Als der Mann am Vormittag näher zur Rennbahn, entlang des Buchmacherladens schritt, in der eine grünäugige Frau die Kasse vorbereitete, blickte er mit einer Art Abenteuertum und stiller, erwachter Vorfreude - nach seltsamen Monaten und einem laufenden, unabgeschlossenen Fall für die Justiz und Polizei, der ihn heruntergezogen hatte wie mit mehreren Händen und Beschwernis - zur Rasenfläche, auf dem bald die favorisierten Teilnehmer Kadera und For a King rennen sollten. Er hatte in dem Fall, der von Frau P. und Herrn S. in der Polizeidienststelle an der Grabenstraße geführt wurde, noch keine Gerechtigkeit erfahren, aber jetzt sollten seine Gedanken und sein Bewusstsein hierher gehören. Vor ihm die Rennbahn, daneben Bäume, karge Bänke, Buchmacherläden, eine Gruppe mit Frauen und Männern und am Wall verstreute Stadtleute, die schon an ihre Einsätze und das mögliche Geld dachten.
Der Familienvater ging bald an einem Buchmacherladen vorüber, an dem zwei Männer redeten, die wie Halbweltgrößen aus der Unterwelt schienen mit schwarzen Mänteln und Hüten und den Wall hinabgingen zur überdachten Tribüne der Arena, dann einige Frauen, die mit ihren Partnern und Begleitern schwätzten, etwas Bier in Bechern tranken und ein anderer Mann seine Wette für eines der Galopprennen einzahlte. Einer der Männer der Gruppe warf seine Baskenmütze hoch, rief etwas berauscht: „Kaderaa, Kaderaaa, Kadeeeeraaa, Kadeeerrra, Kaderrraaa, setzt auf das Siegpferd Kadeerraaa! Es fliegt wie Pegasusss! Es rennt nicht, es fliegt, es fliegt über diese Realität und Ordnung und unser begrenztes Dasein, es fliegt über den Rasen und die anderen Pferde und Jockeys wie Pegasusss! Der wird uns viel Geld einbringen, jaaaa, das verrrückteste Pferddd der Stadt Kaderrraaa!“
„Dein betrunkener Kopf fliegt dir weg, Junge“, sagte ein Anderer, der sich eine Zigarette ansteckte.
Der Mann ging weiter. An dem Bierwagen „Zum Trinkplatz“ goss eine attraktive Frau mit hellbraunen Haaren mehrere Gläser voll mit schäumendem Bier und stellte frisch gesäuberte Ouzogläser auf. Eins der Gläser goß sie voll.
"Worauf warten Sie?! Gießen Sie gleich wieder ein!", hörte er die Stimme eines Mannes kurz, der einen Mantel trug, noch ein Glas trank und dann mit der rechten Hand über das Gesicht wischte, das Gesicht konnte er nicht sehen, und zur Halle schwenkte.
Der Mann blickte zur Halle und zum Bierwagen und dann weiter umher - im Oktoberlicht zu den Tribünen, die noch kaum besucht waren und dann zur im fahlen Licht lauernden Rennfläche mit den wartenden Erstplatzierten und Niederschlägen, Zweifeln und Hoffnungen, den sauberen und üblen, schmutzigen Kämpfen und den Rennen um Geduld, Ansehen, Stolz, Unbeugsamkeit, Siege und unerwartete Wendungen im Wettkampfgeschehen.
Es begann bald erneut etwas zu regnen. Es war kein gefährlicher und unseglicher Oktoberregen für die Leute in der Stadt und auf dem Land, dachte er. Doch was konnte er noch für die Rennen bedeuten? Welche List, welche Möglichkeiten, Gefahren und Schwierigkeiten für die Wettkämpfer erzeugen? Der Ladenbesitzer hatte heute keine Kassentätigkeit, keine Warenbestellungen und Stunden am Verkaufstresen vor sich. Bestimmt werde ich einmal mit meiner Frau und meinem Mädchen hier sein, dachte er.
Der Regen, die Waghalsigkeit der unbekannten Wettkämpfer, dann mögliche Wettscheine, die Bierstände mit den Stammgästen, Geschäftsleuten, Neuen in der Stadt, den Kleinganoven und Stadt- und Landleuten, dann Imbissstände, etwas Glück im Inneren und vielleicht in den Wetttipps und der Abstand von dem üblen Vorfall, der sich vor Monaten ereignet hatte und seine Familie, die Polizei und Justiz beschäftigte. Aber jetzt gleich die anstehenden Rennen über 1500 Meter, 2000, 2200 Meter und andere, umkämpfte Strecken. Der Regen wird wohl den geduldigen und glücklichen Kämpfern den Sieg bringen. Durch den Regen ging ein Wettkampfteilnehmer mit quittengelbem Trikot entlang der Zuschauerstrecke und Pfütze. Der Regen fiel karg über dem Rasen und der Bedachung der Arena, so, dass man es kaum hörte, aber die kühle Witterung der Tage zwischen Herbst und Winter bemerkte. Er blickte dann zu den Starterboxen der Pferderennbahn und dachte an die Wettkämpfe. Heute ist vielleicht ein Tag für einen wirklichen Kämpfer wie Kadera, der die anderen deutlich schlägt, wie ein erstklassiger Boxer seinen Kontrahenten in der ersten oder zweiten Runde niederstreckt, dachte der Ladenbesitzer und Familienvater kurz.
Er blickte über einen grün schimmernden Graswall zur Rennbahn. Der frühe Regen hatte sie schwerer und damit schwieriger und unberechenbarer gemacht. Jetzt war der Regen wie von der allherrschenden Macht, für eine Weile, in die ferne Welt gejagt und wurden die ersten Rennboxen in der Witterung aufgebaut, für die anreisenden Menschen aus der nächsten Großstadt, den Kreisstädten und Dörfern des Umlands, ein Spektakel für das herströmende Volk. Ihm erschien der Augenblick als hätte ein gütiges Dämmern die Erde an diesem Tag und in dieser Welt für Stunden eingenommen. Als hätte es das üble, widerliche Leid der Vormonate verscheucht wie Fliegen von einem Tisch und Herdfeuer einer Familie, damit den Seelenkummer wie ein verdammtes Unglück plötzlich fort geschlagen. Als bemerkte er endlich wieder eine Zufriedenheit in diesen Monaten, in denen er am Verkaufstresen des Ladens Kunden zum Kauf von Hüten, Mützen, Baseballkappen und dergleichen beriet, das Haupteinkommen der Familie stellte, dann zur Polizeistation mit den Inspektoren Silva und Panter fuhr und müde war von fehlenden Antworten und einem befreienden Richterspruch. Eine seltsam verfinsterte Zeit.
Schwalben flogen wie unförmige Pfeile bald hinab über die unebene, listig lauernde Rennfläche. Der Rasen der Galoppbahn und der Wall vor der Tribüne schimmerten in der Regennässe und auf dem Wall die Verkaufsstände mit den Stadt-und Landleuten. Ein Bier werde ich wohl gleich trinken, dachte er. Noch Minuten bis zum Start.
Auch die anderen Besucher und Pferde und selbst die Bäume genießen die Minuten vor dem nächsten Rennen, dachte er. Im Jockeybereich sah er einige Pferde, darunter Kadera, Sterling, Ryani, die trabten. Er sah ihre erhabenen Köpfe und dachte, sie arbeiten bereits mit dem wichtigen und zu bezwingenden Boden. Es sind Tiere, aber sie wissen um den Zweck ihrer Auswahl, um ihre gefeierten und armselig geschundenen Körper und ihre Schnelligkeit. Das Leben lehrte sie das wohl. So wie ihre Besitzer und Trainer bereits mit den anstehenden Strategien arbeiten und den möglichen Entwicklungen im Rennen selbst. Sie alle arbeiten mit der schwerer gewordenen, regennassen Erde, die allen eine Falle sein konnte und schwere Niederlagen beibringen konnte. Aber es ist wohl nicht die listige, schwere, gierige Erde, die sich wie an so mancher Kriegsfront mit einem Graben öffnete, dachte er an eine kürzlich gelesene Abhandlung zu den Kriegen und Etappen der Menschheit seit dem ersten Licht der Zivilisationen in Mesopotamien, Ägypten, Griechenland. Manchmal einen Mann verwundend, manchmal alles verschlingend, den Kämpfenden, das Gewehr, das Pferd, die Strategie, die Familie daheim und das Leben und Glück selbst vernichtend. Hier ist es eine schwierige Erde, aber es ist machbar und kein vernichtendes Terrain, redete sich der Familienvater zu. Auch wenn der Rennboden vom Regen aufgeweicht und und schwerer ist, soll es ein besonderer Renntag werden, der mich vom Schweren und den Sorgen ablenkt. Mit unbeugsamen Wettkampfteilnehmern, die laufen, heute so laufen, als liefen sie für das Wichtigste der Welt. Für das Wichtigste der Welt am heutigen Tag. Klasse wäre ein 2200 Meter Galopprennen, in dem die Kämpfer Kadera und For a King etwas beweisen können und vielleicht auch unter einer sehr guten Wettquote lospreschen und es sich auch für die Wettenden lohnt. Es sind vielversprechende Pferde.
„Nach dem Regen werden heute die Pferde viel riskieren müssen. Du musst auch viel riskieren, um keinen Hunderter an Kadera zu verlieren, man braucht viel Glück zum Sieg“, hörte er plötzlich die Stimme eines anderes Mannes. Herr Brasser wandte sich um und lächelte.
