

 

Sie wussten nicht, ob der Mann, den der Andere rechts neben ihm wenige Minuten zuvor aus dem Fluss gezogen hatte, und der nun an dem Mauervorsprung lehnte, sich umbringen wollte oder wegen des Trinkens von einer der Fussgaengerbrücken gestürzt war, die über den Fluss führten. 

 

Ein Taxifahrer war zu den beiden Personen am Fluss hinzugelangt. Er war am Stadtcasino, Cafe Del Sol und einigen Polizeistreifen vorüber und zwischen den Bankgebäuden hergefahren und dann nach flüchtiger Zeit so zum Parkplatz an der Brücke gelangt. Dann hatte er es sehen können. Der Taxifahrer schritt die Stufen von einer der Brücken hinab und stellte sich dann nahe der beiden Schwimmer und Personen auf, die über die matschige Ufererde, den Sand und die unförmigen, größeren Steine am Uferbeet gekrochen waren, wie geschlagene Tiere, Hunde oder beinahe besiegte Schwimmer in einem nächtlichen, widerspenstigen Wettkampf gegen den Tod und das Besiegt werden. Er kniete sich zu dem Mann an der Mauer, der kaum Kraft mehr gehabt hatte zum Schwimmen und dem die Hoheit und Widerspenstigkeit der Strömung beinahe das Leben gekostet hatte. Und der, so sollten sie in Erfahrung bringen, überrascht worden war von den Entwicklungen und Widerspenstigkeiten in der Kautschuk - und Kunststofffabrik, in der er gearbeitet hatte und die mächtig genug waren, seine Welt niederzuringen.

Er muss jemand von der Kunststofffabrik sein, dachte der Taxifahrer, als er sich zu ihm kniete und das abgekämpfte, blasse Gesicht erkannte.

 

Er sagte nichts weiter. Es roch nach dem Fluss, Schweiß, Rasierwasser, nach den Brenesseln nahe des Ufers und dem seltsamen Wetttkampf gegen den Tod inmitten dieser angebrochenen Nacht.

 

Über der Brücke war der Mond und manchmal hörte man Fahrzeuge über die Brücke kommen.

 

 Der Mann, der aus dem Fluss gefischt worden war, lehnte noch an der niedrigen Mauer. Es hätte Minuten später ein Toter sein können. Als ob ein Fischer einen unseligen Menschen und Arbeiter in einer Reuse aus dem Wasser gefischt hatte statt eines verlierenden Fisches, der sich verfangen und beinahe vergeblich gekämpft hatte. Er lehnte barfüßig an der gebrochenen Mauer, und konnte sich nicht wie der Mann zur linken Seite des Taxifahrers erheben. 

 

Die Stromschnellen des Flusses klangen noch immer gewaltsam und aggressiv. Der Mann, der den Anderen aus dem Fluss gerettet hatte, Aaron, blickte über das Wasser, aber er hörte kein Boot kommen, keine Rettungswache, keine Passanten und sah auch nicht das Profil seiner Freundin. Es würde keine feierliche Prozession der Rettung werden, dachte er kurz und lächelte nur kurz, als er wieder den zehrenden, langen Kampf im Wasser in seiner Muskulatur und seinem Atem bemerkte.

 

Doch ehe er erneut zum Mann am Mauervorsprung blickte, glimmte etwas Zuversicht in seinen Augen auf. Sie waren nicht ertrunken. Es war jemand hinzugekommen und der Taxifahrer begann davon zu sprechen, dass er den Mann, der noch still und wie ein geschlagener Hund am Mauervorsprung lehnte, kannte. 

 

Es hatte in den Vorwochen zwei Selbstmordfaelle gegeben in der Region, bei den Toten handelte es sich um zwei ehemalige Mitarbeiter der Kunststofffabrik, die wegen der Schliessung eines Standortes entlassen worden waren und deren Taten wenige Tage nach den Entlassungen erfolgten, berichtete die regionale Presse. Dann spräche die Belegschaft über einen Vergiftungsfall, so der Taxifahrer weiter. Jemand aus dem Vorstand sei in der Mensa zusammengebrochen und mit dem Verdacht der Vergiftung ins Krankenhaus

gebracht worden. 

 

 Er kannte ihn von der Kunststofffabrik aus dem westlichen Industriegebiet der Stadt und hatte einiges über die Vorkommnisse dort gehört. 

 

"Das war sehr riskant, gerade zu dieser Zeit und bei der scheiß Strömung", sagte der Taxifahrer, der nach Schweiß und Tabakqualm stank. 

 

„Er muss sich vom Rausch ausschlafen", sagte der Andere und blickte in die Gesichter beider Männer. 

 "Ja".

  

Der Taxifahrer erhob sich und wischte mit einem Taschentuch und beim Insektensurren nahe der Brenesseln und der Böschüngen über sein verschwitztes, grobschlächtiges Gesicht.

 

 "Heiliger Strohsack! Gesoffen hat er aber auch, aber trotzdem müssen wir zu einem Doktor mit ihm", sagte er dann. "Vielleicht wirft er sich von der nächsten Brücke."

 

Der Andere hörte es, erwiderte aber nichts. Er bemerkte noch den Kampf im Fluss gegen die Stromschnellen und boshaften Minuten.

 

 Der Besoffene war noch immer in verbannenden, fernen Gedanken und man hörte kein Wort von ihm, noch verwundet und im üblen Rausch.

 

Der Mann, der ihn aus dem Fluss fischte, schritt bald zu ihm und befreite seine Arme aus der schweren Jacke. Dann steckte er seine Geldbörse zurück und entzifferte, zur Uferlaterne schreitend und dem Taxifahrer vortragend, in einem Papier die wässerig gewordene Schrift und Adresse seiner Wohnung. Bald schleppten sie ihn hinauf zum Taxi. Sie gingen den Weg hinauf durch den Waldabschnitt, dann gingen sie schweigsam, den Mann wie einen Kriegsverwundeten tragend, die Wendeltreppe zur Straße hinauf. Der Besoffene war wie ein dreckiger Schatten und geschlagener Hund. Sie kamen schweigsam und etwas hoffnungsvoll zum Taxi, hievten den Mann auf die Rückbank. Er wird sich vielleicht etwas ausruhen können.

