Cover

Die Leoparden und die neue Stadt

 

 

Wohl zum späten Frühjahr sollte einer der Leoparden wieder, ähnlich einer prächtigen, gelungenen Zollausfuhr, an einen Park in Spanien, Belgien oder Kanada verkauft werden, vermutlich steckte man in abschließenden Verhandlungen, dachte der Mann, der neu in der Stadt und im Land war und nach den Arbeiten in der Scheune und vom Büro des Direktors oft am Areal der Leoparden vorüber ging. Er ruhte sich dann auf einer nahen Bank aus, rauchte eine Zigarette und versuchte sich nicht runterzumachen. Denn es gab schon Dinge, die einen Menschen, der neu in einem Land, in einer neuen Stadt in Nordeuropa wohnte, herunter kriegen konnten.

 

 Daneben gab es auch Geparde. Man hatte sie aus Afrika mit einem Langstreckenflieger, der mit den Kisten, in denen die Raubkatzen auf die Fremde wartend und betäubt schliefen, beladen war, zunächst nach Nordosteuropa transportiert und von dort in diesen Tierpark in Nordwesteuropa in großen Lastwagen hergebracht, fast wie vor einer bevorstehenden, langen Auszehrung und milden Schlachtung, ohne Panik.

 

Die Besucher konnten bei ordentlichem Wetter, wenn es nicht stark regnete und die Winde peitschten, der Schnee nicht sehr stark stöberte und tobte in diesen Januartagen, in den Außenanlagen unter anderem die vier Junggeparde und das Muttertier beobachten. Im naheliegenden Gehege gab es auch drei Tigerwürfe. Die Tierwächter, die da mit sehr billigen und auch beleidigenden Löhnen arbeiteten, informierten sie darüber. Aber wenn man das Restaurant mit der Terrasse hinter sich ließ, den Zookiosk und bald das Gehege der Damara-Zebras, Elefanten, äsenden Axishirsche und Geparde nicht mehr sah, die hier nicht, wie teils im fernen Krieg an den Hinterbeinen aufgehängt wurden, konnte man die Außenanlage der Leoparden erreichen. Der Neue in der Stadt, der Hoffende, der Fremde, der neue Arbeiter, ging also hin und wieder dorthin, zündete sich eine Zigarette an und versuchte an kommende, bessere Tage in diesem Teil der Welt zu denken.

 

Die Judowettkämpfe in der Mittelgewichtsklasse, die er zuletzt bei einer Judoveranstaltung in der weiter nördlich liegenden Großstadt in der Arena gesehen hatte, hatten ihm gefallen und machten das Leben in der Fremde menschlicher, einfacher,  vielseitiger.  Willensstarke und technisch kluge Kämpfer hatte er gesehen. Auch ein ehemaliger Europameister hatte bei dem spektakulären Event auf der Matte gekämpft, wenngleich er verlor. Das war einige Zeit her. Jetzt gab es nicht genug Geld für einen neuen Judoevent. Dafür war der Lohn seiner Arbeitsstätte zu karg und gering.  

Dann gab es auch die Südamerikarin Rebecca, die er öfters besuchte. Das waren die besseren Dinge in der schönen und feindlichen Fremde, dachte er oft. 

 

Manchmal telefonierte er mit der Familie und schickte - auch wie von einem verbannten und beinahe überschätzten Posten und Vergessener - Briefe in die frühere Welt. Im verschmutzten Overall schrieb er einen Brief mit einem Europa Flaggenzeichen an seinen Bruder, der Soldat in dem anderen, weiter entfernten Land war, unweit der Hauptstadt und erkundigte sich, wie es der Familie und ihm ginge, ob er die Patrouillen gut überstünde oder sie auch jetzt bluten müssten wie einst in Kriegstagen. Er berichtete auch vom Sportevent und von der Hoffnung auf bessere Tage... 

 

Dann schrieb er eine Karte an ein Mädchen aus der fernen Hauptstadt, die er auch mehrere Wochenenden mit sehr netten, zweisamen Stunden traf, doch die dann irgendwann auf wirkliche Ärzte flog und es beließ mit ihm. Dafür hatte sie keine Zeit.

Ansonsten hatte der Direktor des Parks allerlei Beschäftigungen im Lager oder der Scheune für ihn, in diesem neuen Land, die ihn manchmal schon ermüdeten und heruntermachten, ebenso im Hinterhof des Ladens, wenn Tabaklieferungen, Kaffee, Brote, und all die Lebensmittel für den Laden der Anlage und Waren für die Tiere herangefahren wurden und er sie hinein schaffte und die Arbeiten erledigte.

