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Raubzüge

  

 1.

 

Er blickte zu den dünnen Sternen und dem Mond über dem Gebäude und dem dahinter weiterlaufenden Bergkamm.

 

Ismail wandte sich dann dem gewaltigen Gebäude zu, massiv, es schien wie ein eilig im Krieg oder Chaos verlassenes Gerichtsgebäude, ein imposantes, verlassenes, seltsames Verwaltungsgebäude, dachte er.

"Im zwanzig Minuten sind wir an der Bar, endlich beim  Palo und werden uns gut betrinken", sagte Daniel. 

"Bestimmt."

"Und endlich ein paar Bier und guten, irischen Whiskey bestellen."

"Da werden wir auch gleich noch hinkommen", erwiderte Ismail. 

"Hoffentlich."

"Ja."

"Aber dieses verfluchte Haus mit den Sektentreffen kannst du nicht einfach im Bergkamm zurücklassen? Dann marschieren wir direkt weiter zur Französin und zur Bar."

"Das mit den Sektentreffen ist bestimmt nur Gerede Es ist nur ein Drecksgebäude mit Spritzen, ein paar Ratten und Obdachlosen wohl in den verwahrlosten, verdreckten Zimmern."

"Das Gerede klingt anders."

"Man wird es gleich sehen", erwiderte Ismail.

Sie befanden sich nach einem Fussmarsch am Pfad vor dem riesigen, in der Finsternis noch mit mächtigen Konturen dem Verfall entgegen arbeitenden Gebäude. Es befand sich etwa 250 Meter vor dem höchsten Punkt des Bergkamms und gehörte einst einem Tabakunternehmer, wussten sie.

 Es waren etwa zwei Kilometer hinunter zur unbefahrenen, nächsten, beleuchteten Straße der Kleinstadt. 

 

Sie hielten inne, ihre Taschenlampen leuchteten über das wildwuchernde,  verfinsterte Gelände und dann blickten sie wieder empor zu einer veränderten, grotesken Szene: tatsächlich wie zu einer bedrohlichen, fahlen und majestätischen Stätte, an dem vielleicht wirklich Rituale einer Sekte durchgeführt wurden, wie an einem Opferstein der Inka oder Antike, dachte Ismail für Sekunden, ohne es auszusprechen und es dann wieder belächeld. Es war sehr verstörend. Herrje! Ein seltsamer, unheimlicher Gegenentwurf zum stillen, kleinstädtischen Bild.

Es war - mitten im Bergkamm - fast wie an einem Justizgebäude oder einer im Krieg beschlagnahmten Villa oder Kaserne, mit hohen Türpforten.

 

Es gab einige, dünne Sterne am Himmel.

Und das schwache, blakende Licht und eine schwache, kaum vernehmbare Stimme in der obersten Etage des Gebäudes.

 

Daniel war nach dem Soldatendienst in der Jägerkaserne hergekommen, Ismail nach seiner Rückkehr als Fotoreporter aus einem Kriegsgebiet zum Treffpunkt in der Kleinstadt am Wettbüro mit den Werbeplakaten zu Boxveranstaltungen und zu von der Polizei ausgeschriebenen Fahndungsplakaten nach Juwelierdieben und Casinoräubern an der Litfasssäule hergekommen. Die Palo Bar, auf dem Bergrücken, hatten sie länger nicht besucht.

Jetzt waren sie an der vorderen Seite des Bergkamms an einem wilden, unebenen, unbetretenen Pfad hinausgeschert, eine Steigung hinaufgeklettert und direkt vor dem ehemaligen Tabakunternehmerhaus. 

Sie waren ein ordentliches Stück den Bergkamm hinaufmarschiert. Ismail beschloss vor dem Weitermarschieren zum Palo das Haus etwas auszukundschaften. 

 

Bald stieg Ismail alleine hoch, in der Jackentasche steckte sein Messer, wie in einen verschlagenen Winkel einer mysteriösen, stillen, abgelegenen Welt ...

 

Schon wenig später hörte er Daniel in einiger Entfernung an den Stufen zum Haus und spürte seinen stärkeren Puls. Er ging weiter. Plötzlich drängte sich sehr stark die Vergangenheit dieses Hauses auf, die Verwicklung von Materiellem, menschlichen Schicksalen, besserer Vergangenheit und bleibenden Bedürfnissen der Menschen, nach Status, nach Reichtum durch Kaufmannsgeschick, Fleiß. Dann dachte er an irgendeine Verschlagenheit, an Triumphe, an das Fabrikantensein, an Erschütterungen durch Kriege und Verwandlungen von Gesellschaften nach 1945, an verwundete Menschen und niedergerungene Träume, an das einfache Brot, an das Geld für mehr im Leben, an die Welt mit ihren Gezeiten aus Krieg und Frieden, Recht und Rechtsbrüchen, mit den schweren Umbrüchen im Leben ...

 

Bald leuchtete er im Raum neben dem Geländer auf den Boden, auf dem Drogenpfeifen lagen. Zudem lose Zeitungsblätter mit Schlagzeilen zu Juwelierdieben aus irgendeiner, fast erloschenen Zeit herumflatterten. Dann leuchtete er über Kleidungsstücke, verbrannte Möbelstücke und Wände.

 

Dann schritt er einen Korridor entlang. 

Mit dem Taschenlampenkopf schob er eine Tür zu einem zweiten Flur auf, an dessen Ende plötzlich Lichtfunken irgendwohin flohen und umher schwirrten wie Fliegen ...

Es roch nach Essen, nicht nach verfaulenden Essensresten, an die sich Ratten heranmachten, sondern nach frischem Essen und Bier. Er sah das irritierende Licht einer Petroleumlampe im Raum.

Vielleicht befand sich ein Obdachloser hier, vielleicht ein Sektenmitglied oder Gangster.

 

Jetzt war er ganz oben und schritt, mit dem bereiten Messer in der Tasche, in den abgelegensten Winkel des Hauses schließlich zu jenem Mann, der mit der Ordnung und dem Bau seines Lebens gebrochen hatte, der vor der Polizei geflohen war, wie ein Mörder, ohne je gemordet zu haben, wie er erfahren sollte ...

 

 Ismail leuchtete mit der Taschenlampe über verdreckte Vorhänge, eine Plane, die unwirtlich aufgehangen und zurechtgeflickt worden war wie von einem Obdachlosen. Kurz darauf schob Ismail die verdreckte Plane zur Seite. Schließlich sah er den Mann neben zwei oder drei Petroleumlampen.

Er setzte etwas ab und schob ein neben ihm liegendes Brot nach vorne, neben eine Tasche, Bierflasche und eine glimmende Petroleumlampe. Vielleicht ist er ein Herumtreiber oder jemand, der vor den Ansprüchen der Gesellschaft da draußen, vor einer Sache flieht. Doch der saubere Mantel verwirrte Ismail. 

Ismail blickte zum Fremden. Er hockte da mit der guten Kleidung, leicht verschmutzten Händen und einem unausgeschlafenen Gesicht im Nest des Hauses, etwas getrieben. Gerade brachte er das Licht in der dritten Petroleumlampe zum stärkeren Scheinen und hob dann den Kopf empor.

Der Mann hatte es sich anders überlegt. Seine Hand flog zur Innentasche des Mantels. Er hatte eine Pistole gezogen und zielte auf ihn.

„Was machst du hier? Bist du von den Bullen vorgeschickt worden?", rief er mit aggressiver Stimme. Die Pistole hielt er in der rechten Hand.

Ismail wollte antworten, aber der Andere rief schon:

„Was machst du hier?!"

„Ich war mit einem Kumpel unterwegs zur Bar, zum Palo" erwiderte Ismail. In der Jackentasche hielt er das Messer in der Faust.

„Was heißt wir?"

„Daniel und Ich."

„Ist dieser Daniel alleine?"

"Er ist alleine."

"Gut. Gut. Dann hattest du ja wirklich Glück."

Ismail konnte damit nichts anfangen, erwiderte nichts.

 

"Wo steckt der andere Spinner?"

„Er ist unten geblieben."

„Sonst ist niemand dabei?"

„Nein. Was ist denn los?"

"Okay."

Ismail blickte irritiert zu ihm und dann im funkenflackernden Raum umher.

 

  "Du fragst dich, wer ich bin und was ich hier mache."

Ismail lächelte.

"Ich trinke mein Bier, warte auf eine süßes Mädchen, die in etwa 20 Minuten hier sein wird und bin unterwegs im Land", sagte der Mann und steckte seine Pistole zurück in den  Mantel.

Ismail war erleichtert

"Was machst du hier?"

"Ich kam aus Hannover mit dem Zug her. Mein Vater hat eine Textilfabrik in der Region." 

"Ein Textilfabrikant?"

"Du hast es richtig gehört, Junge."

"Dann habt ihr es geschafft."

"Das ist nicht alles", schmunzelte der Andere.

 

"Der Status als Fabrikant und der morgendliche Zwang im Büro, das ist nicht alles in dieser Welt, verdammt", erwiderte der Mann im nächsten Moment energischer und aufbrausend. "In meiner Welt gilt sein Wort jedenfalls nicht. Ich akzeptiere seine Vorgaben nicht für mein Leben und die grauen verdammten Büros in der Fabrik nicht für meine Welt. Ich bin der Mann in meiner Welt. Und nur das, was ich vorgebe zählt, nur das, sonst nichts."

"Das muss jeder Mann für sich und seine Welt entscheiden", erwiderte Ismail.

"Ich habe in den letzten Monaten sehr sehr viel erreicht."

Er blickte erneut verwundert zum Fremden im Dach des riesigen Gebäudes.

"Sowas wie meine eigene Herrschaft errichtet. Ich bin der König der Casinos und Städte dieser Region geworden."

"Der König der Casinos und Städte dieser Region", echote Ismael mit einer Maske der nüchternen Visage, als würde er einem König eines unbekannten kleinen Staates begegnet sein. Der Mann sprach aber vermutlich als Fabrikantensohn, versuchte Ismael zu deuten. Vor rund 70 Jahren beim Konfiszieren des Hauses hätte es hinsichtlich der Herrschaft die Antwort eines US Offiziers sein können, der von der Pax Americana durch die gewonnen Schlachten in Europa und im Pazifik hätte sprechen können; jetzt war's vielleicht ein erfolgreicher, nun etwas betrunkener und wegen dem Bier oder Whiskey wirr redender Textilfabrikantensohn.

 Er reiste etwas angetrunken durch die Region, dachte er kurz.

 

"Du hörtest richtig, Junge."

"Meinst du das Fabrikantenleben und die Arbeit dort und das du hier zufällig bist." Er hielt das Messer in der Faust und rechten Jackentasche bereit.

"Mit der Welt meines Vaters habe ich gebrochen, verdammt! Ich habe meine Sachen gedreht, wie verrückt verdient und jetzt -", sagte er leicht angetrunken, griff zu einer Bierflasche und trank noch etwas.

Als Ismail glaubte das Gespräch weiter aufzuwickeln, der Andere die Flasche abgestellt hatte, schrie der Andere plötzlich mit übler Ahnung:

"Du bist nicht von der Polizei und unten ist auch niemand von ihnen?"

 

 

 

 

2.

 

Etwa 45 Minuten zuvor.

 "Endlich können wir ins Palo."

Der angehende Soldat hob seine angesteckte Zigarette und rief ihm zu. "Dann werden wir uns zwei, drei Bier gönnen."

"Das hatten wir uns schon länger vorgenommen", erwiderte der Andere.