"Der Arzt wird ihn mit einigen Tabletten und Arzneien wieder heil machen, zumindest für diese Nacht", sagte der Taxifahrer.

Der Andere wollte lächeln, aber blickte zum Geschundenen und dann zum Brückengeländer unter dem Mond und hoffte auf ein Ende dieser Nacht.

 

Bald stiegen auch die beiden anderen ins Taxi. 

"Die werden ihn mit einigen Tabletten und Arzneien wieder zurecht doktern", wiederholte der Taxifahrer. Vorne blickten sie im Innenraumlicht in seinen Ausweis und seine ungültigen Arbeitspapiere, die aus dem Portemonnaie stammten. Auf der Rückbank verschränkte der Besoffene seine Arme vor dem Oberkörper und lehnte den Kopf nach hinten an. Er sah aus wie ein zusammenegetretener Hund.

Dann neigte er sich nach vorne, legte seine Stirn auf den Unterarm. Er plapperte etwas vor sich hin, irgendetwas, aber sie verstanden es nicht. Er hielt sich wie an einem schweigsamen Erschauern und unglückseligen Rausch.

Wenig später fuhren sie ihn unter dem Mondlicht einige Straßenzüge weiter, wo einer der Notärzte sein Arbeitszimmer hatte. Sie brachten ihn hinein.

 

Sie warteten draußen, derweil mit einer Tassse Kaffee, vor dem Backsteingebäude und da unterrichtete ihn der Taxifahrer endlich mit kühler Miene und entzündeten Zigaretten, über mögliche Zusammenhänge mit der Kunststoffabrik und zu den Vorgängen am Fluss ...

 

"Du solltest wissen, dass es nicht an dem Gin und den Whiskygläsern alleine liegt", begann er. Dann verfestigte sich sein Blick über den fettgepolsterten Wangen und auch seine Stimme wurde ernster. Der Andere empfand es wie an einem seltsamen Ausschnitt der Zeit und war von Fragen und fehlenden Antworten und einer Müdigkeit belagert. Aber er wollte sich nichts anmerken lassen. Der Mann hatte es demnach schon öfters versucht. 

 

So erzählte ihm der Taxifahrer nahe des Gebäudes mit den Arztpraxen das, was man sich in der Stadt über den Mann erzählte ... Die Konjunktureinbrüche, die Krakenarme in der Wirtschaftskrise hätten nach ihm im Kautschuk - und - Kunststoff - Teile Unternehmen gegriffen wie nach einem winzigen Fisch. So sorgte dieser moderne, wahnsinnige Schwarze Freitag, sagte er, zuallererst für seine Entlassung in der "Bahrens & Co. KG". Die Kautschukfabrik stoppte schon eine Weile zuvor einige Lieferungen und auch Bestellungen bei Zubringerfirmen.  

Er hätte es mitbekommen. Aber die Befürchtungen wurden bald wahr: Sie zahlten bald keine vollständigen Löhne mehr aus. Die Spekulationen über die aufzulösenden Verträge in der Fabrik gab es schon längst.

 

Er wollte sich in der Fabrik halten, aber die Personalplanung und der Chef Herr Sondermann, hatten bereits Stellen anvisiert, gestrichen und er glaubte, dass er in der Arbeiterschaft nun ohnehin zu den Verlierern gehörte, wie ein ewiger, ausgelesener, proletarischer Feind und machtloser Arbeiter. Schließlich könnte er es nicht verhindern, denn es war die Zeit der vernichtenden Wirtschaftskrise, die wie eine Lava auch das Land und Existentielle vieler Leute erreichte und zerstörte. Obwohl einer der einflussreicheren Gewerkschaftler des Kautschukunternehmens ihn öfters an seinem Arbeitsplatz, wo er das Kautschuk bearbeitete für die Produktionskette, und beim Zusammenfegen an der Arbeitsstätte, auch in seiner Wohnstätte in der Brandstraße besuchte und beriet, glaubte er, dass er bald verlieren würde und sein Spind mit dem hellblauen Arbeitskittel für die nächsten Jahre geschlossen werden würde. Dann kam der moderne Henker zur Ecke Industriestraße/Johannesstraße, kam zur Kautschukfabrik. Es war dann das Ende für viele Arbeiter. Mit vielen anderen Arbeitern schmissen sie ihn wie einen Hund aus der Fabrik, fuhr der Taxifahrer fort.

Er schwitzte, während er über die Geschichte des Geschundenen und beinahe Besiegten sprach. 

 

Ein Tuch aus seiner Hemdtasche nehmend, wischte er über seinen fetten Hals, seine Schläfen. Dann zündete er sich eine Pfeife mit Streichhölzern an. Er stank nach der Pfeife. Kurz flammte die Silhouette auf. 

 

Er hörte aus dem Gerede ehemaliger Arbeitskollegen, dass er sich öfters mit seiner Frau wegen der Sache in der Fabrik und wegen des knappen Geldes stritt, und man sah, wie er schon an Vormittagen mehrere Schnapsgläser trank. Meistens ging er in die Bar "Zum Stern". Manchmal soff er aber auch in einem deutschen Imbiss oder im "Rebetico". Er hatte ihn öfters im Taxi dahin oder zur Bar gefahren. 

Heiliger Strohsack!, und wenn er nachmittags in der Bar "Zum Stern" in der Bordellgegend mit gesenkten Schultern und unrasiertem Gesicht am Tisch hockte, wie ein komischer Freier oder Gefallener, an einem der Fenster, kam der Kellner wieder und wieder mit Schnapps und Bier zu ihm. Der Sturz hielt an und es sollte nicht besser werden.

