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Sie kämpfen für die Zivilisation

 

 Die vor ihnen liegende und belagerte Kleinstadt war eine Kleinstadt zwischen den altehrwürdigen, einst leuchtenden, hohen und seit geraumer Zeit belagerten Flüssen, in der sehr außergewöhnliches vor sich ging.

Bei der besetzten Kleinstadt, nahe ihrer Schützengräben, so der alliierte Oberstleutnant, handele es sich um eine besondere, beinahe einzigartige Stadt. Im ganzen Orient gebe es sonst kaum solch eine Stadt. Der Mitarbeiter des Instituts für Demografie und Bevölkerungsstrukturen der nächst größeren Stadt, ebenso mit dem internationalen Anti-IS-Militärkommando zusammenarbeitend, als auch der einst geflohene Bürgermeister bestätigten ihm:
Die Einwohner teilten sich je nahezu in je zwanzig Prozent in einige der verschiedenen religiösen Gruppen des Zweistromlandes: in liberale Sunniten, Christen, Aleviten, Eziden, Bahai auf. Deswegen war die Behauptung des festgenommenen, verhörten IS-Erziehungsministers unglaublich. Sie glich einer schrecklichen. grausamen Sintflut in diesen Jahren nach 2012. So seien alle verbliebenen 9000 Einwohner, nahezu 9000 Einwohner der IS-Terrorgruppe beigetreten. Die Menschen würden derzeit gedrillt werden im Krieg gegen die Alliierten und verbündeten Bodentruppen. 

"Deswegen sind wir hier", sagte der leitende Mann. "Und müssen nach einer Aufklärungsoperation die Befreiung bald starten", fuhr der Oberstleutnant fort mit der Unterrichtung der beiden Kämpfer und Soldaten.

 

Man hörte, wie der Wind über die Ebene flog.

 

Die beiden Kämpfer Quebec und Milani standen mit dem Oberstleutnant nahe der Schützengräben und dem Tisch mit den Landkarten, einer Packung Zigaretten darauf, einer Kalaschnikow, einem verstaubten Fernglas. Milani spürte die Wut und die wichtigen Aufgaben bezüglich ihrer Bekämpfung und der anstehenden Operation im Blut, als er an die teuflischen Taten der Banden dachte. Ebenso Dringlichkeit, Stolz und Freude wegen der anstehenden Operation zur Bekämpfung des Finsteren, Chauvinistischen.

 

Für die Menschlichkeit, Demokratie und bedrängten Völker auf dieser reichen, traurigen, erhabenen, ideenreichen, der Menschheit bedeutenden und stolzen Erde! 

 Für die Menschlichkeit, Demokratie und Freiheit der Völker!


Wir müssen bald mit der Operation starten. Nach der Belagerung und Besetzung wollen sie alle gleichschalten in dieser Kleinstadt. Und dann als Terroristen an die Front und nach Europa schicken, in die ganze Welt, sagte sich Milani.
Der Kämpfer blickte zum Oberstleutnant, der sie über die merkwürdige, belagerte Stadt zwischen den einst lichtvollen und nun an seltsamen, weiten Schatten darbenden Flüssen Euphrat und Tigris aufklären wollte. Die Region hatte sich mit dem Aufmarsch der fanatisierten IS-Banden vermehrt in das Blickfeld der Weltpolitik und auch freiheitsliebenden Völker katapultiert. Diese fanatischen Banden wollen alle übriggebliebenen Bewohner gleichschalten. Diese IS-Banden wollen sie alle gleichschalten und dann zu den Plätzen mit den Zivilisten und hier an die Front schicken, sagte er sich erneut. Es gab schon Tote und Unheil. Ganz sicher wird noch mehr Unheil durch sie kommen, dachte er.

Bald hörte er die Stimme des Oberstleutnants, der erklärte:


"Am vorherigen Donnerstag nahmen wir einen 42-jährigen Mann fest, der früher einmal Physik- oder Chemielehrer gewesen sein soll und in einem Bürogebäude des IS-Apparats angestellt war."

Die beiden Kämpfer Milani und Quebec erwiderten noch nichts. Sie waren bereit für die anstehende Operation und für den Kampf innerhalb der internationalen Anti-IS-Allianz für die Menschlichkeit, und der Oberstleutnant fuhr fort:

"Es diente ihnen als eine Art Amtsträger einer IS-adäquaten Erziehung. Er arbeitete in der Funktion eines Propagandaministers, eines Erziehungsministers."

Dann blickte er kurz zur Landkarte auf dem Tisch.

"Er gab unseren Sicherheitskräften nach einem Verhör etwas zu ihren verdammten Erziehungsmethoden preis."

Sein Blick flog wieder zu beiden alliierten Kämpfern.

Demnach hätten sie die Anweisungen erteilt, dass alle Bewohner dieselben Radioansprachen und Predigten hören müssten, jeder Separatist würde in einer einheitlichen Jackenfarbe in den Gerichtssaal oder zum Hinrichtungsplatz geführt werden, und zur Überwachung des Nachbarn im Sinne ihrer Ideologie ermahnt und erzogen werden. Jedwede Stimme der Vernunft, Kritik, demokratische Parlamentsarbeit, jedwedes aufklärendes Zeitungsblatt, jedweder Sport und jedwede Volkswahl seien im Führerreich des IS als Ketzertum hart zu bestrafen durch Steinigung. Das waren in etwa seine Worte nach dem Verhör im Gebäude der alliierten Sicherheitskräfte. "Verdammt, deswegen sind wir hier. Deswegen müssen wir die Ordnung für die Menschen hier zwischen den Flüssen und die Menschheit wieder herstellen!"

Die Männer blickten zu ihm und zu einem der Schützengräben. Man hörte, wie der Wind über die mesopotamische Ebene flog.

 

  Dieser dreckige, fanatische, selbsternannte Erziehungsminister, so der Oberstleutnant, gab noch viel mehr Aussagen von sich, die einem die Sprache verschlagen konnten und mehr Blutvergießen, mehr Leid bedeuteten. Mehr Feuersbrünste in der Welt losjagen sollten. Er führte Zahlen an, doch kurzum: Freiwillig hätten sich wohl 9000 der ehemals 12.700 Einwohner als Selbstmordattentäter in jenem vom IS belagerten Städtchen rekrutieren lassen. Der Rest sei wohl geflohen, andere getötet, in Kerker gesperrt worden oder zählten zu Säuglingen. Doch es war ein erschreckendes Gerücht. Eine finstere, unbarmherzige Nachricht und Zahl: 9000, 9000 Gefangene stünden als Selbstmordattentäter in der Welt, in Europa, Frankreich, England, Deutschland, Spanien, den USA, Kanada, Indien, Australien undsoweiter bereit. So waren in etwa die Worte des Oberstleutnants.

Dann verstummte er für eine Minute. Ging zum Tisch und blickte auf die beschriftete Karte mit dem Städtchen und den sie einkesselnden Koalitionskräften und den politischen Kürzeln. Wieder pfiff der Wind über die nordmesopotamische Ebene und Erde mit den kargen Gräsern. 

Schließlich hörten die beiden Soldaten Milani und Quebec wieder seine Instruktionen. Sie sollten die Stadt in der kommenden Nacht infiltrieren. Ja, in der bevorstehenden Nacht. Ihr Befehl lautete, unter anderem Beweise für die Hiobsnachricht der vermeitlichen 9000 Gefangenen zu liefern.

 

"Wir sind bereit dieses Gerücht mit den 9000 zu überprüfen und für die weitere Aufklärung. Für die Völker in Mesopotamien und die Zivilisation, Oberstleutnant", brach Soldat Danyal Milani die Stille.

"Gut."

Der kanadische alliierte SDK Kämpfer Joshua Quebec:

"Das sind wir. Aber es ist irre und unglaublich, dass es wieder aufkommt, nach den Verbrechen der totalitären Regime bis zum Jahr 1945 und denen des schließlich gehängten Diktators Saddam."

"Es ist unglaublich, aber der Krieg ist da."

"Und er zieht brennend und immer grausamer durch die Länder und Städte."

"In einer Nachbarstadt töteten sie in der vergangenen Woche bis zu 60 Menschen."

Die Männer verstummten.

"Diese Hunde sollen verdammt sein!"

"Ja, aber es vollzieht sich sehr planend, Soldat Quebec und die Fanatiker aus Rakka und Mossul wollen noch mehr Teile der Weltkarte an sich reißen", sagte der Oberstleutnant heftiger.

"So vergiftet man Völker und Generationen", sagte der alliierte kurdische Kämpfer Milani. 

 "Wir werden sie überall bekämpfen, jetzt an dieser Front. Dafür habe ich euch herbeordert, Soldaten", erwiderte der Oberstleutnant mit bestimmender, entschiedener Stimme und dem Blick in die Gesichter und Augen der Soldaten.

Die Männer standen dienstbereit und verstummten wieder.

  

"Und wir, als Demokraten, gleich der Religion, werden sie bezwingen mit unseren internationalen Brüdern."

"Das sind wir den etwa 12 000 Menschen, uns und vielen anderen schuldig - ", sagte der andere Soldat.

"Das sind wir der Welt und einem besseren Orient, wo die Zivilisationen gebaren, und allen hier leider zu viel Leid gesehenen Menschen schuldig", sagte der Oberstleutnant.

"So wie einst der tapfere König und Aufklärer Saladin die Fanatiker im frühen Mittelalter bezwang und später auch die Aufklärer der Französischen Revolution über das Finstere siegten --", sagte Milani und hörte dann die überlagernde Stimme des Oberstleutnants.

"So wie die Faschisten im Zweiten Weltkrieg bezwungen wurden von der freien Welt, die Demokraten siegten in Nordeuropa, so wie Milosevic und Saddam besiegt wurden, so werden wir nach den militärischen Feldzügen die Demokratie hier als Fundament auslegen, zwischen Euphrat und Tigris - gegen jeden dreckigen Extremismus der ISIS."

"Der Extremismus brütet gerne in dieser Region."

"Nach den Siegen bauen wir wir wieder die Straßen und Häuser und besseren, dynamischen Gesellschaften auf, und legen das Säkulare in der Verfassung und Verwaltung Nordsyriens an, wie in Frankreich, Australien, Wales, Indien, Deutschland oder Kanada."

"Das Säkulare ist so verdammt wichtig."

"Es wird ein besseres Maß zwischen den Religionen, zwischen der Politk, Verwaltung und Religion sein. Nur die wirkliche Demokratie, der Frieden zwischen den Völkern, Bildung und der Säkularismus führen zum Sieg. Zum Fortschritt einer erfolgreichen, gerechten Gesellschaft der Moderne."

Er machte eine kurze Pause.

 

Dann: "In Frankreich und Irland schaffte man es nach Kriegen, hier in Rojava ist auch ein Licht für die Erde geboren, für freie Frauen und Männer."

Die Soldaten mochten die Worte vor dem Wall des Finsteren und hatten erfreute, leuchtende Augen. Milani dachte: Es war eine Operation gegen das Finstere zwischen Leben und Tod. Aber wenn sie nicht kämpften, nicht gewännen, würden die Freien, die Respektvollen, die Aufklärenden und Demokraten vernichtet werden. Es wäre der totale Sieg über die Freiheit der Völker. Die IS-Hunde würden Hunderte Camps wie einst in Treblinka oder Dachau errichten und eine totale Gefolgsamkeit drillen, Blinde, Verstummende, die Ohnmacht der Völker und das Grausame heraufbeschwören und verfestigen. Der Kampf gegen den IS-Fanatismus war der Kampf gegen die Kerker, gegen die grausame Ordnung. Und in Kobane, im nordsyrischen Rojava haben sie mit den Gewehren gesiegt, aber auch mit einer Alternative zum Althergebrachten, zu den Tentakeln des Kapitalismus, der Griechenland schon in die Knie zwang, zu den manischen Visionen des Nationalismus, der zur Selbstvernichtung in zwei Weltkriegen einst führte und zum religiösen Wahn der IS-Horden. Hier wird man das Säkulare anlegen in der Politik und der Gesellschaft, dachte er, ein einheitlicher Staat mit gerechten föderalen Strukturen. Wie im United Kingdom oder anderen euopäischen Staaten, wie der Schweiz vielleicht. Später sollte der Kämpfer Milani auch an die Begegnung mit einem europäischen, französischen Philosophen zurückdenken, der sich extra aus Paris an die Front in Mesopotamien aufgemacht hatte, über die verwandte Bösartigkeit und das Dämonische des Faschismus im Zweiten Weltkrieg und des IS Reflexionen anstellte, unter Lebensgefahr, und dann an einen Vogelhändler, der beim Aufstieg der Sonne und bei den ersten Sternen glücklich zu den Vögeln schritt, über der mesopotamischen Ebene über 1000 Singvögel züchtete und trotz der Feuersbrünste von Hoffnung sprach und es nicht alles aufgegeben hatte, aber dazu später mehr.