„Hallo.“
"Hallo Jona."
Bald stakte der Mann, Mardini, ein Anwalt der Landeshauptstadt, dessen Stimme hergeflogen war, von den Sitzen der oberen Tribünenmitte zu ihm hinunter. Sie reichten sich die Hände.
„Ich hatte nicht mit dir gerechnet. Schön dich hier zu treffen, aber in der Kanzlei erwartet dich ja erst morgen ein Mandant.“
„Morgen früh habe ich einen Termin mit einem Mandanten, der dem Krieg in Afghanistan entkam und mit einem, der einen Juwelier ausraubte“, erklärte der Anwalt, stockte und fuhr fort: „Aber ich hatte mir dieses Galopprennen schon im August vorgemerkt. Einige sehr starke Pferde mit Klasse laufen ja mit.“
„Hoffentlich.“
„Kadera ist dabei und es darf keine Katastrophe geben wegen dem verfluchten Boden.“
„Es ist ein Pferd, dass im Regen noch mehr als in der Sonne etwas auf sich hält.“
„Der Regen wird für Überraschungen sorgen. Hoffentlich für keine Drecksüberraschungen."
Das kann er bestimmt. Widerliche Überraschungen und Verwicklungen durch den Regen sind wahrscheinlich. Seit den ersten, minutiösen Aufzeichnungen der Menschheit vom Drillen, Züchten und Wettrennen von Pferden in Mesopotamien, die in jenen Tagen vor Streitwagen gesetzt wurden, dachte Brasser an eine historische Abhandlung durch den amerikanischen Professor Marc Joshua und in Wettkämpfen in den damaligen, glorreichen Metropolen der Welt rannten, im Welteich der Hethiter, im mesopotamischen Mittanireich, in Theben, Kairo und Washukani, deren Mittani Könige jahrhundertelang mit den Pharaonen in Korrespondenz standen, durch den Chronisten und großartigen Pferdetrainer Kikulli im Mittani Großkönigreich auf Tontafeln überliefert, der sicherlich auch bei matschiger, regengetränkter Erde hier und da seine Pferde drillte, erinnerte sich der Mann, will man sein bestes Pferd durchkriegen. Man will es bei den planbaren Runden und verrücktesten Bedingungen. Gleich der Zeit! Auch hier auf der wunderbaren Rennbahn nahe der deutschen Großstadt, wo For a King und Kadera es reißen müssen. Dann blickte er zur Laufbahn und zu Anwalt Mardini.
Die Männer erwarteten reißerische Wettkämpfe. Es war ein Schwall der Vorfreude.
Der Mann mit der hellbraunen Gesichtshaut, den grünen Augen und dem indoeuropäischem Schlag, ein türkisch-kurdischer Jurist, der in Mardin geboren war, doch schon sehr lange in der deutschen Großstadt lebte, arbeitete in einer Anwaltspraxis in der östlichen Vorstadt. Noch im August war er dem Advokaten in dem Hutladen Brassers begegnet, später in einem Tabak- und Zeitungsladen in der Innenstadt, und nachdem sie auch beim Anwalt gegessen hatten, und er dessen Frau und zwei Söhne kennenlernte, und dieser auch dessen Familie, trafen sie öfters im Tabakgeschäft und dem Lulu Cafe zusammen, wo sie über die Berliner und ehemalige Bonner Republik plauderten, über ihre Familien, über den Krieg der tapferen Anti-IS-Allianz bei Kobane gegen den IS, während sie ihren Kaffee tranken, und sie ebenso über eine Abwicklung des Ladenbesitzers zu einer umfassenderen Hutlieferung nach Dänemark sprachen: Die Lieferung nach Kopenhagen umfasste verschiedene Hutarten mit verschiedenen Mengen: darunter 30 Baskenmützen, 70 Stetson Hüte, 25 Bogart Hüte, 10 Dilara Hüte, je 15 Boston Pork Pies, einige Kalabreser, Jersey Turbane, dann noch ne Menge grüner und grauer Wollmützen, und es brachte ihm das Geld und die Hauptverdienstquelle für sein Herdfeuer und die Familie.
Dann sprachen sie über einen Termin bei seinem Steuerberater im südlicheren Stadtteil der Großstadt und ebenso über einen behandelten Delikt des Anwalts. Beide Männer mutmaßten dann noch über die amerikanischen Ratingagenturen, welche Empfehlungen in der Griechenlandkrise für die Wirtschaftsentwicklungen in Deutschland, Irland und Spanien, in Griechenland abgaben, dass darüber nachdachte Inseln in der Ägäis an sehr reiche Chinesen oder Amerikaner zu verkaufen und in den Leitartikeln der Zeitungen hinterfragt wurden. Über griechisch-türkische Scharmützel wegen ägäischer Inseln. Schließlich sprach der Ladenbesitzer auch über den Entführungsfall oder Vergewaltigungsfall seiner Tochter. Es machte ihm sehr zu schaffen.
Sein Mädchen Jasmin war sein Glück. Er versuchte der kontrollierende Mann seiner Welt und dieser Veränderung, dieser Prüfung zu sein. Die Situation seiner Tochter, nach dem Vorfall in der Märznacht vor dem Mephisto Cafe, belastete ihn äußerst, aber er wollte dieser widerlichen Ist-Situation nicht klein beigeben und hoffte auf Herrn S. und Frau P., auf die Spurensicherung und erfolgreiche Fahndung der Kriminalpolizei. Diese Zeit war sehr schwierig gewesen.
Nach einer Minute des Schweigenes erkundigte sich der Ladenbesitzer dann nach dem Sohn des Anwalts, der erklärte:
„Mein Sohn ist auf einem Schiff bei einem internationalen Militäreinsatz im Piraten- und Kriegsgebiet vor Somalia, aber er wird sich behaupten und bald hier sein.“
„Das wird er ganz sicher“, erwiderte der Ladenbesitzer.
Jetzt mochten sie es in der Arena zu sein. Damit Ihr euch ein genaueres Bild machen könnt: Vor der Tribüne kraxelte man einen schmalen, grasigen Wall hinauf, der mit Bänken und Getränkehäuschen gesäumt war, wo Bier, Ouzo und Wein verkauft wurden und betrat dann die Rennbahn.
Drei, vier Jugendliche spielten mit einem Ball, einige hübsche Frauen, darunter Arbeiterinnen und Frauen von Unternehmern, standen am Getränkestand mit Hüten und näher zu ihnen war ein Pärchen, dass über eine Bestattungsfirma sprach, ehe die Wortfetzen verflogen. Unweit gingen drei Leute in Mänteln am Wall entlang und dann ins Gebäude, die aussahen wie Preisboxer oder Profile der Unterwelt hatten. An einem anderen Getränkestand sah man drei Leute. Einer schlug ein leeres Ouzoglas auf den Tisch, ehe die Frau nachgoss. Ohne Eile schritten ein kleinwüchsiger Mann und eine schlanke, mittelgroße Frau an der Bude vorbei zum Platz, an dem später die Siegerehrungen vorgenommen wurden.
Er drehte sich um und sah ganz oben in der Tribünenreihe zwei Leute, die alleine da saßen, etwas tranken und sich absondernd wohl nichts aus den bekannten Sportlern, Vertretern aus Politik, Verwaltung und Wirtschaft machten, sondern nur den Wettkampf auf der Rennbahn liebten, es mochten zwischendurch die Vögel am Himmel und an den Baumgruppen zu beobachten, die wie der Regen kamen und forteilten und die Wettkämpfer schließlich selbst, die ernst, allbereit, aber würdiger als zu Gladiatorentagen, um so vieles losjagten.
Vor ihnen am fließenden Wall erstreckte sich dann eben verlaufend die Rennbahn und lauerten einige Wetter auf die vielversprechenden, wunderbaren, noch sorglosen Pferde. Dem Mann gefiel es auf der linken Tribüne. Er dachte jetzt nicht an irgendwelche Sorgen. Er rauchte bald eine Zigarette. Ebenso der Anwalt, der den vom Regen durchnässten Hut hinab nahm. Zwei Wettkämpfer beschäftigten sie.
„Glaubst du, dass Kadera und For a King es unter sich ausmachen werden?“, fragte der Ladenbesitzer.
„Sie haben mehr Chancen, weil sie die letzten Rennen klasse Erlebnisse lieferten, wobei Kadera in der anderen Stadt in der Schlusskurve Probleme hatte“, erwiderte der Mann mit dem Hut in der Hand.
„Ich vertraue diesen Pferden, und wenn ich Glück habe, werden sie mir etwas einbringen.“
„Bis zum letzten Rennen hätte ich Kadera ganz vertraut. Aber die letzte Stadt war ein schwieriges, unzufriedenes Rennen. Heute muss das Kadera Team sich besser durchs Feld kämpfen.“
"Dazu der verdammte Regen."
"Auch im Regen muss das Team wie ein mutiger Boxer ins Rennen über die über knapp zwei Kilometer gehen und muss an sich und das Team glauben. Sie dürfen nicht feige sein, aber auch nicht vorneweg zu viel wollen", sagte Mardini.
Weiter sprachen sie über das spätere, dritte Galopprennen, dass sich über 2200 Meter erstreckte und spekulierten über die bald in der Box lauernden Pferde Kadera und For a King.