Die Stimmen schwangen heiter durch die Öffnung zwischen dem Restaurant und Wettenbüro, an dem Veranstaltungstipps zu einem Boxturnier eines lokalen Boxvereins, ein Werbezettel für die Abholung von Schrott, Kesseln, Waschmaschinen sowie Plakate einer Polizeiwache aufgeklebt waren, die auf erfolgte Raubüberfälle  auf Juweliergeschäfte, Spielhallen, Banken im Umland verwiesen.

 

"Endlich! Wenn wir den Pfad hoch marschiert sind, werden wir ein paar Bier oder Jim Beam Gläser in der Palo Bar trinken", sagte Ismail bald.

"Wo du wieder aus der gefährlichsten Ecke der Welt zurück bist, Jigga, müssen wir uns ein paar Bier gönnen", sagte Daniel, der angehende Soldat.

"Ich habe die Kämpfe für die Zivilisation heil überstanden und jetzt freue ich mich auf die Palo Bar, auch wenn du unbedingt den Pfad über den Kamm nehmen willst", sahte Ismail. Er war als Fotoreporter kürzlich aus dem IS Kriegsgebiet zurückgekehrt und wollte nun mit ihm in die Bar, etwas trinken, die Ordnung und Umbrüche in der Welt reflektieren, über das das Erlebte reden, und dann einfach nur einige Bier trinken.

"Gehen wir. Später sind dann auch für mich ein, zwei Bier in Ordnung. Vor allem nach dem längeren Wachdienst heute", sagte Daniel.

"Mindestens zwei, drei Bier, Jigga", erwiderte Ismail. "Außerdem habt ihr in dieser Gegend keine verdammten Mossul Zustände, sondern ne sichere Gegend, keine übernommenen Straßen, keine von Fremden eingenommenen Banken, Militärbastionen wie am Tigris, keine überfallenen Städte, also wird der Marsch kein Höllenmarsch", sagte Ismail schmunzelnd und zwinkernd.

"Ach was", erwiderte Daniel. "Natürlich werden wir die Mossulzustände nicht haben und im Gebirge werden wir auch keinen Toten, Verrückten oder tollwütigen Hunden begegnen, die wir niederschießen müssen", fügte er hinzu.

Der Andere erwiderte jetzt nichts.

 

Ismail, der Foto-Reportagen für verschiedene Magazine erstellte und dem vielleicht auch eine Ausstellung in einem Cafe ermöglicht wurde, ergänzte: "Dann können wir endlich was trinken, und ich dir von der Reise zum Staudamm erzählen, den die Alliierten zurückeroberten und von meinen Fotoaufnahmen. Wo ich heranjagenden Amerikanern in Apache Hubschraubern, Ingenieuren, alliierten Kämpfern in Humvees und an den Technikanlagen begegnete, die alle zusammen den Staudamm vor dem Einsturz zu verhindern versuchten. Ihn gegen den IS zurückeroberten."

"Das klingt nach der Rettung der Welt vor der verdammten modernen Sintflut."

"So in etwa, das Szenario der modernen Arche Noah wurde am Tigris verhindert."

"Das hört sich nicht schlecht an."

"Aber die Welt ist auch hier in Umbrüchen und zerrissen. Auf dem Plakat am Wettbüro suchen sie eine Gruppe von Bewaffneten und Männer, die Raubzüge begangen in den Vormonaten."

 

"Das sind ältere Plakate. Wir wollen heute ans Bier trinken denken", beharrte Daniel. 

"Oben werden wir schnell rumkommen. Ich marschierte bei einer Übung schon mal da lang."

"Dann lass uns endlich zur Bar mit der süßen Französin."

Daniel schmunzelte, zog an der Zigarette und blickte zur Straße.

Sie freuten sich hinaufzusteigen. Wenn es nicht zu spät werden würde, würden sie genügend 0,5 Liter Gläser Bier, einige Guinness vielleicht oder Becks, bestellen in der Bar. Aber jetzt stand der erste Teil des Plans an. Über dem Gebirge mit den verfinsterten Baumgruppen, engen, fast listigen Pfaden deutete sich bereits die Nacht mit den dünnen Sternen und den wartenden Lehren an, den Lehren zur Freiheit, zu Rebellentum, Raubgier, Raubzügen, und einer abenteuerlichen Dickfelligkeit gegenüber den Staatsgesetzen und dem Gefängnis. Denn neben ihrem Plan, bei der der junge Soldat seinem alten Freund Ismail einige Bier ausgeben wollte, sollten sie am Berg einem Mann begegnen, der sich für den König der Welt, zumindest in seinem Milieu hielt, und zum größten Genie dieser Tage erklärte. Aber bis zur Auflösung dieser Geschichte des sich selbst ernennendes Königs und Genies gibt es noch Zeit ...

 

Ismail war einige Zeit zuvor, nachdem die Sonne hinter den unruhigen, derben Wolken am Horizont und dem Gebirgskamm versunken war, losgefahren. Kurz zuvor dachte er beim Espresso an seine Reise und die Bilder am Staudamm am Tigris zurück, mit den gewaltig brodelnden und schwerlich zurückgehaltenenen Wassermassen, die Land und Leute beim Dammbruch wie ein Jahrhundertbeben beseitigen konnte, an eine dort zerstörte Ordnung und an eine zurückeroberte Freiheit und gewisse Sicherheit durch die Anti-IS-Allianz, und hatte dann die Tageszeitung mit Meldungen, unter anderem zu Untersuchungen zu einer Serie von Raubüberfällen auf Casinos in der Region, im Cafe beiseite gelegt. 

 

Dann war er an der Soldatenkaserne, in der Daniel Mello seinen Dienst leistete, vorüber gefahren. Längst wartet er am Treffpunkt nahe des Wettenbüros, den sie ausgemacht hatten per Telefon. Das Schnellrestaurant Francos Bistro mit der grellen Außenreklame, eine am Kanal gelegene Polizeistation zischten vorüber. Alles sicher und ruhig, dachte er. Nirgends Terrorbanden unter missbrauchten Bannern wie am Tigris, dachte er, die Fabriken, Banken, Polizeistationen, Kasernen, Städte und Regierungen übernahmen. Links kamen bald Bäume, Feldwege und dann eine geschlossene Tankstelle, ein Fabrikgelände, schmale Büros, karg, und dann brache Felder, auf denen die nackte frische Herbsterde wie unter einem soeben verschwundenen Regen atmete, auf denen Feldmaschinen ohne Arbeiter, ohne Besitzern waren, und alles unter der ländlichen, teils kleinstädtischen Stunde eingenommen wurde, dann kamen einige Windräder und eine Schneise mit Erdhügeln, einer Linie mit zehn bis zwölf Häusern, die zu einem Wald führten und einer Hügelkette, deren höchstgewachsenen Bäume bei Tageslicht in einer horizontalen Linie den Himmel von der Erde abschnitten. Teils ruhig und ebenso verschlossen und unzugänglich, dachte er. Alles: Der Himmel, die höchstgewachsenen Bäume und die Erde, die Felder, Fabriken und Siedlungen waren von der späten, beherrschenden Stunde und kühlen Dämmerung erobert, dem scheinbar allmächtigen Himmel, der tiefer sank; aber dennoch wusste er, dass all das dort war, in einer gewissen Abwägbarkeit, als er vorbei fuhr und sah bald die Lichter des City Hotels und eines prächtigen Casinos und fuhr weiter in der allmählich stockenden Dunkelhei  ... Es war etwa 22 Uhr. Der kühle Dämmer dehnte sich über das Land.

 

Nach weiteren zehn Minuten des Fahrens parkte er den Ford am Bordstein. Es gab kein anderen Wagen, keinen vorübereilenden Passanten, keine Polizeieinheit. Kühle Dämmerung. Eine stille Ordnung. Er blickte umher. An der Straßenecke blinkte das unregelmäßig flackernde Licht der Außenbeleuchtung einer geschlossenen Wirtschaft, er streifte vorüber an einem verdunkelten Fahdungsplakat an einem Zaun. Er ging vorüber die Straße hinauf. Ismail ging an einem Verwaltungsgebäude entlang, dass nicht drohte, übernommen zu werden von Terroristen, Räubern und schwenkte bald auf einen Platz zu, der etwa 150 Meter in der Tiefe der Seitenstraße von Bäumen und zwei Laternen gesäumt war.

 

Bald gingen Ismail und Daniel auf die Erhebungen an einer entfernten Wölbung der Straße zu.

„Wir müssen zuerst an diesem verfluchten Haus vorbei. Ich hörte im New Orleans, dass es da Sektentreffen geben soll", thematisierte Daniel dann das Gerede zum abseitig am Hang, heruntergekommenen und leerstehenden Haus. Er zog an der Zigarette. Ismail wußte nicht viel darüber. Er ignorierte es vorerst.

"Vielleicht sind es auch einfach Obdachlose aus der Gegend", erwiderte er dann.

"Dem Gerede nach soll es da oben Sektentreffen geben mit Opferprozessionen", sagte Daniel.

"Dem Gerede nach. Du sagst ja selbst, dass es Gerede wäre mit den Sektentreffen und Opferprozessionen. Dann hört man von die Meldungen zu Raubüberfällen auf Casinos aus dem Umland - was soll noch kommen? Wird die Ordnung auch hier zerstört?", amüsierte sich Ismail halbwegs wieder darüber. "Wollen sie es wenigstens für einen Abend mit dem Zustand bei Mossul und Rakka aufnehmen?", sagte er spöttisch.

 Der Andere schmunzelte, sagte dann im Soldatenbewusstsein:

"Es gibt die Gesetze des Staates hier und das Militär, die Polizei, Sicherheitskräfte."

"Aber da oben gilt das Gesetz vielleicht nicht mehr", entgegnete Ismail dann. Doch er hatte niemanden gesehen, keinen Toten, keine überfallene zivile Person. 

Vielleicht gab es auch nur Ratten da oben.

 

So gingen die beiden Freunde weiter. Es war wie in einem Pfad, der abseits der Stadt, der leergefegten Straße und abseits des Abhangs in eine stille, zerbrechliche, fast undurchsichtige Welt führte. Vielleicht auch etwas einer zerfallenden Ordnung, dachte Ismail.

Sie wandten sich von der Kleinstadt ab, blickten neben sich auf die teils verfinsterten Erhebungen des Hügelkammes, unter den dünnen Sternen, und gingen weiter auf der unwirklichen, fast gänzlich verfinsterten Straße ...  Es war 22. 16 Uhr. Bald ließen sie auch die Treppen zu den Bahnsteigen hinter sich ... Zwischendurch hörten sie die Flügelschläge von Vögeln und Fledermäusen in der tiefer fallenden Dunkelheit.

„Da oben können wir über einen Pfad schneller voran und kommen auch zur Bar. Ich marschierte bereits bei einer Übung da lang. Aber da liegt auch das verfluchte Riesenhaus. Siehst du!", sagte Daniel Mello und zeigte mit den Fingerspitzen in die vagen Konturen der Hügelkämme wie zu einer riesigen Echse. „Eine Fotografin hat vorgestern ein Bild in einer Zeitung umhergehen lassen, wo sie eine Echse zeigten, eine Riesenechse auf irgendeiner Insel vor Sumatra, die mehrere Ziegen vom Land eines Großgrundbesitzers riss und die Staatsordnung und Polizisten auf den Plan rief", sagte Daniel Mello dann. „Dieses verdammte Haus sieht aus wie eine verfluchte Echse."

"Ehrlich?"

"Ja, Jigga!"