 

An einem Donnerstagabend bekam er einmal, neben dem Geldspielautomaten, als er zwei Männer, ein albanischer und kurdischer Gast, die in Mänteln hineinkamen, beleidigte, von jenen eine Tracht Prügel. Aber er kam dennoch wieder. Er hatte sonst niemanden mehr. Der arme Teufel! Man beobachtete ihn täglich betrunken oder besoffen in der Siedlung. Wenn man ihn fragte, sagte er, es sei, von Ängsten sprach er niemals direkt, wegen der Veränderungen nach der Entlassung und alles Üble und Schlechte war plötzlich in die Familie gewachsen. Mit der Folge, dass die Liebe seiner Frau zu ihm erkaltete, sie ihm immer mehr Vorwürfe machte, Drohungen wegen den beiden Töchtern kamen und der Mann schließlich aus der Erdgeschosswohnung in der Brandstraße zog.

 

Monate später beanspruchte sie das Sorgerecht der beiden Töchter. Vor dem Gericht klagte er es ein, aber die Verhandlungen schleppten sich hin. Er trank weiter sehr viel. Die Amtsentscheide und juristischen Schreiben begleitete er mit alkoholischen, betäubenden Exzessen, die seine Hoffnung an ein erneutes Zusammenfinden der Familie in der Kleinstadt wie ein Messer begleiteten. 

 

Sie verbannten ihn in seltsame Monate, in denen er die Stimmen seiner Kinder und Zuwendungen von Leuten in der Siedlung, die ihm helfen wollten, kaum noch hörte. Der Mann fiel wie in einen Tunnel. Er erlebte den Rausschmiss aus der Fabrik und dann das Zerreissen der Familie.

 

 Irgendwann gab es selbst kaum noch die Telefonate mit seinen Kindern, die in der Region um München bei ihrer Mutter und ihrem Neuen, wohl einem Ingenieur wohnten und dem Gerede nach in einer gutbürgerlichen, wohlhabenden Gegend eingeschult worden seien ... Seine Ex-Frau beabsichtigte im darauf folgenden Frühjahr jenen Mann zu heiraten, während seine eigenen Vorhaben ins Stocken gerieten ... Die Planungen über einen Wohnwechsel nach Bremen, dem Bewerben in einem dortigen Kautschukunternehmen oder dem Anheuern in einer Werft oder einer Großhandelsfabrik für Schiffsteile am Ärmelkanal hätte er ebenso verworfen.

 

Die Leute in der Siedlung bekamen es jedenfalls mit. Erzählten, wie  der Mann wohl versucht hätte, nach dem Zerfall der Familie und Rückfall in die Trinksucht, sich vor Gleise, wohl einer Frankfurt-Dortmund ICE-Strecke, zu werfen, weil er es später herumerzählte.

 

Dann soll jemand im Betrieb versucht haben sich zu vergiften oder sei vergiftet worden, erzählte der Taxifahrer. Es sei in der Kaffeekanne entdeckt worden. Aber man konnte ihn im Krankenhaus noch vor dem Vergiftungstod retten.

 

Vielleicht war es wegen dem vielen Trinken, einer Schuldenlast aus Wettspielen bei jenem, vielleicht könnten es auch die Wirtschaftskrise und Massenentlassungen gewesen sein. Dies blieb offen. Das konnte er zu den merkwürdigen Geschehnissen und Entwicklungen entlang der Massenentlassungen erzählen...

 

Der Andere hörte ihm zu und sagte nichts.

 

Dann stockte der Taxifahrer. Er hatte dann für Sekunden eine kraftlose Stimme und ein mitgenommenes Gesicht. 

 Sie stockten eine Weile. 

Dann dachten sie an die Rettung aus dem Fluss und an die Behandlung in der Arztpraxis.

"Bestimmt wird es ihm bald besser gehen", sagte der schlanke, großgewachsene Schwimmer.

"Der Arzt wird ihn wahrscheinlich für heute und morgen wieder hinkriegen", sagte der Taxifahrer.

"Hoffentlich."

"Du hast es richtig gemacht. Aber er wird sich nicht mehr um 6 Uhr zur Frühschicht bei der Fabrik aufstellen, wo sie alle mal ein Heidengeld verdienten und das setzt ihm zu."

"Vielleicht, aber es muss dann woanders weiter gehen, bei einer Chemie-, Metall- oder Kautschukfabrik in Hamburg, Bremen oder einer Wagenfabrik in Hannover. Irgendwo in der Region."

"Wenn er das auch so sehen würde, aber das glaube ich nicht."

Der Mann, der ihn aus dem Fluss gerettet hatte, bemerkte auch jetzt die Nacht und den Kampf im Fluss in seiner Muskulatur. 

 

Doch bald ging er zurück. Es war eine seltsame Nacht um Sein und Nichtsein, beinahe hätten sie alles verloren ...

 

Aber zumindest hatte er selber gekämpft, dachte Aaron. Das war wichtig gewesen. 

 

 Ein Stück weiter nahm ihn der Taxifahrer auf und fuhr ihn zurueck zum Fluss. Über den Pfad des Wäldchens stakte er zurück und dann daran entlang auf der Promenade. Tagsüber hörte man in den Baumgruppen die Vogelkolonie, die dort nistete. Manchmal auch das Rattern einer MKB-Lok mit vier oder fünf Transwaggons, die über die Brücke geradewegs entlang einer Postdienststelle stadtauswärts rollte.

 

Jetzt – um Mitternacht - lag nur das Mondlicht über dem Fluss, auf den Blättern der Bäumen und dem Weg. Später kann der ehemalige Fabrikarbeiter wohl nach Hause entlassen werden. Der geschiedene, ausgelieferte, gefallene Kerl und seltsame Schwimmer, dachte er. Zugleich bemerkte er, wie ihn die zurückliegenden, letzten Minuten des Gehens etwas genügsamer und gelassener machten, da der Fremde nun zumindest verarztet wurde.

 

Die nächsten Tage werden ihm wohl wieder einen Neuanfang aufzeigen,  denn er ist ja kein Verurteilter, dem der Tod, die Hinrichtung durch ein Gericht droht, kein Junge, sagte er sich ermattet, sondern ein Mann, der wohl wieder kämpfen wird. 