Die Männer beobachteten manchmal die regennasse und nach dem Regen eher Unruhe und teils sogar Feindseligkeit und Arglist ausstrahlende Rennbahn. Dann blickte der Ladenbesitzer zu den Vögeln, die über den Rennboxen hinabschnellten, über das Gras und einen Bierwagen flogen und dann über das Reklameschild des Buchmacherladens fortflogen. Die Sonne hielt sich zurück. Manchmal waren da kurzzeitig derbe, aschefarbene Wolken am Horizont des Himmels.
Doch für einen Oktobermorgen war es nicht sehr kalt. Sie spracheng über die Wettkämpfer, möglichen Sieger und Verlierer. Es lenkte den Ladenbesitzer ab vom Schmerz der Vormonate, der sich wie ein Messer, während der Mittage im Laden und Abende am Tisch neben seiner Frau, in sein Inneres geschnitten hatte, glühend, einen Zorn, Rachegefühle und ebenso eine seltsam ungekannte Betäubung schaffend.
Wieder setzte er zur Ablenkung an. Da drüben sprechen sie auch über den Stall von Ryani, über For a King, Mister Miller, die Wirkung der schweren, nachgebenden Erde, sagte er sich beim Blick zu den Leuten, die Bier bestellten, ehe bald das dritte Listenrennen, bei dem sie am Buchmacherladen ordentliche Wetten einzahlen wollten, begann.
„Diese Woche wurden viele Dockercaps verkauft und in die Niederlande verschickt. Es gab eine Riesenbestellung von Herrn Bergkamp, von einer Hafenfabrik in Amsterdam. Wenn ein niederländischer Jockey dabei gewesen wäre, hätte ich aus Solidarität für diesen Rieseneinkauf auf ihn gesetzt, egal, wie er vorher lief“, scherzte er „aber es wird wohl Kadera sein, der mit mehr Ehrgeiz und Klugheit laufen muss, als die anderen Pferde.“
Er steckte sich die erloschene Zigarette wieder an. Der Andere lächelte, die Zigarette im Mundwinkel und nahm die Zeitung in die rechte Hand. Dann fragte er den Ladenbesitzer Brasser nach dessen Mädchen. Er hatte ihre Situation nicht vergessen.
„Haben die Kriminalinspektoren schon mehr zum Fall deines Mädchens zusammengetragen?“
Er hoffte auf Spuren zum Täter, der versucht hatte, sich an ihr zu vergehen. Die Polizei recherchierte, aber noch wurde niemand dem Richter vorgeführt. Sie hofften auf eine Wende im Fall der verfluchten 6. März Nacht.
“Die Kriminalbeamten gingen einer ernsten Spur unter anderem in Hamburg und Bremerhaven nach. Das erzählte mir Herr Silva von der Polizei“, sagte der Familienvater mit ernster Miene, „es gebe da vielleicht jemanden aus Bremerhaven, der auch im Umland unterwegs gewesen sein soll und der zum Täterprofil passte. Ich hörte es letzte Woche, Ismail, aber seitdem gab es keinen Anruf."
Der Andere hörte ihm zu, sagte nichts.
"Vielleicht hat es sich auch erledigt. Unsere Tochter wurde auch in diesem Jahr öfters von einer Psychologin betreut. Wir hatten Glück, dass nichts Schlimmeres in der Nacht am Hauptbahnhof passierte. Vielleicht wird es einmal in den juristischen Amtsstuben der Republik zurückbleiben. Ein Wunder braucht es nicht dafür.“
„Ich bin jederzeit da. Das wäre mir eine Ehre.“
„Das weiß ich, Ismail, danke“, erwiderte er. „Sie hätten unsere Welt zerstört, wenn sie sie vergewaltigt und getötet hätten.“
„Sie ist ein couragiertes Mädchen, die sich gewehrt und losgerissen hat und sich nicht ergeben hat“, erinnerte sich der Anwalt an die Schilderungen.
Brasser nickte mit Seufzen.
„Was anderes hätte meine Frau nicht ausgehalten und wäre verrückt geworden. Fähig so jemanden umzubringen wäre ich wohl nicht, aber unser Staat muss ihn fassen und diesen Hundesohn hinter Gitter bringen.“
„Die Staatsanwaltschaft wird die versuchte Nötigung zur Strafe bringen“, versuchte Mardini zu beruhigen und zu ordnen.
Brasser hob den Schirm mit zitteriger Kraft. In seiner Stimme war Schmerz, Wut und Hilflosigkeit. Oft habe ich sie zur Doktorin in der Großstadt begleitet, dachte er dann. Der Ladenbesitzer spürte kurz einen schmerzliches, derbes Pochen in seinen Adern. Kurze Stille.
„Wann werdet Ihr das nächste Mal bei den Kriminalbeamten sein?“, fragte Mardini dann.
„Das wird wohl zum Ende der kommenden Woche sein“, antwortete der Familienvater nach kurzer Pause. „Da wird uns Herr Silva vermutlich einen der Verdächtigen präsentieren.“
„Das wäre eine hervorragende Nachricht.“
Die Augen des Ladenbesitzers funkelten beim Gedanken an einen Fahndungserfolg, aber er wollte sich nicht unglücklich machen mit einer Ballung an zu viel Zuversicht, die schnell zur Naivität und zum Hieb in den Magen werden konnte und wie eine Axt die Familienbande zerschlagen konnte. Vielleicht gab es auch nichts und sogar einen Rückschlag? Die damit verbundene Unzufriedenheit würde sich noch tiefer in die Seele fressen. Bald blickte er kühner, mit gedankenvollen Augen, in dessen rechtem Augapfel ein roter Punkt eingefroren war, zu den Baumgruppen am Rennbahnrand und dann zum Anwalt.
„Es wird sich wohl alles ergeben mit der Polizeiarbeit“, sagte er weiter. „Sie hat die Polizei erst sehr spät benachrichtigen können, nachdem sie von einer Disko in einer ruhigen Ortschaft und an dem Cafe Mephisto entlang alleine zu einer Busstation gehen wollte.“
Dann hörte er auf zu reden, aber dachte: Unser Mädchen lebt und wird ihre Angst nicht in die Mitte ihres Weges stellen, sondern weiterhin ein hoffnungsvolles, möglichst lebenslustiges Mädchen sein. Sie ist am Leben, ihre Freiheit und ihr Wohlergehen sind nicht bezwungen worden. Der Täter ist auf der Flucht und wird hoffentlich zur Rechenschaft gezogen werden!
„Sie ist heil bei euch und die Kriminalbeamten und ein ehrgeiziger Staatsanwalt werden den Fall der versuchten Nötigung aufklären und ihr über diese Nacht hinweg kommen“, sprach ihm der Anwalt bedächtig und mit magerem Optimismus zu. Der Mann rieb über sein Nacken und blickte zu ihm mit nachdenklicher Miene. Er rauchte seine Zigarette. Brasser sagte nichts und verstummte für eine Weile.
Dann dachte er an die Worte des Inspektor Silvas: Es gebe bis zu vier oder fünf Verdächtige, wobei es bei den meißten lediglich Vermutungen waren, keinerlei Beweise oder weitergehende Indizien waren bislang aufgetaucht.
Silva berichtete ihm von einem slawisch aussehendem Anhalter, der an dem Abend in der Nähe der Bushaltestelle gesichtet worden war. Dann von einem betrunkenen, dunkelhäutigen Gast, der im Mephisto wegen einer Streitigkeit mit einem der Männer der Security aufgefallen war und schließlich, nur eine Stunde vor dem Vorfall mit dem Mädchen, rausgeschickt worden war. Von dem Unbekannten in Osnabrück hatte er nicht mehr berichtet.
Zur Pferderennbahn war er gekommen, da seine Tochter über das Wochenende bei der Mutter des Mädchens und ersten Frau Brassers in Hamburg übernachtete. Diese scheiß Märzmitternacht darf die Familie nicht zerbrechen, dachte er. Sie ist zu wundervoll. Alles an ihr ist wertvoll. Mardinis Worte in Gottes Ohr. Herr Silva und Frau Panter dürfen uns nicht im Stich lassen, hoffte er. Denn die Unzufriedenheit und ungeheuerliche Betäubung hielt schon länger an: Der Ladenbesitzer und seine Ehefrau spürten es auch abends, wenn er aus dem Hutladen in der Heinrich Böll Gasse, in der er arbeitete, und dessen Namensgeber er als Autor und humanistische Stimme zum Zweiten Weltkrieg und Wiederaufbau während der Trümmertage in der BRD sehr mochte, nach Hause kehrte und mit seiner Frau am Küchentisch aß. Auch nachdem sie mehrmals mit der Doktorin des Mädchens gesprochen hatten. Einige Nächte zuvor befielen Brasser Alpträume, Anflüge mit schauerlichen Klauen, die sich scheinbar erbarmungslos über seinem Familienglück erhoben, wie die Schwingen einer Harpyie, die sich auf eine Beute stürzt, dachte er, dann wachte er verschwitzt auf, aber scheinbar noch immer nicht gänzlich dem Traum mit entfernten Sargnägeln, Trauerprozessionen und Schatten entfliehend.