  

Er dachte nun: Es war wichtig, dass sie darum wussten. Um die Verbrechen, um die möglichen 9000 Gefangenen und erweiterten Kerker. Zudem war es gut, dass sie solche Überzeugungen vor der nächtlichen Operation und der beabsichtigten Eroberung des nächsten Städtchen durch die alliierten Kämpfer von einem wichtigen, bulligen, einflussreichen Kopf wie dem Oberstleutnants nocheinmal vernahmen. Der Bulle blickte wie Soldat Milani derweil zur weiten Ebene mit den Palmen, lehmfarbenen Terrain Mesopotamiens, wo in den ersten Zivilisationen Mittani Könige zur Jagd auf Stiere und Leoparden loszogen, dann Gäste gar aus Ägypten einluden zu Festlichkeiten mit Bier und Wein und unter der Anwesenheit von Kaufleuten, Beamten,  Staatsbediensteten und in jener Zeit kluge, besonnene Handelsverträge aufsetzten, mit denen sie die Zivilisationen voranbrachten - in steter Korrespodenz mit Ägypten und dem klugen, dynamischen Hethiterreich. Welch eine Ära der Menschheit! Und heute? Welch Wahn, Krieg, Blut, blinder Frevel, Opfer, Flüchtlingströme, dachte der Soldat Milani...  Und bald horte man wieder den Wind, der weit aus der Tiefe der Ebene herkam.

  

 Diese irren Brände, dachte er. Alles vor den Augen der Welt. Alles unweit der Stätten der einstigen fortschrittlichen Weltmacht der Hethiter, den Stätten der Mittani Zivilisation, den Königsresidenzen und Handelsstädten, unweit des Euphrat und Tigris, einst waren sie goldene Flüsse für das Menschengeschlecht. Stätten der ersten Zivilisationen, der Könige, der Erfindungen, der goldenen Paläste, der Tavernen und Manufakturen, der Zitadellen, der lichternen, modernen Verfassungen, wie die der Hethiter, der Verfassungsgerichte und lichternen Weltanschauungen. Denn wie die Hethiter boten sie politisches Asyl für ihre Feinde.

Stätten, des Rechts, des Maßes. Ebenso Stätten der Assyrer, Meder - und in dieser unserer Zeit, im Schatten, im Einzugsgebiet der hohen Flüsse und an seinen Palmen und Feldern und Städten, wütete der IS. Und auch wenn er in der Stadt Kobane, wie die Faschisten einst in Stalingrad, gänzlich geschlagen und mehr und mehr zurückgedrängt worden war, Kobane immenses Licht der Welt und den Befreiern gab, verfügte der Feind noch immer über schweres, tödliches Kriegsmaterial und hochmotivierte Reihen, um den Bruch der Zivilisation herbeizuführen, sagte der die Anti-IS-Kräfte hier anführende Oberstleutnant. Deswegen waren seine Kämpfer und ein weiteres Bataillon gegen jene Boshaften aufmarschiert. Auch wegen des bösartigen Gerüchts, dass die Runde immer stärker unter den alliierten Einheiten machte, aber dazu in der weiteren Erzählung.

  

Wieder hörte er den Wind aus der Ebene kommen von weit her. Der Oberstleutnant drehte sich um und blickte zum Tisch mit den Karten und dem Funkgerät. Soldat Milani blickte länger in die Ebene. Nach einer Weile drehte Milani sich ebenso ab und blickte kurz zu Quebec und dann zum Oberstleutnant, wo sie weitere Inspektionen zur Operation der Infiltration des Städtchens erwarteten.

  

Das Gesicht des Oberstleutnant hatte eine hellbraune Färbung und faltige, müde Stellen an der Stirn, die ein näher Hinsehender erkannte. Unter graubraunen Augenbrauen blickten wache, braungrüne Augen zu den hergerufenen Soldaten, und der dann und wann erhobene, stolze, kräftige und ungebeugte Kopf über der bulligen Körpersilhouette verstärkten die hohe Positionierung in der Armeeführung. Etwas Müdigkeit, das dickliche, bullige Gesicht und Stolz. Hier, an der Front zwischen Rakka, Mossul, Rojava und Tigris. Allen voran die Abzeichen an der Militärjacke bezeugten, dachte Milani, dass er ein tapferer Stratetege war, der viele Operationen begleitet hatte, eine Order mit weiter Tragkraft erteilte. Ein letztes Wort hatte, welches Siege, aber auch Tod und Opfer bedeuten konnte. Auch ihren Tod, dachte er. Manchmal durch seine Geste, eine gehobene Hand und aggressivere Tonlage, auch ein aggressives, orderndes Profil schuf, und hier Schlachten mitenschied. Zudem die Außenpolitik und Sicherheit vieler Staaten durch militärische Feldgewinne ebenso beeinflusste.

Jetzt wollte er mit der Anti-IS-Allianz das Leid der Völker und ihr Schlimmstes, dass der wohlmöglich 9000 Gefangenen, der Christen, liberalen Sunniten, Aleviten, Schiiten, Kakai, Eziden, hier abwenden, nachdem das finstere Reich sich ausgebreitet hatte wie ein blutrünstiger Bann, eine Geißel der Völker. Dafür mussten sie an dieser Front kämpfen, bald in die Offensive gehen, so der Oberstleutnant. Manche würden vielleicht fallen, aber nicht ihre Flagge der Menschlichkeit. Die Gruppen, die Soldateneinheiten würden hier und an jedem Plateau und in jeder besetzten Stadt unbeugsam bleiben, so wie die Brüder und Schwestern und brüderlichen Internationalisten in Kobane, der Stadt der Unbeirrten und Tapferen.

 

 Er blickte kurz zum Himmel, wo sich der herströmende, fahle Wolkenzug verringert hatte. Der Wolkenzug war weit über die nordmesopotamische Ebene mit den Kämpfern der Zivilisation und Internationalisten gewandert. Die Wolken waren dann über Schützengräben mit zerschossenen Sandsäcken, Palmen, über verbrannte Erde, eine verbrannte Reifen- und Zementfabrik, verlassene Gerichtsgebäude und einige noch vom IS belagerte und gefangene Städte und über die weite Ebene geflogen und immer mehr vom Tageslicht erhellt und von den Winden aufgerieben und vertrieben worden wie in alle Himmelsrichtungen der Welt.

 

Tage zuvor, so hörten es die Soldaten Quebec und Milani an dieser Front, sollen im überfallenen Städtchen vor ihnen, siebzig bis Hundert Menschen massakriert worden sein. Ihr Widerstand sei schnell gebrochen. Und zur Nacht hin flüchteten Hunderte Menschen mit Autos, Pferden, Mütter mit Babys auf den Armen. Hinter ihnen brennende Häuser, Verwaltungsgebäude, radikalisierte, manische Banden, die sich der Radikalisierungsdynamik und den IS-Verbrechen verschrieben. Die Befreier waren nun zur Grenze des Städtchens gelangt.

Es war ein Kampf um das Menschendasein, dachte Soldat Milani derweil.

 

"Sie wollen alle gleischschalten in dieser Kleinstadt und mit Sprengsätzen an die Front und nach Europa schicken", sagte sich der Soldat Milani erneut. "Sie wollen die einfachen, würdevollen Menschen ausrotten von dieser Erde."

Kurz fühlte er sich schlecht wegen der seltsamen Lage in diesen Tagen.

  Die Sonne schien an dieser Front, nahe dem ebenso vom IS beherrschten Mossul, grell und unbarmherzig. Die Luft staute sich höhnisch wie unter dem Fluch Hunderter Brandstifter, die sich hier zusammengerafft hatten, in feindlichen Nestern. An der Grenze zur Türkei und zum teils abgesicherten nordsyrischen Rojava. Unweit die Terrorcamps des IS, unbarmherzige Himmel, brennende Mitternächte, der Fluch über den Straßen, Häusern, Schultern der gebrandschätzten Erde, dachte Milani.

  

An einem Erdwall vor der vor ihnen liegenden, vom IS gefangenen Stadt hatte der Oberstleutnant der Anti-IS-Streikräfte, an der Front für Rückeroberungen sorgend, am frühen Morgen zunächst die Heibeischaffung weiterer Munitionskisten, die die Amerikaner vor Monaten geliefert hatten, gefüllt mit Handgranaten, Raketen für Javelin-Panzerabwehrlenkwaffen in Auftrag gegeben, dann zwei Männer herbeigeordert. Es stand etwas später eine genauere Besprechung zur nächtlichen Operation im belagerten Städtchen mit den beiden Soldaten Joshua Quebec, dem Kanadier, und Danyal Milani, dem kurdisch-mesopotamischen Kämpfer, an. Der IS hatte nach Aussagen des Oberstleutnants sehr viele Marterungen und verbrannte, unheilvoll markierte Häuser, Friedhöfe hinterlassen. Die zivile, menschliche Ordnung war zerstört worden. Die alliierten Truppen hatten zumindest an dieser Stadt beinahe eine Einkesselung erwirkt, doch noch musste vor der kompletten Einkesselung und Eroberung des Städtchens eine Operation der Infiltration durchgeführt werden. Das war ihr heikler,  mitentscheidender Teil, der anstand.

 

 Bald ging er wieder zum Tisch, nahm die Landkarte vom Tisch, auf der er verschiedene Punkte angezeichnet hatte. Sie verwies auf den Plan der noch zu erobernden Städtchen und Festungen seitens der irakisch-kurdischen Peschmerga Armee und SDK Einheiten aus dem nordsyrischen Rojava und ihrer alliierten Verbündeten aus der Welt, aus Kanada, den USA, aus Frankreich, Deutschland, sogar Männer aus Australien und Indien gehörten dazu. Offiziere und Soldaten der verbündeten Lager waren schon im Morgendämmern beim Tee mit eingewiesen worden.

Er wandte sich wieder an die beiden herbeorderten Soldaten.

 "Eure Operation zur Aufklärung und Waffenverteilung in der Nacht, wo es wohl keinen verdammten Vollmond geben wird, wird für das Vorgehen in der Offensive sehr wichtig sei, Männer."

Sie hörten ihm zu, sagten nichts.

"Mit deinem Bericht werden wir die weiteren Schritte mit den Befehlshabern der internationalen Koalition abstimmen, ehe der Angriff beginnen kann und gegebenenfalls auch die möglichen 9000 Gefangenen befreit werden können", sagte der Oberstleutnant mit dem Blick zu Milani.

 "Den Bericht werde ich Ihnen morgen bei Sonnenaufgang übergeben", erwiderte Soldat Danyal Milani.

"Gut, Soldat."

 

Wenig später gäbe es genauere Anweisungen an die beiden Kämpfer Milani und Quebec, die für die Aufklärungsarbeit im belagerten Städtchen ausgesucht wurden. Waren es nur boshafte Gerüchte mit den 9000 Gefangenen und Gedrillten, die Feuersbrünste in die Welt tragen sollten?

 

Auch das war bald Teil einer Reihe von Feuertaufen. Am Morgen sprach der Oberstleutnant  ebenso mit Ali Pirbal Mittani, der seit fünfundeinhalb Tagen den gefallenen Said Herki ersetzte, und die Milan-Raketen auch bei der bevorstehenden größeren Erstürmung, wohl in den nächsten 48 Stunden, auf die Fahrzeuge der Fanatiker und Selbstmordattentäter aus Rakka feuern sollte, an der Front zum gefangenen Städtchen.

Erst am gestrigen Mittag hatte die Soldaten unter den Befehlen des bulligen Oberstleutnants vier Fahrzeuge erwischt, die auf einen Posten mit zehn allierten Kämpfern zugerast war. Eine weitere verfluchte Feuertaufe. Die anstehende Operation war nicht weniger gefährlich. Wieder etwas zwischen Himmel und Hölle, Frieden und Finsternis, wenn sie in einen Hinterhalt gerieten, dachte zwischenzeitlich Soldat Danyal Milani. Aber es stärkte den weiteren, längeren Kampf innerhalb der Allianz, die gegen den IS geschmiedet worden war, der wie einst die Cholera oder finstere Pest unzählige Tote säte, in diesem Jahrhundert: in Madrid, London, Paris, Istanbul, Berlin, Rakka, in den USA, Indonesien, Australien, Kanada - in den Hauptstädten der Welt und an dieser Ebene, in den Straßen der überfallenen Siedlungen.