 

Aber all das, an dieser neuen Arbeitsstätte, war ja nur ein Übergang. Er war in einer neuen Stadt und wirklich Hoffender. Es war ein Übergang im Leben, ehe er als Arzt arbeiten würde. Es gab einen sehr schlechten Lohn, der Direktor beleidigte ihn oftmals, aber es würde nur ein Übergang sein und das Bessere warten ...

 

Solange wollte er noch trotz schwieriger Bedingungen im Tierpark arbeiten, in die Heimat telefonieren, an die Familie im ehemaligen Kriegsgebiet des scheinbar noch weiter gerückten Landes schreiben, als Arbeiter vorerst sein Geld verdienen und seine Zukunft ebnen, damit er einmal als künftiger, hervorragender Arzt arbeiten könne. Bald würde er wieder Medizin studieren an einer Universität in einer der im Einzugsgebiet liegenden Großstädte. Der Hoffende und Fremde watete nicht schnell an diesem Montagnachmittag über den verschneiten Besucherweg. Obwohl der Direktor nach ihm gerufen hatte. Dieser oftmals dickfellig und beleidigend auftretende Mann nach ihm gerufen hatte, dachte er. Der Direktor rief sie zuletzt, beim Erstellen des wöchentlichen Dienstplanes in seinem Büro, zur härteren Arbeit auf. Denn die Besucherzahlen wären grässlich und gingen zurück.

 

In knapp zwei Stunden, um 17 Uhr 30 also, würden die Tore und Kassen zum Park schließen. Jetzt war der Mann, der noch nicht lange in der neuen Stadt war, auf dem Weg zum Direktor. Er war mittelgroß, hatte in den letzten Monaten etwas zugelegt an Gewicht, ein stämmigeres Gesicht bekommen, hatte braunes, glattes Haar, obwohl er nicht älter als 26 Jahre war, graue Stoppelansätze an den Schläfen und mit diesen wies er ein karges, älteres, gewichtigeres Profil. Für Außenstehende konnte er auch als früherer Ringer oder Boxer durchgehen. Und die grauen Haaransätze und das wortkarge, distanzierte Auftreten hinterließen zudem bei den Touristen den simplen und beirrenden Eindruck, er sei älter und auch erfahrener im Umgang mit den Geparden, Leoparden, Reptilien und dem Verwaltungsbetrieb dort. Worüber er sich oft amüsierte und dann lächelte, wenn er erklärte er sei ein Neuer in der verschneiten Stadt, im Land, ein bald wieder angehender Medizinstudent und künftiger, großartiger Arzt, der sich im kriegserschütterten Land in der Ferne nicht brechen lassen wollte - ein wirklich Hoffender in einer neuen Stadt.

 

Er war hierher aus einem südlicheren Land aufgebrochen und hatte seine hohen Ziele mit sich gebracht. Ursprünglich hatte er sich an dortigen Universitäten für einen Weg zum Arztsein ausgesprochen, doch der Krieg brach aus und tötete und verwundete die Menschen, zerstörte die Straßen, Kasernen, Wohn- und Ärztehäuser, die Gärten mit den wundervollen Bäumen, die Tomaten- und Rosenbeete der Menschen, und die Banken waren zerschossene Gebilde - ein surreales Abbild einer Stadt wie einem finsteren Dali Bildnis entnommen. Doch er hielt seine Hoffnung hoch, wie ein Flieger oder Reisender, der über dieses Kriegsland hinabblickte und den Zielhafen in einer friedlicheren Region ansteuerte, hoffend, nicht vergessend und mit einer verwundeten und ungebrochenen Seele.

 

Sein jüngerer Bruder schrieb ihm bald. Dieser war Soldat in der Armee seiner Geburtslandes, er wollte hingegen Arzt für innere Medizin werden. Er hatte parallel zum Medizinstudium für mehrere Wochen ein Praktikum in einer Arztpraxis ergattert, bei einem Doktor, der der Vater eines Freundes aus der Schulzeit war, dann hatte er sich als Verkäufer von Textilien und Lampen und auf einer Baustelle sein spärliches Geld verdient, aber der Krieg hatte die Wirtschaft mit einem mörderischen Puls ruiniert und das Geld verdienen mit regulärer Arbeit sehr schwer gemacht, und so hatten der langjährig praktizierende Arzt und auch er selbst, nachdem er sein Medizinstudium abbrechen musste wegen des Krieges, schließlich den Weg in die Fremde gesucht. Der Krieg verriet so viele Unschuldige, dachte er, aber die Hoffnung im Herzen verriet ihn nicht und er sie auch nicht.