 

 Er näherte sich der Brücke und schaute über die Bruecke zum Pfad und zu einigen Silberpappeln. Vor den Bäumen tauchte wenig später seine Freundin auf.

 

Endlich war sie bei ihm. Sie war sehr glücklich, dass er es aus dem Fluss schaffte.

 

 Er war nicht mehr wie ein Verdammter im Fluss an eine finstere Stroemung gebunden und er war glücklich, das sie nun in die Stadt gingen. Unter einer Laterne zog er das Baumwollhemd über und knöpfte es zu. Streifte mit seinen nackten, zerschrammten Füßen in seine Schuhe. Aaron trocknete sein kurzgeschorenes Haar mit seinem Hemdärmel. Er hielt inne. Das Mondlicht lag gleißend auf den Gräsern am Ufer. Sie blickte mit glücklichem Blut zu ihm. Etwas weniger aufgelöst und mit zusammengekniffenen, hübschen Augen erkundigte sie sich dann nach der Entwicklung und dem Zustand des Mannes. Er erklärte ihr, was er vom Taxifahrer vernommen hatte, erzählte über das regelmäßige, üble Trinken des Mannes, den wohl versuchten Selbstmord und alles andere.

 

Sie verstummten erneut.

Er dachte an die bittere Magerkeit, fahle Haut, das eingefallene Gesicht und an die Ohnmacht des Mannes.

  

Sie schritten am unheimlichen und silbern leuchtenden Fluss entlang. Der Fluss floss souverän, wie im ewigen Licht und in einer ewigen Allmacht voran.

Er fühlte den Fluss an oder in seinem Puls wie ein unheimliches Wispern der Welt.

 

Dann bogen beide über eine Weggabelung in die Stadt. Das Zirpen der Grillen und Insekten blieb in den Böschungen zurück. Nach einer Weile kamen sie  in der Stadt an.

 

 Einige Sterne rangen sich noch immer durch das Gewölbe der Nacht und leuchteten wie in spöttischer, wohlwollender Freundlichkeit über den Reklameschildern und Balkonen eines Hotels. Sie gingen am Hotel "Mercure" und etwas weiter an Dylans Dublin Inn vorbei, vor dem dann drei Mädchen kichernd etwas tranken und ein Mann, mittleren Alters und im grauen Anzug, rauchte.

 Sie hielten weiter auf den Kinokomplex zu.

Er wollte jetzt nicht alleine in der Wohnung sein. Die Ablenkung war gut, dachte er. 

 

Bald kamen sie zur Seitenstraße, an deren Ecke sich das Kino befand. Dort redete ihm seine Freundin zu.

 

"Wenn ich mich jetzt hinlege, werde ich den Fluss hören, den Fremden darin sehen und diesen scheiß Gestank wohl heute nicht mehr loswerden. Und sehr spät schlafen, wenn ich überhaupt einschlafe", erwiderte Aaron.

"Wir könnten etwas im Pub trinken oder noch in eine der 23 Uhr 30 Filmvorstellungen im Kinopolis."

"Vielleicht, ja."

„Möchtest du dich wirklich nicht hinlegen?

„Nein, ich kann jetzt nicht schlafen“, antwortete er. „Ich kann jetzt nicht in die Wohnung und alleine sein."

„Du musst jetzt nicht alleine sein. Wir können ja noch in die Spätvorstellung ins Kino?“, fragte sie erneut. "Der Film wird dich ablenken und danach wirst du dich besser fühlen."

 

 Er versuchte zu lächeln, aber die Witterung der Nacht zerrte noch an seinem Gesicht. Er sagte nichts mehr. Zu den gelben Buchstaben und prächtigen, an den Wänden prangenden Filmplakaten des Kino´s schauten sie bald hinauf und gingen hinein. Der Mond hielt sich über der verglasten Bedachung des Kinofoyers und über der Welt ...

Sie zählten zwei Zehneuroscheine und ein Ein-Euro-Stück am Kartenschalter ab und kauften ihre Karten. In der siebten Logenreihe nahmen sie dann Platz. Als das Salonlicht abdämmte und die rauschende Musik aufspielte, der Name des Regisseurs auf der Leinwand eingeblendet wurde, fiel ihm ein, dass er den Mann und sich selbst tatsächlich aus dem Alligatorenmaul des Flusses gerettet hatte, obwohl der Mann wohl auch bereit war, den Tod zu akzeptieren.

 

Sie hatten gekämpft, er hatte gekämpft und das war alles, was er am Stadtrand mit seiner Würde und dem Instinkt für das Leben und Widerstehen an diesem Abend machen konnte. Sein Herz schlug wieder befreiender.

 

Es war eine widerspenstige  Nacht.

Er mochte es nun mit seiner Freundin und mochte, dass er diese Minuten teilte. Drei Stunden später kehrte er etwas angetrunken und betäubt zurück in seine Wohnung, die in einer Nebenstraße lag, und schlief bald ein.

 

2.

 

Er schlief bis zum Morgen, ohne dass er aufwachte oder an den zehrenden Kampf im Fluss dachte. Er war sehr müde gewesen. Erst am nächsten Morgen musste er wieder zur Arbeit im Handelsunternehmen für Zäune, Türen  und Metalltore erscheinen. Er stand nicht auf, um etwas zu trinken, einen Kaffee oder ein Bier aus dem Kühlschrank nehmend und schlief wieder ein bis zum Mittag.

 Doch dann erwachte er plötzlich. 12.40 Uhr zeigte die Uhr an der Tür. Verdammte Scheisse! Wie einer unter ihm zerfallenden Bruecke war er entflohen. Er schreckte aus der langen, beinahe vernichtenden Nacht. Im Traum hatte er eine riesige Hand erblickt, die den Flussabschnitt samt Brücke, die Erdschichten und das Industriegebiet der Stadt samt der Torefabrik und seiner Arbeitsstaette, aus der Erde und dem Verankerten riss, eine von einer Axt zerschlagene Wurzel, armselig, an der blinden, schnellen Zeit und zerfallenden Welt, es hinausriss, wie ein Allgebieter und sich all das Existentielle und Substantielle dann hinter einer finsteren Wand des weiten Raums verlor.... Er erwachte in Schweiss getraenkt, erhob sich aus dem Bett und eilte zum Wasserhahn, trank und wusch das Gesicht, den Hals und Oberkörper und schritt dann zum Kühlschrank, wo er sich ein Bier nahm. Er trank einige Schluecke. Bald saß er auf dem Küchenstuhl, wo er sich wieder am Fluss sah... 