"Wir werden gleich da sein", sagte Ismail, aber urteilte nicht vorschnell. "Aber wenn wirklich jemand da sein sollte, dann vermutlich Leute, die sowiso nichts haben und umherziehen. Wohl keine Mörder oder sonstigen Verbrecher. Leute, die durch das Land vagabundieren, ohne Ziel und Plan. Unter den Sternen hier, wenn die Sonne aufgeht schon im nächsten Zug in eine Großstadt sitzen, nach Hamburg oder Amsterdam und nichts von den Leuten hier wollen."

"Wenn sie es noch schaffen, sich nicht tot gesoffen haben und nicht beschlossen haben, noch was in der Gegend anzustellen."

 

Daniel wischte über sein leicht verschwitztes Gesicht und blickte dann zu einer kargen, ärmlichen Straßenlaterne und weiter zu Ismail. Er wollte es kurz auf eine sachliche Ebene holen.

"In der Villa soll ein Zigarettenunternehmer, ein Tabakfabrikant gewohnt haben, bis zum Zweiten Weltkrieg, dann eroberten die Siegermächte, die Amerikaner die Gegend und konfiszierten wohl auch die Villa. Später übergaben die es wohl der britischen Mandatsmacht. Und dann war es einige Zeit in den Händen der städtischen Verwaltung, aber es verfiel immer mehr, wurde zu einem verbannten und ausgestoßenen Ort."

"Wo es mit dem Verfall wohl nur noch Ratten gibt", sagte Ismail.

 

Ihre Blicke arrangierten sich dann schließlich zum Weitermarschieren.

 

 Ismail und Daniel hatten bald den von einer Straßenlaterne schwach beleuchteten Zaun beinahe hinter sich. Kurz blickte Ismail dann zurück, er sah ein weiteres Fahndungsplakat der Polizei zu den begangenen Raubzügen der Vormonate. Er drehte sich um, blieb still. Sie marschierten bald einen schlangenhaften, nassen Pfad empor, und orientierten sich mit Mellos Taschenlampe an einem Schild, dass den Pfad als richtigen Pfad für das Erreichen der Rückseite des Kamms und der Bar markierte.

"Beim nächsten Mal nehmen wir den Weg auf der anderen Seite des Kamms zum Palo", sagte Ismail schnaubend. Sie gingen weiter.

 

Es war ein sehr beeindruckendes Gebäude. Daniel Mello sprach von einem seltsamen, riesigen Gebäude, wie von einem ehemaligen Gerichtsgebäude und dann von einer am Vormittag durchgeführten Grundwehraufgabe "Streife zu Fuß" in der Jägerkaserne und von den Werten Disziplin, Ordnung - was sollte schon nahe des Hauses passieren? Sie hatten Messer bei sich und marschierten zu zweit auf dem Pfad zur Bar.

Mello fuhr fort: Demnächst gäbe es eine neue Stunde zu den Aufgaben "Orientierungsmarsch" und zu "Bewegungsarten im Gelände" und das unweit dieses Bergkamms. Sie stiegen weiter empor mit einem Gemenge aus Sicherheit, Vertrauen in ihre Fähigkeiten und Aufgeregtheit. Hier war es holprig, teils glitschig, auch auf dem Pfad, man sollte nicht stürzen. Aber man sollte sich auch nicht beschweren. Gleich waren sie in der Bar. Mello versuchte an die Bar und die Heineken Bierflaschen zu denken und das spätere Amüsieren, Karten spielen vielleicht, eine Partie Billard, Biertrinken, über den Sieg des irisch-britischen Herausforderers Tyson Fury über den Box-Weltmeister im Schwergewicht Wladimir Klitschko sprechen, über mögliche Wetten zum Fußballwochenende in Bremen oder Barcelona, freie Minuten, kein Kompaniegeist. Zusamen mit dem alten Kumpel. An einem der nächsten Abende sähe er sein Mädchen.

  

Ismail hingegen dachte plötzlich an die Kaufmannsfamilie, die in dem bizarren Gebäude wohl glücklich und zufrieden gelebt hatte. Ehe sie wohl mit anderen Ausgelieferten ihrer Zeit, mit Zivilisten, Soldaten, Angestellten des Staates, mit anderen Händlern, Fabrikanten, mit Gangstern, in jener gräßlichen Weltkriegszeit, entweder von den amerikanischen Siegern verhaftet worden waren wegen NSDAP Bande oder dergleichen, oder in den Gräben des bestialischen Weltkriegs verschlungen wurde, und vieles, vieles verlor. Vielleicht mit der beeindruckenden, bizarren Villa alles verlor in den Kriegstrümmern. Ehe man das Wirtschaftswunder der 50er in Deutschland ankurbelte. Vielen Menschen wieder Hoffnung und ein Antlitz in deren müden, kriegsgeprägten Gesichtern säte. So wie die Menschen am Fuße des mesopotamisches Staudamms, ehemals im IS Gebiet zunächst so viel verloren, dachte Ismail an seine Fotoreportage am Tigris, dem Kampf der Anti-IS-Allianz, ehe die allierten Widerstandskämpfer anrückten und sie bekämpften und wieder eine bessere Ordnung und Zuversicht schufen an der Wiege der Zivilisation. 

Überall ist eine gewisse Ordnung und Sicherheit wichtig.

Seit den Tagen der Sintflut und mit dem Dämmern der Sonne über den Menschenhäuptern war es so.

 

Er stoppte bald das Empormarschieren auf dem nachgebenden, verfinsterten Pfad. Leuchtete mit der Taschenlampe umher und weiter in den Pfad. Zwischen den Bäumen, durch deren Blattwerk der schwache Mond schien, klopfte er sich bald den Schmutz von den Händen und von der linken Schläfe, den Dreck, der vom Wegdrücken der kalten Äste kam. Was für ein verfluchter Weg zur Bar. 

 

Dann spähte er kurz hinauf zu der näher kommenden Fassade und den Fenstern des wie im Niemandsland einst gemauerten und eingeweihten Gebäudes, erst zivil für Tabakfabrikanten, dann als Verwaltungssitz dienend, dann wurde es geräumt im Krieg, und später ganz verwahrlosend wohl.

 

„Gleich sind wir bei bei der Französin im Palo", erklärte Daniel, der auch stehen blieb. Anscheinend las er sein Gesicht, seine Gedanken im kargen Mondlicht.  Dann spie er aus und ruhte etwas aus.

Nach Sekunden der Wortlosigkeit fragte er:

„Du hättest aber keine Angst ins verfluchte Haus reinzugehen, Jigga?"

Keine Antwort.

„Du hättest keine Angst wegen einer möglichen Sekte da oben."

Ismail sagte nichts.

"Hörst du, Ismail?"

"Am Staudamm gab es Attentäter, Sprengfallen, den totalen Krieg zwischen Gut und Böse, zwischen der zivilisierten Welt, den Demokraten, Pluralisten und den Verblendeten. Das hier ist nicht viel dagegen", hielt er dagegen. "Ihr habt doch Frieden hier, die Höllenstürze und Umbrüche gibt es viel stärker woanders in der Welt."

„Auch hier gibt es Polizeieinsätze, Fahndungen und nicht wenige Gerichtsfälle", erwiderte Daniel. "Aber so wie es klingt, bist du jetzt überall und immer gewappnet."

„Ach was. Aber ich würde mit dem Messer hier bei irgendeinem Sektenmitglied da oben oder einem Irren oder Gangster später in der Bar, wenn nötig zustechen", erwiderte Ismail dann ernster. Er zog ein Messer aus der Jackentasche, hielt es in die Luft und steckte es wieder zurück. "Man weiß nie."

„Dann ist gut, Ismail. Ich meine es ernst. Manche kriegen es mit der Angst, wenn sie hier vorbeikommen..." Er dachte an eine zurückliegende, merkwürdige Szene.

"Ich kannte mal einen Jungen vom Basketballplatz in Herford, er war ein ordentlicher Power Forward und Center unterm Korb, kein Wunder mit seinen fast zwei Metern. Wir gewannen etwa zwei Jahre vor der Zeit bei der Bundeswehrüber drei oder vier Basketballturniere mit ihm. Er hatte immer ne Menge Rebounds vom Board geschnappt und machte wirklich gute Turn-Around-Jump-Shots aus der Halbdistanz, wie damals Larry Bird von den Boston Celtics oder in der Finalrunde Hakim Olajuwon von den Houston Rockets gegen die Magic, aber als es um das Hochgehen ging, war er wirklich ein kleiner Mann, ein ganz kleiner, feiger Mann geworden. Ein richtiger Feigling, verstehst du!"

Ismail hörte hin und blickte gleichzeitig zum schweren, undurchischtigen Bergkamm und zur Fassade des bizarren, im Bergkamm liegenden Gebäude.

 

"Er traute sich nicht mal reinzugehen, geschweige denn hochzugehen. Weil er dachte, da drin steckte eine Sekte. Als wir einmal mit einigen Jungs im Wagen unten an der Straße parkten, hatte er plötzlich sehr sehr starke Knieprobleme."

Ismail blickte zum alten Kumpel Daniel Mello.

„Ganz, ganz starke Knieprobleme."

„Ganz, ganz starke Knieprobleme", echote es.

Sie lachten laut.

„Wie vor einer OP."

„Das könnte sein", erwiderte Ismail. Ihr Lachen kroch bis zum Hügelkamm und erlosch.

„Was soll es schon? Wir sind bald in der Bar."

"Und werden uns ordentlich besaufen."

"Ja, wenn wir auch das hinter uns haben."

"Du hast ein Messer bei dir und ich hab eins und weiß, wie man zusticht", sagte Ismail erneut, mit dem selben unbeugsamen Unterton und wettkämpferischer, wie zwischen zwei wetteifernden Leuten.

Sie marschieren bald weiter den Pfad am Kamm empor. Am Hintergrund der Hänge rotteten sich nunmehr die Wolken der frühen Nacht zusammen, auch wenn einige Sterne sichtbar waren.

Ehrfürchtig blickten sie zwischendurch hinauf. Es lag teils direkt im Hügelkamm: kompakt, verdrängt an den Stadtrand, fern der Kontrollierbarkeit, auf seltsame Weise unzugänglich und wie eine Instanz einer längst vergangenen Macht. Wie eine Mischung aus Kaserne und einst mächtiger ziviler Schaltstelle. Vielleicht war es wert, dass man es einmal ansah, auskundschaftetete oder ausspionierte, dachte Ismail beim Klettern. Vielleicht für eine spätere Fotoreportage.

 

Bald drehte er sich um und schaute zur abfallenden Straße, die halbdunkel und silbern vor der Gebirgsmasse lag.

„Das ist schon ein verfluchter Weg bis zur Straße", sagte er und spuckte ebenfalls aus. Er wischte mit dem Jackenärmel über seine verdreckte Schläfe, dann über seine Nase und die Augenpartie. Gleich wird es schon großartig sein bei der Bar, dachte er kurz. Hier war nur der Geruch der Erde, Witterung, der Bäume und wieder der kühlen, unergründlichen Erde des Pfads.

 

Bald stakten beide den Pfad geradewegs weiter. Nach einiger Zeit erreichten sie die Höhe, in der sich das Herrenhaus mit monumentaler Unergründlichkeit verschanzt hatte. Es vermittelte den Sinn und die verlorene Bedeutung vergangener, siegreicher, verfinsterter Jahre, Jahrzehnte. Der Lichtstrahl der Lampe, die Daniel festhielt, flog quer über die zerschlagenen Fenster.