 

Zwischenzeitlich sprach der Oberstleutnant von der Verfassung Mesopotamiens, von diesen vergifteten Monaten, nachdem die Terrorbande von Rakka und Mossul aus, auch in Richtung Kobane, Qamischlo, Hasaka, Erbil, Palmyra, Bagdad und gar zur saudischen und jordanischen Grenze vorstieß.

"Noch immer gibt es diese schmutzige Ungerechtigkeit in ihrem Herrschaftssbereich. Sie müssen bezwungen werden."

"Sonst werden sie den Terror und das Leid ausweiten."

"So wie einst Hitler, Saddam oder Milosevic es ausweiteten, und der IS nicht wie in Bergen Belsen oder Srebenica wütet", so der Oberstleutnant.

Die anstehende Operation war dafür sehr wichtig. "Ihre Routen nach Mossul und Rakka zum Töten werden weiter gekappt", sagte er. Die kämpfenden Männer und Frauen würden weiterhin Mut und Hoffnung gewinnen. Und wenn die Banden, so der gerechte Gott will, bezwungen werden würden, dann würde eine bessere Ordnung geschaffen werden, die Menschen hier unter einer gütigeren Sonne empor blickten, manche vielleicht als Bezwungene, mit gebrochenen Herzen und Illusionen, manche auch als Wiederbeginnende, Hoffende, Unbezwungene.

  

 Einige tausende Frauen und Männer waren gefallen, dachte Milani zwischendurch. Wie der bei der Verteidigung Kobanes umgekommene Offizier Amir Bahtiyar, der aus Irland hergekommene Freiwillige und tapfere Kämpfer Ciaran McGeady. Ein freiwilliger tapferer deutscher Bruder aus Bremen und australischer Kämpfer waren in den Reihen der Rojava Lions gegen den IS gefallen. 

Die Brutalen jedoch noch immer nicht besiegt. Die Hetzer in Rakka und dem belagerten Städtchen hetzten noch immer noch gegen die demokratischen Gruppen, verhöhnten die Zivilisation und das vermeitliche Licht der Vernunft und waren noch immer nicht besiegt. Aber das würde sich wohl ändern. 

  

 Und vielleicht würde er wieder einmal weiter nördlich zur Zweiten Militärakademie reisen - im Frieden einer Militärparade beiwohnen, nicht mehr im Krieg töten müssen. Generell sollte die Region, das demokratische Rojava, dass sich als autonomer Teil eines einheitlichen Syriens verstand zur Befriedung beitragen, der irakisch-kurdische Norden, die KRG Region, wohl wieder den Schwung und Aufbruch wie vor der ISIS Plage erklimmen, die Bauprojekte wie das Erbil Empire weitergebaut werden, mindestens eben dem leuchtenden Glanze Singapurs oder Schottlands. Gebaut auf Geheiß kurdischer Bauherren und Investoren, mit türkischen Partnern. Ein Wunder wie zwischen Iren, Schotten und Engländern zum neuen Millenium, dachte Milani. Ein Pakt für die Zukunft und einem geordneterem Nahen Osten vielleicht, Kurden und Türken wie Schotten und Engländer in der Zusammenarbeit. Es war möglich, wie man an den leuchtenden Bauprojekten und den Menschen mit dem Glück im Auge dort sah. Kein Leid. Kein vergiftender Faschismus. Eine Friedensordnung, planbar und mit Verträgen festbar machend, dachte er schmunzelnd und dann seinen Optimismus bremsend. Kurz dachte an gefallene Kameraden, spürte den Schmerz im Herzen, aber wollte sich am Hoffnungsvollem für die Menschen festhalten.

Irgendwie ginge es wohl weiter, mit der säkularen Demokratie in Mesopotamien, dem Ausbau der Wohnkomplexe für Arbeiter, Ärmere und die Mittelschicht. Damit die Hoffnung weiter hochgehalten werden konnte und nicht in einem schmutzigen Kerker wie eine besiegte Stimme und verbotene Hymne landete. Damit die Hoffnung für Besseres sich weiter Bahn brach, organisierte man nun den nächsten wichtigen Feldzug für die Ebene und die Aufklärungsoperation bezüglich des Gerüchts der 9000 Gefangenen und Allbereiten ...

 

Der Oberstleutnant ging einige Schritte fort, telefonierte mit einem Vertreter der Anti-IS-Koalition. Er hatte sie für die folgenden, heiklen Stunden im besetzten Städtchen herausgesucht. Die beiden Soldaten blieben am Tisch. Bald begann Quebec:

"Ob es wahr ist mit den 9000 Gedrillten?"

"Ihre Kriegspsychologie will, dass es sich in den letzten Winkel herumspricht und sie unbezwingbar scheinen lässt."   

"Ja, aber Kobane zeigte die Kraft und Dimension des Widerstands."

Der Andere hatte kurz ein Leuchten in den Augen..

"Aber unter welchen Opfern", sagte Soldat Quebec.

"Das geflossene Blut hat gezeigt, was dieser Krieg einfordert. Daher müssen wir auch den Fronttod heute Nacht in Betracht ziehen", erwiderte Milani. "Aber möge es anders kommen."

Der Andere stimmte mit dem Blick zu, sagte nichts, schaute dann zum Oberstleutnant und zu den Schützengräben. 

"Noch vor der Morgendämmerung werden wir jedenfalls sehen, ob es nur eine kluge Lüge ist mit den 9000 Gedrillten", sagte Soldat Milani mit einem vieldeutigen, ernsten Ton.

 Milani hatte etliche Monate zuvor die Tür des Anwaltsbüro hinter sich zugeschlossen und zuletzt seine Frau und den Jungen in der nördlicher gelegenen Stadt gesehen, ehe die Front gegen den Fanatismus der IS-Banden die Widerstandskämpfer auf den Plan rief. Jetzt dachte er an den Einsatz in der Nacht für die Freiheit dieser mesopotamischen Erde, damit das Leid der Eingekesselten endete, und die Fahne der Menschheit und Zivilisation nicht gänzlich und unwiderbringbar in den glühenden Staub der Straße fiel.

 

Die beiden Kämpfer verstummten für eine Weile. Milani blickte in die Ebene. 

Damit Ihr euch ein besseres Bild machen könnt: Danyal Milani war ein hagerer, hochgewachsener Mann, der das Profil eines Historikers oder Professors hatte. Sein Äußeres vermittelte den Eindruck, er könne ebenso Neuere oder antike Geschichte für den Nahen Osten an der Universität der nächsten Großstadt vermitteln und barg dabei etwas widerspenstiges. Er hatte braungraue, zurückgekämmte Haare und ein hageres, lakonisches Gesicht. Selbst die erfolgreichen Schlachten zwischen Euphrat und Tigris gegen die Banden hatten nicht das Abbild eines Intellektuellen geschmälert. Dafür sorgten unter anderem eine faltige Denkerstirn, eine längliche, dünne Nase, kluge Augen, eine gut beobachtende Haltung mit müden Zügen, seine Statur, es war eher die eines Historikers, Professors oder Anwalts mit karger Physiogonomie, nicht die eines Schlägers, und wenn er sprach, wies sein Gesicht freundliche, brüderliche Züge im Gesicht auf, wenngleich all dies nicht hinwegtilgen konnte, dass er in den Reihen der Anti-IS-Koalition dutzende IS-Terroristen gekillt hatte. 

 

Mit den Monaten war er immer mehr als Soldat aufgewacht, dachte er, wenngleich das Anwaltsgespür in ihm blieb. Wie die Freude der Korrespondenz mit einem Gericht oder die Bearbeitung einer Akte eines Mandants. Die Säulen der Welt, des Lebens, Liebe, Vernunft, Menschenwürde, Kampf, dann die extrem bedrängte und sich verändernde Ordnung des Nahen Ostens, das Leid und Geduld, Recht und Unrecht, Frieden und Krieg, all das gehörte so vehement zu dieser Zeit, dachte er, zu den Kriegsplätzen unter der Sonne und den vorüber wandernden Wolken. All das gehörte zu dieser Zeit der Menschheit, der stärkere Kampf für Besseres in einer derart bedrohlichen Zeit. Der Kampf für Besseres in der Zeit dieser Brände war ihr Kampf mit den Internationalisten aus Quebec, Dublin, Bremen, Liverpool, Prag, Porto, Chicago, Melbourne und Neu Delhi geworden. Entlang der Fallenden und Wehrhaften. Die Frau Milanis bewohnte ein Häuschen in einem reichen Vorort der nördlichen Stadt, wo es Beamte, Ärzte, andere Rechtsanwälte gab. Wo es sauberes Wasser, fabelhafte Matratzen, Zigaretten und sättigende Essensteller gab. Sein Junge spielte wohl gerade in der Küche oder im Garten, schien vom Fluch der Banden weit genug  entfernt und wenn er nicht zurückkehrte, hatte er wenigstens die Worte seines Vaters auf dem Papier, dachte er in den letzten Stunden. Einige Anrufe und an sie adressierte Briefe.

 

 Er blickte bald umher, sah zur mobilen Kantine. Unweit hockte zurücklehnend ein Soldat auf einem weißen Plastikstuhl. Er versuchte etwas zu schlafen, nickte ab und an ein, Fliegen wegschlagend, auf dem Knie ein Heft mit verschiedenen Sportwetten. Hinter einem anderen Zelt griff einer zur Gitarre und ein anderer zur Saz, ein Zuhörer vor ihnen im Barcelona Iniesta Trikot sang mit ihnen. Sie sangen von glücklichen Tagen und der Verbrüderung der Menschheit. Einer hockte bei der Küche am Tisch, ein Rosenkränzchen abzählend in der Hand, wartete auf das Essen. Quebec und Milani warteten auf die Operation der Infiltration.

 Schließlich blickte Milani wieder empor zum Oberstleutnant, dessen bulliges Profil sich aufbaute vor der Reihe der Schützengräben und sie weiter in die Operation einwies:

"Der Unterschied zu diesen verfluchten Hunden und Barbaren ist auch", sagte der Oberstleutnant "dass wir eine demokratische Ordnung achten und alle Vertreter der Religionen in unserem Beamten- und Verwaltungsapparat haben."

Nachdem er in ihre Gesichter länger geschaut hatte, wiederholte er:

"Deswegen ist euer Infiltrierungsautrag wegen der möglichen 9000 Gefangenen sehr wichtig."

 

Minuten darauf begaben sich die beiden Soldaten Milani und Quebec zu ihren Dingo Fahrzeugen, entlang der amerikanischen Panzer, mit den russischen, amerikanischen und deutschen Gewehren. Es nahm seinen Lauf mit der Infiltrierung des Städtchens, ehe dann die Eroberung startete. Mossul war in IS-Hand. Viele andere Städte wurden koordiniert von irakisch-kurdischen Peschmerga und irakischen Einheiten eingenommen, östlich des Euphrats, im nordsyrischen Rojava seitens der Syrischen Demokratischen Kräfte. Dieses vom IS gemarterte Städtchen musste auch eingenommen werden, und wenn sie hundert Tunnel gebaut hatten darunter, Hunderte Kühlschränke und Türen präpariert hatten mit Sprengfallen, und Tausende Anti-IS-Kämpfer in Stellung liegen würden, hunderte oder gar tausende Tunnel und Räume ausgeräuchert werden müssten, so hallten die Worte des Oberstleutnants am Tisch nach, nahe des Schätzengrabens.

 

Bald entfernten sie sich vom Schützengraben mit der Kommandostelle. Der Befehl des Bullen käme aber sehr bald. Jetzt stakten sie zu einem Plateau zwischen fünf Palmen und zu einer sich öffnenden Ebene Mesopotamiens.

  Milani dachte bald. Bei ihnen waren die geachteten Frauen, die nüchterne Abfolge, Achtung, die Verbrüderung mit der freien Welt, das nachvollziehbare, demokratische Gesetz, da drüben jedoch Denunziantentum, das Hinrichten der Demokraten und Morden wie zu finstersten Zeiten. Er blickte empor. Der Himmel über den beiden Soldaten war hier am belagerten und vom IS raubgierig überfallenen Ort, dachte er, nun wie ein unter einer bösartigen Sonnenglut stehendes Weizenfeld, dass sich in Windeseile entzünden und entflammen konnte. Wie ein Pulverfass. Nicht vertraubares Licht vermittelnd, denn im nächsten Moment konnte sich alles in eine Kriegsstätte verwandeln, Unheil und der Bruch mit der Zivilisation, dachte er.