 

Er hatte Hoffnung und eine weite Freiheit im Herzen. Er dachte nun auch an die Aufbrechenden in der Welt, an die Wolken am Himmel, die für alle Schauenden auf der Erde gleich waren und auch an die Vögel die er auf dem Mauerdach des Geländes erst vor Minuten sah, so oft sah, die ihre Freiheit für Entscheidungen hatten, so wie er selbst dem Krieg entkommen und den Raum hatte, um selbst das Gute, Erhaltende oder ihn Erhebende zu wählen im Leben. Das war eine eingeengtere Form von Freiheit, dachte der Mann der neu war in der Stadt, aber die prächtigen Leoparden hatten die demütigende Fläche des Areals, eine verspottende Vorgabe der Freiheit. Es war eine beleidigende Fläche von Leben und Auslaufen für diese Geschöpfe. Wie sahen sie es wohl beim Blicken in die Himmel, zum Licht der Sonne und dem Terrain fern der Mauer, bestimmt wussten sie darum, beim Blick zu den silbernen Wolken, zum Felsen und Wasser und den Tierwärtern? Aber dennoch behalten sie ihre Kraft und ihre Würde, diese demütigende knappe Fläche brach nicht ihre Würde, nicht ihr Wesen, auch wenn dieser knappe Raum sie beleidigte.

 

Und wenn er darüber nachdachte, machte es ihn plötzlich nachdenklich, denn er hatte nicht die Position und Macht, sie daraus zu befreien. So wie er im Krieg manches sah, was ihm seine Grenzen aufzeigte, dachte er, und so sah er es auch bei diesen gewandten, würdevollen Wesen. Dafür bündelte er die Kraft für sein Vorhaben, etwas Besseres und Würdevolles im Leben aufzubauen und das brauchte seine Konzentration seinen Willen, vielleicht die Schlagkraft eines Straßenkämpfer oder Schwimmers im unsteten, schönen und listigen Strom der Fremde, dachte er. Da hatte er Hoffnung und Mut im Herzen für seinen Weg.

 

Es gab gute Dinge, die warteten. Hier würde er nicht dem finsteren Krieg begegnen und sich auch nicht auf ein Gangsterleben einlassen müssen. Er wusste von einigen Schulfreunden, die sich im Schatten des Krieges auf den Zigarettenschmuggel verlagert oder auf Raubzüge eingelassen hatten, wo Autos, Uhrengeschäfte, Juweliere in anderen Städten monatelang ausgespäht wurden wie von einem Geheimdienst. Aber er wollte nicht in Haft kommen, es mit dem Arztwerden in einem anderen Land schaffen. Wenngleich er kein Unschuldslamm war und ebenso bei zwei Übergaben Zigaretten geschmuggelt hatte, aber das beließ er dann. Das Gangsterleben überließ er den Anderen, das Militärleben dem Bruder. Etwas Ruhm als Arzt, malte er sich aus. Ab dem Herbst konnte er sich wohl an einer Fakultät in einer nordeuropäischen Stadt einschreiben. So wollte er in der Zwischenzeit sein Geld mit der Arbeit im Lager, mit Brotlieferungen, Wareneinteilungen verdienen. Auch wenn der Direktor, so sagte er sich, das Auftreten gegenüber ihm als neuem Mitarbeiter wie das eines unverschämten Verwalters und Ausbeuters hatte. Zweifelsohne war so manches Tier ihm höher und dem Menschen näher und gütiger, dachte er. Dafür würde der Direktor aber schon einmal die Rechnung erhalten. Aber er wollte sich mit den Verflechtungen von neuem Land, Arbeit, seltsamen Löhnen, einigen Abenteuern und Herausforderungen stellen. Immerhin gab es keinen grausamen Krieg, der über alle Toten, über zerschmetterte Krankenhäuser und Wohnsiedlungen spottete. Mit solchen Vergleichen fiel ihm die Arbeit im Schnee und in der Fremde einfacher und dachte er an Besseres.

  