„Weiter", hörte er Ismail rufen.

Doch eine Sekunde später drang plötzlich eine Stimme unverständlich aus einer der verdunkelten Etagen ... 

 

Ismail blickte zu den oberen Etagen. Daniel lenkte den grellen Strahl der Taschenlampe auf die Haupttür des Gebäudes und dann zu den zerschlagenen Fenstern im dritten Geschoss; es wirkte, als gehörte alles nun zu einer einer teils einschüchternden, seltsamen, listigen Bastion. Bald horchten sie im Inneren des Hauses erneut den Lauten der oberen Stockwerke. Jemand summte vor sich hin. Der Wind fegte durch ein offenes Balkonfenster, dann hörten sie Summen und Laute, als ob jemand etwas vor sich herschob.

  

"Irgendein Landstreicher, der aus der Stadt verbannt wurde", sagte Daniel Mello. 

Die Absicht Daniels stand bald unvereinbar zur Neugierde Ismails, das Haus ein wenig abzutaxieren, wenngleich sie es nicht ganz durchleuchten konnten. Zumindest wollte Ismael jetzt bis nach oben gelangen. Er hatte keine Fotokamera bei sich, aber das seltsame Gespür für irgendeine Story verwässerte sich nicht ... 

„Lass doch, Mann", sagte Daniel Mello. „Ich bin aus der Kaserne weggekommen, aber nicht wegen dem Dreck hier. Wenn das hier so wichtig wäre, Mann, dann wäre hier schon längst eine Polizeieinheit aus der Stadt oder ein Polizeikommissar vorbei gekommen mit einem Inspektorenteam, hätte alles abgesperrt und aktenkundig gemacht. Oder die Zeitung hätte berichtet. Es ist nichts, was uns beschäftigen sollte. Also gib einen Dreck darauf."

 

 

 

3.

 

Der Andere  blickte zu ihm.

"Natürlich nicht, wir waren auf dem Weg zur Bar."

"Das wäre ein Unglück für euch, wenn ihr die Bullen mitgebracht hättet", sagte der Mann ernst.

Ismail bemerkte die Wut in sich, aber versuchte es zu ignorieren.

 "Natürlich sind wir keine Zivilbeamten und es gibt auch keine Streife unten an der Straße"

"Gut. Das ist sehr gut für euch."

 

Nach einer Weile sagte Ismail:

"Ich bin Fotoreporter, kam kürzlich nach Deutschland von einem Staudamm zwischen Irak und Kurdistan wieder, der von der IS zurückerobert worden war durch alliierte Kämpfer."

"Auch da zerfiel die alte Ordnung."

"Ja, aber wegen des IS - ehe sie besiegt wurden zwischen Euhprat und Tigris."

Der Fremde blieb still.

"Aber vieles errichten sie nach dem Sieg über die IS Banden wieder und wollen es noch besser machen", fuhr Ismail fort. "Hier brechen manche wohl vereinzelt mit den Staatsgesetzen, aber da waren es verfluchte Banden. Aber zum Glück haben die Allierten, darunter Kanadier, Amerikaner, auch deutsche Offiziere, die Peschmerga Armee, die irakische Armee, aber vor allem die YPG Kämpfer zwischen Kobane und Rakka die Feinde der Menschheit da besiegt und stellen wieder eine gewisse Ordnung her."

Der Fremde schmunzelte kurz. 

 Er steckte die Waffe zurück in die Manteltasche.

 

Es verstrich eine Minute des Nichtssagens und scheinbaren Klärens.

"Zumindest sieht es hier nicht nach einer Sekte aus", sagte Ismail dann.

„Was sagst du, Junge? Bist du so ein Sektenmitglied, bist du so ein widerlicher Irrer?", entgegnete der Mann dann aggressiv.

"Nein, natürlich nicht. Das hatten wir ja gerade thematisiert und konnten keine Antwort finden."

"Vielleicht wärst du besser unten geblieben", erwiderte der Fremde.

Ismail wartete auf eine Antwort. Das Misstrauen war nicht für eine Sekunde verschwunden. Er hielt sein Messer in der Tasche bereit. Dann sagte der Mann gedankenvoll: „Wenn es jemand von der Staatsmacht gewesen wäre, hätte er bestimmt gedacht, hier sitzt jemand von der RAF wegen all der brillanten Raubzüge in den vergangenen Monaten. Sie suchen überall mit Fahndungsplakaten nach den Männern, die die Raubzüge begangen haben in den Casinos", erklärte er nun. "Jedenfalls hätte ich dann schießen müssen."

Ismail verstand nicht ganz. Er blickte vom Mann zur Tasche und erneut zu ihm.

„Das verstehst du nicht, was."

Ismail blickte umher und beim erneuten Hinsehen enthielt sein Blick eine üble Ahnung und beginnende Zuordnungen.

"Du bist nicht von den Fahndern und hast jetzt keine Kugel im Bauch."

Ismail presste seine Faust um das Messer in der Tasche.

 

Er meinte die Raubzüge, die geglückt waren. Das Landeskriminalamt vermutete sogar ehemalige RAF Mitglieder hinter der Bande, die die Casinoraubzüge begangen hatten. Doch damit hätten sie nichts gemein, nur mit den Raubzügen. Ismail blickte zum Flackern der Petroleumlampe.

„Wir wollen gleich weiter und etwas im Palo trinken, vielleicht noch über eine Wette zu einem Boxkampf am Wochenende und Basketballspiel der Boston Celtics reden." Er versuchte die Szene zu beruhigen.

„So wie du aussiehst, wirst du keine Wette gewinnen."

„Glaubst du das?"

„Natürlich, Junge. Du hast mich richtig verstanden."

"Vielleicht ist ein Sieg der Celtics gegen die Los Angelos Lakers drin", versuchte er es zu versachlichen.

„Du siehst nicht so aus, als würdest du wissen, wie man eine Wette gewinnt. Du siehst eher wie jemand aus, der in einem grauen Büro sitzt und Belege abheftet für seinen Chef und immer still hält. So siehst du eher aus, Junge."

Ismail ging nicht darauf ein. Der Andere blickte mit spöttischen, misstrauischen Augen zu ihm.

 

„Oder bist du so ein großer Mann, der mit vielem brechen kann in der Welt? Bist du so großer Kämpfer?", sagte er mit einer teils aufziehenden Stimme und blickte souverän zu ihm.

"Vielleicht solltest du auf mehr List setzen. Das wäre besser für dich."

Er zwinkerte und lachte. Ismail hielt sich distanziert. „Das wird man sehen, was kommen wird. Die Celtics gewannen schon einige NBA Titel, auch ein Spiel in der vergangenen Saison gegen die Lakers, wiso nicht auch ein weiteres Ligaspiel in dieser Saison und bei der bisherigen ansehnlichen Bilanz. Vielleicht haben wir Glück. Das werden wir sehen."

„Du kennst dich aus, was. Mit Wetten, mit dem Trinken in der Bar, mit dem Leben und Glück da draußen."

Ismail spürte Zorn in sich aufwallen, aber er hielt sich distanziert. Dann plötzlich glaubte er ihn zu erkennen, es war wohl der ältere Bruder von Kris, einem früheren Freund aus Basketballtagen.

   

 Der Mann wurde tatsächlich wegen eines Raubzugs oder mehrerer Raubzüge in Spielcasinos gesucht. Die Gruppe um jenen Gangter mochte Spielcasinos, wie er erfahren sollte. Sie favorisierten abgelegene Spielcasinos. Sie betrachteten die Casinos wie eine wartende Beute am Rand der Stadt. Es war ihnen ein spannender Kampf, den man bestehen musste und wo man sich danach ordentlich betrinken konnte, wie an einem großartigen Abend. Sie kundschafteten das Las Vegas Casino, das New York Casino, das Kings Casino und weitere noch Wochen lang aus. Ihnen gefielen diese Casinos und auch andere Casinos sehr - und es war eine Höllenfreude sie auszurauben mit einem eingehaltenen Plan ... Sie mochten besonders diejenigen, die klug, kühl und ohne viel Tamtam ausgeraubt wurden, wie das New York oder Kings Casino.

Ismail erkannte ihn dann gänzlich: Es war der ältere Bruder von Charly Herschel. Dieser hatte von 2007 bis 2009 in der Palo Bar nebenbei gekellnert und war dann als Einkaufsleiter eines Textilunternehmens nach London gegangen. Sie hatten Charly Herschel gut gekannt, ab und an spielte er mit ihnen eine Billardpartie in der Palo Bar und hatte ein Basketballturnier in Stadthagen mit ihnen gespielt. Auch den älteren Bruder Leon hatten sie an der Bar im Palo angetroffen, Ismail erinnerte sich wie an ein Bild zwischen zwei breiten, verdichteten Wolken ...

 

 Er hatte dünne, zurückgekämmte, pomadisierte Haare, einen schmalen Oberlippenbart, ein nicht sehr gutaussehndes Gesicht und listiges Grinsen, schief im oberen Kiefer große, schief auseinanderstehende Zähne. Er wirkte eher wie ein armseliger Dieb oder Einbrecher in leerstehenden Fabrikhallen zugetraut. Hätte er gar die Haare nicht glatt zurückgekämmt und trüge er keinen Mantel, hätte man ihm auch ohne Hintergedanken an einem Postschalter in jeder europäischen Stadt oder im Innendienst der Textilfabrik über den Weg laufen können. Doch  wenn man genauer hinsah im flackernden diffusen Petroleumlampenlicht, dann konnte man einen Schatten unter dem rechten Auge erkennen. Ein häßlicher Bluterguss schwoll in der Schlussphase wohl an der linken Wangenseite ab, beinahe am Ohr, vielleicht stammte er aus einer Prügelei oder von einem Sturz in einer Flucht.

 

Leon war oft in Schlägereien vewickelt. Schlug sicherlich über 10 Leute nieder. Vermutlich würde er auch töten, wenn es sein musste für ihre Sache. Eine derartige Kaltblütigkeit war nicht weit entfernt in seinem Weg, dachte er damals. Im Vergleich zu seinen Brüdern trat er als Fabrikantensohn nie konform und sachlich auf, wie jemand, der seinen Vater stolz machen wollte, das Büro betrat, um den Steuerberater anzurufen, neue Aufträge weiterzuleiten und eine gewisse zu ihm schauende Mitarbeiterzahl zu führen. Anders der ältere und jüngere Bruder der Herschel Unternehmerfamilie. Diese hielten das Familienunternehmen, dass in der Textilbranche, mit dem Schwerpunkt Hannover, Handel betrieb, sehr hoch. Sie machten sich nichts aus den aufstrebenden Personen oder raubgierigen Gruppen der Straße, die sich durch Zuhälterei, Drogengeschäfte oder Raubzüge hochschossen. Anders Leon. Die Straße brachte ihm Prestige und Geld, vor allem das Kings Casino nahe Osnabrück brachte ihm sehr viel Geld, nun stand alles kurz vor einer sehr sehr viel Geld einbringenden Sache ...

 

„Bist du nicht der ältere Bruder von Charly?", wollte sich Ismail vergewissern.

„Du kannst dich dran erinnern. Hast du Glück gehabt, Mann", sagte der Mann, nach dem gefahndet wurde. „Da hast du großes Glück gehabt, sonst hätte ich dir jetzt eine Kugel in deinen Kopf schießen müssen."