 

Doch ihr Kampf war für die Würde der Menschheit und Völker. Wenn er mit diesem Bewusstsein von der Welt ginge, dachte Danyal Milani, dann wäre es besser als jedwede Furcht und Mutlosigkeit.

  Er ging dann zwischen den Palmen her. Beim raschen Heben des Kopfes und dem Erfassen des Himmels mit den kühnen, allbereiten Augen, blickte Milani wieder in die weite mesopotamische Ebene. Unter einer Palme fischte er sodann eine Zigarette hervor.

   

Mit seinem Gefährten und Bruder Joshua Quebec wollte er sich etwas ablenken.

"Im Vormonat kämpfte McGregor."

Der Andere blickte von der Erde herauf zu ihm.

"Ein Kämpfer aus Belfast gegen einen ungeschlagenen Mann aus Mexiko, glaube ich."

"Ok, und wie verlief der Kampf?"

"Er verlief gut für den verrückten Iren. Er ist ein großartiger UFC Kämpfer und brutaler Boxer."

"Ein irrer Kampf, sagst du."

"So ist es und sehr gut für die Kasse des Iren."

"Wann fiel der Andere?"

"Achte Runde."

"Achte Runde."

"Dann schlug ihn der irische Kämpfer zu Boden, auch wenn er vorher auch verdammt einstecken musste."

"Aber er ließ nicht vom Ziel ab."

"So ist es, mein Freund."

"Das ist klasse."

"Ja."

"Hätte ich gern gesehen."

"Das glaube ich, aber wären sie hier, würde der Krieg vermutlich auch solche Champions fressen."

Der Andere erwiderte nichts.

 

Nach einiger Zeit:

"Bald steht auch ein Champions League Spiel zwischen dem As Rom und Real Madrid an."

Milani erwiderte darauf noch nichts.

"Es sind Spitzenteams."

Er blickte zu Quebec, aber sagte noch nichts, als käme er in Gedanken noch von woanders her.

"Die Königlichen sind klasse."

"Der As Rom kann sie aber bezwingen", entgegnete er dann.

"Wir werden es sehen."

 "Der AS Rom kann sie in einer hervorragenden Verfassung überraschen und es für sich entscheiden."

"Wir werden es sehen", lächelte der Kanadier. 

"Aber ob es Real schafft oder doch der As, es ist ein Teil und auch Sieg der Unterhaltungsindustrie innerhalb einer humanen Gesellschaft", sagte der ehemalige Anwalt Milani dann. "Wenn man eines Tages über den IS siegt, sollte der Sport, sollten solche Events, ob das Boxen im Ring, der Fußball, das Gewichtheben, andere zivilisierte Wettkämpfe auch hier wieder im demokratischem Rahmen siegen und anstehen und den Menschen Raum für ihre Passionen und Emotionen geben, im angemessenen Rahmen."

"Hoffentlich."

"Das ist auch etwas unseres Kampfes und Auftrags."

Der Andere blickte zustimmend zu ihm.

"Aber im demokratischen Rahmen, sonst ist es nur Betäubung und ein Blendwerk."

  

Der Andere erwiderte nichts und sie verstummten. Beide Männer blickten in die Ebene mit dem wieder hörbaren Wind, der über fahle Erdstriche, dürre Gräser und trockene, noch schöne Granatapfelbäume flog und die heiße Luft der Ebene bei sich hatte...

Der Soldat Milani dachte kurz an den Boxkampf. Es waren Sportveranstaltungen mit viel Prestige und hervorragendem Marketing, Management, Zeitungsecho. Doch der grausame Krieg hier könnte beide Boxer trotz ihres Prestiges ohne weiteres vernichten und verschlingen, dachte er. Der Krieg konnte sie sofort verschlingen. Wie eine Schlange zwei Mäuse verschlang, konnte er die beiden Boxer verschlingen.

 

Für die Presse und Leute draußen war es ein großer Abend, es lenkte sie ab. Auch die Männer hier. Aber auch aus zwei gefeierten Kämpfern zwischen den Ringseilen würde sich der Krieg nichts machen, sie wären Zahlen einer größeren, unglückseligen Statistik. So verdreckt war der Krieg. Aber immerhin hatte seine Kriegspartei, hatten die Alliierten im Kampf gegen den IS, Boden gut gemacht und vielleicht würde in den folgenden Jahren oder Jahrzehnten nicht der Militarismus, sondern auch hier die Demokratie und das Trommeln der Unterhaltungsindustrie im humanistischen Rahmen im Vordergrund stehen. Dann blickte er zum Kanadier.

Bald legte sich der Kanadier nahe der Palmen auf die Erde. Er wischte den Schweiß aus dem Gesicht. Den Kopf lehnte er an seinen Helm und schloss die Augen. Er dachte an seine Partnerin in Quebec und die Seen.

Milani beobachtete weiter die Ebene mit dem kargen Gras, einigen Strommasten, den zerreißenden Wolken am Himmel. Die Wolken zogen scheinbar in ferne und von souveränen, demokratischen Parlamenten und Frieden dominierten Länder fort. Kein Krieg. Keine Trümmer. Güte, Ordnung und ein Tag ohne Minen und Gewehrsalven, dachte er wehmütigen Herzens.

Er blieb still und entzündete eine Zigarette. Er beobachtete die Ebene mit dem Städtchen jenseits der Schützengräben und rauchte die Zigarette.

 

 Auf dieser Seite gab es fast nur Militärs. Die Gefahr durch Scharfschützen für Zivilisten war zu stark, ebenso für die Soldaten, aber es war ihr Befehl. Hier war es ein Kriegsplatz, eine Unordnung, die verändert werden sollte. Die Ordnung für die Zivilisten gab es weiter im Norden, dachte Milani. Noch kürzlich war er weiter im Osten, unter anderem Herrn John Kelly, einem amerikanischen Investor und Herrn Karim, einem Bauingenieur begegnet, die am Bau eines Hotels involviert waren, dann einem Tourismusführer, der an einem See weiter östlich arbeitete. Ein gutmütiger, verrückter Kerl, erinnerte er sich. Er führte Touristen zum See und den Motorbooten, zum Parasailing und den mittelmäßigen Malern an der Küste, oder weiter westlich zu antiken Ausgrabungsstätten, der Meder, Assyrer, der Mittani Zivilisation, zu mesoptamischen Königssiegeln und Tontafeln, die vom Austausch mit den Buchhaltern und Chronisten der Hethiter zeugten. Beinahe 3500 Jahre alte Königssiegel und Tontafeln. Der Touristenführer erzählte, dass er auch ab und an Benzin schmuggelte, die er auf dem Markt loswurde wie Kaffee, Teepakete. Zu Milanis Begegnungen zwischen Euphrat und Tigris gehörte auch ein französischer Philosoph, der ein Cafe besuchte und drei Tage später einen Film bei den Filmtagen im nordsyrischen Rojava präsentieren wollte.

 

 Während Mokka serviert wurde, und sie dann über den Mokka sprachen, fragte ihn Milani bald:

"Wiso halten Sie sich in diesem Kriegsgebiet auf?"

"Wir haben eine Filmdokumentation über die Front gemacht. Außerdem lieben wir Rojava, die Revolution der Säkularen, Demokraten, Frauen, der Kämpfer für Licht, Gleichheit und dem Kampf für ein friedliches Zusammensein aller Völker."

"Das treibt Sie also von der schönen Stadt Paris, von der Seine hierher", blieb Milani neugierig.

"Ich habe mich in den Willen der Menschen in dieser Region, die sich gegen den IS stellen, verliebt. Es ist der würdevolle Kampf mit den Alliierten und Internationalisten aus aller Welt, die sich gegen den Chauvinismus, die Vernichtungsidelogie des Al-Bagdadi und die Geblendeten stellen", sagte der französische Philosoph.

"Es ist kein einfacher Kampf."

"Aber ein machbarer Kampf und ihr beweist es."

Der Kämpfer fühlte sich kurz sehr merkwürdig und großartig als er dies aus dem Munde des Pariser Philosophen hörte. Aber nach kurzer Zeit fragte er den Mann nach dessen Dreharbeiten:

"Und ihr Film wird ein längeres Projekt sein oder bald fertig sein?"

"Er wird bald fertig sein."

"Hoffentlich wird er das."

"Wir wollen es der Welt näher bringen. Auch wenn wir gestern am Auge des Sturms, wo wir Dreharbeiten hatten, beschossen wurden", sagte der französische Philosoph. Es klang nicht mit Schrecken, nicht mit aufspielender Dramatik. Eher mit mechanischer Übung. Der französische Philosoph hatte einst am Zenit der Gewalt und der Vertreibungen, in den Neunzigern, auch Kroatien, Albanien und Bosnien besucht, frühere Stationen waren das im föderalen System eingebettete Wales, Nordirland und Irland.

  

Beide lächelten. Eine Linie der Güte und Übereinkunft, inmitten der schwierigen Zeit und fortbrechenden, alten Strukturen, brennenden Städte, in diesem Teil der Welt.

 "Sie kamen also wegen der Filmtage in Rojava."

"Wegen Rojava und der Liebe zum Freiheitswillen dieser Menschen hier", erwiderte er. "Die Menschen wollen hier glücklich und nicht ängstlich leben und stellten einen sehr fortschrittlichen Gesellschaftsvertrag auf, schafften die Todesstrafe ab und halten Frau und Mann gleichsam hoch, achten die Völker, die Natur. In unserer Zeit halten sie im Kampf gegen den IS das Licht der Menschlichkeit hoch", erklärte der französische Philosoph, "während sich die anderen wegen dem Hass auf die Freiheit hier rekrutieren ließen."

Dem Anderen gefiel es, dies von dem Franzosen und mit dessen Nachdrücklichkeit zu hören.

"Nur auf Angst, Hetze und Hass darf keine Gesellschaft bauen, sonst schafft sie zu viel Exklusivität, und eine Ideolgie der Erlösung vielleicht, die Fremd - und Selbstzerstärung wird da nicht lange warten", erwiderte Milani, der ehemalige Anwalt dann.

Der Philosoph blickte lächelnd zu ihm. 

 Es folgte eine angenehme Stille, eine Minute lang.

 

Ehe sich die Tiefe der Krise und des Einsatzes wieder plötzlich an die Oberfläche katapultierte, wenige Sätze des Mannes mit den klugen Augen, der gewandten Gestik.

 "Es ist hier eine existentielle Angelegenheit", sagte der französische Philosoph dann. "Der unfreie Zustand bringt diese Gräuel mit sich, bringt einen Apparatewahn mit sich."

"Noch gibt es den IS-Apparat in der Region, wenngleich vieles innerhalb der internationalen Allianz erobert wurde."

"Aber euer Kampf im nordsyrischen Rojava, die mögliche Einnahme Rakkas und das hier zwischen Mossul und Erbil durch Anti-IS-Einheiten ist auch für den Schutz dieser und der folgenden Generation - und auch für uns in Paris," sagte er mit nun bedächtiger Stimme, aus der ein mahnendes Inneres mitklang.

 Milani dankte ihm bald für die Worte. Er hätte noch mehr mit ihm reden wollen, aber der Philosoph mit den grauen, kurzen Haaren, sitzend im grauen Anzug und weißen Hemd, hatte noch Arbeit zum Film "Widerstand der Zivilisation" vor sich. Auf verschiedenen Festivals in Europa, dem Orient, in Kanada und den USA beabsichtigte er ihn vorzustellen. Er schob die Mokkatasse bald auf die rechte Tischseite. Es gab die weitere Reise für die Männer. 

 

Milani blieb noch und trank seinen Mokka.

Er war erstaunt über den Philosophen aus Paris. Es verstrichen drei, vier Minuten der Stille, der Verschwiegenheit. Bald hörte er wie der Kellner mit jemandem am anderen Tisch über Jose Saramago und dann über das Filmfestival in Rojava mit dem französischen Beitrag redete. Über die Alternativen zum Nationalismus, zu diktatorischen Modellen und den Tentakeln des puren Kapitalismus, ehe dieser von einer verrückten Reise nach Tennessee zu einem Johnny Cash Konzert erzählte, weil er den sozialkritischen Sänger Cash sehr gut fand, während Milani schmunzelnd den Mokka trank. Was für Verrückte!

Bald bezahlte er und ging hinaus. Er war dankbar für die Minuten mit dem Freund aus Frankreich fern der Front und Feuer.

Doch die weiteren Details dazu wären eine eigene Erzählung wert.

 

 Während Milani an der Ebene saß und an die letzten Wochen dachte, fiel ihm auch noch eine letzte, andere Begegnung mit einem der einfachen Leute der Gegend ins Bewusstsein. Er hieß Herr Yusuf und züchtete 1200 Singvögel in einer Stadt am Fluss, wie ihm der Züchter erzählte. Er erinnerte sich auch an Details, wie soeben vernommene Notizen. 1991 hätte Herr Yusuf damit mit einfachem Anspruch begonnen. Doch später verdiente er dann damit auch Geld:

Für einen smaragdgrünen Singvogel kassierte der Vogelhändler etwa 210 Tausend Dinar, etwa 175 Dollar, für einen gelbfarbenen Vogel 100 Tausend Dinar, etwa 80 Dollar, dann gab es noch Singvögel, die die Farbe der Granatäpfel hatten, als seien sie solch einem wunderbaren Granatapfelbaum Mesopotamiens entnommen worden, von denen ihm einer immerhin 52 Dollar einbrachte, und auch wenn er oft ermüdete, machte es ihn sehr glücklich, wenn er die Vogelkäfige besuchte, oft vom Morgendämmern bis zur Mitternacht, wenn der Mond und die ersten Sterne über Mesopotamien aufstiegen. All das gehörte zur Wiedergeburt dieses nördlichen Zweistromlandes. Zur Auferstehung und zum Leben unweit der Front und des Krieges. Die Singvögel sangen in seiner Obhut, gleich des Krieges, und die Sterne leuchteten hier und da noch immer, wenngleich oftmals blasser und teils mit Trauer; vielleicht machten sie sich wohl doch etwas aus dem Schicksal und Leid der Menschen und dem Kampf der Befreier und Tapferen, erklärte Herr Yusuf.

 

Nach einer Weile zog Milani rauchend sein Handy hervor, und las auf einer internationalen Sportseite über ein Ringerturnier in Sofia und anstehendes Freundschaftsspiel zwischen Schweden und Frankreich und steckte es dann weg. Er mochte diesen Puls der freien Welt. Er dachte kurz wie herrlich es wäre, wenn er in Stockholm oder Paris in einem der Stadien mit seiner Frau und dem Jungen stünde. Aber es war ein ferner Traum. Es sind schwierige Tage und Monate. Wer weiß wie es sich entwickeln wird und ob er nicht bei einer Minendetonation oder bei anderen Kampfszenen fallen werde. Kurz spürte er seinen Puls schwerer, aber dann wollte er wieder kämpferisch denken. Es war besser pragmatisch zu denken, kämpferisch zu denken und das Jenseits noch fern zu lassen. 

Die Prüfungen warten hier auf sie. Hier und in der besetzten Stadt. Zunächst muss der Sieg über den IS an dieser Front wieder her: Dann würde nicht nur für ihn, damit wird auch ein stolzes Leben für die Völker hier wieder kommen, sichere, empor blickende, hoffende Menschen auch in diesem Teil der Welt. Solch eine Befriedung mit einer säkularen, konföderalen Verfassung wird der Beginn für eine größere Freiheit und Erhabenheit der Menschen sein, für einen einfachen, unbeschwerten Gang zum Martplatz, Betrieb oder Stadion. Fern der gräßlichen Furcht. Dann werden sie auch hier zu den Stadien freudvoll strömen, der Frieden und die Freiheit den einfachen, stolzen Wettkampf bringen. Ein feierliches Leuchten am Himmel und in den Arenen, an den Seen und Zitadellen und über den von den Faschisten und Fundamentalisten befreiten Städten.

Milani rauchte seine Zigarrette auf.

Dann holte er ein Papier raus, auf dem er den Bericht für die anstehende Operation niederschreiben wollte. Er blickte zum Himmel mit den mageren Wolken, die derweil die trockene Hitze etwas verpuffen ließen, und über den Palmen herschwebten. Vielleicht würde er fallen und gab es kein Wiedersehen mehr. Aber vielleicht war es auch nur ein weiterer Bericht für den Oberstleutnant.

  

 Zehn Minuten später waren der Stift und das Papier getauscht worden mit einem Fernglas und er blickte bald, wieder an einem östlichen Abschnitt des Schützengrabens, auf die beschmierten Wände, an denen sonst Jungens spielend Saladin-Kämpfe oder Herkules-Wettkämpfe im Ringen abhielten und blickte auf die teils verbrannten Dächer in einer Straße der gefangenen Stadt. In der viele seit dem Einmarsch der Banden denunzierten, sich ergaben, still, nur still anklagten, von denen manche gleich gehängt oder geköpft wurden.

"Da halten sie alle gefangen, nachdem die Faschisten fast 100 Zivilisten gekillt haben", sagte er.

"Alle sind sie Verdammte in ihrem verfluchten Reich!", rief der Kanadier ihm bald zu und klopfte die Erde von den Stiefeln.

"Alle sind sie da Verdammte!"

"Alle, auch die vermeintlich Stärksten!"

 

Vielleicht würden sie auch Verdammte sein und fallen. Noch vor dem Verschwinden des Mondes sollten sich die beiden Männer in die Stadt schleusen. Der aus Kanada hergereiste Joshua Quebec, der nahe einer Palme hockte und sich ausruhte, und der zwischen den Flüssen vormals eingesetzte Danyal Milani, sollten potentielle Munitions- und Waffenlager kennzeichnen, die Truppenstärke und Verteilung der wichtigsten Posten ermitteln, einem Widerständler Waffen übergeben, das Feindeslager ausspähen, dem Gerücht der 9000 Gefangenen nachgehen, nahe den Büros der Führung spionieren - doch wehe einer würde gefangen genommen werden.  Schließlich waren sie aufgebrochen und nach einer Zwischenstation gegen Mitternacht waren sie ins Städtchen geschlichen. Unter schwachem Mond führten die beiden Kämpfer die Operation aus. In der Morgendämmerung jedoch kehrte nur der erfahrenere Mann, Soldat Milani, zurück ... Quebec war verschwunden.

 

Vielleicht hatten sie den tapferen, kanadischen Bruder gefoltert. Vielleicht getötet, dachte er mit aufkommendem Kummer, der von einer Müdigkeit teils abgewehrt wurde. So saß Soldat Danyal Milani irgendwann im Laufe des nächsten Tages gedankenversunken und heidenübermüdet am Tisch nahe der mobilen Kommandozentrale, wo er auf den Oberstleutnant zur Berichterstattung wartete. Dieser hatte mit dem Bürgermeister des Städtchens etwas zu Verwaltungsdingen, der Strom- und Wasserversorgung und dem Danach besprochen.

   

 Hoffentlich foltern sie ihn nicht, dachte Milani indes und rieb über einen Bluterguss an der Wange von einem Faustkampf. Wie viele Gepeinigte und Ergebene gab es bereits bei ihnen? Unser kanadischer Bruder ist ein tapferer Kerl. Er reiste aus einer ruhigeren Stadt hierher, unterm kanadischen Himmel nach Rojava und hierher, der starke, hohe Geist der Solidarität in ihm. Woher nahm er diesen Mut? Er wollte dem Leid der Gefangenen und Bedrängten wohl ein Ende setzte! Er hat ein mutiges Herz, hatte einen robusten Zustand und sicherlich auch eine kluge Verschlagenheit zum Überleben. Er braucht jetzt diese verdammte Verschlagenheit. Zweifelsohne ist er ein Kämpfer mit Narben! Sie werden ihn nicht brechen, hoffte er mit einem widerlichen, trommelnden Gemüt.

  

Er schaute sich um. An dem nahen Graben richteten zwei Soldatinnen und zwei Soldaten der internationalen Brigade mit längs auf dem Bauch liegenden Profilen ihre Gewehre auf mögliche feindliche Läufer in der tieferen Ebene, wie Speere aus der Erhöhung. Dazwischen eine Scharfschützin, aus Kobane stammend, mit braunen langen Zöpfen, anmutiger Erscheinung, hübschem, hellem Gesicht, aus den Reihen der SDK.

Im Lager gab es einige Pickups und putzten zwei Soldaten ihre Kalaschnikows, daneben gab es aufgeschichtete Soldatenhelme. Er blickte zur mobile Kaserne, wo jemand jemand an einem Tisch Brot, Fleisch, Zwiebeln, Zitronen, Tomaten, Auberginen für das anstehende Essen in einem großen Kessel schnitt, und weiter rechts schnitt ein Mann an einem Kochstand die Leiber von Fischen auf und briet sie bald. Es roch kurz nach Fisch und Zitronen. Dann ein Mann, der Wasser für Kaffee kochte.

"Trink ein Kaffee, Heval Danyal", rief der Internationalist.

"Der wird gut sein nach den dreckigen Stunden", entgegnete Danyal Milani.

"Das ist der beste Kaffee deines Lebens, Heval", lächelte der australische Internationalist mit den blauen Augen. Er schnappte eine Tasse und packte mit einem Plastiklöffel Kaffeepulver hinein. Der Internationalist reichte sie ihm, dann stakte er zu einer Gruppe aus Männern und Frauen, die die Mörser bedienten.

Leise Radiomeldungen flimmerten im Hintergrund zu den Ereignissen in der Welt, dem internationalen Anti-IS-Krieg mit diplomatischen Annäherungen der USA, Russland und Vertretern der Vereinten Nationen.

 Milani trank bald die Tasse Kaffee, schloss die Augen, dachte zurück an die Nacht und hörte die Gewehrsalven und sah die Bilder der Operation unter schwachem Mondlicht vor Augen.

  Er war nicht glücklich. Auch wenn sie einige Waffenlager markieren konnten, es etwas wie Gerechtigkeit gab wegen der seitens des IS hingerichteten Zivilisten und er wegen des Gerüchts der möglichen 9000 Gefangenen mehr in Erfahrung gebracht hatte. Sie hatten Quebec geschnappt, gefangengenommen, folterten ihn vielleicht.

 

 Für Minuten trank er diesen psychologischen Rückschlag mit dem Kaffee herunter. Dann dachte er an die aus ihrem Teilerfolg wohl resultierende militärische Offensive und weiter an eine mögliche politische und wirtschaftliche Rückeroberung der Ebene zwischen Euphrat und Tigris, dem uralten Quell der Zivilisationen.

Aber es war ein Kalkül, nicht wenige Vektoren stellten sich dagegen. Vielleicht würden gar die Vernünftigen noch weiter an Boden verlieren.  Vielleicht würden sie die möglichen 9000 Menschen an die Banden verlieren, sie würden gedrillt in die Welt, nach Spanien, Frankreich, Deutschland, Kanada, Australien ausschwärmen, wie grausam Verführte. Wer hatte schon mit solch einer Zementierung des Wahnsinns, des pathologischen Zerstörens und der Grausamkeit gerechnet? 

Doch bald zwang er sich zu mehr Siegeseifer, dem ein nüchterner Optimismus folgte.

"Eine Rückeroberung für die unschuldigen Zivilisten und möglichen 9000 Gefangenen", sagte er laut vor sich hin.

 Eine Rückeroberung als Teil des westlichen Militär- und Freiheitsbündnisses, wonach dann demokratischere Strukturen und Ordnungen folgen würden, die auch die Frauen und die Tatsache der Existenz verschiedenen Völker und Religionen wirklich berücksichtigen würden, in einem säkularen, föderalen Modell. Rojava ist solch ein Licht für die Welt, dachte der ehemalige Anwalt Milani. All das brachte den Kompromiss in seinen Gedanken, es nicht als zu erheblichen Schlag zu deuten. Und vielleicht konnte Quebec sich auch behaupten und war nicht gefallen. 

 

 Diesen Kampf kämpften sie zurecht. All das lohnte sich, sagte er sich mit wieder stärkerem Gemüt. Sie taten es, damit die Menschen wieder ihre Freiheit erlangten, bei der Arbeit am Morgen, auf den öffentlichen Plätzen ohne Furcht debattierten. Männer und Frauen beim demokratischen Aufbau gemeinsam in der Ratsgemeinde. In der Universität und Brotfabrik, in der Bibliothek, am Cafe, in der Sonne den freien Geist und das Revolutionäre fühlten und lebten, ohne Angst oder mit so wenig Angst, dass es vom Gehirn, von der Seele und dem Inneren der Menschen schwach genug gehalten wurde. Das wäre eine wichtige Freiheit, dachte er, die die Befreier ihnen reichen würden. Für eine Menschlichkeit im Apparat. Für das Menschsein in dieser verfinsterten Welt, diesem kriegerischem Kosmos, kriegerisch fast wie in den Tagen Treblinkas und den Zeiten der Blitzkriege in Nachbarländern. Solch eine Helligkeit wollten sie für die Gefangenen wieder zurückerobern ... Dafür gab es die Operation. Alles für eine fortgeschrittene, gerechte Ordnung nach dem IS. Dafür waren sie alle in den Krieg gegen den teuflischen IS gezogen.

  

Die SDK Einheiten, die irakischen und Peschmerga Einheiten, die tapferen verbündeten Staaten aus der ganzen Welt, den USA, Russland, Frankreich, Deutschland, England, Australien. Dazu die Internationalen Kämpfer, neben ihm Joshua Quebec, irgendwo an der Front der 24 jährige Rotschopf aus Irland Ciaran, der Amerikaner Scott, die hübsche Zara und mutige, deutsche Linke Sofie aus Bremen in den Reihen der SDK, ebenso die Tschechin Viktoria, John, aus Liverpool, Jorge, aus Brasilien, Pete, aus Melbourne, Eric aus Paris, der gefallen war, als ihn ein Scharfschütze vor Kobane erwischte, dann die hübsche kurdische Kämpferin aus Kobane Asia Antar, die sie in den Zeitungen als Angelina Jolie des nordsyrischen Rojavas titulierten und fiel, als sie ein Fahrzeug mit Selbstmordattentätern aufhalten wollte; all diese Tapferen würden sie ehren, dachte Milani. Und sie würden weiter hoffen können. Weiter voranmarschieren, einkesseln, schießen und sie zurückdrängen. Sie würden sie schlagen wie in Kobane, der Stadt der Wende. Kobane, Kobane, Kobane, Kobane. Siegreicher Heerführer. Löwenstadt Kobane, das sich nicht fürchtende und ergebende Kobane, das der Welt Antworten gebende Kobane. Das waren sie den Gefallenen, Gefangenen und der freien Welt schuldig.

 

 Es war  vielleicht auch ein Neubeginn durch die Säkularen und Vernünftigen, die alle Menschen, die Arbeiter, Frauen, Angestellten, Bauern, Juristen und Beamten, alle ebenbürtig mit einbringen wollten wie in Rojava. Dafür schafften sie die Todesstrafe ab, brachten die Frauenquote im gesamten Apparat ein. Sie achten alle religiösen und ethnischen Minderheiten, im syrischen Ganzen autonom eingebunden, die Verlinkung mit der freien, dynamischen Welt schaffend. Keine fanatische Oligarchie oder Theokratie, dachte er, entgegen dem Wahn aus Mossul. Auch an diesem Morgen gingen etliche Leute wie Gefangene unter einem gespenstischen Himmel durch die Straßen. Unter anderem an Inans Kleinladen und der geschändeten Kirche vorüber. Von einem Marktstand kommend, mit Broten, Schuhen, gekauftem Gemüse und den ängstlichen Augen und zurückhaltenden Profilen, überall das Willkürliche lauernd. Und seit gestern Nacht gab es die Narbe, da sie seinen Bruder Quebec schnappten. Er dachte mit karger Bitterkeit an einen Kerker, in dem er vielleicht vernommen wurde. Dann erhoben sich vor ihm die verdammten, geschlagenen Profile. Ebenso verwundete Straßen, getretene Menschen, irgendwo in Lagern vielleicht die gestohlenen Reliefs der antiken Imperien und Königreiche Nordmesopotamiens, der Hethiter, Mittanis, Assyrer, Meder, dann die trockenen, gebeugten Palmen am Straßenrand und stockstillen Wohnblocks. Dazwischen plötzlich die IS-Despotie: Blutige Kerker, totalitäre Rechtsverordnungen, öffentliche Auspeitschungen und Willkür, Waffendepots und das unsäglich zerschmetterte Maß von Schuld und Sühne.

 

 Es verging eine Weile. Bald hörte Soldat Milani mit freudvoller Ermattung die vom Oberstleutnant überbrachte Nachricht, wonach die alliierten Flieger über der Stadt Flugblätter und Pamphlete ausgeworfen hatten, vor dem Morgendämmern, wie tausende Zeitungszusteller. Darauf stand:

"Nach 48 Stunden wird eine Offensive auch gegen diese belagerte Kleinstadt beginnen. Damit werden die Schaltstellen der Banden in Mesopotamien vernichtet werden! Wir rufen die Bevölkerung auf umgehend ins Umland zu fliehen!"

 Danach wollte der Oberstleutnant aber endlich mehr hören von Milani. Denn der hagere, kurdische Widerstandskämpfer stand wahrlich neben dem Oberstleutnant. War nicht gefallen. Er blickte zum Bullen und Tisch, auf dem ein Funkgerät, eine Pistole und Zigarettenpackung lagen. Auch eine Karte, an der weiter Beschriftungen vorgenommen wurden und weitere folgen sollten, nach der Berichterstattung.

  

Schließlich hörte er mehr zur Operation: Quebec und Milani hatten einige Munitionslager in der Nacht erspionieren können, unter anderem in der Hattin Straße. Doch es gab den schmerzlichen Teil. Die Lage Quebecs war ungewiss. Er war nicht aus der Stadt gekommen. Der Oberstleutnant ließ ihn aussprechen. Milani erklärte, er sei noch heil aus der Stadt zurückgekehrt, nachdem er einen der Angreifer erledigen konnte, aber sich dann im Feuer zurückziehen musste. Vielleicht hätte er mehr machen müssen, wirbelte ein Gedanke auf, aber er sprach es nicht aus. Schmerzendes Herz. Ein tapferer Bruder. Wie ein Löwe, der sein Leben opfern würde für das Heil der Menschheit und freien Welt. Dieser tapfere Bruder in den Händen von Verbrechern, Folterern! Milanis Stimme schwand etwas.

 

Vielleicht hängten sie ihn, vielleicht konnten sie ihn jedoch noch retten, weil sie sich Gelder versprachen oder politische und militärische Zugeständnisse. Doch der Oberstleutnant, so sehr es ihn sichtlich ergrimmte, hatte den Aufmarsch tausender Soldaten im Rücken des Kommandolagers vor Augen, wusste um die bevorstehenden Angriffswellen und machte keinen Hehl daraus, dass es keine taktischen Zugeständnisse gäbe. Sie waren nicht erpressbar, so der Bulle. Die Verblendeten hatten sich festgegraben. Und sollten - nach Ablauf des Ultimatums - auch hier bezwungen werden samt ihrer vernichtenden, menschenverachtenden Ideologie. Der Mann sagte es mit wütender Stimmlage.

  

 Milani spürte Mitleid, aber wusste, dass sie es einkalkuiert hatten. Das gehörte zum widerlichen Krieg. Blut, Opfer, Feuer, Leid und Hoffnung, dachte er. Das zerschmetterte Maß an Gerechtigkeit. Wie und wann würde der Krieg enden? Es war nicht sicher, dass sie zur Gewinnerpartei gehören würden. Dann fuhr er nach einigen schweren Atemzügen in festerer Berichterstattertonlage fort:

"Die Banden suchen bestimmt weiter. Sie suchen auch in der Morgendämmerung in den Häusern der Familie Amin, bei den Barans und Murads, in der verlassenen Schule. Vor einigen Stunden hielt ich mich nach der Operation und bei den dann laufenden Durchsuchungen und Verhaftungswellen im Hinterhof einer Fabrik auf", erläuterte Danyal Milani mit seinem staubigen, klugen, aber auch sichtlich übermüdeten Gesicht.

Der Oberstleutnant war heilfroh, dass es einem der Männer noch gut ging. Zur Hölle wünschte er die Feinde Quebecs, der Alliierten! Sie redeten kurz über ihn. Wehe, allen Festgenommenen und Vernommenen! Mindestens gab es Stiefeltritte und Peitschenhiebe der IS-Besatzer.

 

Dann fuhr er fort mit der Berichterstattung zur Operation: Noch während des Sonnenaufgangs, dem Ringen der dürren, durch staubige Schwere flimmernden Sonne sei auch ein Großteil der Hattin Straße zum Zentrum leergeräumt und umstellt worden. Mehrere Männer seien hingerichtet worden. Der Oberstleutnant gab ebenso Auskunft: Sie hätten einen Selbstmordattentäter ausgeschaltet, der in einem Pick-Up auf die Stellung zugerast war. Ein Soldat aus Kobane hatte die Milan-Rakete effektiv bedient. Teile des Bilds und Ergänzungen zum Milani Bericht waren es.  Doch nachwievor kein Wort zu den möglichen 9000 Gefangenen. Waren es nur bösartige Gerüchte und Elemente einer teuflischen, psychologischen Kriegskampagne gegen die Alliierten?

 

Milani wollte noch darauf eingehen, aber sprach dann von einem Verbindungsmann im Städtchen. Es war der arg gegeißelte Greise Sadik. Zeit seines Lebens sei er Brotbäcker und viele Jahre Fußballtrainer einer Amateurmannschaft der Region gewesen, erzählte ihm dieser. Er sprach von der schrecklichen Lebenslage der Menschen. Sadik, mit den zwei kaputten, vorderen Zähnen, erzählte ihm von den Sorgen der Menschen auf dem Markt, wo 1 Kilo Reis derweil für ungeheure 47 Dollar veräußert wurde. 1 Kilo Zucker für irre 55 Dollar, 1 Kilo Kartoffeln gar für 19 Dollar gehandelt wurden. Die Menschen starben in ihren Häusern, so Sadik, unweit des Markts, wegen Hunger, mancherorts wegen Unbeugsamkeit gegenüber dem Besatzerpack. Dann berichtete er von Sandsäcken, die die Banden vor etlichen Häuserzentralen stapelten, vorbereitend zum bevorstehenden Häuserkampf. Immer mehr Planen flatterten zudem im Wind, die sie von Herrn Saids ehemaligem Cafe Place at the Tigris, ehemaliger, geflohener Cafebesitzer und studierter Archäologe, die Straße entlang spannten bis zur ehemaligen Apotheke des Herrn Tarik. Dann berichtete ihm der Alte von Lagern, in denen manche nicht nur Munition und Gewehre, sondern auch Goldbarren und Heidengelder vermuteten, die sie wohl aus einer überfallenen Bank in Mossul hergeschleppt hatten, während die Menschen wie Verdammte und Fliegen wegstarben. Sei es betont, wie Fliegen unweit des Marktes.

 

 Etwa drei Kilometer nördlich des besetzten Städtchens saß ihm nun also der Oberstleutnant gegenüber, hörte ihm unruhig zu, unweit seiner Soldaten, denn er wollte das Städtchen bald angreifen lassen. 

 "Um wieviel Uhr etwa packten sie ihn?", bohrte der Oberstleutnant nach.

Keine Antwort.

"Sag mir die Uhrzeit!"

"Etwa gegen 2.40 Uhr", antwortete Soldat Milani.

"Verdammte Hurensöhne!", rief der Bulle schnaubend. "Aber es wird wie im Plan vorgesehen, weitergehen! Die Koordiniierung mit den alliierten Fliegern läuft bereits."

Nach einer halben Minute bohrte er weiter:

"Hast du etwas zu dem Gerücht der 9000 Gefangenen?"

"Wir vernahmen von zwei Kerkern mit etwa 70 Mann darin, aber die hohe Zahl muss ein Gerücht sein. Der alte Sadik erzählte uns nur von verstreuten Camps für Selbstmordattentäter mit kleineren Einheiten. Ohne genaue Zahlen nennen zu können."

Milani konnte es also nicht bestätigen. Kurzes Leuchten in den Augen. Auf Verlangen des Oberstleutnants zeigte er dann auf strategische Punkte auf der Karte, auf Kerker, auf mögliche Zellen, Terrorzellen, die er sogleich beschriftete, unter anderem an der Hattin Straße. Dann stand er auf und ging fort zur unweiten Kommandostelle mit den Sandsäcken und weiteren Soldaten.

 

Soldat Milani blieb. Er fühlte sich übermüdet und merkwürdig. Dann dachte er an den kanadischen Internationalisten, seinen Bruder!

Vor seiner Anreise von Quebec zur Front gegen den IS hatte der kanadische Kämpfer Quebec als Angestellter in der Quebecer Verwaltung gearbeitet. Er war sicher in der kanadischen Struktur. Zuständig für Anmeldungen in der Stadt, Wohnummeldungen ecetera, ehe er die vielen Gräueltaten vernahm und beschloss nach Erbil zu fliegen, von dort ins nordsyrische Rojava über Simelka reiste, um zur internationalen Anti-IS-Allianz, zu den kurdischen Freiheitskämpfern gegen den ISIS Terror zur Front zu gelangen. Gerechtigkeitssinn, Wut, Überdruss, ebenso Abenteuergeist. Er quittierte den Job in der Quebecer Verwaltung, war jetzt im belagerten Städtchen gefangen. 

 

Milani fühlte sich etwas schuldig oder schlecht. Vielleicht hätte ich mehr machen müssen, warf er sich vor. Aber hoffentlich würde es der Bruder schaffen! Der Oberstleutnant kehrte bald zurück. So fuhr Milani dann fort im Bericht zur Operation:

 Sie hatten irgendwann den Fluss überquert, erklärte er, waren näher zur Ortschaft gelangt zu einem Mann mit einem Pockengesicht, der sie weiter schmuggelte. Später dann fanden sich die beiden Männer an einem leuchtenden Weizenfeld wieder, wo der Fahrer mit dem dünnen Bart sie hinausließ. Den Rest würden sie zu Fuß marschieren. Es waren Minuten der Wortlosigkeit. Bald würden wenige gelbe Sterne zur Mitternacht aufziehen, neben dem unheimlich glänzenden Mond, erinnerte sich Milani, ohne dies wiederzugeben. Rauchend standen sie dann unweit einer Palme, als Quebec und er aufhorchten. Kaum ihren Ohren und Augen glaubten. Als seien sie von einer irrationalen, magischen Sequenz gestört und irritiert worden. Sie erblickten einen vorüberstapfenden, alten Mann mit einem Pferd, an dem ein Radio baumelte. Dem Mann, so erfuhren sie bald, unterstand vor dem Krieg eine Arbeiterschaft.

  

Aus dem Radio ertönte wahrhaftig klassische Musik. Vivaldi und Chopin. Derart, dass sie die wunderbare Musik an der Palme noch hören konnten und verdutzt über ihre Gesichter rieben. Sie schmunzelten. Der Alte fürchtete keine Hinrichtung, rief Quebec, der Kanadier. Dieser Verrückte!

Der Unerschrockene wandte sich bald den beiden Soldaten zu:

Er sei derzeit ein Entwurzelter und ehemals ein Unternehmer des Umlands gewesen, hätte eine Zuckerfabrik geführt. Der Mann rief und grüßte die beiden Kämpfer. Zudem schallte die klassische Musik hinüber zu den Palmen. Es wirkte wie ein Irrbild: Sie standen inmitten der Wirklichkeit und dem Wahnsinn des Krieges vor der Infiltritationsoperation gegen die fanatischen Milizen und direkt vor ihnen, der etwa 62 Jährige Mann, der weder sie noch die Fanatiker fürchtete. Der Mann lachte und man sah seinen teils zahnlosen Mund und das gegeberte, aber sympathische und ehrliche Gesicht, wie das eines müden Fabriklers oder Weisen.

  

Besonders wundersam war die klassiche Chopin Musik wie in einem herrlichen Opernsalon Frankreichs. Doch sie erklang wahrhaft hier im umkämpften Mesopotamien, zwischen dem IS-Terrorkalifat und der basisdemokratischen Föderation, unter der Andeutung des Mondes und der gelben Sterne. Direkt vor ihnen. Er erschien wie eine Fata Morgana, fortziehend, verwundet wohl, ebenso erhaben und ungebrochen der Unerschrockene ... Ein Wunder neben dem Wunder des Aufbaus der nordsyrischen, säkularen, basisdemokratischen Föderation und dem Sieg der Freiheit, der Völker dort über das IS-Terrorkalifat und deren bestialischen Untaten, dachte Milani. Ein Verrückter, der sich nicht fürchtete und beugte.

 

Sie wussten nicht, ob sie lachen sollten. Doch sie wollten den Mann nicht kränken. Erneut wischte der Jüngere, Kämpfer Quebec, verwundert über sein Gesicht. Welch ein  irrer Dickschädel! Bald entzündeten sie sich eine weitere Zigarette.

"Er hat die feindlichen Reihen damit ohne Zweifel besiegt", sagte Milani.

"Er fürchtet weder Krieg noch Tod in der Welt, sondern liebt die Freiheit und Musik über all dem, dieser große Verrückte und ehemalige Unternehmer."

Sie genossen die Zigarette mit der nachklingenden europäischen, klassischen, leuchtenden Musik an der Zivilisationswiege der Menschheit, unter dem für Minuten scheinbar unbeschwert leuchtenden Sternenhimmel ...

 

Er war wie die vielen anderen Menschen vor dem Terrorkalifat geflohen, dachte er, aber er ist noch ein Hoffender. Das konnten sie in ihm nicht brechen. Jemand, der sich die Verbundenheit zur Welt, die Liebe zur Kunst, den freien Geist und Anspruch auf ein besseres Leben nicht rauben ließ, dachte Milani.

 In einer befreiten Nachbarstadt begegnete er kürzlich dem Buchhänder mit den wunderbaren Büchern der Welt, den Saramago und Hemingway Werken, den Essays zur Aufklärung in Frankreich um Rousseau und Kant, dachte Danyal Milani, und hier dem Alten, der die Freiheit der Welt hochhielt - an der Höllenpforte. Auch er mochte ab und an solche französische, internationale Musik und mochte das Denken und Aufbauen einer demokratischen, säkularen Gesellschaft mit Bürgerbewusstsein, ob in Westeuropa oder hier zwischen Euphrat und Tigris. Ein Leuchten an dieser Ebene und Wiege der Hochkulturen der Menschheit.

 

 "Aber es bleibt schwierig, entlang des neuen Great Game, der neuen Nahost Ordnung des 21. Jahrhunderts", flogen die Sätze des Soldaten Milani hinterher, mit der fast erloschenen Zigarette.

"Wir werden sehen", erwiderte Heval Quebec.

 "Würde die Ideologie die Säkularen und Demokraten und das Föderale wie in Europa die Macht an sich reißen, welch eine erhabene Welt wäre es, mit freien, siegreichen, achtenden, glänzenden Völkern! Ähnlich dem heutigen Commonwealth mit England, Irland, Schottland, Wales oder der Europäischen Union, unter denen es einst Todfeinde gab!"

"Das wäre es! Ganz sicher!", erwiderte Quebec lächelnd, ebenso noch immer etwas erheitert von der klassischen Musik.

Dann wieder Stille. Sie blickten über die Ebene zu den Palmen, hinter dem der Wandernde verschwunden war, und dann zu einem entfernten Aprikosenhain, der wie aus einer weiteren Fata Morgana sehr friedlich und entrückt schien. Der Himmel schien knapp über den Feldern zu schweben. Dann dachte er widersinnig: Es wird sich wohl auszahlen! Und bald werden sie wohl siegen und es sich Bahn brechen für die bedrängten Menschen. 

 

 Vom hier Geschriebenen, gab der Soldat Milani nur die wichtigsten Schritte im Vorgehen wieder, hielt es bei einem sachlichen Bericht. Doch Euch sei ein erweiterter Blick gewährt. So erreichten sie später das sehr stille Städtchen an der Mitanni Straße. Bald hatten sie auch Munition und Pistolen an einen Verbindungsmann in der Hattinstraße verteilt, und drei Munitionslager der Banden markieren können. Sie gingen an einem Haus entlang, an dem ein Mädchen weinte. Vielleicht trauerte sie um einen hingerichteten Bruder. Vielleicht um ein Opfer des Massakers in Sincar an den Eziden, wo die IS Terrorbanden auch Greise und Kinder ermordeten. Oder um christliche, liberale muslimische Opfer nahe Rakka oder Hasaka. Viel Leid und gewaltige Entbehrungen gab es hier. Zudem hatte man erst wenige Stunden zuvor einen Schwarzhändler mit Tabak und Alkohol öffentlich hingerichtet. Höllenpforte! Durch das schusslöcherige Dach der brachen Zementfabrik stachen später schließlich die Lichtstreifen der Morgensonne. Der Kämpfer Milani hatte es kurz zuvor aus der belagerten Stadt geschafft und die Operation überstanden - Quebec jedoch war nach einer Schießerei von ihm getrennt worden.

 

Noch einmal stellte er klar: Sie hätten keine 9000 Leute, die zu Selbstmordattentätern gedrillt wurden oder werden sollten, in einer Halle oder einem umgebauten Fabriklager entdeckt. Es befänden sich aber einige Dutzende Selbstmordattentäter im Nest. Der Oberstleutnant schickte ihn dann zum mehrstündigen Schlafen fort.

"Der Angriff auf die besetzte Stadt wird noch vor dem morgigen Sonnenuntergang beginnen", sagte der Bulle. Die IS-Schreckensherrschaft und Diktatur wankte woanders bereits wie verfaulende Pfähle und stürtzte zusammen. Jetzt sei das Städtchen vor ihnen an der Reihe. Milani horchte auf, reichte ihm den Bericht und ging mit müden, aber ungebrochenen und unbezwungenen Schultern fort.

  

 Später, als er fiebrig und verschwitzt auf einem Feldbett erwachte, nach dreistündigem Schlaf, dachte er an die Verwundungen, die der Krieg hinterließ und plötzlich riss ihn die Stimme Quebecs stärker in den halbwachen Zustand. Vielleicht hätte ich bei seiner Festnahme mehr machen müssen, warf er sich kurz vor. Verdammt! Wenn sie ihn foltern ... Als hätte jemand in seine Magenhöhle geboxt, drehte er sich auf dem Feldbett um und schloss wieder die Augen. 

 

Dann blickte er im Geiste auf minengesäte Plätze. Vielen tapfer Kämpfenden brachten sie bereits den Tod. In fiebrigen Gedanken erinnerte er sich an seinen gefangenen Kameraden Quebec - an einer Palme rauchend. An der weiten Ebene Mesopotamiens, am Tag zuvor. In der Ferne quollen grauschwarze Rauchschwaden über ein Fabrikgelände an der Front, näher zu ihnen irgendwo ein Hügel mit Olivenbäumen, darüber schwebten Wolken. 

 

„Der Krieg wird uns wohl töten", hörte er den Kanadier dann, "aber wenn ich wirklich alles überstehe und meine Verlobte Michelle in Quebec wieder sehen sollte."

Der Ältere sagte nichts.

"Wenn ich sie wieder sehen sollte, keiner von uns in einer dreckigen Gefängniszelle oder in einem Bombenhagel umkommt, werde ich erst mit ihr die ganze Nacht wie ein Irrer feiern und sie lieben."

 

 Der Andere sagte nichts, lächelte und hörte ihm zu.

"Ich werd auf das Wiedersehen trinken und auf einen Mann und eine Frau, die vom Krieg nicht gefressen wurden."

"Hoffentlich."

"Und wie."

"Dann musst du dich als Zivilist wie für eine kleine Gruppe mehrere Soldaten betrinken", erwiderte Milani dann.

"Das werde ich, mit Bier und Whiskey. So oft wie ich dem Tod entkam, werde ich mich richtig besaufen und wenn ich wieder nüchtern bin, mit ihr ein NBA Spiel der Toronto Rapters vielleicht gegen die Celtics oder die Los Angeles Lakers besuchen."

"Hoffentlich, das gönne ich Euch in der wunderschönen kanadischen Stadt."

Quebec lächelte.

"Danke. Da werde ich wieder auf die Raptors, auf das verwundete, aber unbezwungene Kobane, auf die Brüderlichkeit, auf dieses Städtchen hier, auf Mesopotamien, Kanada, New York, Europa, die freie, alliierte, verbrüderte Welt anstoßen - mit ein paar Flaschen Bier, Heval", sagte Quebec mit einer taumelnden Freude in den Augen. Er hielt inne.

Der Andere mochte solche einfachen Dinge ebenso, aber an so etwas zu denken, war auch schmerzlich. Vielleicht fiel jemand von ihnen. 

 

"Wir alle sind Brüder gegen die Verblendeten", sagte Quebec und rauchte.

"Die Diktatur wird vorübergehend sein", sagte Milani dann.

"Jihaaa!", rief Quebec.

Beide blickten dann zur Ebene. Der Wind flog über die Hügel und Palmen. 

  "Wenn mein ehemaliger Vorgesetzter einmal hiervon erfährt in seinem Verwaltungsbüro, wird er kein Wort glauben hiervon."

Milani erwiderte nichts.

"Er hätte bestimmt dagegen angeredet!"

"Wenn du nicht von der Sache überzeugt wärest, hättest du die Stelle in der Verwaltung nicht aufgegeben und wärest nicht hier im Kampf gegen die Banden."

 Der Andere nickte. Dann blickte er in seinem Handy nach Bildern mit Michelle, wie sie an einem kanadischen See lagen in der Tagesmilde.