 Schon einige Monate zuvor hatte er in der südeuropäischen Siedlung begonnen, die klangvolle, nicht immer einfache, aber doch auch hübsche Sprache des neuen Landes im Nordwesten Europas mit einem Sprachenlernpaket, samt einem gebrauchten Wörterbuch, dass sein Vater ihm per Post zugeschickt hatte, zu erlernen. Sein Vater hatte einst Ingenieruswesen studiert, doch musste wegen der bombadierten, ausradierten Fabrik und der anderweitig ausbleibenden Anstellung nach dem Krieg und dann wegen Seilschaften, die ihn nicht berücksichtigten, das Land der Vorväter verlassen. So arbeitete er irgendwann in einer Metallfabrik im Nordwesten des Kontinents. Das Wörterbuch nahm der Neue in der nun verschneiten Stadt, auch oft mit zur Arbeit im Tierpark, er wollte die Sprache schnell beherrschen. Es waren jetzt ebenso ihn prüfende Wochen, dachte er. Im Tierpark arbeitete er für magere 3,89 Euro (in den ersten drei Monaten) und 4, 29 Euro pro Stunde (nach dem vierten Arbeitsmonat). Es wären unverschämte Löhne für jene Verhältnisse, hörte er. Er hatte keine Scham diese jedoch auszuzahlen. Der Direktor hatte jene schmutzigen Löhne sicherlich bestimmt, dachte er. Aber er war froh, wenn er daran dachte, einmal Arzt zu werden, ein großer Arzt, der vielleicht auch in der Welt herumkam, dass er dort nun lebte und der Krieg nicht den Tag und die Nacht mit dem Mond, nicht die Fabriken und das Universitätsgelände mit den hellenisch geprägten Steinskulpturen wie im früheren Land, mit begleitenden irren Geschossen fraß. Dieser künftige Ruhm als Arzt schmälerte den Zorn und ließ ihn den Dreckslohn verdrängen, manchmal trank er auch Wodka, Rum, viele Flaschen Bier, und dachte an andere Dinge und schob es von sich fort, wie einen Zettel mit üblen Begriffen, die zunehmend Negatives und Dispektierliches in seiner Assoziation schufen, und den er in eine Schublade eines Schreibtischs schob.

 

Er hatte viel Hoffnung. Außerdem war er froh, dass er einiges des Geldes beiseite gelegt hatte und es neben den abgetragenen Arbeitshemden, der Seife, den Strümpfen, sowie dem Rasierer in einer Box verpackte. Grundlage für sein weiteres Medizinstudium und künftiges Ärztedasein in Nordeuropa, dachte er. Er hatte an einem freien Tag auch ein niedliches Mädchen in das italienische Eiscafe San Marco eingeladen, aber es verlief sich bald. So arbeitete er sehr viel und legte das Geld beiseite.

 

Nur an einem Mittwochabend brach er in der neuen Stadt sein Vorhaben und mit der Enthaltsamkeit. Der Grund hieß: Rebecca, eine sehr schöne und leichtbeinige Chilenin. Eine sehr hübsche Hure aus dem Haus an der Lissabonstraße. Dafür besuchte er die Villa in der Bahnhofsgegend. An jenem Abend hatte es draußen geregnet. Es war ein angenehmer, frischer Regen, erinnerte er sich. In die erste und zweite Etage stieg er hinauf, die nach billigen, umschlingenden Frauenhüften und süßlichem Parfum rochen. Dann stieg er wieder hinab in den ersten Stock der Villa. Bald hielt er wie ein Hahn an der Tür der Chilenin Rebekka. Sie gefiel ihm sofort. Wie ein ewiges, betörendes Götzenbild betrachtete er sie. Als er zuvor den Flur wiederholt entlang lief, sprach sie ihn mit übereinandergeschlagenen Beinen an. Der Preis war in Ordnung, die Hüften einladend und kräftig, aber nicht dickleibig. Sie war eine grandiose, weibliche, fleischige Begierde und schien es wert.

Sie hatte pralle, hellbraune Brüste. Einen Ponyschnitt, rote Lippen, eine feine Nase und zwei Muttermale an der linken Wange. Mit grünbraunen Augen und einem hübschen Profil musterte sie ihn oberflächlich, dachte er. Bald küsste er ihren Hals, küsste ihre billig parfümierten, hellbraunen Schultern noch vor dem Bett und vergnügte sich bald ganz. Auf dem Rückweg ärgerte er sich kaum über seinen gebrochenen Schwur. Die Hure Rebekka war doch sehr nett gewesen. Zumindest hatte er den Großteil seiner Löhne beiseite gelegt für seine Pläne in dem neuen Land. Pläne, Träume, dachte er, die nicht in der Schublade eines Verwaltungsangestellten, der ihn übersah oder eines ausbeuterischen Arbeitgebers, wie diesem Hund, enden sollten.

  

An diesem späten Nachmittag watete er weiter über den teils platten Schnee zum Büro des Direktors. Den Kragen seines Anoraks presste er enger an seinen Hals. Am weißen Kieswegrand lagen an manchen Stellen abgebrochene Äste der Walnussbäume. Er musterte einen Lastwagen, der in eine Seitengasse schwenkte und zum Lager vorfuhr. Der Lastwagen rutschte über die schräge, glatte Auffahrt wie über eine knappe Eisbahn. Bald rollten seine Augen zu den Tierwärtern, die hinabkletterten. Die beiden Tierwärter luden zwei Karren die Rampe hinab. Darin lagen geschossene Kaninchen und mehrere Kästen mit toten Hühnern, die in den großen Raubkatzengehegen ausgelegt werden sollten. Sie rollten die Karren zu einem Schuppen, in dem er in den vergangenen Tagen bereits Säcke mit Futter gelagert hatte. Der Hoffende, der Sohn des Fabrikarbeiters, klatschte seine kalten Hände mit scheuem Trotz zusammen und nahm die Weggabelung zum Verwaltungsgebäude.