Er lachte. Ismail umschloss gleichzeitig das Messer in der Jackentasche, stockendes Misstrauen mit Zorn und Vorsicht in den Augen. Wenn er aber zustoßen müsste, würde er es tun, dachte er. Der Verrückte hier war angetrunken, übermütig, ein bald berauschter Sieger, aber wie könnte er in so einer Lage wirklich siegen. Irgendwann wartete wohl mindestens die Festnahme und der Prozess vor einem Richter, der kein Erbarmen mit ihm haben würde, dachte Ismail.

„Mein Bruder ist lange nicht mehr im Land", sagte der Gangster. Ismail blickte in sein Gesicht und sah die auseinander gestellten, oberen Schneidezähne. Dann blickte er umher. Er sah keine Spur irgendwelcher Komplizen.

„Mein Bruder ist ein schlauer Junge, er verdient sehr gut, ist Vater geworden und alles läuft in fantastischen Bahnen in London."

„Das dachte ich bei seinen Absichten und seinem Ehrgeiz schon, es ist gut zu hören", antwortete Ismail und fügte dann hinzu: „Aber dich hab ich auch schon damals im New Orleans und im Palo getroffen, das ist aber schon zwei, drei Jahre her."

„Zwei, drei Jahre. Du hast jedenfalls wirklich Glück. Ich hätte jetzt beinahe auf dich geschossen. Mit dieser Pistole", sagte der Gangster, tastete an den Mantel und blickte von der Lichtquelle der Petroleumlampen zu Ismail. „Das wäre ein Versehen gewesen. Für die Casinos haben wir beim Reinlaufen Maschinengewehre benutzt, einmal eine Panzerfaust." Er wirkte zufrieden und kurzzeitig satt.

„Aber setz dich. Setz dich. Ich war jetzt einige Tage alleine", sagte er. „Musste was organisieren."

Ismail hielt sich zurück, er wollte keine merkwürdige Spirale der Gewalt losbrechen. Aber er setzte sich noch nicht.

 

Leon Herschel schaute vom Petroleumlicht mit raubgierigen Augen auf, er behielt diesen Argwohn im Gesicht. Ismail wollte kurz der Situation vertrauen, aber die in der Luft befindlichen und fast greifbaren Triebfedern der Raubgier und Kaltblütigkeit überlagerten alles, so steckte er manchmal die Hand in die rechte Jackentasche, wo er mit einer festen Faust das Messer bereithielt oder sich vergewisserte, dass es im Fall der Fälle da war. Er hatte keine Garantie. Das Messer war zumindestens ein Ansatz der Sicherheit.

Im Palo und der New Orleans Bar hatte er einiges über Leon damals gehört. Er hatte eine Zeit lang ein neues Auto gefahren, ein Fabrikat aus Frankreich, bei einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 130 auf der Autobahn, wenn sie in einen Club in der Niederlande fuhren, rauschte er mit 228 oder gar 237 Km/h auf dem Tacho über einige Streckenabschnitte der Autobahn, schrie und johlte dabei, wie im Rausch, wie ein Irrer. Das war sein Rausch, so etwas brauchte er. So brach er damals aus dem Käfig seiner Welt aus. Jetzt waren die Überfälle auf das Kings Casino oder Babel Spielcasino sein Rausch. Er war in diesen Monaten der erfolgreichen Überfallserie der glücklichste Mensch der Welt, erzählte er. Obwohl er in der väterlichen Fabrik arbeiten konnte, setzte er auf die Überfälle.

Das Licht flog wie der Rauch eines Lagerfeuers über den Balkon ins unergründliche Freie ... 

  

„Jitendra, dieser gute Mann aus Indien, hat mir was einpacken lassen", sagte er und meinte den Innendienstler eines indischen, kleinen Restaurants auf der anderen Seite der Stadt. Im Hinterraum des Ladens hatte man ihm die gebratene Hähnchenbrust mit einer Gorgonzolasoße und Kroketten eingepackt. Dem alten Inder vertraute er. Die Polizei würde dort nicht auftauchen und nach ihm fragen. Sie vermuteten Leute der RAF hinter den Überfällen, aber er durfte nicht fahrlässig werden.

Er aß Kroketten, beim offenen Mund sah man die Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen und bald blickte er zur mittleren Petroleumlampe.

  

Am Abend zuvor hatte er ebenso mit dem Inder am Tisch gesessen, erzählte er. Dieser hätte ihm und sich dann einen Schluck Balentines in ein Glas eingeschüttet, mit etwas Sodawasser gemischt, denn der Inder hatte ein kleines Fieber hinter sich und wußte darum aus den Vorjahren, dass es ihm nach dem Whiskey gut täte, teils besser als irgendein verfluchtes Medikament, nach den drei schlechten Tagen. Nach dem Whiskey-Sodagemisch spürte der indische Restaurantchef wieder sein Herz schneller schlagen und in der Brust die Kraft zurückkehren. Leon Bix trank mit ihm, nach undurchsichtigen Tagen, die er teils in einem Hotel, teils im verrotteten, ehemals mächtigen Haus verbrachte und so vor der Polizei floh. Die Zeit nach dem Raubzug im Spielcasino „Las Vegas" im Hannoveraner Umland. So hatte er beim Inder einige Gläser getrunken, über die Bedürfnisse und Bedürfnislosigkeit der Menschen philosophiert und sich dann mit einem Taxi in die Nähe des Hauses chauffieren lassen, wo er dann unter der Sternenhelle hinauf stakte ... Wie sollte ihn die Polizei hier schnappen?

 

Jetzt aß der Mann, nach dem Polizei und Justiz fahndeten, aus der plumpen Menübox und kauerte armselig und mit lächerlichem, ernsten Königsstolz zugleich am Licht der Petroleumlampen. Es hob den Raum aus der Anonymität und Kälte der anderen Räume - und warf einen zweiten Schatten mit Ismail.

„Setz dich endlich, Mann", wiederholte er.

Ismail blickte mit verstecktem Spott zu ihm. Er schritt kurz zum Fenster, blickte hinaus, aber konnte nichts von der vorderen Seite sehen,  nur Finsternis und vager Sternenglanz. Es war vermutlich ein zugewachsener Seitenkorridor. Ismail kam zurück.

„Setz dich, hab ich dir gesagt."

Ismail zögerte.

„Los, verdammt!."

 

Als er sich dann setzte, erzählte er Ismail plötzlich, der seine Zigarette ansteckte, wie sie Handtücher, die er sonst zum Liegen auf der Wiese in einem Schwimmbad nutzte, zerschnitten hatten und über die Nummernschilder eines anderen gebrauchten, geklauten Wagens geknotet hatten. Damit die Kameras des Kings-Spielcasinos nichts nachverfolgen konnten. Wie vor einer dicken, grauen Wand stockten.

„Da, Jung! Da liegen abgeschraubte Nummernschilder. Die haben wir mit der Beute in die Tasche gesteckt. Die Waffen in ´ne andere Tasche."

Er zeigte mit dem Zeigefinger zur schwarzen Tasche mit den Nummernschildern des Fluchtwagens, am Rand des Petroleumscheins.

"Verstehst du jetzt mehr, Junge!"

„Ich verstehe", echote Ismail. Es waren seltsame Brüche in der Welt, zerfallende Ordnungen und seltsame Anarchien, denen er hier und im Orient in den vergangenen Monaten begegnete, dachte er.

 Dann fuhr der Casinoräuber fort:

„Einen guten Mann habe ich vorgestern am Bahnhof in der Region rausgelassen, der ist auf ´em Weg über Düsseldorf an die französische Grenze und von da nach Südfrankreich, in die Nähe von --- ." Er stockte, trotz des Biers.

 

Ismail hörte nach kurzer Zeit weiter zu.

„Ich werde aber bald auch da sein. Ja! Ja! Vielleicht eine Villa mit Pool im Garten am Mittelmeer kaufen und von da etwas aufbauen."

„Am Mittelmeer?"

Der Andere widerholte es nicht.

"Du bist zur Zeit ganz alleine unterwegs?"

„Kommst du jetzt mit Inspektorenfragen, Junge."

Ismail sagte nichts.

"Das bin ich, aber wenn du jemandem was erzählst, oder irgendein Zeitungsbericht entsteht, wirst du es sehr bereuen. Das wird dann sehr schlecht für dich werden! Vergiss das nicht!"

Er sagte es sehr ernst und  mit auffläckernder Wut in den Augen.

„Hab verstanden. Das ist deine Welt, in der du die ganzen Dinge für dich klären solltest", sagte Ismail.

 

Der Geflohene vernahm es, aber fuhr in Gedanken fort, als müsste er es mit ihm aus irgendeinem wachsendem, verhängnisvollem Siegergefühl teilen.

„Wenn alles weiterhin gut geht, werde ich ihnen nächsten Monat folgen."

 

Die Bande um Leon hatte eine Serie von Überfällen auf ältere und neue Spielcasinos gemacht und er hielt sich noch in einem Siegesrausch, wie ein Feldherr, der nach gewonnen Schlachten zurückkehrte, mit dem Unterschied, dass ihm keine Parade an einem Triumphbogen huldigte, sondern der Egoismus, eigene Frohsinn, Rebelleneifer und einige Ausgewählte im engeren Gangsterkreis und zivilen Kreis.

„Bevor ich es mir auch in Südfrankreich an der Cote D`azour richtig gut gehen lasse, gehört das hier dazu. Verstehst du! Aber mein Lobi, mein Geld habe ich schon an einem besonderen Ort verstaut", sagte er. Er klang wie jemand, der in einer entfernten Bank eine prächtige Summe verstaut hatte.

Dann verstummten sie für eine Weile. Ismail löschte die Zigarette bald auf dem verdreckten Boden. 

  

Leon brach Zwiebelbrot in eine zweite Schale, zuvor hatte er etwas der Soße über die Schale mit der Hähnchenbrust und den Kroketten gegossen, er aß und schaute auf das Flackern in den Lampen, die gierig empor züngelten, wie die Zunge eines Leguans. Er hatte das Feuerchen oben, ganz oben, in der hundertachtzehnjährigen Villa, entzündet. Hier würde niemand von der Staatsmacht eindringen. Hier würde ihn niemand finden. Es war alles abseitig. Eine abseitige Ordnung, die er schuf. Die Petroleumlampen reichten. Eine Feuerstelle mit Ästen würde zu viel verraten. Die drei Petroleumlampen würden sogar für einige Nächte reichen.

„Das Essen von Jitendra ist richtig gut", sagte Leon, ohne aufzuschauen. Ismael blickte zu ihm, rührte sich nicht und blieb in einer misstrauischen Position auf einem der Stühle sitzen. Der Mann dippte das Fleisch in die Soße und aß weiter. Er trug einen schwarzen Mantel. Sein weißer Hemdkragen, die Manschettenknöpfe und Uhr glitzerten. Neben ihm lagen Streichhölzer, eine Zigarilloschachtel, eine schwarze Tasche mit Nummernschildern und mehr, eine Flasche Wasser, angebrochener Alkohol, Kleidungsstücke, ein Hut und Brotstücke.

 

Tagelang sei er in verschiedenen Großstädten sowie im Umland unterwegs gewesen, um einen Raubzug auszukundschaften und hätte sich in einem Hotel frisch gemacht. Diesmal wollte er alleine in einem Casino zuschlagen ... Die Sätze strömten aus dem teils kauenden Mund und einer fliehenden, zufriedenen Gestalt. In seinen Augen mischte sich Arglist, Glück, Müdigkeit und die Ablehnung irgendeines möglichen, denkbaren Scheiterns. Daran wollte er nicht denken. Er würde schon nicht ins Gefängnis gesperrt.