 

Er blickte bald zu Soldat Milani.

"Es ist irre, dass du auch dein Büro verlassen hast", sagte Quebec.

"Es ist ein wunderbares Büro gewesen. Es darf nicht zu lange vor sich hinrotten", sagte Milani.

 In Milanis blauen Augen, an dessen Rändern Krähenfüße ästelten und links, ein Bluterguss von einem Faustschlag, einer Streiterei vor einer Kaserne herrührte, wirbelte in einem Punkt der Augen Schwermut. Sein Gesicht hatte wieder etwas der Schwermut für Momente. Quebec sah weder ein ängstliches noch das strahlende Antlitz eines Mannes, der bald das Gewehr fertig machte. So, als sähe er noch immer die kluge, nachdenkliche Seite eines Anwalts, eines Mannes der Papiere, der einst auf Augenhöhe war mit den Vertretern der Institutionen und sich fragte: Was macht der Krieg mit all ihnen?

Der Blick Quebecs streifte dann ins Land, wo der Wind heftiger aufheulte und über die Palmen flog. Scheinbar zum Himmel aufstieg wie ein mahnender, seltsamer Psalm ...

"Genug jetzt, Bruder. Der Oberstleutnant wird den geschriebenen Bericht zu unserer Operation verlangen, ehe der Großangriff losgeht", schloss Milani nur wenige Sekunden später.

Schließlich, wie bei einer Wachablösung, gab der ältere Soldat Milani die Order für die Operation Infiltration an der mesopotamischen Ebene. An all das dachte Milani zurück, als er im Feldlager lag, zwischen einem Teller mit Reis, gekochten Tomaten, Brot und einem Stuhl, auf dem seine blutverkrustete Soldatenjacke hing und an dem das Gewehr angelehnt war; ungewaschen, nach Schweiß und Staub riechend, während er auf die abenteuerliche und hämmernde Zeit blickte, in die so viele Menschen in diesen Jahren urplötzlich gesogen wurden.

 

Dann dachte er an seine Familie und spürte den Schmerz im Herzen und wollte es vertreiben. Ach! Wie bedeutsam wäre es für meine Familie und die Menschen in dieser Region in einer Zeit ohne Krieg! Sie gingen zur Fabrikarbeit und müssten keine Todeszonen fürchten. Zwischen Palmen, Überlieferungen der alten Völker der Erde, der Hethither, Mittani, Assyrer, Meder, Hellenen, dem Geist der internationalen, demokratischen Solidarität und dachte an die Arbeit in den Anwaltsbüros, Universitäten, Schulen, Städten, ohne verwaisten Schulgebäuden, ohne dem Verbannen der Vernunft, ohne Plätzen, auf denen Menschen hingerichtet werden. Das kam ihm in den Sinn, während er halbwach dalag und versuchte mehr zu verstehen dieser Zeit und dieses Krieges.

 

Aber es lohnte sich wohl - für eine Gesellschaft der säkularen Demokratie, in einer garantierten autonomen Zone für die Menschen und Völker östlich des Euphrats, in der alle Schichten eine gerechte Teilhabe am Wohlstand hatten. In der man mit der internationalen, westlichen Staatengemeinschaft und den Nachbarn in möglichst guter und fruchtbarer Korrespondenz stand, ohne verdammten Kriegen. Und ich, ich könnte dann meine Kanzlei wieder eröffnen und nach dem Dienst zu Frau und Kind, nicht mehr zur Front des Feuers! Wenn ich bis dahin nicht falle, werde ich vielleicht einmal Quebec und dessen Frau einladen. Geprüfte, leidliche Seelen! 

 

Als die Sonne über Mesopotamien aufstieg und das Ultimatum bereits mehrere Stunden abgelaufen war, startete die Befreiung des Städtchens durch Anti-IS-Kräfte. Es erfolgte durch amerikanische Jets, französische Unterstützung und die stets vorne tapfer kämpfenden Anti-IS-Einheiten: vor allem die SDK-Kampfeinheiten mit Kurden, Arabern, Assyrern, solidarischen Europäern aus Paris, Bremen, Athen und Barcelona, dann die internationale Lions of Rojava-Brigade und Peschmerga. Die Flieger bombardierten und die Soldaten rückten näher zur Hölle der IS-Nester. Prasselnde Salven. 

 

 Teils hinter Schützengräben, Erdhügeln, Fässern geduckt, auf die sichtbaren und vermuteten Feindesstellungen, irgendwo zwischen finsteren Flaggen, Kommandobüros und Kalifats-Schriftzügen an den Wänden. Der Soldat Pirbal war glücklich mit der deutsch-französischen Milanwaffe, womit er sechs gepanzerte Dingos ausmerzte. Die Befreier jagten nach der verflucht effektiven Welle der Luftangriffe und dem prasselnden Donner schon bald näher heran, wieder flach niederwerfend, feuerten zwischen einem quergestellten Lastwagen und einer Mauer auf die Feindstellungen. Wenige Stunden später, mit dem Einschlag von etwa neunundfünfzig alliierten Bomben, durch amerikanische, französische Jets geflogen und dem tapferen Vorpreschen der Anti-IS- Einheiten war das Städtchen komplett befreit. Kein den Krieg beendender vollständiger Sieg, aber eine Eroberung, die die Alliierten stärkte.

 

Dennoch galt auch jetzt eine Heidenvorsicht! An einem präparierten Kühlschrank gab es eine Explosion. Verwundete, Gefallene. Das Gefängnis des Städtchens war zu Teilen zerbombt worden. Die Tapferen und Brüder hatten gekämpft und hier, wie 70 Jahre zuvor gegen den faschistischen Nazi-Totalitarismus in Europa, dachte Milani, nun hier die modernen, wahnsinnigen Verwaltungsstrukturen und Militärpunkte des IS-Faschismus gebrochen. Ein Bund der freien Welt gegen das Bösartige der Moderne! Hier gegen die theokratische Diktatur, dachte der Soldat und frühere Anwalt Milani, der ebenso über die Nachkriegsära grübelte und die wartende Phase der Konsolidierung der säkularen und demokratischeren Strukturen und Rechtsstaatlichkeit. Dann gab es natürlich die Sorge um seinen Bruder aus Kanada. Was war mit Quebec geschehen? Ein weiterer Toter?

 

Die Auflösung zu Joshua Quebec erfolgte erst fünf Tage später:

Bekannt wurde, dass der Mann sich aus der Zelle hatte stehlen können, wie ein Leopard aus einem verbreitenden Feuer. Noch mit den ersten niederprasselnden Bomben in der Morgendämmerung auf einen Teil des Gefängnistraktes. Die Folter hatten sie wohl für den Mittag  angesetzt. Es hatte einige glühende Zigaretten und Tritte gegeben. Der tapfere Bruder hatte aber nichts preisgegeben. Niemanden im Städtchen denunziert. Er hatte lediglich zwei, drei Tritte kassieren müssen von einem blondhaarigen IS-Mann mit schweizerischem Akzent; zudem eine ausgelöschte Zigarette am Hals. Stunden später wäre es sicherlich anders gekommen.

 

So hörte man also fünf Tage später am Tisch des kurdischen Oberstleutnant, der mit dem Bürgermeister des Städtchens zusammen saß, Kaffee trank, neben einem kanadischen und französischen Offizier, immer mehr zu Joshua Quebec und dessen Abenteuer.

Der kanadische Kämpfer habe sich bei der Bombardierung in eine geisterhafte Zementfabrik oder Zuckerfabrik durchschlagen können. Dort hatte er jedoch nicht lange ausgeharrt - bei all dem seltsamen Regen vom Himmel. Er sei dann mit seiner Aufklärungs- und Ausbruchsgeschichte an einen unweit befindlichen Posten im nordsyrischen Rojava oder der Autonomen Region Irakisch-Kurdistan gelangt, der ihn aber zunächst als Schwindler abtat und die Vorgesetzten informierte, ehe sich alles unter den Augen des bulligen Oberstleutnants wieder zusammenfand. Verwundert und freudvoll bestätigte er die Nachricht des Nichtgefallenen. 

Quebec brachte dabei auch noch Licht in das Gerücht der 9000 Gefangenen, die gedrillt werden sollten. Demnach hätte ihm ein Wärter, der aus Lybien stammte, vor einem Jahr noch als Arzt in einer Stadt in der Niederlande arbeitete, gesagt:

Wahrhaftig hätten sie dort über eine Zahl von 90 Selbstmordattentätern verfügt. Im Reich jedoch zu einer verhundertfachten Zahl wachsen lassen; ein Kriegsmittel, ein psychologisches taktisches Manöver, dass Schrecken und Furcht in den Reihen der Anti-IS-Allianz schüfe wie eine Feuerwelle, so der Wärter und bis zu den Küsten des Atlantik und Pazifik für ungemeine Furcht sorgen würde. Doch die Zahl der 9000 Gedrillten wäre nichts weiter als ein ins Feld geführter blanker Schwindel gewesen.

 

Schließlich besprach der Oberstleutnant mit dem einst geflohenen und nun zurm Wiederaufbau bereiten Oberbürgermeister. Er hatte von zunächst knapp 160 geflohenen und wohl bald wieder zurückkehrenden Familien berichtet, von Begräbnissen, schweren Opfern, aber auch der Hoffnung, der großen, leuchtenden Hoffnung nach den Siegen über die Zivilisationsfeinde - dann weiter über die anzugreifenden Schritte nach der Rückeroberung:

Unter anderem war ein Bittschreiben an Minenräumer in der nächst größeren Stadt gesandt worden, die sich darum kümmern wollten, mit Minenräumungsgeräten, welche von der internationalen Anti-IS-Allianz gestellt wurden. Ein anderer Auftrag richtete sich nach dem Sieg der Menschlichkeit und dem der Demokraten an die Zementfabrik "Rebuilding Mesopotamia". Die Fabrik sollte zunächst - in einer ersten Lieferung von etlichen - 20  Kubikmeter Trockenzement hertransportierten: Für neue Schulen, Häuser, Gesundheitszentren, neben der zu schaffenden Stromversorgung, für die Mittani Straße, für die Reifenfabrik im kleinen Industrieviertel, Universität und die Verwaltungsbüros. Endlich blickte man in ein befreites Land für den Wiederaufbau des Städtchens. Endlich unter einer Sonne und an einer Ebene, die aus den Händen der Geblendeten, der Tausend Brandstifter gerissen worden war, die wieder mit hoffnungsvolleren Augen anzusehen waren. Das war der Plan.

 

Dann brach der Bürgermeister auf, denn er empfing einen Minister aus Brüssel, der nach Nordmesopotamien geflogen war und von dort her, nahe der sehr alten, majestätischen Zitadelle aufgebrochen war, um den Wiederaufbau der befreiten Städte und Ebene in Mesopotamien, in Nordyrien, im Nordirak zu besprechen, während der Oberstleutnant weitere verbündete Offiziere der Welt an den Tisch holte. Dabei die Belagerung der nächsten gefangenen Stadt besprach, diesmal noch weiter in Stoßrichtung eines Staudamms.

 

Als er später aufstand und seine Militärjacke aufknöpfte, kam eine junge Frau hergeeilt. Sie reichte ihm eine Einladung des französischen Philisophen, der seinen Film "Widerstand der Zivilisation" im stark zertrümmerten, verwundeten, aber siegreichen Kobane präsentieren wollte. Unweit einer jüngst begründeten Universität und Filmakademie mit freien Frauen und Männern und wieder arbeitenden, lärmenden, teils zertrümmerten und stolzen Brotfabrik, wie er schrieb ... Doch der Mann sagte nicht viel. Er schickte das Mädchen vorerst fort und schritt weiter zum Posten mit den Sandsäcken, Scharfschützen und zwei herumliegenden Wasserkanistern. 

 

Dann schloss er kurz die Augen, als ihm die weiteren etlichen Opfer von Kämpferinnen, Kämpfern und Zivilisten in Gedanken empor schossen. All das wegen einer beabsichtigten und doch immens opferreichen Neuordnung des Nahen Ostens - und er blickte über den Tisch mit der Landkarte in die Ebene und versuchte Minuten auszuruhen, jenseits dieser Zeit und immensen Brände, und blickte bald wieder in die Ebene, und führte sich skizzenhaft die Phasen der Eroberung der nächsten vom IS belagerten Stadt vor Augen. 

 

© Deniz Civan Kacan

 

  

 

 

 

 

 

 

Impressum

Texte: Denis Civano
Bildmaterialien: -
Lektorat: -
Übersetzung: -
Tag der Veröffentlichung: 03.02.2013

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