 

 Er erinnerte sich, wie er am Abend zuvor mit seinem Mädchen Dylans Pub besuchen wollte, ein Guiness trinken wollte, aber sie es dann verschoben und zum Fluss gingen. Am Ufer küssten sie sich eine Weile. Er mochte es sie zu küssen. Dann küsste er ihren Hals hinab zu den Schultern und den oberen Rücken der Frau, als sie die Rufe und das seltsame Straucheln und Taumeln im Fluss, nahe der Bruecke,  hörten. 

Wenig später sprang sie auf. Bald erhob er sich auch und sie naeherten sich dem Fluss mit der aggressiven, starken, unbezwungenen Strömung... 

 

Seine Augen folgten bald wieder dem Fluss, der voran wirbelte und dem verengenden, verfinsternden Schwall des Taumelns. 

Wieder konnte Aaron am Uferabschnitt für Augenblicke das Geräusch des Tobens und müden Streitens im Fluss heftiger spüren. Es ist jemand im Fluss. Er spürte den Fluss vollkommen anders in diesen Minuten der Nacht, das Vollmondlicht auf den Gesichtern,  Ufern und den dürren, zitternden, ärmlichen Böschungen.

 

Das Mädchen knöpfte die Bluse zu und fragte ihn etwas zum Nachmittag und nach dem Basketballtrainig, doch er erwiderte nichts. Derjenige müsste wegen einer Trunkenheit reingefallen sein, dachte er. Er blickte vom Ufer zum Fluss und vom Fluss weiter hinauf das Ufer entlang. 

 

Er wischte den Sand von seinen Händen und Ärmeln. Erneut spürte er das taumelnde, widerspenstige Kämpfen im Fluss wie das Widerstreben eines Verurteilten und gefangenen, sterbenden Mannes in einem abgelegenen Kerker. Wachsam und mit langsam belagernder Hitzigkeit blickte er zur Fußgängerbrücke und stierte zur metallischen Weltkugel, die feierlich von der Stadtverwaltung der Kleinstadt, gespendet und aufgestellt worden war neben der Brücke, und blickte zur Promenade und dem entvölkerten Flusscafe nahe der verdunkelten Mühle, dann wieder über das Wasser. Er sah niemanden im Fluss. Der Mond über dem Fluss. 


"Da muss jemand im Fluss sein. Vielleicht ist er an diese Uferseite raus geschwommen?“, sagte er, ohne das Mädchen anzuschauen.

Das Mädchen sagte noch nichts.

 

“Möglich wäre auch, dass er hinter der Brücke weggetaucht ist“, räumte er bald in Vorstellungen verhaftet ein.

„Der wird vielleicht mit den Stadtleuten vom Café am Fluss zum Marktplatz unterwegs sein. Da wird heute eine Jazz oder Bluesband auftreten", sagte sie.  "Oder er wird zum Pub unterwegs sein, um sich richtig zu betrinken“, sagte er. Vielleicht war es auch jemand vom irischen Pub.

 

Es gab verschiedene Leute in dieser Gegend. Hauptsaechlich wohnten sie in den Mietskasernen jenseits der Eisenbahnbruecke, die sie in den Neunzigern bezogen, nachdem das britische Militaer nach England und Schottland zurückkehrte. 

Es waren Arbeiter, die ihrem Schichtbetrieb  in der Chemiefabrik, Holz- oder Kunststofffabrik am Stadtrand nachgingen, Straßenkämpfer, Arbeitslose, Dealer und Trinker, die man auch immer besoffen an den Tischen des Pubs oder der Gaststätten vorfand. 

 

"Vielleicht war es auch jemand vom Pub", sagte er. 

„Das kann sein, Liebling“, sagte das Mädchen. 

 

Vor ihnen lauerte der Fluss wie ein allbereiter Jäger, dachte er. Der Fluss würde ihn wie ein Alligator, der seine Beute würgt und niederstreckt, hinunterziehen, ertraenken, fast lautlos. Sie blieben noch eine Weile an der Sanddüne und hielten sich zwischen einigen mageren Espen auf, als Aaron kurz über das Basketballtraining am Abend redete und plötzlich wieder das schlingernde, hilflose Nähern des Mannes im Fluss spürte ...  Der Fluss hatte an diesem Abend eine unaufhörliche, reißerische Härte. Wirkte wie mehrere Feinde... 

 

Das Mondlicht lag über den Dünen, dann brutal und mager über der Fußgängerbrücke und dem Gerippe der entfernten Eisenbahnbrücke. Aaron horchte zum Wasser. Er ging etwas vor. Seinen Oberkörper nach vorne beugend, schaute er nach Bewegungen auf der Wasseroberfläche, die sich wegen der Strömung unruhig und verworren im Mondlicht, an manchen Stellen wie die schlingernden, wirbelnden Rücken von Aalen, verzerrten. Er trat an die unrasierten Stoppel des Schilfes heran. Reglos blieb er in einer zwiespältigen Sekunde. Der Mann kam näher ... Der Mann, der im kalten Fluss und Mondlicht im Fluss trieb, kam näher ... Später in der Nacht sollte er mehr vom Mann der Kunststofffabrik und von Selbstmördern und Vergiftungen in Erfahrung bringen ...

                         

Noch sahen und hörten sie nicht den Mann, der kurze Zeit später, in der späten Dämmerung, sein Leben beenden und sich dem Leben nicht mehr stellen wollte oder den Fluss, sowie dessen Macht und Gleichmut verspotten wollte ...

 

 Bald blickte er rechts der hinab wirbelnden Strömung nach, die nach einer Weile an den Brückenpfeilern einer schmalen Eisenbahnbrücke entlang wirbelte. Dort schimmerte der grün getünchte Metallbogen der Eisenbahnbrücke, deren Gleise sich an einer Postzweigstelle im Bahnhofsviertel entlang streckten und an heruntergekommenen, zerfallenen Häusern entlang krochen. Hinter ihnen waren einige Dünen, sowie Eschen und Lindenbäume. Dahinter ebneten sich breite Brachfelder. Karge Erde und bereits mit nächtlichem Tau überzogene magere Felder.

 

 Der Mann trieb unweit im Fluss. Bald sah er es auch. Dabei streckte sich knapp und wild, für Augenblicke das phosphoreszierende, flackernde Abbild einer Kopf- und Armsilhouette über die Wasserschicht, und dann wurde der Fremde wieder hineingezogen, wie von spöttischen Gespenstern in den Fluss gesogen. So schnellte er bald das Ufer entlang ...

 

Über den sandigen, teils stockfinsteren und silbergesprenkelten Uferrand rannte er, sprang über Steine und Böschungen, und der Lauf erschien ihm wie ein zwischen zwei erstarrten Pulsschlägen brutaler, verengender und noch immer verfinsterter Tunnel..

 

Im Mondlicht lief er den Fluss entlang, lief und wandte seinen Kopf zum Fluss, nach dem Verurteilten schauend, während alles herausfordernder wurde und er seinen Herzschlag heftiger spürte ... Im rasanten, fast schlafwandlerischen, unwirklichen Rhythmus lief er, lief durch die seltsame Nacht ... 

 

Dieser betrunkene Hund! Er wird bestimmt besoffen und berauscht gewesen sein von der Welt und stürzte dann hinein. Gleich kann er wie ein verletzter Hund oder Selbstmörder in der Strömung ertrinken, denn er kann mit seinen eigenen Armschlägen nicht aus den Wirbeln herausschwimmen. Sonst hätte er es längst geschafft. Die Strömung ist für den verfluchten Schwachkopf und jedem Schwimmer in der Flussmitte wie ein oder mehrere Feinde. Wenn er eine Chance haben will, muss er zu einem der Anleger rausschwimmen, aber er schafft es wohl nicht.

Er hat nicht genügend Kraft oder kämpft nicht ausreichend.

 

Dann schritt er ins Wasser und schon umspülte das Uferwasser die Beine wie listige Lianen, schlängelte um seine Brust, schwoll an und kam wie ein weites, prähistorisches Reich zu seinen Schultern auf. Er orientierte sich mit seinen starken Armschlägen zur Flussmitte. Der Mann trieb vor ihm weiter fort. 

Wieso bist du rein gestürzt? Die Strömung ist stark und kann ihn  bezwingen. Die Strömung war stark und allumfassend.

 

 Seine Handflächen glitten ins Wasser, als stritten sie für einen abseitigen Schwimmerwettbewerb. Sie erzeugten einen Schwung aus raschen, dichten, noch kräftigen Schlägen im Wasser. Dann hörte er für Sekunden auf zu kraulen. Er versuchte nach dem schwachen Paddeln und Rudern oder den mageren Rufen des Mannes zu hören. Er geriet in eine Strömungswelle, glitt unter Wasser und als er wieder empor stieg, mit heftigerem Beinschlag, aus einer finsteren Untiefe und Kälte heraufkraxelnd, schnappte er tiefer nach Luft, streckte seinen Kopf und hob seine Schultern so weit wie möglich aus dem Wasser, so weit er konnte, so suchte er nach dem betäubten Schwimmer und fast Geschlagenen im Fluss ... Inmitten der Flussströmung sah er den Mann gleiten, zappelnd und beinahe besiegt ... Regungslos trieb er für wenige Atemzüge selbst in der Stromschnelle ...

 

 Er sammelte seine Kraft und dachte, es müsse möglich sein, Ihn zu packen. Er spürte ihn deutlich in der Nähe treiben. VIelleicht sind es zwanzig Meter bis zu ihm. 

Der wird sich vielleicht vorher verletzt und geblutet haben. Wahrscheinlich wirdl er versucht haben sich irgendwo festzuhalten, an einem Stein oder Steg, wo wir ihn hörten und wird dann wieder reingezogen worden sein, redete er sich zu.

 

Aber die Strömung ist stark und wenn er nicht gleich ans Ufer hinaus schert, wird er sich sehr schnell und ohne Ausweichmöglichkeiten der heftigsten Stunde und Allgewalt stellen, dachte er. 

 

Vielleicht sind wir beide dann wie Verdammte und Verurteilte.

 Er dachte an die pure, hohe Kraft des Wassers und der Natur, während er sich im Fluss orientierte ...

 

Kurz hielt er inne. Das Wasser kann sehr unbarmherzig sein. Es könnte zur Falle und Hölle für ihn werden.  

Der Fluss ist sehr stark. Es ist sehr schwierig zu schwimmen. 

 Der gesichtslose, namenlose Mann vor ihm schien zu entwischen. Vielleicht würde ihn eine Strömung ganz hinabreißen.

Der obere Rumpf und das Schemenhafte der Arme und des Kopfes wurden schmaler und wieder unsichtbar.

 

 In ihm kam bald wieder das Gespür für das Brutale und Spöttische der Nacht herauf.

Als er über die wilde Wasseroberfläche blickte, bemerkte er, wie die armseligen, zerbrochenen Rufe und Laute und verlierenden Armschläge des Mannes herschwirrten wie finstere, verirrende Flügelschläge von Fliegen, im nächsten Moment im Wasser verlierend.

 

Er schwamm weiter im spöttischen Mondlicht. Aber er musste weiter kämpfen. Auch ein auf der gegenüberliegenden Uferseite gehender Passant bemerkte nicht das gefährliche Taumeln des Mannes im Fluss.

 

Er spürte die Witterung auf seinem Gesicht, und kam immer näher zum merkwürdigen Flussgefährten. Das Licht des Mondes zerfloss in der Strömung und auf den Händen und Ellenbogen des Kämpfenden. Ob der Mann vielleicht jetzt für Minuten bewusst kämpft? Sicherlich wird er bald aufgeben, er treibt immer länger und schwächer im Fluss,  der Fluss dagegen wird immer stärker und behält diese Stärke. 

Verteufelte Minuten im Fluss! Der Fluss ist überlegen. Dem Wasser ist der Mann gleichgültig. Auch dem Ufer, den Sternen und Leuten am Ufer. 

 

Er spürte die müder werdenden Muskeln.

Aber er würde und müsste kämpfen, so war es in vielen Bereichen des Lebens, damit würde er es wohl schaffen, mit dem geduldigen Kämpfen im Fluss gegen die Stromschnellen und Kraft und Allgewalt des Wassers. 

 

Der Mensch kämpfte und hoffte, hoffte in der schweren Nacht auf die rettende Dämmerung, das Licht und Bessere am Morgen und auf die Zufriedenheit gebende und bessere Zeit im Leben. 

 

Manchmal wirbelte er näher zum Fremden heran und versuchte mit Rufen und Schreien zu ihm zu drängen, aber der Fluss zerschnitt seine Rufe, sodass der beinahe Bezwungene etwa 15 Meter vor ihm blieb. Bald schwamm Aaron selbst mit den Händen eines bemühten Mannes, eines mittelmäßigen Schwimmers und er schwamm weiter in einem Rhythmus aus Zorn, gleißendem Widerwillen, Reflexionen, Abgeschlagenheit und wiederkehrendem, aufflammendem Spott. Vor ihm im Fluss, irgendwo im Mondlicht, hörte man die verlierenden Arme ... Ich könnte mit meinem Mädchen am Ufer sitzen, dachte er, oder auch in der Wohnung am Tisch mit Bier, Zigaretten und eine Aufzeichnung zwischen den Rugbyteams von Frankreich und den "All Blacks" aus Neuseeland auf einem der englischen oder französischen TV-Kanäle anschauen im Nachtprogramm oder eine NBA Aufzeichnung vom Spiel der Boston Celtics gegen die New York Knicks.

All das wäre einfacher und das Sichere. Dann wäre er selbst nicht der Abgeschlagene in diesem seltsamen Fluss. Der Kämpfende  in dem seltsamen, hämischen Mondlicht. Es waren seltsame  Sterne zu dieser Stunde und eine dreckige Witterung - sein Gesicht war kalt und der Schaum lechzte an der Stirn, das kalte, dunkle Wasser an der Stirn, dem Kopf und den Augen. 

 

Widerspenstigkeit fühlte er. Du hast ihn aber fast erreicht und dann wird der besoffene Schwimmer endlich zu greifen sein, sprach er sich ermutigend zu. Dann kommen wir an einen der Bootsstege, Anleger oder an einen verfluchten steinigen Uferabschnitt. Bei Gott, das wird möglich sein in dieser Nacht. Wenn er nicht vorher wie ein bereits Besiegter aufhört zu kämpfen und doch noch ertrinkt. 

Aber noch war er nicht ertrunken und hatte nicht aufgehört zu kämpfen, dachte er. 

Er musste stärker schwimmen, musste heftiger kämpfen. Er schwamm wieder mit heftigeren Armschlägen.

 

Dann plötzlich näherte er sich sehr nahe und beinahe greifbar dem Verirrten. Dem Fremden, der vor ihm war, aber ohne Namen, ohne  Rufen, als triebe er unter der Sternenhelle wie ein Geist in den Tod und das Jenseits und verzögerte es, weiter gefährlich fort treibend vom Leben. 

 

Doch im nächsten Moment musste er aufpassen: Die Strömung zerrte ihn nach unten. Abwärts reißen wollte sie ihn wie ein wendiger, überlegener Ringer und Gegner und ihn in Richtung Grund drücken. Es wird nicht mehr weit sein. Gib es nicht auf. Es wäre einfach. Er hielt sich und atmete müde aus. Wir müssen bald endlich an einen der mageren Bootstege geschleudert werden. Es wäre jetzt einfach es aufzugeben und ihn zu verlieren. 

 

Ich will jetzt nicht aufgeben, dann werde ich mich später dreckig und feige fühlen. Man kann es jetzt nicht aufgeben. Morgen früh, wenn ich die Hannoversche beim Frühstück am Tisch umblättere, will ich nach den 96er Berichten nicht zu einer Traueranzeige seiner Familie umblättern. In seinem Rausch, nach seiner Sauferei, will er gerettet werden. Mehrere Leben wird ihm der Fluss nicht gönnen, dafür ist er zu dieser Mitternacht zu brutal und gleichgültig. Die Ufer,  der Mond und die Sterne, auch über der nahen Stadt,  sind souverän. Sie sind schön und doch in diesen Minuten feindselig. Sie sind da und doch auch marternd gegenüber dem Verirrten.  

 

Eine Zeitlang trieb er in der Strömung, dann schwamm er wieder stärker und kam ihm immer näher. Derweil schlug der Mann kaum noch mit den Armen. Jeden Moment schien er zu ertrinken und er nicht heranzukommen. Eine kämpferische wie in der Ewigkeit festgemachte Zeit verging ...

 

Aber dann, endlich, endlich gelang es ihm ...

Irgendwann nach Mitternacht belohnte ihn das beharrliche Schwimmen: Endlich packte er ihn am linken Oberarm und tastete hoch nach seinem Hals und Kinn. Nach einer Weile schaffte er es ihn auf den Rücken zu drehen, sodass der Hinterkopf des Mannes an seiner linken Schulter war und er mit der rechten Hand, seinen Körper etwas seitwärts windend, schaufelnd und schwimmend voran steuerte.

 

 „Ich hab dich, hörst du“, rief er angestrengt und mit müder, triumphierender Art. „Dieser Fluss besiegt uns nicht.“

 

 Er schwamm jetzt endlich mit dem Namenlosen, doch der Fluss toste in beinahe totalitärer grausamer Überlegenheit, als schwammen sie in einem grässlichen Monopol der natürlichen, ewigen, unteilbaren Macht. Verfluchte Strömung! Gleich, gleich kommen wir an das verfluchte, dreckige Ufer, hoffte Aaron. Seine flache Hand zischte ins Wasser und mühte sich. Aber er schaffte es nicht ...

 

Der Fluss riss sie mit sich wie ein starkes, unbeeindrucktes Regiment und sie drifteten an den gespenstisch stillen Ufern, den Böschungen und Schemen der Bäume vorüber. Kurzzeitig beobachtete er einen Bootssteg und steuerte aus der hartnäckigen Strömung, aber dann schleuderten sie, weil der Fremde nicht mit ihm ausscherte und er den Mann nicht ausreichend festhalten konnte, erneut in das donnernde Raunen wie in eine verbissene, verschlingende Tiefe, die jeden Versuch und jede Möglichkeit eines kämpfenden Mannes tilgen wollte – Aaron hörte für Momente auf zu schwimmen ...

Sie flogen flussabwärts an einem ehemaligen Industriegewerbegebiet vorüber, trieben wie Hölzer an einer verrotteten Ziegelei und Metallfirma mit zersplitterten Schornsteinen und Fenstern vorüber, vor deren Gemäuern Kessel, zerrissene Mülltüten, Ratten waren und kaputte Maschinenteile lagen. Dann säumten wieder halbverdunkelte Weizenfelder und Schilfgräser den Tunnelblick. Plötzlich wurde in der Höhe eines Bootstegs die Uferbreite schmaler, wie ein an der Spitze schmal zulaufendes Schwert. 

 

 Da würde er neben dem namenlosen Gefährten eine größere Chance haben. Es wird der nächste nachlassende Wirbel sein. Die werde ich nutzen. Ich muss auf die schwächeren Wirbel warten und darf nicht aufhören. Er glaubte heraus gelangen zu können, paddelte heftiger, aber die Stromschnellen blieben gegnerisch. Der Mann schien ihm jedes Mal aus den Händen zu entreißen, wollte er ausscheren. 

 

In den Stromschnellen kämpfte er um jeden Meter und fühlte Hoffnung, Mattigkeit, Zorn. Sie drifteten immer näher heran. Und endlich, endlich schafften sie es ...  Der Kämpfer, der Schwimmer schnaubte und kroch an das Ufer. Gott sei Dank, keuchte er.  

 

„Das passierte wegen deiner Sauferei, hörst du!“, wollte er rufen, aber seine Stimme war müde, der Mann still und ermattet. Sie waren halb geschwommen, halb ans Ufer gespült worden wie aus einer verfluchten Strecke und landeten endlich an Land.

So gelangten sie endlich ans Ufer. Aaron ließ den Mann los. Sie lagen ein, zwei Minuten auf dem steinigen Ufer, und waren nicht umgekommen.

 

 Der Mensch kämpfte und hoffte, dachte er, hoffte auf das Licht und das Bessere im gegebenen Leben. 

 

 Bald drehte er sich zur ausgezehrten Silhouette des Mannes. Mit zitterndem Puls, aber ruhiger werdenden Blicken beobachtete er das Gesicht des potentiellen Selbstmörders, das dünne, fledermausartige Gesicht des Mannes, der zusammengekrümmt auf den Steinen am Ufer lag, dalag, wie ein Gefallener, an dem schönen und schauerlichen Antlitz des Ufers und Flusses, vor dem  geheimnisvollen, unterwerfenden Allumfassenden der Welt. 

Unbesiegt, aber erschöpft lagen beide Männer da. 

 

"Er wird bestimnt wieder werden, auch wenn´s sehr riskant war. In ein paar Tagen wirds nur noch eine glückliche Schwimmaktion sein."

 

 Bald stand er und lehnte der Mann ein Stück weiter an einer Promenadenmauer. 

Er wirkte auch hier noch immer wie jemand, der von dieser Welt fortgerissen war. Über ihnen war das Mondlicht und vor ihnen das Ufer und der Fluss scheinbar schwerelos und mit schmetternder, einschüchternder Unbeirrbarkeit und Allgewalt.  

 

 

3.

 

Einige Monate später traf er den Taxifahrer an dem Marktplatz der Stadt, als er nach der Arbeit im Grosshandel einige Bier im Pub trinken wollte. 

Sie bestellten und tranken etwas in einem nahen Pub. Der Taxifahrer erzählte ihm dann vom beinahe Ertrunkenen und ehemaligen Fabrikarbeiter aus der seltsamen Nacht.

Diese Wende und Tat erschien ihm wie ein irres, grausames und unerwartetes Verbrechen:

Dieser stünde nun vor Gericht wegen zweifachen Mordes und wegen mehrfach versuchten Mordes. Die Festnahme seitens der Polizei erfolgte, nachdem er als Verfasser von fünf Briefen, die giftiges Pulver beinhalteten,  überführt werden konnte. Ein präparierter Brief tötete unter anderem den Personalleiter der Kunststofffabrik und weitere Briefe waren an weitere Verantwortliche im Vorstand des Unternehmens verschickt worden.

Als er festgenommen werden sollte, attackierte er eine Polizeibeamtin mit einem Messer vor dem Mietsgebäude, zwischen dem Hauseingang und dem Platz der Müllcontainer eilte er auf die Beamtin zu. Ein tödlicher Halsstich konnte jedoch noch im letzten Moment verhindert werden. Zwei weitere Kripobeamten hatten ihn überwältigt, in Handschellen im Streifenwagen dann zur Polizeiwache gefahren und in Gewahrsam genommen. Im späteren Prozessverlauf war er von dem leitenden Richter zu einer mehrjährigen Haftstrafe mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt worden. 

Er hörte es und blickte bald zur Kellnerin, die vom vollen Tresen an ihrem Tisch vorüberschritt, als er wieder vom Bier trank, eine Weile innehielt und sich bald nach dem Prozessverlauf und Ort der Justizvollzugsanstalt erkundigte ...

 

von Deniz Civan Kacan 

 

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 13.01.2014

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