„Ich war vor Tagen im Hotel einer Nachbarstadt, aber es wurde zu riskant in der Unterkunft. Deswegen bin ich hier."

Ismail versuchte zu verstehen.

Er hatte im Frühjahr Spielcasinos in der Region überfallen, von dem Geld eine Halskette bei einem Juwelier sowie einen Ring bei einem Hehler für seine Freundin gekauft, der ihnen jedoch nicht viel Glück brachte. Sie trennten sich zwei Monate später. Zwei Wochen darauf kamen sie wieder zusammen und so fort. Zwei seiner Komplizen hatten sich nach Südfrankreich durchgeschlagen, einer folgte. Er wollte noch eine große Sache im Empire Casino oder Pagio Casino alleine durchziehen. Ab und an schlug er das Geld im Havanna Club auf den Kopf, im Wettenbüro an der Pavillonstraße oder im Milanweg, wo er sich die Fußballspiele der europäischen Ligen, Pferderennen in Deutschland und Frankreich und so manche Boxkämpfe live auf dem Fernseher anschaute, während die Bulldogge des Besitzers hin und herlief, hinter der Theke herkam und nach draußen verschwand, Leon etwas trank und mit wenig Glück wettete.

 

Seine Mutter hatte wegen seiner Aktionen keinen Kontakt mehr zu ihm. Es war sehr schwer für sie. Immer hielt sie ihm die Sachen mit der Staatsordnung vor, bis sie ernst machte und ihn nicht mehr sehen wollte, nicht mehr die Tür öffnete. So hatte es dessen Bruder im Palo erzählt. Der Vater hatte noch eine Beziehung zu ihm, redete auf ihn ein, er solle ins Textilunternehmen einsteigen: Als Firmenleiter würde er ihm eine angesehene Stelle im Außendienst anbieten, wo er ein ansehnliches Einkommen für die Zukunft hätte, aber Leon lehnte es ab. Auch wenn es schwierig werden würde, diese Freiheit war ihm sehr wichtig, wenngleich ihm der Abbruch der Kontakte zur Mutter zugesetzt hatte. Doch das zeigte er natürlich nicht. All das hatte Ismail von Bix jüngerem Bruder seinerzeit gehört. Jetzt fiel es ihm ein.

„Bei Gott, ich bin seit 5 Tagen und Nächten unterwegs. Meine Leute warten in Frankreich. Aber die richtige Stunde für den großen Raubzug kommt noch wie bei den anderen Raubzügen, nur mit noch mehr Beute", erklärte der Gesuchte.

„Bei den Anderen haben wir die Autos im Wald verbrannt, damit keiner einen Fingerabdruck kriegt, kannst du dir vorstellen, was!" Ismail nickte. „Aber der LKA ist uns nicht auf die Schliche gekommen. Sie glauben wir wären auch irgendwelche Supermarkträuber, aber das mit den Einkaufsläden geht wohl aufs Konto einiger RAF-Leute! Von uns sitzt keiner im Knast. Wir waren zu schlau", sagte er mit missbilligendem Ausdruck gegenüber den Ermittlungen. „Selbst wenn das Gefängnis kommt", sagte er ohne Furcht. „Das hier ist ein besseres Leben. Ein besseres Leben als in einem grauen scheiß Büro einer Firma, wo man sehr viel vom echten Leben und der Freiheit eines Mannes verliert."

Sein Gesicht hatte etwas von Dickfelligkeit und Genugtuung. Dann dachte Ismail: Es war seltsam, unten der angehende Soldat, hier der Gangster mit dem Fotoreporter, es war eine sehr seltsame Szene.  

 

Nach einer Weile schnitt er dann das Fleisch, dippte eine Krokette in die Soße und aß und blickte zu Ismail.

„Das Essen vom Inder, von Jitendra ist köstlich. Dieser kluge Mann weiß, wie man kocht. Gestern der verfluchte gute schottische Whiskey und heute dieses Essen."

Er machte eine Pause. Er aß die letzten Essensreste, etwas der Kroketten und des Fleisches mit der Soße, kaute, rülpste und wischte seinen Mund mit einer Serviette sauber, die er in die Menübox packte und die dann zur Seite.

„Das war was Richtiges für den Magen, später wird getrunken und werde ich die Süße, die bestellte Hure empfangen."

Seine Silhouette brach aus dem lodernden Licht. Er langte dann nach der Bierflasche und stellte die geöffnete Flasche neben eine Wasserflasche hin.

Das Licht der Petroleumlampen flackerte heftiger.

„Weißt du, seit über einer Woche ist die scheiß Polizei mit noch mehr Leuten hinter mir her."

Ismail nickte und verschränkte seine Hände hinterm Rücken.

„Und weiß dein Bruder in London oder jemand aus der Palo Bar von dir-", erwiderte Ismail ehe der Gesuchte ihn unterbrach.

„Was andere von mir wissen, und wieviel wir kassierten, geht sie und dich einen Dreck an. Hast du verstanden!"

Ismail sagte nichts, er spürte Wut, aber blickte noch distanziert und kühl zu ihm.

Ismail blickte ihm ins  Gesicht, dachte für einen Moment, es könne gleich losgehen mit fliegenden Fäusten, einer Stecherei oder Schlimmerem.

„Ich verschone dich, weil du meinen kleinen Bruder kennst. Sonst hätte ich dich hier oben kalt machen müssen, wie einen Hund erschossen."

Ismail spürte die Wut stärker in sich auflodern, sagte nichts. Das Messer in der Jackentasche bereit. Es konnnte sich sofort alles ändern. Wieder dachte er, dass er zustechen würde, wenn es notwendig war.

Der Mann trank erneut aus der Bierflasche. Er war nicht wirklich betrunken, dachte Ismail, eher von einem anderen Rausch, einem makaberen Siegesrausch eingeholt.  

 

"Aber es ist so, dass niemand in der ganzen Gegend so viel verdient wie wir in den 2-Minuten-Job in den Casinos", rief er.

Ismail beobachtete ihn und dachte kurz an das Weitermarschieren mit Daniel Mello. Er überlgte, wie er sich aus dieser angetroffenen Situationen, wie aus einem sich öffnenden Sumpf mit dem undurchsichtigen, wohl unheilvollen Rausch und Triumphgefühl zog.

"Hörst du Fotograf! Niemand in dieser Stadt verdient dermaßen, kriegt einen 200 000 Euro Stundenlohn wie wir", schrie er lachend.

Ismail blickte zu ihm.

"Hast du gehört! Niemand in irgendeiner Stadt dieser verdammten Welt!"

"Bestimmt, hat es sich für eine gewisse Zeit gelohnt", erwiderte Ismail. 

Der Andere blickte dann von ihm zum Licht, dann auf die Menübox und die grün schimmernde, fast leere Bierflasche. Der Geflohene wischte über seinen Mund und rülpste und spie neben die Essensbox.

„Das war herrlich. Das Bier und das Essen. Der verfluchte indische Guru kann kochen! Dieser verfluchte kleine Inder versteht es."

Er nahm ein Brotstück, kaute es und blickte zu Ismail.

„Na los, iss was!", sagte er dann mit kauernder Stimme und wieder beruhigter.

Ismail verneinte.

Dann folgte eine Weile der Stille.

  

Leon aß vom Brot weiter, als er wieder zu Ismail schaute, lächelte er. Die Vergangenheit holte ihn in Gedanken ein:

 

In einem nebligen Schwall erinnerte er sich an die Einbrüche auf einem Getränkehof mit dessen älterem Bruder Cihangir. Dann wie ein Funkensprühen an die späteren Schultage auf dem Heinrich-Böll-Gymnasium, wo er etwa 17 Jahre jung war, und nach dem Unterricht Cihangir in einem Restaurant traf. Sie aßen dort vietnamesisch, Ente mit gebratenen Nudeln und Erdnusssauce und ließen sich Pflaumenwein an den Tisch von dem im witzigen Deutsch redenden, hellgelbgesichtigen, plattnäsigen Kellner bringen und planten einen Einbruch in einer wohlhabenden Gegend. Einen Monat später händelten es Leon Bix und Cihangir mit Brecheisen und dem raschen Schleichen über Dach und Balkon, beinahe wie Meisterdiebe, äußerst erfolgreich. Später distanzierte sich Cihangir von ihnen und dem listigen Weg, wurde sogar Verwaltungsangestellter bei einer Kreisstadt und mehrfacher Judomeister. Seither sah er Ismails älteren Bruder nicht mehr. Er fragte jetzt nicht nach ihm. Dann fuhr er fort:

 

„Gestern, vor dem Besuch in Jitenders Restaurant, war ich in der Nähe der Pferderennbahn in Hannover Langenhagen, aber die haben ihre Galopprennen erst für den nächsten Monatsanfang angesetzt. Sonst hätte ich 2000-3000 Euro gewettet und mir meine Nebenbeute mit einem guten Pferd geholt."

Ismail lächelte.

„Du weisst nicht, wie klasse die Rennen auf der Bult sind."

„Ich kenne die Neue Bult."

"Woher?"

"Hatte mal mit deinem Bruder vier von fünf Rennen da gewonnen."

"Wieviel habt ihr mitgenommen?"

"Weil wir das erste Mal da waren und niemand damit gerechnet hatte, dass es so klasse verlaufen würde mit den Tipps, setzten wir nur um die 100 Euro auf die Siegerpferde, unter anderem auf das Pferd Contador. Wir hatten ein Fernglas und das Heft vom Eingang. Mehr nicht."

„Da hättet ihr mehr setzen sollen. Da habt ihr wie ein Mädchen gewettet", sagte er aufziehend, aber freundlicher.

„Wir hatten nichts erwartet, wie konnten wir da vier Siege erwarten?"

„Jaja. Du warst vorsichtig, auch mein Bruder. Manchmal muss man achtsam sein. Das ist weitsichtig. Ihr hattet Glück, so was braucht man neben dem feinen Gespür, sonst ist auch das Glück nichts wert, das gehört zusammen, Glück und Geschick und Schlauheit, sonst ist das Glück auch nicht genug."

„Bestimmt."

„Ja."

Leon blickte länger in das Licht, dann umher und zu ihm. 

 

„Nach der Pferderennbahn fuhr ich die Tage zum Festplatz für Regimentschöre der früheren Kaserne", erklärte er in entfernteren Sätzen „dann kam ich bei meiner ersten Schule und der meines Großvaters vorbei, der 1945 die Kriegssirenen wegen der amerikanischen Fliegerstaffeln hörte und später die Herschel Textilfabrik gründete. Damals mussten diese Leute bei jeder Reise an die Front mit dem Tod rechnen, mit Heckenschützen, der Pattsituation und den dann tödlichen Kesseln. Die Strafexpidition, die sich damals viele vorstellten für die Gegner wurde auch zur eigenen Hölle."

Abbrechen des Satzes, dann: 

"Wir haben auch mit den Raubzügen was zu verlieren, aber nicht das ganze verdammte Leben, wie im Krieg. Was sind schon zwei, drei Jahre Gefängnis? Also worüber sollten wir uns heute beschweren?" Für eine Minute verstummten sie. Ismail blickte zu ihm, als erwartete er noch weiteres, nach den Geschichtsbezügen, dachte er, und der sarkastisch klingenden Äußerung bezüglich einer möglichen Festnahme und Verurteilung zur Haftstrafe. 

"Aber jetzt sind wir hier und wissen, was in den nächsten Tagen und Wochen zu tun ist."

Bald trank er noch weitere Schlücke, das grüne Glas der Bierflasche leuchtete stärker vor dem Lichtschein. 

 

Der Gangster vagabundierte seit einigen Tagen. Hier fühlte er sich besser als in einem Hotel der Stadt. Er verproviantierte sich im Nest der Villa vorerst mit Essen vom Inder Jitender ... Er fühlte etwas vor sich Hingeschobenes in diesen Tagen. Der große Raubzug sollte kommen. Vielleicht im Lissabon, Las Vegas, Königstreff, Stadtcasino, Median Empire oder Royale.

Dann sagte er:

„Man muss ins Spielcasino in der Nähe der Post. Es ist zwar mit vielen Kameras präpariert, aber eine Skimaske,  ein Maschinengewehr für den Kellner oder die Mitarbeiterin am Tresen helfen Wunder, Ismail. Vielleicht kennst du es?"

„Das Median Empire Casino?"

„Das Median Empire Casino."

„An der Post?"

„Noch näher beim Reisebüro als bei der Post."

Sie verstummten kurz.

 

Das Bier war herrlich. Leon fühlte sich als König in der Kleinstadt, in der Welt. Im Juweliergeschäft waren die Pink Panther aus der Balkan-Region zu Legenden geworden mit ihren zumeist sauber durchgeführten Aktionen. Er fühlte sich als König im Casinogeschäft, frei, unbezwungen, schlauer und wie jemand, der eine größere, kühnere Welt mit den Raubzügen in seinen Lebenskreis riss.

Sie redeten ein, zwei Minuten nicht.

„Ach, unserer Generation geht es gut", sagte Leon. „Niemand denkt an etwas Schlimmes, es gibt hier keinen Krieg und keine Mauer mehr zwischen Ost und West und alles ist perfekt geworden und voller Ordnung in dieser Welt."

Seine Augen blickten spöttisch und gedankenvoll zum Lichtschein.

"Das mit der Ordnung in der Welt ist schwierig. Manchmal muss sich ein Mann oder auch ein Teil der Welt eine bessere Ordnung neu erkämpfen oder schaffen oder die bestehende Ordnung und Freheit zu schätzen wissen, sonst kann man es bereuen." 

„Trink was vom Bier, Ismail."

Er reichte ihm eine 0,5 - Liter Bierflasche. Ismail nahm sie, aber trank noch nicht.

  

An der Haltung bemerkte er, dass er nur kurz innehielt. Sah die weite Zahnlücke der oberen Schneidezähne.

„Heute Morgen hab ichs auch zur alten Wohnung in der Artilleriestraße geschafft, wo meine Ex unsere Tochter geboren hat", sagte er. „Aber sie hat andere Erwartungen", erklärte Leon. „Aber ich kann ihr nicht den Mann geben, der morgens um 6 Uhr tagtäglich wie eine feste Nummer in der Herschelfabrik oder im engen Büro steht. Das Geld hole ich anders auf den Tisch. Mit Raubzügen sogar zehnmal mehr als jemand im Büro oder ein Staatsbeamter."

 

Ismail blickte zu ihm und sah kurz eine Schwermut und Trauer. Dann Sekunden später wieder die aufflammende Zufriedenheit und das über der Stadt fliegende Selbstbewusstsein. Er beobachtete ihn, ein glücklicher, übermutiger, seltsam planender und sich zurückziehender Mann und Casinoräuber, der etwa 28 Jahre alt war. Er stieß mit Ismail an, trank kurz vom Bier und stellte es dann neben einen Hut.

Dann wischte Leon seine Hand, über die Bier geflossen war, am Boden ab und schob das krosse Brot mit dem Paprikastück aus der Flamme.

„Es ist eine der komischen Nächte, ehe ich alleine zuschlage", sagte der Mann.

Ismail erspähte jetzt eine Chance, ehe er hinabsteigen würde. Er schien geselliger.

 

„Was ist mit den Anderen? Sind die in Frankreich?", fragte Ismail und fügte zögerlich hinzu. „Wieso bist du alleine hier?"

„Zwei sind in Südfrankreich, lassen sich am Mittelmeer wie Könige in Frankreich sonnen, und wo ich auch bald süße Frauen aus Nizza ficken werde und mich von einer schönen Frau auf einer Jacht verwöhnen lasse. Bald werde ich da sein", antwortete er, ohne der vorherigen Aggression. Das Bier trumpfte zudem die Zurückhaltung wohl immer mehr aus. Dennoch behielt sein Blick den wechselnden Moment vom Bekannten zum Unvorhersehbaren, Allbereiten.

„Hierher bin ich zufällig hingekommen. Es schützt vor der Kälte der Nacht und ist nur eine Übergangsstation."

„Aber die Bullen suchen doch nach dir."

„Seit mehreren Monaten."

Ismail verstummte.

 

„Da sollen sie suchen. Ich bin auch heute Nacht hier, die großen Hotels und Plätze in Südfrankreich kommen bald. Aber du wirst nichts verraten, hörst du!" Er sagte es sehr ernst. Ismail schwor es.

„Du wirst nichts erzählen. Das ist besser für dich. Das ist wirklich besser."

Er blickte zu Ismail, um die Situation zu kontrollieren. Ismail blickte zu ihm und dann zum Balkonfenster und dachte es sei Zeit weiterzumarschieren. Er hatte es bis hierher geschafft, ohne dass Faustschläge flogen oder ein notwendiger Messerstich gesetzt werden musste. Die dünnen Augen des Flüchtigen flogen zum Lampenlicht.

„Ich weiß auch, dass der Alte im Textilunternehmen durchdreht, weil es so sein muss, wie er es will. Sein Wort soll Autorität auch in unserer Welt sein. Für die Belegschaft kann es das, für mich nicht. Das ist sein Geschäft. Das hier ist mein Geschäft. Das Geschäft mit dem exklusiven und auf uns wartende, sehr sehr freundliche Geld im Tresor", sagte er mit einem Lachen. Dann blickte er wieder besonnener auf mit listiger, kühner, raubgieriger Triebfeder, all das mit einem sich vermengenden Bier- und Raubzugsrausch.

  

 „Wenn mich hier jemand wegholen will, hab ich das hier für ihn. Wenn es sein muss, schieß ich ihm ins Gesicht."

Er holte seine Waffe heraus, zielte auf die Lehne eines Stuhles an der rechten Wand, ohne abzufeuern. Er spuckte aus. Mit einem entschlossenen, einschüchternden Gesicht steckte er sie zurück in seinen Mantel.

 

 „Ich habe in einem Monat mit den Casinos mehr geholt als mein Großvater in den vielen Jahren seines langen Arbeiterlebens in einer Stahlfabrik, den Anfangsjahren als Chef in der Textilfirma und nicht viel weniger als mein Vater in der Textilfabrik. Nicht so viel wie ein Stadtstaat oder kleiner Inselstaat in einem Jahr oder der Eroberer einer goldgesegneten Stadt, oder die Miri Großfamilie in Bremen oder der Facebook Gründer Zuckerberg, aber es war ne Menge."

Er lachte.

Seine Selbstsicherheit und sein seltsamer Unternehmergeist waren unerschüttert, dann machte er eine Pause.

„Ich kann dahin, wohin ich will auf der Welt, mit herrlich viel Geld in der Tasche, und wenn es sein muss, gibt es einen Raubzug in Frankreich oder Spanien beim französischen Kings Casino oder französischen Las Vegas oder spanischen Median Empire Casino und spanischen Kings Casino."

Er fühlte sich sehr gut bei den Formulierungen und glücklich in seinen nach Abenteuer und Ungebundenheit klingenden Worten.

„Aber heute Nacht werde ich nach dem Bier noch was vom Gin in der Tasche genießen, mit der Süßdamerikanerin, die gleich kommen wird ..."

Ismail sah sein berauschtes Gemüt, sagte nichts weiter.

Leon stierte mit erhobenem Kopf wieder zum Lichtschein, der scheinbar wie Rauch über den Balkon kringelte, diffus wurde am verfinsterten Hintergrund mit den Bäumen und Unterschlupfen der Füchse, Luchse, der viel, viel entfernter liegend wirkenden Soldatenkaserne, den leeren Büros, der Bar Palo auf der Rückseite des Kamms und irgendwo fahndenden Polizisten des Umlands. Für einen Offizier oder Major wäre er wohl ein verdammter Fahnenflüchtiger gewesen, für die Staatskräfte war er zweifelsohne ein Krimineller, der ins Loch in der Großstadt oder zumindest in Untersuchungshaft einer Kreisstadt gehörte. In seinem Millieu, dass ihm stets präsent war, war er nur ein Mann, der mit Kühnheit und Gerissenheit und seinen Komplizen sehr sehr viel Geld, wohl mehr als eine oder gar mehrere Millionen Euro, angesammelt hatte.  

 

Der angehende Soldat Daniel hatte sich geirrt. Es war keine Sekte, keine schwarze Hexerei hier angetroffen worden. Er begegnete einem Gangster, der erfolgreich einige Raubzüge in der Region organisiert hatte, dabei wohl an einen Löwen oder Leopard dachte, nun alleine unterwegs war und vor der Polizei in das scheinbar abgelegenste Gebäude dieses Breitengrades geflohen war ...

„Das Leben ist gut, wie es in diesen Tagen ist."

„Es ist dein Leben, deine Freiheit", sagte Ismail. „Dein Bruder hat seins in London im Management und ich plane als Fotoreporter."

„Das sind doch ordentliche Pläne. Vielleicht bringst du es zu was mit deinen Reisen als Fotograf in die Welt."

Vielleicht gibt es eine Ausstellung zur letzten Reise an den Tigris und Euphrat, zu den Bezwingen der ISIS Schergen, dachte Ismail, aber formulierte es nicht.

Er trank wieder einige Schlucke aus der Bierflasche, die fast leer war.

 

„Jedenfalls brauche ich nicht das Hundeleben in einer grauen Wohnung mit grauen Nachbarn, die alle die gleichen grauen verdammten Gesichter haben, sondern diese Freiheit und Abstecher in die Gangsterwelt. Jetzt habe ich gut gegessen, der Inder hat da was Gutes gemacht. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ihm seine Kasse ausgeraubt, aber das konnte ich ihm nicht antun, dafür ist er zu gut. Außerdem liefen die Raubzüge schon ganz groß", sagte er und deutete neben den Hut zur Tasche. Seine Augen glänzten.

„Und heute Nacht werde ich hier oben mit dem Mädchen den Gin genießen", sagte er mit heiter aufwiegender Stimmlage.

 

 Der Mann mochte wohl diese Zwischenstation nach seinen Beutezügen, mochte das manchmal heftiger flackernde und sich im Abgelegenen windende Licht in der Petroleumlampe, neben der Tasche mit der Munition und fühlte das Ausruhen, die Überlegenheit und wohl eine Stärke dieser Zwischenzeit. Er fühlte sich herrlich mit dem wunderbaren Kings Casino und erfolgreichen Casinoraubzugügen. 

Ismail blieb still. Welche Reaktion war die Richtige?

Noch musste der Geflohene nicht den Juristen David Rejas oder Rechtsanwalt Mardini für Strafrecht in einem Büro in der nächsten Großstadt aufsuchen, damit dieser eine Haftstrafe, vor einem Amtsgericht, abmilderte ... Er fühlte sich wie ein König in der Stadt, in der Welt.

Wieder tauchte eine vorwurfsvolle Stimme in Ismail auf: Wenn die Polizei käme und das Gebäude stürmte? Würden sie ihn ebenso festnehmen und bösen Unterstellungen unterziehen?

Alles entlang der Vorgaben der Staatsordnung wie ein makaberes, unbeirrbares Leuchten in der Welt. 

 

 „Vielleicht werde ich zum nächsten Monatsanfang zu einer Pferderennbahn fahren. Ich werde aber nicht mehr als 500 Euro verwetten. Dann fällt nichts auf, Junge. Vielleicht werde ich was auf ein talentiertes Pferd wie Sterling oder Kadera setzen, das zurzeit einen brutalen Erfolgshunger hat, überall schlaue Rennen läuft und vielleicht bringt mir die Rennbahn zusätzlich was ein auf die letzten Tage in diesem Land."

„Das könnte sein."

„Das könnte sein", echote es.

Der Mann stand auf, ging zwei Schritte auf ihn zu.

Ismail machte seine Faust bereit. 

 

„Es ist besser, wenn du jetzt endlich gehst", sagte er ernster wieder und rieb über das ausgezehrt wirkende Gesicht. 

 

 Er sagte, er solle gehen. In wenigen Minuten traf er die Südamerikanierin. Der Gangster hatte bei einer Agentur für Huren angerufen und eine Südamerikanerin aus der Kartei gewählt, wohl 25 -jährig, süße Brüste wie Honigmelonen oder eine große Hand voller Trauben, die ihn für 150 Euro verwöhnen würde. Die Südamerikaniern würde auf sein Handy anrufen und er sie an der geschlossenen Wirtschaft an der Straße unten abholen. 

 

Ein widerspenstiger Frieden und zerreißbares Glück. Ismail fühlte wieder das Seltsame und die zerbrechliche, verräterische Stille.

„Ich wünsche dir und deinem Bruder alles Gute. Unten wartet Mello. Es wird Zeit zu ihm zu gehen", sagte er.

"Dir auch Junge, und das du dich in deiner Welt wie ein Mann behauptest", erwiderte der Andere. „Und behalt alles für dich, das ist besser für dich, sonst wirst du in ernste Schwierigkeiten kommen", fügte der Geflohene mit entschlossener Stimme, fast nüchtern hinzu, zückte plötzlich seine Waffe aus dem Mantel und legte sie neben sich.

 Ismail  dachte kurz: Ich könnte gleich die Polizei anrufen, aber der Andere war der Bruder des bekannten Fabrikantensohnes und sollte wissen, worauf er sich einließ und sicherlich würde noch viel Schlamassel auf ihn zukommen, wie an einer Kriegsfront, die man als Betrunkener oder scheinbar Bestimmter belächelte und doch da war mit ihren Sperrfeuern, versteckten Minen, tödlichen Abschnitten und erbitterten, vielleicht verlierenden Kämpfen.

„Du brauchst es nicht wiederholen."

„Damit du es ja nicht vergisst."

Ismail nickte, sagte jedoch nichts.

 

Er spürte Mitleid und gar etwas wie Überlegenheit. Irrer, armer Kerl!

Als er sich im kargen Türrahmen umdrehte, leuchtete das Petroleumlicht spärlicher. Ismail leuchtete mit der Taschenlampe in den Flur und stieg hinab.

 

Vor einigen Böschungen an einem höheren Punkt des Pfads, unweit des Hauses, wartete Daniel Mello und hatte sich eine Zigarette angesteckt. Er konnte sich erinnern, wie sie schon einmal hier entlang marschierten, als es am Exerzierplatz begann. Ismail sah ihn nicht gleich und rief mehrfach nach ihm. Daniel kam den Pfad hinab im kargen Sternenlicht. Trotz des schwachen Lichtes  bemerkte er dessen stille Wut, dessen zurückgehaltenen Zorn.

„Was hast du gefunden im Dreckshaus, Jigga?", rief er.

„Ich habe nichts gefunden, Jigga", erwiderte er. "Es gab nur einen Mann, der wegen der Kälte heute Nacht da ein Unterschlupf gefunden hat und einige Tage durchs Land reiste", sagte er schmunzelnd. 

Die stille Wut tauschte mit kurzer Verwunderung und Spott.

"Das sagte ich dir ja. Obdachlose aus der Gegend."

Ismail schmunzelte.

„Kein vom Staat Gesuchter oder Fahnenflüchtiger des Militärs, sondern nur ein Obdachloser, ja."

"Wie ich es ich vorher schon sagte."

Mello lachte.

"Wollen wir weiter zur Bar."

"Natürlich."

Daniel Mello schmunzelte triumphierend. Ismails blaugraue Augen triumphierten im Stillen. Er erzählte Daniel Mello nicht mehr vom Gangster, der glücklich in der Welt umherzog und sich wie ein König fühlte. Später verzerrte er es und machte aus dem Mann einen verrohten, wohl einfach sehr verirrten Mann, der keine feste Wohnung hatte, nur eine Zuflucht in der Nacht dort gesucht hatte. Vermutlich hätte Mello durch die Doktrin auf der Kaserne und den Drill sich gezwungen gesehen, die Polizei zu alarmieren. Daniel stellte keine Fragen mehr. Es war seine Angelegenheit, dachte Ismail, die der Casinos und der fahndenden Staatsordnung. Bald gingen sie den Pfad hinauf. Die Palo Bar, Bierflaschen, vielleicht Karten und Billard.

 

Als sie unter dem Sternenlicht aus dem Wald und ehe sie zum rückseitigen Pfad des Gebirgskamms gelangten, blickte er zurück zum Gebäude, dass da irgendwo noch trohnte, wie eine vage entfernte, listige, stolze Burg ... Als Ismail nach einer Weile an einer Bushaltestelle auf der Straße vorüberging und auf die Bar Palo zusteuerte, bemerke er einen Steckbrief an einer Litfaßsäule. Die Polizei suchte jemanden mit einem Aushang. 

 

Steckbrief

Achtung!! Fahndung!

Die Polizei bittet um Mithilfe:

Gesucht sind vier Casinoräuber.

Die Täter haben seit dem Februar bis zu 8 Spielcasinos überfallen.

Für Hinweise, die zur Ergreifung der Bande oder eines der Bandenmitglieder führt,

ist eine Belohnung ausgesetzt.

Die Polizeidienststellen sind 24 Stunden erreichbar. Um Hinweise im Fall der

„Kings Casinoräuber" wird gebeten.

Tel: xxxxxxxx 590

    

Die darauf angegebene Nummer rief Ismail nicht an. Scheiß auf den Steckbrief. Verraten werde er ihn nicht.

Das Kings, Las Vegas und Median Empire Casino waren seine Sache. Das Ganze musste er ihm und seinen Komplizen überlassen. Ismail verließ die Bushaltestelle und den Platz, an dem im Sommer die Abgeordneten für die Ratswahlen und Europawahlen, in der Zeit der belastenden, riesigen Athener Wirtschaftskrise und der Bemühungen in Brüssel das Auseinanderbrechen der EU zu verhindern, zudem im Zuge der Renationalisierung einiger europäischer Gesellschaften mit altväterlichem bis rechtem, demokratiefeindlichem, hetzerischem Profil, für sich warben.

 

Bald fanden sie vor sich am Straßeneck und die Terrasse mit Palmen versehen das Palo. Sie betranken sich ordentlich mit Halbliter Bierflaschen, sprachen gar nicht über mehr das wie verfluchte Haus. Sie spielten Karten und mochten es die süße Französin mit den braunen, funkelnden Augen, dem blonden Pagenschnitt, der Modelfigur und teils uneitlen Art, zu sehen, etwas flirtend, sie begehrend und weiter trinkend. 

Ismail gelangte in der Nacht zur Bahnstation an der Vorderseite des Abhangs, diesmal mit einem Taxi und bald nach Hause.

Das nächste Trinken hatten sie auf einen der nächsten Samstage verlegt.

 

Nach einer Weile brauste das Taxi im Wagen an einem Verwaltungsgebäude entlang und einem anderen Platz mit Lokalen, Cafes, einer Apotheke, einem verfinsterten Casino, Ärztehaus und Friseurgeschäft. Die Witterung des Herbstes hetzte über die Straße mit scharfen Böen. Der Wagen glitt in die Wölbungen der Nacht, er redete kaum mit dem Fahrer.

 

Sie fuhren an einer Tankstelle, an verdunkelten Büros eines Fabrikgeländes und an Feldern vorüber, auf denen die nackte frische Herbsterde wie unter Regen atmete, auf denen Feldmaschinen ohne Arbeiter waren, ohne Grundbesitzer schienen und alles nun vom Vollmondlicht und der stillen, weiten Stunde eingenommen wurde, wie die Häuser der Arbeiter, Unternehmer, oder mancher Bediensteter der Stadtverwaltung, wie die Hänge, das abgelegene Hotel, eine verdunkelte Fabrik, die Maschinen, Bäume, größeren Höfe, Windräder, irgendeine Gaststätte, ein Casino an einem Nachtclub - alles riß die kühle, nun silber gleißende Nacht an sich ... So gelangte er zurück in die 15 Kilometer entfernte Stadt ... Irgendwo anders fahndende Polizisten.

Am nächsten Nachmittag telefonierte er mit Daniel Mello, der etwas im Lokal „Am alten Bahnhof", nahe der Kaserne aß und dachte danach an den selbsternannten Gangsterkönig. Der vielleicht nach Nizza, zur schönen Stadt mit den Palmen, terracottafarbenen Häusern, den möglicherweise wartenden Komplizen und süßen Mädchen reiste. Zu den spät spielendenden Boulespielern auf den Plätzen und den noch spät ausgehenden Leuten unterhalb der Palmen ...

 

Ismails Gewissen plagte ihn. Aber er beließ es dabei. Es verstrich eine Woche in der Stadt ...

 

Am darauffolgenden Samstag spielte er mit Daniel Mello und Gabriel Canova Billard im Palo.

Daniel holte bald drei Billard Queue aus dem Schrank, die er verteilte, den eigenen einkreidete und trank daneben das nächste 0,5 Liter Bier. Dann horchte Ismail wie bei einem donnernden Himmel plötzlich auf:

 Er hörte in einer Durchsage der örtlichen Radiostation von einem überfallenen Casino. Der Räuber hatte jemanden angeschossen.

„Ein Casinoräuber hat nach einem erneuten Raubüberfall des angesagten Casinos Median Empire in der Bremerstraße, Ecke Yorkstraße, am Freitagabend, einen Bediensteten mit einer Pistole angeschossen und ist auf der Flucht. Polizeimutmaßungen zufolge gehört er vielleicht auch einer ehemaligen RAF-Bande an."

 

Als er aufschaute, schwangen die Stimmen der sehr hübschen Kellnerin und die Daniels her und verdrängten die Radiomeldung:

„Sie fragt, ob wir noch was trinken wollen, Großer."

"Für mich ein Glas Bombay Gin", erwiderte er.

Ismail dachte dann schon an den Geflohenen, der, wenn er nicht eingebuchtet werden würde, wohl als nächstes das Plaza Casino oder ein Kings oder Grand Casino in Frankreich ausrauben werde. Dann dachte er an fahndende Polizeitrupps in Europa, an dessen hochgefährliche, wohl selbstzerstörerische Abenteuer, an Brüche und Neuordnungen in der Welt. 

„Wir spielen gleich noch eine Partie, nach meiner Partie gegen Gabriel", hörte er dann Daniels Stimme angetrunken und lauter, der schon zum Billardtisch torkelte und wo der dritte Spieler sich bereit machte.

 

© Deniz Civan Kacan

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: D. Civano
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:

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