Unweit kehrte eine Frau den Boden vor einem Fenster eines Wettenbüros und hörte man ihr Summen. Er wandte sich zur Frau und wieder zur Rennbahn, während die Vögel über das Terrain und die Rennboxen hinabschnellten. Dann hob er das Fernglas über seinen Kopf und legte es auf den Sitz neben die Wettenzeitung und den Regenschirm. „Der Polizist meinte, es sei ein Segen gewesen, dass sie sich gewehrt hatte, geschrieen und dem Mann einen Tritt verpasst hatte, jemand hatte auf der sonst toten Straße zugerufen und war hingelaufen, der Täter hatte Angst gekriegt und war durch den Wald geflohen“, erklärte Brasser. Sein Gemüt wurde plötzlich von einer aufblitzenden, pessimistischen Schwere und Trübseligkeit durchkämmt. Es war merkwürdig und jäh wieder da. Aber ich muss standhaft sein, meine Familie muss es auch, dann wird sich alles klären. Plötzlich dachte er wieder an den Verdacht Silvas, es müsse auch der Ex-Freund des Mädchens, Sinan, ins engere Visier der Fahnder genommen werden. Denn er hatte sich am Abend des Vorfalls ebenso im Mephisto aufgehalten, war vom Mädchen abgewimmelt worden und zur Tatzeit später nicht mehr im Club gesehen worden. Dann würde er einen hohen Preis dafür bezahlen!
Der andere Mann rauchte und blickte zur Rennbahn. Bald blickte er auch über den Wall hinweg zu den armseligen Bäumen und der dunkelgrün und weit nach oben verlaufenden, dünnen Bahn. In wenigen Minuten liefen die wunderbaren Pferde Kadera und For a King im dritten Listenrennen auf der teils matschigen, regengrünen Strecke. Dann drehte er sich zum Anwalt, dessen derbe Stirn vom Hut beschattet wurde, aber auf der sich drei dicke Linien andeuteten, auch wenn er wohl gut verdiente und sehr gut aufgestiegen war, dachte er, eine nachdenkliche, vom Leben gegerbte Stirn. Er blickte in das kantige, vertraute Gesicht mit dem Schnauzer und den grünen Augen. Seine achtsamen, grünen Augen waren unter graubraunen Augenbrauen mahnend - wachsame, freundschaftliche Blicke und wurden auch vom Zigarettenrauch nicht ganz verdeckt.
„Mancher Vater würde denjenigen angemessen bestrafen und vielleicht tot schlagen wollen. Aber die Justiz wird da sein und diese Wut weg reißen. Und auch Jasmin wird über ihn siegen, glücklich werden und dieser Verbrecher seine Haftstrafe bekommen“, sagte der Anwalt.
„Der wird zur Rechenschaft gezogen werdenie“, erwiderte der Vater des Mädchens. "Und das Mädchen wieder würdevoll in ihrem Weg weiter gehen." Seine Stimme wurde wieder fester, selbstsicherer, wie das eines zurückgeholten Souveräns und Familienanführers aus irgendeiner herben, kriegerischen, zerreißenden Ebene der modernen, menschlichen Gesellschaft unseres Jahrhunderts.
Der Anwalt nickte und beide verstummten. Unweit hörte man das Kehren des Besens und Arbeiten der Putzfrau und erblickte man zwei Jockeys, die mit einem der Stallbesitzer redeten.
"Wehe demjenigen, der es versucht hat!", sagte der Ladenbesitzer. "Auch wenn ich ihn nicht umbringen könnte - dann muss man jemandem 10 000 oder 20 000 Euro geben, der es macht! Einem Albaner, Tschetschenen. Oder kurdischen Söldner, der sich bei einer Schlacht am Euphrat IS-Köpfe geholt hat. Irgendeinen, der es für das Geld macht und es uns einfacher macht. Es erträglicher macht!"
"Aber dann wirst du in Teufelsschwierigkeiten kommen", sagte der Anwalt.
"Aber was soll man machen? Es ist wie verflucht! Es gibt noch keine Ergebnisse von diesem Silva. Was ist wenn der Täter das Land schon verlassen hat?"
"Es wird besitmmt schon bald Ergebnisse geben seitens der Polizei. Das wird sicherlich kommen. Das wird noch dauern, aber kommen. Also vergiss das besser mit jemandem, den du beauftragst."
Der Andere blickte vom Anwalt zur Rennbahn, sagte nichts.
Der Ladenbesitzer wollte sich nicht im Zorn verlieren und jetzt nicht zu sehr die 6. Märznacht von allem hier Macht nehmen lassen. Sie verstummten. In diesem Moment mischten sich wieder Widersprüchliches, Freude, Verwundungen, der Wunsch nach einer Rache durch jemanden, durch den Rechtsstaat, nach Gerechtigkeit, etwas Missmut.
Am Oktoberhimmel bewegten sich Wolken von Westen her, es regnete kurz. Fünfzehn Minuten vor dem zweiten Galopprennen stakte Brasser die Stufen hinauf zur linken Tribünenseite der Rennbahn. Er war ein Mann, mit einem ehemals mutigeren Blick und strafferen Gesicht, zwar noch breit, dessen Gesichtspartien unter den braunen Augenpartien jedoch die ununterdrückbare Sorgsamkeit der Vormonate spiegelten. Er blickte umher. Mehrere Leute zahlten bereits Geld ein an den Wettständen. Die Frau am Bierwagen goss mit kaufmännisch-unterhaltender Miene Ouzo für ein Paar ein.
Der Ladenbesitzer dachte: Ich bin Teil dieses Renntags und lenke meine Gedanken auf die Wettkämpfer und werde die weiteren Rennen mit den Wettkämpfern aus Irland, dieser deutschen Region und Frankreich gut mitnehmen.
Immer mehr machte er sich das anstehende Rennen über 2200 Meter bewusst. 2200 – 2200- 2200-2200 listige, matschige, wunderbare, wunderbare und umkämpfte Meter über Sieg und Niederlage, es warteten Überlegenheit und mögliche schwere Rückschläge. Da könnte ich was ordentliches wetten.
Als er nach seinem Fernglas langte, stockte er kurz. Vorüber gingen zwei Jungs, die in einer Gruppe mit sehr schlechtem Ruf aus der Nachbarschaft herumhingen, und die er vom Fußballverein seines Sohnes kannte. Die beiden Jungen gingen vorüber in die hinteren, oberen Ränge. Vielleicht würden sie ein Gangstar wie Leon werden, - ein Herumstreicher, gesuchter Casinoräuber und Gangster. Er hörte, in früheren Tagen hätte Leon Bix und dessen Leute an der Pferderennbahn Leuten das Geld mit Betrügereien aus der Tasche ziehen wollen, wie kleine Geldeintreiber. Die Jungen gingen bald ins Gebäude. Er wandte sich ab und hob wieder das Fernglas.
Er stierte über die rar durchpflügte Rennbahn zu den fernen Baumgruppen und zur Kurve auf dem rechten Terrain, an der die längeren Galopprennen begannen und aus welcher die Pferde die erste, brisante Kurve preschend nehmen mussten.
„Hat der Durchsager eines der Pferde wegen einem Unfall abgesagt?“, fragte der Andere bald.
Der Ladenbesitzer war gedankenversunken. Der Anwalt wiederholte seine Frage.
„Nein. Nein. Unsere werden dabei sein“, erwiderte Jonas Brasser.
„Gut, Kadera und For a King werden also neben Mister Miller und Sterling dabei sein“, sagte der Anwalt Mardini, der heranschritt und die geöffnete Zeitung wieder zuklappte.
„Ich will nicht zu viel verlieren“, sagte Brasser. Sein Fernglas baumelte an der Brust.
„Das werden wir nicht, wenn der Regen und Matsch die Beine der Favoriten nicht vor der Ziellinie brechen oder wie in einem dreckigen Bann durcheinanderbringen“, sagte der Anwalt, der die Zigarette aus dem Mundwinkel nahm. "Und wie ein Richterurteil oder gar Messerhieb alles zunichte macht."
„Das könnte passieren. Jedenfalls können wir von hier aus den Zieleinlauf von For a King oder Kadera gut verfolgen“, sagte Jonas Brasser.
„Wenn sie nicht schlapp machen auf der Schlussgerade und sie sich einem Jockey wie Pedro Contador geschlagen geben müssen.“
„Pedro Contador wird sich auch geschlagen geben müssen. Unsere Wettkämpfer sind für diese Strecke und dieses Wetter die richtigen.“
Die Männer wollten an ihre Einsätze glauben.
Vor der Tribüne gingen zwei schlanke, hochgewachsene Frauen in Mänteln zu den Buchmacherläden und einige stakten zur Bierbude.
Wie ein Messerhieb, hallten die Worte des Anwalts nach. Kurz stellte er es sich vor und dachte an ein Buch eines britischen Historikers. Da ging es auch um Ordnungen im Leben, in der Welt, um Sein und Nichtsein im Leben, um das Sein der Zivilisation, um Tod, Artilleriefeuer, immense Opferungen von Zivilisten, Soldaten, Offizieren, Tieren, Pferden. Der Historiker beleuchtete in seinem Werk den Sturz der europäischen Zivilisation in die Finsternis, die kolossalen Menschenopfer und schrieb auch von der Masse an getöteten Pferde, während des Ersten Weltkriegs. Die das Britische Empire, Frankreich, Deutschland, das Zarenreich, Osmanische Reich, und weitere Staaten und Nationen in Heeren hergeben mussten. Er erinnerte sich an wichtige Passagen: Der britische Historiker legte die Fahrlässigkeit und Verantwortungslosigkeit der Agierenden und Beteiligten gegenüber dem sich ankündigenden Weltenbrand 1914 offen, auf keiner Seite, weder auf der der Mittelmächte noch auf der der Alliierten, gab es eine staatliche Devise zur Eindämmung des Konflikts, der Feuer fing in Sarajevo oder gar zur Entspannungs- und Friedenspolitik. Geradewegs ließ man seine Millionenheere und auch die Masse an Pferden in die Hölle marschieren. Arme Zivilisten und Soldaten! Armselige, dem Wahn geopferte Pferde! Er schrieb unter anderem von der Schlacht an der Somme 2016 mit über einer Million Tote. Die Verluste an Soldaten: 419 650 Soldaten etwa für das Britische Empire, erinnerte sich der Ladenbesitzer an diese boshafte Zahl, etwa 200 000 oder 205 000 für die Franzosen, diesmal vage, Deutschland hatte bei jenen Stellungskriegen rund 450 000 - 470 000 Soldaten zu beklagen. Es war eine ungemeine Opferstätte gewesen, die der Wahn des übersteigerten Nationalismus, die Gier nach mehr Erde und verräterischerem Prestige, die blanke Kriegstreiberei, für einen minimalen Gewinn von wenigen Kilometern, schuf, erinnerte er sich jetzt an ein Werk des Professors zu den beiden Weltkriegen. Europäer - Franzosen, Briten, Deutsche, Polen, Skandinavier -, die sich für teuflische Versprechen gegenseitig brutal massakrierten. Welch eine Zertrümmern der Zivilisation! Als er ein Rennpferd in der Ferne sah, dachte er erneut an die auch zigfach elendig getöteten Pferde vor rund hundert Jahren und die damals zerreißende Ordnung!