 

Es war ja nur ein Übergang bei diesem Hundesohn und der Weg zum angesehenen Arztdasein. Er würde dann herrlich verdienen und diesem Ausbeuter ins Gesicht spucken oder ihn ohrfeigen, dachte er mit der ehrlichen Wut eines Mannes. Denn der Lohn bedeutete, dachte er, für jeden, für jeden Mann in Nord- und Südeuropa, ob für seinen Vater, den ehemaligen Ingenieur und Metallfabrikarbeiter, für einen Arzt, Arbeiter oder Hauptmann jedweder Stadt: Anerkennung, eine gute Wohnstätte, Brot, Stolz, Würde, einen sauberen, sicheren Gesellschaftsplatz, die Zufriedenheit, Achtung, Schlaf ohne Elend, ein gutes Auto, einen sicheren Weg im Leben mit weniger Leid oder bei bleibender Ungerechtigkeit das Versinken in der messerwetzenden Moderne ...

 

Er kam an einem Kleinladen entlang, wo Menschenstimmen wirbelten über den Schnee. Er stapfte weiter durch den wieder dichter werdenden Schnee. Der Direktor wartete auf ihn. Danach ginge er zum abgelegenen Gehege 43 mit den Leoparden. Eine Zigarette watete ebenso. Seit einigen Wochen war das Leopardengehege von einer verschneiten, schattigen Umzäunung gesäumt. Einer der Leoparden sollte bald verkauft werden, dachte er bald an die aufgeschnappten Gerüchte. Der Direktor hätte demnach mit einem Vertreter eines spanischen Tierparks alles Geschäftliche abgewickelt. Es war hübsch in dieser Zeit, die gewandten, stolzen Raubtiere noch vor den Felsen zu beobachten, denn bald wurden sie für den richtigen Preis und zu den vom Direktor bestimmten Konditionen in ein anderes Land transportiert. Weiter stapfte er durch den teils pulvrigen Schnee, wechselte auf die flach gepressten Linien des Besucherpfades, wo er besser ging. Der Direktor saß im Büro. Die nächsten Monate schienen ihm für Augenblicke labyrinthartig, bedeutend, zerrissen. Nach einer Weile näherte sich der Mann dem Büro des Direktors. Ein Schwall der Wut breitete sich in seinem Blut aus. Der Direktor war mit seinen Wocheneinsatzplänen, die er an jedem Freitag für die Angestellten aufstellte, unausweichlich. Im Büro argwöhnte schon die Stimme des Direktors ...

 

Er klopfte an der angelehnten Tür, trat bald ein.

„Hallo.“

„Da bist du endlich.“
Er blieb nahe der Tür.
“Gut, dass du da bist“, sagte der Direktor und kam gleich zu einem wichtigen Anliegen. „Wir müssen wahrscheinlich auch die Gesundheitsstammdaten des hellgefleckten Leoparden herbei holen, denn es gibt nach dem Interesse an dem dunklen Leoparden, jetzt auch Interesse aus einem Park in Luxemburg und einem Reservat in Südamerika an dem zweiten Leoparden, die sehr gut bezahlen wollen“, sagte der Direktor vor sich hin, während er vor einem Regal mit Akten und einem Plakat mit einem Wolfsrudel vorbei schritt. Vor dem Wolfsplakat blieb er stehen.

„In Ordnung.“

„Gut.“

„Ich wollte mit Ihnen über einen Vorschuss sprechen, ist es möglich ein --.“

Der Direktor unterbrach ihn.

Der Tierwärter spürte eine üble, fast gewohnte Spannung, aber der Kreislauf aus Dienstpflicht und aufdrängender, ungenierter Manier des Direktors rissen den Moment an sich.

„Was würdest du ohne meinem Büro machen?“, warf der Direktor ein. „Du könnten nichts machen in einem neuen Land", sagt er.

Der Andere spürte den Widerwillen heftiger im Blut. Er hatte sich bislang zurückgehalten.

 

Der hagergesichtige Mann mit der Glatze, den ganz dünnen Lippen und den braunen, gehässig blitzenden Augen, sagte es ihm mit einem unbewegten, roten Punkt im linken Auge und unbewegten Klang in der Stimme, so wie er ihnen, während er ihnen ins Gesicht schaute, das Geld stahl und dem üblichen Mindestlohn ausgewichen war mit falschen Pausenabzügen, die er als Vorwand für seine Ausbeutung in den Vordergrund stellte, obgleich er zwischen zehn bis zwölf Stunden oftmals arbeitete.

„Natürlich brauchst du deinen Lohn, aber die anderen auch, nicht wahr?“, fragte er laut und blieb unbewegt nun hinter dem Schreibtisch stehen.

„Heute, ich brauche heute wie zugesagt meine Lohn, Herr Direktor.“

Der Mann erwiderte nichts. 
„Du kriegst ihn nächsten Montag“, erklärte der Direktor.

„Sie hatten mir für heute zugesagt.“

„Wir hatten schlechte Tagesumsätze“, sagte er.

„Es ist wirklich sehr wichtig.“

Der Direktor sagte nichts.

Ich könnte die Miete heute und Fahrtickets für den Zug problemlos bezahlen. Das Brot kaufen, dachte der Hoffende, mit unterdrückter Wut. Wenn er erst nächste Woche auszahlt, wird es alles schwierig. Öfters hatte er Teile des Lohns verspätet oder mit gestohlenen Abzügen nachgezahlt.

 

„Ich kann dir heute nichts ausstellen“, sagte der Direktor, schon nicht mehr aufschauend, während die Rasanz einer Abfälligkeit in seinen Augen aufglühte und auch beim Zuwenden des Gesichtes noch nicht erlosch. Er holte eine Schachtel von Reißnägeln neben einem Barauszahlungsbeleg und einer Kasse, aus einem Schubfach hervor. Der Tierwärter unterschrieb keinen Barauszahlungsbeleg oder dergleichen.

Er steckte Dokumente zusammen. Es sah nach der Sache mit den Leoparden aus.

„Das ist es soweit“, schloss der Direktor.

Der Mann hörte es und wusste, was er tun würde, endlich tun müsste. Bald verließ er wortlos das Büro. Durch den Schnee watete er zurück zur Scheune, wo er Arbeiten zu Ende bringen wollte. Zornig dachte er an das stete, abfällige Kräuseln an den Mundwinkeln des Direktors. Für Momente schien der Zorn überhandzunehmen und ihn zurück zum Büro zu bringen, wo er den Mann ohrfeigen würde oder auch Fäuste fliegen würden. Aber er blieb verstummt und schritt weiter durch den Schnee.

  

Es war ja ein Übergang, redete er sich zu. Es gab zumindest keinen Krieg, keine Bomben, die Autos, Straßen zersprengten, wo Zivilisten verbluteten. Keine blutrünstigen Monate. Er dachte an sein schönes Geburtsland, die einst intakten Sortplaetze, schönen Bäume der Wohnallee, die Blumengärten im Schwimmbad, nie sah er solch ein Schwimmbad mit prachtvolleren Blumenanlagen, das Trinken eines Tees oder manchmal auch Biers in der Sternennacht auf dem Dach mit einem Mädchen, bei noch herrlichen Temperaturen, dann an die Höllenjahre und brennenden Städte, die der widerliche Nationalismus erzeugte. Vorüber die besseren Himmel. Einst waren sie Teil des Osmanischen Imperiums mit dem Millet Verwaltungssystem, man genoß Autonomie gegenüber der Hohen Pforte in Istanbul und erkämpfte sich dann die Freiheit. Doch dann vergiftete ein hässlicher Nationalismus die Region, arme Völker, arme Generation in solchen Höllenjahren!

 

Stillstehende Fabriken. Und die Zigarettenschmuggeltouren waren natürlich nicht geeignet für eine sichere Zukunft. Es gab uns nicht genug, die einst zerstörte Universität, diese Jahre gaben ihm dort nicht die Chance als großartiger Arzt zu wirken. Dafür war er hergekommen. Viellleicht würde er einmal als Arzt in beiden Ländern arbeiten und etwas anstoßen können, wer wußte es schon. Erst warteten die fremden Wege ...

 

 Es wurde allmählich dunkler. Bald kam er zu einem Transporter vor einem Holzschuppen. In der Dämmerung arbeitete er bald angestrengt vor dem aus groben Latten, in unregelmäßiger Breite gefertigten Holzhaus und verlud Waren vom Transporter ins Lager. Er bewegte seine Finger immer wieder kraftvoll und bewusst in der derben Januarkälte. Seine roten Handrücken klapperten und rieben ab und an gegen seinen Overall. Bald zog er seinen Anorak wieder über, hob die Kapuze über den vorderen, stoppeligen Haaransatz. Der Schnee klebte wie schmutziges, nasses Mehl an seinen Hosen, Ärmeln und fast eisigen Händen. Schließlich beendete er die letzten Aufräumarbeiten innerhalb des Lagers. Es war mittlerweile 17 Uhr 40. Der Park sollte schon geschlossen sein, dachte er.