Menschen und Pferde, die an den Verteidigungsgräben am Ärmelkanal erschossen wurden. Menschen und Pferde, die bei Senfgasangriffen widerlich erstickten, armselig krepierten, die wegen der langen Märsche mit Munition und Broten beladen, im Morast stecken blieben und elendig verreckten. Zivilisten, Soldaten und Pferde, teils wie Vorväter dieser Läufer, die von Artilleriefeuer, Schrapnell, an den Beinen und Hälsen getroffen wurde und bald von Fliegen und vom Verwesungsgestank bedeckt waren: Alle Opfer der kriegstreibenden Faschisten. Die sich vermutlich der brandgefährlichen, diabolischen Dimension des technischen Fortschritts, der in den Dienst der Rüstungspolitik und Kriegstreiberei gestellt wurde, entzogen. An den Weichen der Weltpolitik, am Steuer der Weltgeschichte - Millionen Zivilisten und Soldaten und Tiere in die Hölle stoßend. Arg verwundete Menschheit und Zivilisation!
Beinahe 100 Jahre später:
In diesem, trotz der lauter werdenden Rechtstrommler, noch weitestgehend demokratischen, weitsichtigen Europa, hier, hier, werden die Menschen und auch sie, die Pferde geachtetet, ähnlich Brüdern und wie Seelenfreunde geliebt, dachte er schmunzelnd. Auch sie haben wohl eine Seele und Würde und viel mehr Wert, als der moderne Mensch ihm zuschreibt. Er merkte ein seltsames Mitgefühl.
Vielleicht hing es mit den Rissen und Brüchen in der Ordnung seiner Welt zusammen.
Aber früher war es ja noch viel schwieiriger: 1916: Elend und Verderben, Opferungen.
Welches Jahr für jene Menschen und Pferde entlang der Schlammgräben, Trommelfeuer, Senfgaseinsätze!
Beinahe 100 Jahre später:
Es gab ja trotz der Schwierigkeiten etwas der Hoffnung und Würde! Zumindest sind diese Wettkämpfer nicht dem Tod und Krieg und einer zerbrechenden Ordnung ausgesetzt, dachte er dann.
Schließlich blickte er wieder bewusst zur Rennbahn. Eine Minute der seltsamen Ferne, ehe diese verstrich und er wieder freier zur Rennbahn blickte. Dieser Weltbrand war weit zurück, war zum bösen Kapitel der Nationalstaaten und ihrer Zivilisten geworden. Er war hier, seine Ordnung wurde nicht gänzlich zertrümmert. Bald gab es hier das wunderbare Rennen mit den geachteten Gefährten!
Eine weitere Minute darauf beobachtete er das Rennpferd For a King und die sich an den widerspenstigen Boden gewöhnenden Sekunden.
Er war kämpferisch bei einigen Wettkämpfen gewesen, sprang voran wie ein Krieger, ein Bezwinger.
„Er soll der ganzen Welt zeigen, wie er kämpft, vor niemandem Angst hat und wie ein Unbeugsamer und Anführer rennt und kämpft!“
Der Anwalt blickte zu ihm, seine Augen waren fröhlich.
Der Mann verschränkte die Arme hinter dem Rücken und ging einige Meter fort zum Fernseher mit den Wettangaben und kehrte zurück. Er dachte an seinen Einsatz. 250 Euro wären ordentlich. Vielleicht werde ich einen prächtigen Sieg haben und dadurch das Geld verfünffachen.
Solange es keinen Unfall gibt, dachte er, und sie sich vorne halten können.
Über die Tribünenlautsprecher hallten bald die Informationen zu den Gewichtsdaten des angeheuerten Jockeys auf dem Rennpferd Sterling für das 2200 Meter Galopprennen durch. Die Lautsprecherdurchsage fütterte die Tribünen mit weiteren Informationen. Der Anwalt hatte schon seinen Wetteinsatz bestimmt und begann mit jemandem zu telefonieren. Der Ladenbesitzer stakte dann neben einer Frau, die ihr Bierglas und die Schaumkrone mit der anderen Hand schützte, zurück die Treppen zur Mitte der Tribüne hinauf.
Ich wage jetzt die ersten Wettscheine. Sie sollen keine schlechten Wettscheine sein, keine Drecksscheine! Mögen sie Glück bringen. Vor den Buchmacherkassen und quer zur Imbissbude gab es Boxen mit Wettscheinen. Fernseher hingen an den Innenwänden des Tribünenkomplexes, auf denen die aktuellen Wettquoten, auch von Rennen in Frankreich und Irland, gezeigt wurden. Zwischendurch präsentierte ein Organisator mit schwarzem Frack, schneeweißem Hemd und Melonenhut neben irischen Wettkäpfern einige regionale Gestüte auf einem der Bildschirme. Der Ladenbesitzer setzte sich an einen der Tische. Eine Kellnerin kam bald zu ihm.
„Der Herr bekommt schon?“
"Nein, noch nicht, danke."
"Bitte, was darf es sein?"
Er bestellte Pommes, eine Bratwurst mit Senf und Weißbrot. Als die Kellnerin erneut zurück zum Grill ging, wo ein Mann das Fleisch brutzelte, und die flinkhändige Kellnerin bald die Speisen und das Besteck auf den Tisch stellte, aß er unbekümmert und abgeschieden von der Siegerehrung des längst abgehaltenen öffentlichen, zweiten Rennens. Dazu trank er etwas. Es war einfach, aber sehr gut.
Er aß zu Ende. Die Wettkämpfer werden For a King und Kadera gleich zeremoniell, mit ernstem Eifer und kämpferischen Ausdrucks in die Rennboxen führen, dachte er. Wie Boxer steigen sie alle in den Ring und werden kämpfen, so gut sie können. Die Pferde For a King und Kadera sollen von ernsten, respektvollen Anführern und Kapitänen durchs Feld geführt werden, die sich nicht fürchten. Die Mut und die nötigen Reaktionen, Optionen für den Verlauf und die bevorstehende List ihrer Mitstreiter haben. Die Wettkämpfer werden frei und furchtlos aus der Starterkurve gehen. Das bestimmt. Und ich werde vielleicht etwas daran verdienen, und die wie an einer Kriegsfront schweren Monate vergessen und Untersuchungen durch die führenden Inspektoren zur Seite legen. Er ging zu den Boxen mit den Wettscheinen und Rennzeitungen.
Mit jugendlicher, aufkommender Nervosität studierte er die Rennzeitung und verglich die exakten Zeiten der Rennpferde Kadera, For a King, Mister Miller, Sterling und Magic Moon mit den Vorrennen in Düsseldorf und Hamburg. Die Pferde kennen den Charakter und die Fähigkeiten der Jockeys, deren Absichten, deren Zorn aus den Niederlagen, deren Ängste und höheren Willen. Sie kennen die Entwicklungen im Rennen. Auch heute werden sie als Verbündete gegen die klugen Mitstreiter voranjagen. Es sind seltsame Verbündete mit Herz und Blut unter den grauen Wolken dieses Tages und dem tiefen, halbregnerischen Himmel. So wie die beiden Inspektoren zu seltsamen Verbündeten meiner Familie wurden wegen diesem schrecklichen Ereignis in unserer Zeit, unserer Welt und es wohl irgendwie voranbringen, vielleicht einmal den verfluchten Täter vor ein Gericht. So versuchte der Ladenbesitzer sich vorzubereiten und alles abzuwägen wie ein alter Hase am Wettstand. Er setzte nicht auf den zuletzt in einer anderen Arena überraschenden und siegreichen Sterling, sondern auf die ebenso im Rennheft empfohlenen Starter und zuvor siegreichen Wettkämpfer For a King und Kadera.
Die Frau an der Buchmacherkasse hob ihren Blick über die auf ihrer Sekretärsnase liegenden Brille und blickte durch die kleine Öffnung.
„250 Euro?“, fragte sie.
Er reichte den Wettschein hinüber mit den angekreuzten Wettkämpfern.
„Ja! Buchen Sie diese 250 Euro“, erwiderte der Ladenbesitzer Brasser.
„Gut“, sagte die Frau und überreichte ihm bald den registrierten Wettschein.
„Es wird bei beiden Pferden klappen und nichts dazwischen kommen.“
Die Frau registrierte es mit einem Betriebslächeln.
„Viel Glück.“
„Vielen Dank.“
So hatte sich der Ladenbesitzer für zwei Pferde und Wettkämpfer in dem anstehenden Listenrennen entschieden und seine Scheine an der Kasse des Buchmacherladens eingezahlt. Er stakte den Wall entlang, warf eine fast leere Tabaktüte und einen überheblich ausgefüllten Schein in einen Mülleimer und verbuchte so seine erste Wette an jenem Sonntagvormittag. Die Siegwette für Kadera und For a King wird vielleicht perfekt werden, redete er sich zu. Es soll Glück bringen.
Kadera und For a King werden auf dem regennassen Untergrund in Hannover nicht unruhig und launenhaft wie Amateure lossprengen, sondern wissend und mutig, wissend um ihr Können und den unebenen, regenglänzenden Rasen, und ihren unermüdlichen Schädel an der Menge vorbeibringen wie unbeugsame Frontkämpfer, Krieger und mit Anmut und Würde. Sie sehen bereit für den Wettkampf aus; keine Feiglinge. Ihre Namen klingen nach hungrigen Wettkämpfern und einem herrlichen Etablieren im vordersten Feld.
Erfahrene, exzellente Verbündete. Profis, die am Ende wie Pfeile sind. Am Anfang und Ende wie Brüder sind, und ihnen wie große Brüder oder Vertrauende zureden können, und voran sprengen über den Boden für diesen mit 20. 000 Euro dotierten Lauf, bei dem es um Unterhaltung, Glück und Können und Karrieren geht, und ich mir etwas des Rennens gönnen darf. Ein sehr guter Sonntag am Stadtrand, sprach er sich zu. Ich habe nicht viel zu verlieren und will es in seinen Ergebnissen gelten lassen. Auch wenn am Himmel keine Sonne ist, gibt es einen wunderbaren Wettkampf zwischen den Pferden, sagte er und blickte zu einer hübschen Frau, die die Tribüne hochstieg, und dann zu einem TV-Schirm mit Werbung.
Heute, an diesem Rennsonntag, ist es eine seltsame, optimistische Allianz der Anspannung, die uns von dem anderen Schweren des Lebens ablenkt und jetzt auffängt, abseits der Stadt. Nach Monaten, die einem Walfisch aus den Untiefen gleich, das Wichtige eines Menschen verschlucken wollte. Für Sekunden spürte er es wieder ... Die immense Wut und den Unglauben, der ihm sagte, die Justiz und Polizei würden es nicht schaffen, würden den Mann, der die Vergewaltigung versuchte, nicht schnappen und nicht hinter Gitter bringen. Ihm, dem Mädchen, ihnen keinerlei Vergeltung und Genugtuung bringen, dann dachte er wieder, er müsste als ernste, blutige Folge jemanden beauftragen, jemandem 10 000 Euro geben, der ihn dafür richtete auf der Straße ... Es flog feuerartig durch seine Adern und er redete sich zu ... Denke an diesen Tag hier und das Rennen, es wird sich schon alles zur gegebenen Zeit richtig aufstellen und gelöst werden ... Ein, zwei irre Minuten der Wut und des Zurückdrängen wollens vergingen ...
Der Ladenbesitzer blickte zur Rennbahn und wollte an das Rennen denken. Denk an das Einfache und das Hier. Denk daran wie die Menschen sich seit Jahrtausenden in solchen Wettkämpfen wiederfinden.
Der Mensch domestizierte das Pferd, trainierte mit ihnen seit den Tagen des Trainers Kikulli im mesoptamischen Mittani Reich und hier sind sie jetzt, in dieser Zeit, in diesem kleinen Kosmos Nordeuropas, gleichauf, wie zwei Hände, Beine und Augen eines Leibs. Sie müssen zusammen arbeiten, sonst könnten sie diesen Sport nicht erfolgreich machen, nicht wachsen, nicht weltgewandt und vielleicht in Tokyo oder London großartige Zeiten laufen. So wie sie muss ich mit dem verdammten Inspektorenteam zusammen arbeiten muss, damit wir zum Ziel kommen, so gibt es die Teilbereiche, die zusammenwirken.
Der Ladenbesitzer kehrte zurück, an einigen Bediensteten vorüber gehend, die über eine Regstriermaschine Wetten von zwei Leuten annahmen.
„Die Wette steht, Jona?“, fragte der Anwalt.
„Ja, endlich.“
„Bei einem Sieg werde ich dich und deine Familie wunderbar zum Essen einladen“, sagte der Anwalt.
„Das klingt sehr gut und mit viel Vertrauen in Kadera und For a King.“
„Die werden überlegen laufen und wir wollen trotz des scheiß Regens keine Pessimisten sein. Auch wenn etwas Angst da sein wird bei einigen Startern.“
„Es kann jeden auf der Bahn erwischen und vernichten."
"Das kann es."
"In der Niederlande brachen sich im Frühjahr bei einem 1800 Meter Rennen gleich drei Pferde etwas, ebenso zwei Jockeys, nachdem ein Pferd in der Schlusskurve ausbrach und einen anderen Jockey hinabwarf, der sich wohl nur einen Unterarm brach, aber das ganze dann doch mit vielen Verletzten endete. Zum Glück gab es da keine Toten und wurde die Veranstaltung fortgesetzt."
"Sowas wird sich hier nicht wiederholen."
Der Andere war zurückhaltender:
"Aber diese Bahn ist heute durch den Regen ein verdammtes Risiko. Sie ist so mitfühlend wie ein Scharfschütze."
Der Andere lächelte. "Es kann auch deine Pferde erwischen. Was ist wenn deine Jungens wirklich verlieren und Kadera und For a King nichts reißen? Wenn du den ganzen Einsatz verlierst?"
Er verwies auf die fantastischen Zeiten, die Kadera und For a King, aber auch ein Pferd wie Mr. Miller auf den Bahnen in Bremen und Düsseldorf gelaufen waren.
„Anders als Beloona lief For a King zuletzt großartig und auch Mister Miller zuletzt seine Saisonbestzeit und der Mann ist ein europaweit erfahrener Mann.“
„Das ist er und der Miller will sich nichts nehmen lassen, so wie Kadera.“
„Kadedra ist gegenüber Mister Miller nicht in Lauerstellung, sondedrn führend gewesen. Aber auch Magic Moon und Ryani können mit ihrem gewachsenen Selbstvertrauen und ihren etablierten Leuten unseren Läufern gefährlich werden, ihnen alles in einer Höllensekunde zunichte machen, aber auch ein verfluchter Jungspund wie Sterling, den kein Besucher auf der Rechnung hat“, schloss der Anwalt.
Der Ladenbesitzer ließ die Worte hallen und spähte mit aufleuchtenden Augen zur Rennbahn. Die Trauer der Vormonate und irgendeine widerwärtige Schwebe, ein unvorbereiteter Hieb der Moderne, beinahe wie im Walfischbauch, die auch einem lebenserfahrenen Mann zusetzen konnten, schienen fast gelöscht in den Pupillen.
Unter den nummerierten, mitgaloppierenden Startern gab es neben Kadera und For a King bekannte Sprinter wie Mr Miller, Ryani, Zaza, Hamburg Diamond, Esperanca, den Lokalmatador aus dem nahegelegenen Gestüt Magic Moon und einige, die noch nicht lange als Profis rannten, wie First One und Sterling, aber wie No-Name-Boxer im Ring, bei dem nur der eigene Trainerstab etwas erwartete, wie ein Champion plötzlich austeilen konnten, und dann zum Sieger ausgerufen wurden.
Bald endlich trabten die Wettkämpfer zu den Boxen.
Das Galopprennen wurde unter anderem von der „F. Saray Baugesellschaft“ gesponsert, werbend unter der Überschrift: „Wettchance des Jahres“. Es war der 18. Wertungslauf zur Sport-Welt Hannover-Trophy, die Herbstmeisterschaft, Kategorie A.
Gleich fiel der Startschuss.
Dann vernahmen sie die Veränderungen, die durch den Lautsprecheransager über die schon besser besetzten Sitze zu ihnen flatterten: Der zuvor gesetzte Jockey Frank O´Leary auf Sterling hatte sich einen Knöchelbruch beim Training zugezogen. Sterling - der fünfjährige Wallach mit der Abstammung eines Indian-Ridge-Stunning, der aus Irland nach Hannover verfrachtete worden war in sorgvoller-luxuriöser Manier, und noch nicht lange im Profigeschäft lief -, wurde an diesem Vormittag von einem 21-jährigen Iren, geboren in Belfast, geführt. Er hieß Pat O´Reilly. Der Ladenbesitzer achtete nicht sehr auf die Durchsage. Der Jockey O´Reilly war etwas scheu gegenüber den Zuschauern und Presseleuten, die aus der nächsten Groß- und Kleinstadt herreist waren, aber er war talentiert: In seiner ersten Rennsaison konnte er zwei beachtliche zweite Plätze herausreiten. Sterling und Pat O´Reilly schienen glückliche Verbündete zu werden. Der Anwalt wurde hellhöriger, aber überspielte seine Nervosität. O´Reillys Gewicht betrug mit Kleidung, Stiefeln und weißem Reithelm 58,5 KG. Fürs Feld kündigte man ihn als den weniger erfahrenen, aber leichtesten Wettkämpfer an, wie einen Boxer zwischen Bantamgewicht und Leichtgewicht.
Der Regen setzte erneut ein.
Vor ihnen vernahmen sie derbe Sätze eines Besuchers: „Die Bahn wird bei diesem Lauf zu einer schnellen Hure, aber vielleicht gönnt sie wenigstens den einheimischen Pferden was.“
Der Anwalt blickte vom reger bevökerten Wall und matschigen, teils schimmernden Rasen, der wie von einer Glasur überzogen war zu der Startlinie.
„For a King hat mehr Gewicht als Kadera oder Sterling, aber er stammt aus einem Gestüt des Umlands und kennt diese Rennbahn wie einen Zwilling. Die Bahn hat ihm immer eine Chance gelassen“, sagte er und fuhr fort:
„For a King hatte schon einen stolzen Vater, der auf der Insel fast 3 Millionen englische Pfund einbrachte, bevor er bei einem Unfall auf der Autobahn, das ging durch die Zeitungen, umkam. Aber sein Sohn ist auch ein Top-Renner.“
„Unser Renner For a King wird die Wettenden und seinen Stall und uns stolz machen“, sagte der Ladenbesitzer mit hoffnungsvollen Augen.
„Es wäre sein 25. Karrierresieg.“
"Okay."
„Dann wird der Chef der Sternreiseagentur die 20. 000 oder 25. 000 Euro dem King Stall überreichen und ich werde meinen schönen Gewinn am Wettbüro einsacken.“
Nach einiger Zeit wurden sie still. Das Rennen begann ...
Als die Startsirene erschallte, sprintete Sterling noch nervös und unabgestimmt mit dem Jockey Pat O´Reilly voran.
O´Reilly machte keinen Fehler, Sterling wurde noch schneller und flog voran, für eine Weile gleich auf mit Kadera.
Dem irischen Rennpferd Sterling gefiel das außerordentliche Tempo, das Fliegen vor den anderen Hufenschlägen. Im höchsten Tempo flog es über das Gras. Sterling und sein Bruder Pat O´Reilly hatten mit der regengetränkten Erde experimentiert - und ihr Angehen der Strategie, ihr Positionieren in den verschiedenen Streckenabschnitten, ihr Verhältnis zum Tempo, Durchsetzen der Strategie, Einordnen der Gegner und Steigern des Tempos funktionierte, wie der Lauf eines Champions ging ihr Vorhaben auf, und setzte sich Sterling nach ganz vorne wie ein alter Champion.
Der Ladenbesitzer beobachtete enttäuscht, dass Kadera und For a King nichts entgegenzusetzen vermochten. Vor den Leuten die Wettkämpfer, die wie stürmische Lanzen vorübereilten. Dann galoppierten sie in die letzte Kurve. Als die Pferde aus der Krümmung stürmten, verkeilten sich For a King und Kadera, Zaza, Magic Moon, Hamburger Diamond wie Wölfe im Rudel und kamen nicht aus der wirbelnden, verschwommenen Menge heraus, auch nicht mit dem Ansatz verschlagener Versuche und dem simplen oder größten Anstrengen und Entflammen. So rannte die Nummer Sieben Sterling in fantastischer Entschlossenheit und mit matschigen, leidenschaftlichen, magischen Hufen und der Wettkämpfer O´Reilly auch auf der Schlussgerade voran, während Mister Miller angriff, anzugreifen versuchte und wiederholte Bemühungen für einen ehrfürchtigen Geradenlauf unternahm. Aber auch auf den letzten 200 Metern stürmte die Silhouette des Indian Ridge-Stunning Rennpferdes Sterling vorne weg. Die Menge hielt sich zurück, einigen jubelten lautstark.
Der Ladenbesitzer mochte es dennoch hier zu sein. So beobachtete er mit dem Fernglas und im verschwommenen Panorama wie die Iren durch die Zielgerade flogen, in erarbeiteter, selbstbewusster Sorglosigkeit.
Der Anwalt beobachtete den siegreichen O´Reilly mit misstrauischem Erstaunen, dann wurde er ernüchternder.
„Dieser Irre und verfluchte Regen haben den großen Plan zu unserem Doppelsieg durchkreuzt.“
„Sterling hatte keine Angst vor dem Regen und experimentierte am Besten.“
Das irische Rennpferd Sterling flog vor die verschwimmenden Schatten und Nummern der niederländischen, deutschen, orientalischen, französischen Mitkämpfer. So triumphierte Sterling und war der Wertungslauf in Hannover über 2.200 Meter entschieden. Sterling und O´Reilly siegten in einer Zeit von 2:19,08 Minuten mit 1 1/4 Länge Vorsprung im dritten Rennen des Tages. Die Richter einigten sich nach eilfertiger, sorgfältiger Korrespondenz auf die endgültige Reihenfolge und der Tribünensprecher verlautbarte es schließlich ...
„Sehr sehr gut für diesen Einstand, auch wenn ich ihn dafür zumindest heute verfluchen werde. Beide werden in den nächsten Jahren mehr reissen können. Zumindest eine Siegwette und ein Platz- Zwilling- Wettschein sind durch diesen verfluchten Sterling zur Nullnummer geworden“, sagte der Anwalt gramvoll und mit ebenso ungetilgtem, heiterem Wesen.
„Es gab zumindest keinen Unfall und tragischen Ausbrecher oder Knochebrüche wie in der Niederlande“, sagte der Ladenbesitzer.
„Den gab es zum Glück nicht. Trotzdem ist es schade, dass Kadera nicht die Kurve nutzte, an den Triumph in Düsseldorf anschließen konnte und sich heute vorführen ließ im Feld wie ein Schuljunge.“
„Leider.“
„Sie hatten ungekannte Ängste auf dem zerstörten Rasen. Sie waren wohl beide etwas müde. Heute haben sie uns nicht zu den Siegern in diesem Rennen gemacht.“
"Ja."
"Aber wir haben noch einige wunderbare Listenrennen", sagte der Anwalt Ismail Mardini mit wieder zuversichtlichen Augen.
„Zumindest sind einige Leute hinter uns glücklicher“, sagte der Ladenbesitzer mit halbgedrehter Silhouette und mit einigem Gleichmut. Dieser Tag tat ihm gut. Welcher Herzensschmerz und Seelenkummer waren in den vorherigen Wochen mit dem von Herrn Silva angeführten und unaufgeklärten Fall dagegen vorneweg gewesen? Er hatte noch keine Ergebnisse in der Sache der 6. Märznacht und bezüglich des Angriffs auf seine Tochter geliefert in der Polizeidiensstelle. Eine Drogenlieferung aus Belgien war nahe Osnabrück aufgedeckt worden, etwa 400 Kilogramm in einem LKW für Getränke enttarnt worden. Drei Männer mit falschen Pässen waren gefasst worden. Ein Einbrecher, der sich in einem Kaufhaus unglücklicherweise filmen ließ, ein ausufernder Nachbarschaftsstreit war unterm Sternenhimmel und mit Handschellen beendet worden, aber der Täter im Fall seines Mädchens war ein Phantom. Noch war alles in einem Tal des Nebels und der quälenden, ermüdenden Unwissenheit gedeckt.
Plötzlich hörten sie im hinteren rechten Tribünenbereich ein erneut aufspringendes Pärchen, deren tänzelnden Taumel auf und das Jubeln. Die junge Frau und ihr Partner umarmten einander, hielten neben ihren Baseballmützen die Wettscheine hoch und waren sehr glücklich. Der Ire hatte ihnen Glück gebracht. Dann eilten sie zum Podest rechts des Geländes, nahe der Buchmacherläden und zu jener Stelle, an der das Siegerpferd, dann O´Reilly und der internationale Sterling Rennstall mit Pokalen und einem 15.000 Euro Preisgeld geehrt wurden.
„Aber das war es ja nicht!"
Der Ladenbesitzer blickte zum Anwalt.
"Es gibt gleich weitere Starter, neue Chancen, die gibt es immer, sogar heute noch“, wiederholte der Anwalt.
„Vielleicht ist das Glück schon bald wieder mit uns“, vervollständigte der Ladenbesitzer dann.
„Das ist es bestimmt“, erwiderte der Andere und steckte sich die erloschene Zigarette wieder an.
„Aber im Ernst, ich hätte einiges gewonnen bei Sieg und ein neues, schönes Mauerwerk aus indischem Sandstein in meinem Garten errichtet, fast so schön, wie manches in der uralten, wunderschönen Stadt Mardin, aber dieser verfluchte Regen“, sagte er. „Dieser verdammte Regen. Er hat es zu unabsehbar gemacht. Er hat den Sieger heute willkürlich bestimmt“, fluchte er.
"Das hat er, Ismail", bestätigte der Ladenbesitzer lächelnd.
„Aber mit der Wette ist es manchmal wie bei einer wunderbaren Frau, die man schnell liebt und schnell wieder vergessen sollte.“
Der Ladenbesitzer lächelte und war nicht unglücklich.
„Ist es nicht so?“
Der Ladenbesitzer gab keine Antwort.
Der Anwalt zögerte und sagte dann:
„Eigentlich hätte ich heute Abend gerne einen Club mit dir beim Capitol aufgesucht, wo wir Whiskey und Bier bestellt hätten. Mit den hübschen Frauen hätten wir verdammt lange gefeiert, sie unter den Sternen geliebt und bei Sonnenaufgang wären wir noch halb betrunken nach Hause gefahren zu unseren Familien. Aber ich kenne deine Umstände“, sagte der Anwalt. Der Ladenbesitzer fühlte sich gehindert und zögerte.
„Das wäre schon ein Abend, den ich einmal wieder gebrauchen könnte. Vielleicht holen wir ihn einmal nach“, räumte er ein, aber hielt sich zurück. "Aber reden wir über das Rennen, Ismail. Du wolltest noch einmal wetten und wieder was verspielen?"
Brasser hielt nicht sehr viel auf die physische Treue zur Ehefrau, er hatte schon einige andere Frauen und Huren geliebt, aber das war seine Sache, dachte er. Vielleicht würde er mit ihm losziehen, wenn sich die Dinge in einigen Monaten und auch andere Dinge geklärt hatten. Doch er lenkte den Blick zurück auf das Renngeschehen.
„Bei ein, zwei Pferderennen pro Saison will ich natürlich was verspielen.“
„Leider war sich Sterling eben sicherer als Kadera und For a King.“
„So ist das mit den Sicherheiten in der kapitalistischen Welt, die wenig Gerechtes, sondern eher die Parameter der Stärke und des schieren Durchsetzens kennt, Jona.“
„Solange wir uns nicht das Wichtige und Würdevolle im Leben verspielen und uns komplett dem Kapitalismus verschreiben, ist es noch in Ordnung. Ich verdiene gerne das Geld für meine Familie im Hutgeschäft. Aber nur das Geld, nur ans Geld zu denken, wäre ein Götzendienst. Nur dem Geld den Thron zu überlassen.“
Der Mann blickte milde.
"Diesen Thron hat die Menschheit auch selbst errichtet."
"Gewiss. Aber es gibt mehr in diesem Kosmos, da oben im Himmel, da ist mehr", schloss er.
"Richtig."
Es war angenehm zum Reden und er fühlte ein freieres Gemüt, halb sündig, halb höheren Idealen vertrauend und sich nicht ganz davon abschwörend. Er hatte gewettet, 250 Euro wegen Sterling und dessen Strategie verloren, aber er fühlte diesen Tag ohne weniger schweren Hieben. Der Anwalt nahm eine neue Zigarette aus der Schachtel. Bald hörte man das Klacken und Anstecken des Feuerzeugs und sie rauchten ...
Der Fall der Nötigung war kurz fortgetragen wie von einem hellen Segel über einen verfaulenden Platz, ein Verließ oder eine teuflische Stätte, damit auch der Hall zu jener Nacht, als sein Mädchen mit Ekaterina, ihrer Schulkameradin vom Mephisto zu einem anderen Club ging, dort tanzte, später alleine den Weg in der kühlen Sternennacht zurück schritt, sich dann wehrte und einer Vergewaltigung und mehr entging. Weshalb hatte sie das erlebt, fragte er sich so oft und in marternden Minuten.
Auch am Morgen stellte er diese Fragen, nachdem er die Sportseiten mit Nachrichten zu Barcelona, Ajax Amsterdam und Werder Bremen gelesen hatte, und das Politikressorts der lokalen Zeitung durchgeblättert hatte, und sich kurzweilig auf die Terasse ins Sonnenlicht gesetzt hatte, im Mantel und mit schwarzem Hut, der aus dem eigenen Hutladen stammte und die Normalität leben wollte. Er hatte dann über den Zustand seiner Tochter nachgedacht, gebrütet, über der müden, plötzlich bosärtigen, nicht mehr arglosen Welt, in die Unheil gebrochen war, und über eine Märznacht, in der es im schlimmsten Fall mindestens eine Tote geben konnte, und noch nicht vor einem Richterabschließend verhandelt worden war.
Dann bemühte er sich an eine erfolgreiche Fahndung des Polizisten Herrn Silva zu denken. Der Mann hatte bislang nach eher armseligen Indizien ermittelt. Er fand es viel zu wenig, sogar beleidigend. Einmal hatte er ihn dafür bereits gescholten und zurecht stutzen wollen. Das würde er wieder. Wie ein Mann einen zu häufig schlampig arbeitenden Mitarbeiter, dachte er.
Bald hörte er wieder die Stimme des Anwalts Mardini.
„Wir haben es beide hierher geschafft.“
„Heute gab es sowas wie Zufriedenheit."
Den Anwalt freute die Antwort.
"Aber es stehen noch fünf oder sechs Gallopprennen aus, bei denen du auf einen der richtigen Jungen zumindest einen Hunderter Euro setzen und etwas herrliches herausholen könntest“, lockte ihn der Mann, der in Mardin geboren war, in Hannover seit 14 Jahren als Rechtsanwalt arbeitete, ab und an etwas verspielte beim Pferderennen oder im Wettenbüro vor einem Boxevent und rauchte seine Zigarette.
Kein Einwilligen des Hutladenbesitzers.
„Na los, sei kein Feigling.“
„Ach was, ich werd nicht mehr wetten. Ich muss noch die Kasseneinnahmen vom Samstag überweisen und Unterlagen für den Steuerberater und Buchhalter, für Jose Pinto vorbereiten.“
„Dann werde ich für uns beide wetten“, zwinkerte er. „Der Sterling Effekt wird vielleicht auch da sein."
"Du bist darauf jetzt vorbereitet."
"Ja."
"Aber dieser Tag war schon etwas Großes“, sagte der Ladenbesitzer.
Der Andere lachte:
„Etwas Großes werde ich kassieren, wenn ich im 5. Rennen auf den Teufel Five Stars etwas im Buchmacherbüro einzahle“, rief der Anwalt mit der Zigarette, deren Asche hinabfiel und wischte dann mehrfach über das Krempenband am Hut, als gehörte es zu einem abergläubischen, unverkennbaren Ritus und Glücksritual und welches ihn diesmal nicht im Stich ließe.
Nach einiger Zeit wurde das 5. Rennen der „Aster GmbH Co KG“ beendet. Der Anwalt sollte Glück haben in diesem Lauf... Er blickte mit erfreuter Miene auf die Wettanzeige und konnte seinen ersten Gewinn verbuchen. Diesmal mit einer Zigarello im Mundwinkel, die er zwischen gelbweißen, groben Zahnreihen festhielt, paffte er den Rauch des Sumatratabaks glücklich, hielt den Wettschein höher als zuvor und summierte den Einsatz des fünften Rennens. Dieses 1800 Meter Rennen war verfluchtnochmal schneller und gönnerischer als der dritte Durchlauf, vielleicht auch wegen der längeren Strecke. Er händigte am Buchmacherschalter den siegreichen Wettschein aus.
„Ein Moment bitte.“
Die Frau kam mit einem älteren Herrn, der eine Glatze hatte, weißes Hemd mit grauer Krawatte trug und die Finanzen mitkontrollierte, zurück.
Zuguterletzt packte der Anwalt die Hunderter-Euroscheine, etwa 3000 Euro, in seine Geldbörse ein. Bald war er wieder beim Ladenbesitzer. Er hatte zwei Bier mitgebracht.
„Das ist das Glück und die verfluchte Magie eines perfekten Rennens. Es wird mich von den letzten Tagen in der Kanzlei mit dem harten Strafurteil gegenüber einem meiner Mandanten wegen Diebstahls, Landfriedensbruchs und dem abgelehnten Aufenthaltsantrag eines afghanischen Mannes ablenken.“
Der Anwalt setzte sich seinen Hut auf und trank vom schaumigen, kalten Bier. Der Andere faltete die Rennzeitung zusammen, steckte sie unter seinen Arm, auch er trank vom Bier. Er plante bereits für einen Renntag zum Oktoberende.
Er lud den Ladenbesitzer samt Ehefrau und Tochter zu einem Abendessen im Pier 51 am Maschsee ein. Herrlicher Seeblick. Unweit die Maschseeflotte. Die Familie würde von den Obliegenheiten und dem widerlichen, ermüdenden Langlauf der Vormonate abgelenkt werden. Es sei gut für alle. Den Termin würden sie noch absprechen nach dem Termin bei Inspektor Silva, der seit Monaten nichts geliefert hatte. Das elfte und letzte Rennen endete um 18.30 Uhr. Sie tranken das Bier aus und verabschiedeten sich.
Er fuhr bald an einer Tankstelle und abseitig liegenden Militärkaserne mit einem Schießplatz vorüber.
In den Folgewochen hatten sie sich getroffen und dabei holten zwei weitere überraschende Ereignisse die Männer ein: Über Anwalt Mardini war die Nachricht der schweren Lungenentzündung seines Sohnes, der bei der Bundeswehr vor Somalia diente, hereingebrochen und die Familie betete, dass er es überstünde. Es tat dem Ladenbesitzer leid, als er das Ganze hörte. Es war furchtbar. Doch das Schicksal und die Justiz meinten es nach den scheinbar unendlichen Monaten der Unkenntnis, der widerlichen Demütigungen und Marterungen, dennoch milder im Fall seiner Tochter und der seltsamen, teuflischen Märznacht: Die Pattsituation löste sich auf.
Erfreuten Herzens hörte er endlich, dass Frau Pdie beiden Polizeinspektoren den Täter in der Gaststätte „Silberkrug“ festnahmen, wo er sich verraten hatte und den Fall mit aufklärte. Dem Schuldigen, Ansgar Hermann H., 26 jährig, der dem rechtsradikalen, nationalsozialistischen Spektrum zugeordnet wurde und in der Tochter des Ladenbesitzers, fälschlicherweise eine Afghanin vermutet hatte, sollte beim Gerichtsprozess am 14. 11. wegen mehreren Vergehen die Anklage vorgelesen werden.
© Deniz Civan Kacan
Tag der Veröffentlichung: 26.09.2013
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