 

Die Dämmerung streute ihr mageres Licht über die Außenanlagen und er machte sich zum Gehege Nummer 43 mit den beiden Leoparden auf. Er ging über den verschneiten Pfad. Es war sehr kalt und er stapfte knöcheltief im Schnee. Der Schnee war glänzend. Langsam stieg er mehrere verschneite Stufen hinauf und überquerte dann einen Brückensteg, der über einen Bach führte. Er hielt und sah in der Entfernung, wie der Rauch aus dem Schornstein des runden, grauen Parkkiosks kräuselnd stieg. Der Schnee darüber wurde von einer Böe durcheinandergewirbelt. Auch im Kleinladen schloss das Personal die Kasse und schob das grüne Metalltor zum angegliederten Schnellrestaurant zu. Er watete durch das Laternenlicht und den Schnee. Man hörte den pfeifenden Wind. Bald gelangten auch die letzten Kinder, Frauen und ein älterer, hustender Mann über den matschigen Ausgangsbereich direkt zum Haupttor.

 

Der einstige Medizinstudent watete weiter über den Besucherpfad zum Gehege mit den Leoparden des Stadtparks, die bald wohl verkauft werden würden. Der Weg wurde stiller. Der Schnee dichter, kalt und gehässig. Er überlegte kurz, wann er die Wochentickets für die Züge, die ihn zur Arbeit brachten, in der Bahnhofshalle verschaffen sollte. Zwischendurch fiel Schnee. Der Hoffende ging, ging statt auf dem Bordstein, schneller und besser auf dem dünnen, schmutzigen, von den Reifen der Lastwagen hart gepressten und besser begehbaren Schnee des Besucherpfades. Bald durchquerte er das breite Hauptdrehtor und beeilte sich, den Umkleideraum der Arbeiter zu erreichen, damit er seine Ankunft auf dem Tagesplan eintrüge. Für einen Moment schwamm er dann zuversichtlicher in einer Zeit, in der kein Krieg herrschte; in der keine Geschütze donnerten und mordenden Gewehre ratterten, keine Häuser lichterloh wegen Geschützen brannten. Er schritt über den matschigen, sodann hell, hell leuchtenden Schnee, während er am Büro des Direktors vorüberging und bald seinen Overall überzog. Dieser Dreckshund, dachte er. 
Etwas später nahm er seinen Eintrag in der Tabelle des Tagesplans vor. Der ausbeutende Stundenlohn, dachte er, verdunkelte etwas des Ehrlichen und Würdevollen, des Reinen seines Dienstes, aber er wollte es wieder verdrängen ... Er dachte an seine Doktorpläne. Das war ein eigener, öffnender, stolzer Zuspruch und knapper, schöner Gesang in seinem Herzen, seinem Inneren.


Neben all den persönlichen Vorhaben existieren auch die anderen, guten Dinge. Er dachte an die demokratischen Institute in der neuen Republik. Das mochte er. Es freute ihn. Sie gehörten nicht irgendeiner, kleinen Gruppe und die Menschen lebten in einer demokratischen Staatsform und insgesamt im Frieden. Das mochte er an Nordeuropa. Parlamentarismus, Bürgerrechte, freie Wahlen, freie und furchtlose Bürger einer Republik. Hoch lebe solch eine Republik! Hoch lebe so eine demokratische, menschenachtende Republik, dachte er heiter im Herzen. Es freute ihn, dass hierzulande keine Kriegsreden hetzten und niemand die Kriegstrommeln im Namen der Mehrheit bediente. Natürlich gab es auch die verdammten Rassisten, aber die waren von der Mehrheit geächtet, einer Mehrheit, die an Bergen Belsen, Ausschwitz und die Selbstzerstörung Europas in zwei Weltkriegen gedachte. Die Demokratie und Behörden lagen in der Obhut der republikanischen, aufgeklärten Menschen, sagte er sich. Die Institute vergaßen nicht die achtvollen und hoffenden Menschen, die aus den Kriegen hergekommen waren und etwas aufbauen wollten im neuen Land, es selbst voranbringen wollten. Sie versperrten es nicht den mit Fleiß und Willen Aufbrechenden. Also auch das gab es.

 

Er war in einer entlegenen Stadt, aber der große Krieg war vorüber. Am Außenposten des Parks näherte er sich bald dem Gehege des hellgefleckten und schwarzen Leoparden. Etwas des Laternenlichtes streute sich in das Areal der beiden Leoparden. Er kam zur Mauer, die das Gelände umrundete. Dabei wölbte sie sich in einer unwirklichen, kaum zugänglichen Länge von etwa dreißig Metern halbkreisförmig um das Leopardenareal. In dem Gemäuer war im letzten, rechten Drittel eine dicke, breite, tiefe Fensterscheibe eingelassen. Kurz stützte er sich am Mauergestein ab. Er wollte eine Zigarette rauchen und fischte sie dann aus seinem Anorak.

 

Einige Sekunden pustete er seinen wärmenden Atem in seine geballten Fäuste. Es war kalt und manches wirklich schwierig in der neuen Stadt, dem neuen Land, aber dennoch war er hoffnungsvoll an diesem Posten. Bald zündete er sich auch die Zigarette an. Diesmal schrieb er keinen antwortenden Brief an seinen Bruder, der als Soldat im anderen Land diente und damit zufrieden war. Nach einer Weile blickte er dann in der kühlen Abendwitterung durch das Fenster. Aber er sah noch nicht die Abdrücke der beiden Leoparden im Schnee. Bald würde einer wegen der Entscheidung dieses Hundes verkauft werden. Die genauen Preise kannte er nicht, der Direktor hatte sicherlich ein verlässliches Gespür. Offiziell sollten sie jedenfalls in den nächsten 60 Tagen nach Spanien oder Belgien wie eine wunderbare Fracht transportiert werden.

Er zog an der Zigarette, wartete. Die beiden Leoparden waren nicht zu sehen. Hinter den Felsformationen waren sie wohl zum Wasserbecken gestreift. Das Laternenlicht oberhalb der Mauer streute sich nicht mehr in jene Tiefe und zur verfinsterten Wasserstelle.

  

Noch einige Zeit blickte er in das regungslose Gehege mit den beiden öffentlichen und bald wieder verkauften Leoparden dieser Stadt, dachte er. Als er seine Zigarette aufrauchte, stieß er sich vom Gemäuer ab. Während er zurückging, nahm er sich vor, sich in der Nacht etwas zu zerstreuen. Es bot sich an, etwas in der „Palo Palo“ Bar zu trinken, wo man im Nebenzimmer Karten und Billard spielen konnte und vielleicht wieder die hübsche Chilenin im Haus nahe des Bahnhofs aufsuchen konnte ... Seit sechs Wochen war er nicht ausgegangen und wollte ein Bier trinken und sich als Mann vergnügen. Nach einigen Minuten schwang das Haupttor hinter ihm zu. Die Kälte spürte er nicht mehr stark. In der jetzt fast angenehmen Kühle kam er auf die Straße und ging nahe des Bordsteins, wo der Schnee fester und besser begehbar war.

 

Während er ging, bemerkte er plötzlich am Parkplatz, unweit des Kleinladens und Gemäuers, den Direktor. Dieser pfiff und winkte ihn zu sich, aber er blieb stehen, nicht anmaßend, aber mit leicht erhobenem Kopf. Plötzlich eilte der Direktor mit zornigem, abfälligem Blick auf ihn zu. Dieser schrie ihn sofort an. Er habe einem der Besucher von dem Verkauf des Leoparden nach Spanien erzählt, was er nicht durfte. Er hätte das Maul zu halten. Der Direktor schrie ihn an, die Stimme schnitt durch die elektrisierte Luft des sonst menschenleeren Parks. Nun spürte der Mann, viel stärker als je zuvor, die Wut in sich aus der langen Zeit des Ungesagten herschmettern ... 

 

Der Verkauf der Leoparden sei eine Schande und der Mindestlohn müsste für alle gelten, die dort arbeiteten, forderte er und sollte ab dem nächsten Monat ohne falschen Vorwänden ausgezahlt werden. Schließlich arbeitete er vernünftig und nahezu zehn bis zwölf Stunden täglich dort. Der Direktor drohte ihm gerade mit einer fristlosen Kündigung, als der Unbeugsame plötzlich näher schritt. Eine heftige Ohrfeige und das Androhen fliegender Fäuste reichten aus. Kleinlaut und ängstlich wich der Direktor zurück, stolperte und plumpste zu Boden in den Schnee, kauerte dort, war plötzlich wie geschlagen, klein, und verstummt. Er blickte zur Silhouette auf, aber sagte nichts.

Bald ging er den verschneiten Weg weiter, ließ den Mann zurück und dachte an einen Job in der Fabrik seines Vaters, ehe er seinen Plan ein hervorragender Doktor der Republik zu werden, der auch in der Welt umherreiste, angehen würde. Denn Nordeuropa bot ihnen viele Chancen und bessere Plätze, und hatte weit mehr zu bieten, als die bissige Januarkälte, Entblößung und Willkür eines nun im Schnee kauernden, ausbeutenden, kleinlaut gewordenen Direktors.

 

© Deniz Civan Kacan

 

 

 

Impressum

Texte: Deniz Civan Kacan
Bildmaterialien: -
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /