Cover

Die Tage vor und nach dem Internierungslager

 Er blickte über das Feld und dann ging er mit ihr auf das Restaurant zu und in Richtung Parkplatz des Fluggeländes.  

 Gabriel dachte kurz daran, wie es sich weiter mit ihr und ihrer Beziehung entwickelte, und an seine als Korrespondent für eine Zeitung bevorstehende Reise in ein italienisches Internierungslager für die Boatpeople. Es würde bald anstehen. Er würde dahin reisen und über das Kämpfen der Menschen auf dem Mittelmeer berichten, über die Fahrten in den Booten der Armen und profitierenden Schlepper, die sich wie zwischen gewaltigen Verschiebungen und Ozeanen, an Kälte, Hunger, Schakale, an die Tore Europas wagten, die Reise mit den Schleppern und die Hoffnungen in den Booten und dreckigen Baracken würden zum Bestandteil seiner Berichterstattung werden.

Sie schritten weiter. 

 

 Schon vor dem Hinaufklettern in die Kabine hatte er dem Piloten, der im Schatten der Cessna stand und die Maschine inspizierte, die 52 Euro für den Flug überreicht. Bald ging er mit der Frau neben einigen Schaulustigen, die zum diesem Tag der Flugformationsshow der Doppeldecker gekommen waren, auf das Restaurant zu.

 

Es war jetzt später Nachmittag, aber die Sonne erhellte noch einen erheblichen Teil des Geländes. Es gab wohl noch genügend Licht über der Welt.

 

Sie gingen weiter über den Flugplatz, der an Weizenfeldern und einer Militärkaserne lag. Am Feldrand hörte man einen Militärwagen zum Flugplatzrestaurant fahren, aus dem ein Hauptmann ausstieg und zur Terrasse schritt. Auf der Terrasse gab es Leute vom Flugsportverein, eine Kellnerin, zwei Beamte der Stadtverwaltung, einige Zuschauer der noch anstehenden Flugformationen, die Kaffee tranken. Sie stakten über den Rand des Flugfeldes. Gabriel blickte kurz zum Kasernenzaun und dann wieder zu seiner Begleitung: Eine schöne Frau, eine Tänzerin, die er kennengelernt hatte und vor denen eine wichtige Prüfung wegen seiner Reise nach Italien, zum Lager der Kriegsflüchtlinge, ehemals Hungernden und Verfolgten, bevorstand.

 

Einige Wolken waren am Himmel, schwebten über dem Feld und ebenso flach über dem Gebirge, ehe sie dort zerrissen. Sie hatten einen Flug über der Region hinter sich: Stunden, die ihnen eine heile Welt abseits der Stadt vormachten und ihnen gefiel, dachte Gabriel. 

 

Entfernt vernahmen sie bald die Gesprächsfetzen des Wirtes vor der Restauranttür, der den Militärangehörigen zu einem Tisch wies. Sie näherten sich der Terrasse, auf der die Gäste aßen und Bier tranken. Noch immer schien ihn nichts aus diesem schönen, merkwürdigen Zustand mit ihr herauszuholen, dachte er. Schon während des Fluges der Cessna über den hellgrünen Gebirgskämmen, der Pension, einer ausgebrannten Lagerhalle und fast toten Landstraße, neben der sich Rapsfelder und Weizenfelder reihten, zum Flugplatz hatte er mehr über ihre weitere Beziehung bereden wollen. Aber das wird sich wohl entwickeln, sagte er sich. Sie mochte es auch mit ihm zu sein. Sie fragte ihn zu seinem Beruf, seinen Beziehungsvorstellungen, und schien es alles noch ungefährdet zu sein in ihrem Leben. 

 

Vor kurzem hatte es jedoch einen Zwischenfall gegeben: Er hatte jemandem in einer Straße einen Faustschlag ans rechte Auge verpasst, einen Bluterguss mitgeschickt, und das war wegen der Unverschämtheit gegenüber Chayenne, als sie abends zusammen durch eine Straße an einer  Bar entlang gingen. Der Andere hatte sie mit besoffenem Kopf beleidigt, weiter beleidigt und er hatte ihm eine Antwort gegeben.

 

Jetzt dachte er auch an die herausfordernde Reise als Reporter, an seinen Auftrag der Berichterstattung in Süditalien - zu den aus etlichen Ländern und Regionen von Marokko bis Indien aufgebrochenen und internierten Menschen. Sie hatten feste Vorstellungen und sicherlich auch Illusionen bezüglich Europas, dachte Gabriel.

 

Vermutlich würde er da Starke, Schwangere, Getretene und Kriegsgeschundene treffen, die, anders als viele andere, dem Meer und den Lagern in der todbringenden Dürre und Wüste entkommen waren. Das Mittelmeer, die Wüste, die abgenutzten Boote mit den Menschen und ihren Hoffnungen, von denen viele die Strecke über das Mittelmeer unterschätzt hatten, Fabrikler, Ärzte, Studenten, Träumer, seltsame Schicksale gehörten in dieser Zeit sehr oft zusammen. Wie Synonyme eines Wortes, die zu einem Oberbegriff gehörten und Teil der globalen Flüchtlingskrise waren. Menschen, die bleiben durften und andere, die abgewiesen werden würden. So war es bei vielen Migrationsbewegungen, auch aus Europa in die Welt. Auch aus Deutschland, dachte er. Er dachte an das beeindruckende Auswandererhaus in Bremerhaven mit den Filmen, nachgestellten Hafenszenen und den Statistiken zur Migration vom deutschen Festland, wonach seit 1683 über 12 Millionen Menschen das Festland verlassen hätten, erinnerte er sich an eine Statistik. Ebenso an die nachgestellte Auswanderung einer deutschen Familie mit einem Schiff um 1890, aus Bremerhaven nach New York. Es gab wohl ähnliche Fluchtursachen. In dieser Zeit hing es vermutlich verstärkt mit vernachlässigten Arbeitsförderprogrammen für die Arbeiterschaft, Jugend, mit erodierten Wirtschaftssubventionen und Demokratiestärkungen vor Ort zusammen, es gab da wohl kein ernstes, langfristiges, strukturelles Angehen bei der Zusammenarbeit der Europäer und betroffenen Länder, dachte er. Das würde sich wohl ändern. Die Staaten und Regierungen müssten da ernsthaft zusammenarbeiten. Aber das war ein eigenes Themenfeld, wenngleich er es mit seiner anstehenden Berichterstattung etwas anriss.  

 

Die Kellnerin räumte einige Stühle zu den Tischen.

Er war hier mit ihr und wollte etwas mit ihr aufbauen. Ehe er zum Lager der Bootsmenschen in Süditalien reisen würde, vielleicht im Wagen, wenn sie zurückfuhren über die westdeutschen Landstraßen in ihre Siedlung, würde er ihr sagen, dass er die Beziehung auch fest für die Zukunft wolle. Sie passt zu mir. Es würde wohl mehr werden mit ihr. 

 

Neben sich hörten sie den Stimmenschwall der Gäste, die sich das Flugevent anschauen wollten oder einfach nur zum Kaffee oder Bier auf die Terrasse gekommen waren.

Die Kellnerin mit dem gelben Kleid eilte erst zum Soldatentisch, wo einer einen Espresso und der Andere ein Bier geordert hatte und dann zum Tisch mit wohl zwei Verwaltungsangestellten. 

Die Beiden schritten vorüber - auch am Tisch mit den Beamten.

 

Gabriel und Chayenne hatten sich zum früheren Aufbruch in ihre Siedlung bei Nijmegen, in den Niederlanden, entschieden. Sie gingen weiter zum Wagen. Das waren seltsame Stunden vor dem Aufbruch in ihre Heimat und zu seiner Reise zu den Lagern in Süditalien.

 

Vielleicht wird sie auch mehr wollen. Aber ihre Bedenken und Zweifel können auch darin bestehen, dass sie ein Mann wegen ihrer zwei Narben an der linken Handoberfläche und dem linken Oberarm, die ein Brandunfall in einem Tanzsaal bei ihr als junges Mädchen hinterlassen hatte, nicht mögen würde. Schon sehr früh hatte sie es mir erzählt. Das war ihre Angst. Aber es war  eine falschen Deutung. Er beachtete es nicht. Gabriel nahm es nicht ernst, da er Chayenne sehr schön und besonders fand. Ihm gefiel sie auch an diesem Tag. Sie trug ein schwarzes Kleid und hatte schwarze, lange Haare und hellbraune Augen. Chayenne hatte ein helles, schmales Gesicht. Dabei sah sie einer hübschen Frau eines Sioux-Stammes oder hellhäutigen Inderin ähnlich. Er dachte sehr oft an sie. Dabei dachte er auch an den bevorstehenden Aufbruch zu den auch verfolgten und durch Obrigkeiten geächteten Leuten im Süden des Kontinents und dann überlegte er, wie die nächsten Schritte zwischen ihnen kamen. Er dachte, es hing nicht mit Fragen nach dem Status, Geld, der sozialen, religiösen Zugehörigkeit, dem Verdienst zusammen. Sonst hätte sie einen Beamten oder Arzt an ihrer Seite.

 

Bald wird alles unsicherer und dann wird es wie in einer wankenden Welt sein. Das wegen ihr besondere Schimmern und Licht in der Welt vielleicht weggerissen, dachte er. Es würde ihn nicht zerstören als Mann, aber er wollte sie in dieser Zeit wirklich haben und dann würden sie sehen, wohin es ginge.

 

Wenn ich vom überfüllten Platz der Wachposten und Wüstenflüchtlinge zurückkehre, vom südeuropäischen Kriegsschauplatz, werde ich ihr dann vielleicht am Mittwoch oder Donnerstag vor einem Kino, einer Bowlingbahn oder einem Cafe am Marktplatz begegnen.
Unterdessen rollte vor ihnen ein Doppeldecker zur Grasfläche hin und sie näherten sich dem silbernen, älteren Geländewagen an den Garagen. Unterwegs blickte sie ein Mann mit einem feindeligen Gesicht an, vielleicht ein Nationalist,  jemand, der vom toleranten, demokratischen Deutschland, von Aufklärung, einem intakten, achtvollen Menschenbild und vom Sieg der Alliierten über den NS-Faschismus nicht viel hielt und menschenverachtende Ideologien hochhielt. Es gab solche Hunde und verfluchten Rassisten, dachte er, aber zum Glück in ihrer Zeit die Mehrheit der Demokraten in Deutschland. 

 

Sie gingen weiter. 

Bald hörten sie die Pfiffe eines Jungen und Mädchens, die zu einem der Piloten liefen, ehe sie weiterliefen zur Terrasse. Sie gingen weiter. Unweit arbeitete der Pilot arbeitete unweit an einem Triebwerk. Bald öffnete er den Tabakbeutel und rauchte.

Dann wirbelte die Stimme des Piloten zu ihnen herüber und er ging er auf sie zu. Zuvor hatte er sie bereits bei ihrem Flug in der Cessna und dem Kreisen über der eher kleineren Kaserne, den Feldern und dem grünen Platz beobachtet.

 

 „Wollen Sie nicht noch etwas trinken?“, fragte der Pilot.

 „Später veranstalten wir eine Party hinter dem Restaurant. Mit Bier und Grillfleisch. Ihr solltet auch kommen“, sagte er.
„Wir würden gerne kommen, aber wir müssen noch in eine andere, entferntere Stadt fahren, wissen Sie“, antwortete Gabriel dann.

„Hm, aber der Flug war etwas für Sie oder haben Sie sich schlecht gefühlt bei dem Mann? Er ist wie ein weiser Habicht. Bekannt für seine philosophierenden Minuten zur Globalisierung und den Auswirkungen für Europa, für Deutschland, England, Spanien, Italien, aber kaum fünf Minuten später für seine verrückten Tiefflüge am Stadtrand“, sagt der Mann lachend.
„Es war, wie wir es wollten und nichts sehr Riskantes und Verrücktes da oben“, erklärte Gabriel. „Wir haben eine große Strecke zurückgelegt und sind über den Bergkamm, unter anderem über eine Sportanlage, ein Industriegebiet und von Bauern und Maschinen bearbeitetes Feld, aber es war kein übergeschnappter Mann im Cockpit oder Mann da, der über ein Kriegsgebiet fliegen musste. Die Kriege sind woanders. Er ist also über einer Gegend ohne Internierungslagern geflogen“, erklärte Gabriel.
„Es war schön, aber es könnte ruhig kürzer sein. Und es kam mir so vor, als wäre der Mann an der Brücke zur Stadt und an der Kaserne zu niedrig geflogen“, sagte Chayenne. „Aber es war nicht falsch hierher zu kommen“, fügte sie hinzu.

 

Bald wünschten sie dem Piloten im ölverschmierten Overall eine Flugshow ohne schlimmen Zwischenfällen. Chayenne und Gabriel gingen zu ihrem Jeep.

Einige Mehlschwalben schwirrten über den Wagen und flatterten zu den Garagen, dann flogen sie über den Dachgiebel des Restaurants. Auf das Flugfeld rollten zwei neue Doppeldecker. Am Ende der Flugbahn hob eine Cessna mit laut arbeitendem Propeller und mit den gelbrot lackierten Tragflächen empor und entriss sich der Trägheit und kletterte scheinbar über die Gruppe von Pappeln am Horizont. Gabriel hielt seine Hand beschattend an seine Stirn. Sie gelangten zum Wagen, ihre Heimatsiedlung wartete, wo er sehen konnte, wie sie lebte, oder der Familie näher kam und ehe er in einigen Tagen dann nach Süditalien reiste, für seine Berichterstattung und dann länger fort blieb. 

 
In einer etwa eineinhalbstündigen Flugzeit hatten sie in der unordentlichen Cessnakabine gesessen, in der Decken, zwei Kisten mit Bier für die spätere Feier lagerten. Gabriel hatte sie nach einem Salsa-Tanzwettbewerb in der ihr nächstgrößer gelegenen Stadt Arnheim gefragt, und sie antwortete kurz, denn der Pilot riss die Gesprächsminuten an sich ... Der Mann hatte vorne munter geredet und sich über die Finanzkrise in Europa, Amerika, sowie dem Bankenkollaps in Amerika geärgert und den Aufbruch von Familien durch Wüsten zu erklären versucht. Der Pilot philosophierte über den Kolonialismus im 21. Jahrhundert, über die Kapitalismuskritik Oscar Lafontaines, Renationalisierungen in Europa und über die Erfolgsaussichten und Möglichkeiten eines ins Feld geführten Marshallplans seitens Europas für Afrika, da jener doch schon in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg gegriffen hätte. Für Afrika sah er viele Schwierigkeiten, versumpfende Korruption, sehr viele Oligarchien und so weiter und so weiter.


Irgendwann hatten sie ein Waldstück, einen Fluss, ein Kartoffelfeuer und danach eine verwilderte, ehemalige britische Militärkaserne einer Nachbarstadt überflogen. Auf dem Rückflug waren sie dann über eine Privatpension gesteuert, er konnte die vergilbten Buchstaben der Pensionsreklame lesen, dann waren sie über die grünen Gebirgskämme zurück geflogen. Wenig später sahen sie den Rand der Kaserne mit den unbewegten Militärfahrzeugen und das schmale Landegelände. Er war noch einmal abgedreht, schwenkte über eine Brücke und ein Industrieviertel mit Fabriken der Chemie und Pharmazie, als er dann drehte und drei Minuten später zum Flugplatz lenkte. Es war nicht schlecht gewesen.

 

Bald gelangten sie zum Wagen und fuhren an einer Lebensmittelfabrik, einem Tierheim vorüber, über die Schnellstraße in Richtung Autobahn und niederländische Grenze. Im Wagen lief bald eine Musikaufnahme der Jazzsängerin Ella Fitzgerald an. Sie verstummten für eine Weile. Heute bin ich noch mit ihr. Es sind noch einige Tage bis zum Lager an der italienischen Küste, wo einige der Leute dort einem schrecklichen Krieg mit Bombardierungen und großen Entbehrungen entfliehen konnten. In einigen Tagen sollte er sich in Süditalien aufhalten und als Reporter über die italienische Hauptstadt in die Provinz fahren, vom Städtischen, Industrialisierten, vom Zentrum zu den Geflohenen und Leidgeprüften. Gemeinsam mit Herrn Barzagli. Für das Wochenblatt würde er über die Auffanglager berichten, vordergründig über die Reiseetappen, die sie hinter sich gelassen hatten, weshalb sie aufbrachen, wie es sich für sie ereignete, während sie auf Todesbooten und Freiheitsbooten über das Mittelmeer schipperten, um nach Malta oder Süditalien zu gelangen, was sie aßen und erlitten, wie es sich beim Austausch mit den Behörden, den Grenzschützern entwickelte und wovon sie in Europa träumten, auf dem Meer, in den derb riechenden, überfüllten Barracken ...

 

 Als die Musik leiser wurde, leitete sie die Unterhaltung ein, wusste, dass es ihn beschäftigte und erkundigte sich nach den Bootsfahrten der Geflohenen.
„Die Leute sind aus Marrokko, Eritrea, Somalia und manche aus der östlichen Richtung an der Küste gestrandet“, sagte sie.

„Viele aber auch aus Afghanistan, Syrien, manche auch aus der Türkei und manche aus Irakisch Kurdistan wegen dem Krieg gegen die ISIS Fanatiker dort. Sie wollen an die Demokratie und an Europa glauben, an die Chancen“, erwiderte er.
„Das wollen sie, aber es ist wohl nicht so einfach“, sagte sie.

„Die konservative Politik Europas will dafür sorgen, dass es weniger Flüchtlinge werden und sie das Beste im Leben in ihrer Heimat finden“, erwiderte er.
„Ob das klappt.“
„Ich weiß nicht.“

 

Die Frau blickte zu ihm und kurz zum vorüberfliegenden Rastplatz am Straßenrand und wieder zur Fahrbahnmitte.
„Wenn der Frieden da wieder herrscht, man richtige Aufbauprogramme für die Industrie, das Land mit den Minenfeldern an den Olivenbaumplantagen und Tabakfeldern dort und Demokratisierungssprozesse unterstützt, werden etliche wieder zurückkehren."

"Das könnte sein."

"Viele sind in Zelten oder in Baracken untergekommen.“
„Ja. Arme Seelen", sagt sie.

„Manche kommen mit Illusionen, manche mit ernsten Chancen und werden wohl anfangs als Billigarbeiter in Fabriken, Cafes, in der Landwirtschaft eingesetzt werden als Tagelöhner oder Saisonarbeiter, aber nehmen es hin als Übergang zu besseren Anstellungen und wollen nicht mehr zurück übers Meer."

"Bestimmt werden auch einige schlaue Köpfe kommen."

Der Mann lächelte.

"Natürlich auch sehr gut ausgebildete Leute, wie der Zahnarzt und ehemalige Flüchtling Dr. Ali, der sich aktuell auch für die Friedenspolitik der Linkspartei im Bundestag stark machte, oder jemand wie der Ingenieur, Herrn Tarik, der aus Langenhagen mit seiner deutschen, engagierten Frau ebenso den Transport von Hilfsgütern mit zwei sehr guten Politikern der Mitte in die Krisengebiete organisierte."

Die Frau hörte gerne zu.

 "Es sind aber auch einige hetzerischer bei diesem Thema."

 

"Ja, aber wenn die Menschen es wirklich heil aus den schmutzigen Booten schaffen, ist es ja gut."

„Die in den Booten werden froh sein, dass sie nicht mehr in der Wüste sind, wo sie abgezogen wurden oder verdursten mussten und wollen lieber auf dem Meer zittern", sagte er und ergänzte dann nach einigen Sekunden mit schwerer Stimme plötzlich: "Aber es gab wirklich viele Boote, die umkippten und es um sie zu einem Areal der treibenden Leichen kommen ließen. Sie haben es wirklich sehr schwer. Ein Retter hatte solche Leichen mit Familien gesehen und war zerstört, berichtete er einem Reporter."

"Es ist keine einfache Zeit und man muss ihnen ja helfen."

Sie wollte zunächst über etwas anderes sprechen, da es ihr ebenso schwer vorkam, aber er hatte die Berichterstattung zur Schwierigkeit an den europäischen Küsten vor sich und es beschäftigte beide der gemeinsame Weg der folgenden Tage und Wochen.

"Jeder, egal aus welcher Region, wird froh sein, das der Kapitän es schaffte auf dem scheiß schönen, listigen Meer und niemand ertrank“, sagte er wieder nüchterner.

„Gott behüte."

"Ja."

 

"Für viele ist Europa immer noch etwas eines rettenden Wunders“, sagte sie.
„Das bleibt es, mit den Illusionen der Leute“, erwiderte er. „Auch wenn die Europäer endlich eine diplomatische Offensive und vielleicht einen Marschallplan für Afrika und eine gerechtere Ordnung im Nahen Osten ins Feld führen müssen, damit die Menschen da sicher und würdevoll leben und arbeiten können. Schließlich sind Mesopotamien und Ägypten die Wiege der menschlichen Zivilisation mit Errungenschaften wie der Erfindung der Schrift, des Rads, Biers, Kalenders, den ersten Reichen mit Beamtenapparaten und Verfassungen in der Welt, den ersten Welt- und Stadtkarten, den ersten Schulen und Strassensystemen, die auf dem Scheibtisch einer Behörde geplant wurden. Man müsste dort wieder am Licht ansetzen“, sagte er mit einem bleibendem, solidarisierendem Stolz. „Außerdem war es auch beschämend, dass man in Brüssel nur über Griechenlands Wirtschaftskrise getagt hat und sehr arrogant auftrat und blind für den Rest der Welt war. Dann kamen die Flüchtlingswellen ...“
Sie sagte nichts, aber gab ihm eine stille Zustimmung. Nach einer Weile:
„Das mit der Arroganz stimmt ja. Aber was die in den europäischen Hauptstädten und in Brüssel auch machen, es ist für die Leute zumindest nicht mehr wie die Angst auf dem Meer bei Nacht und beim Wellengang.“
„Aber die Behörden werden einige abfangen und zurückschicken."

"Das wird auch kommen."

"Bestimmt."
„Und du wirst direkt zur Küste fahren“, hakte sie nach und erkundigte sich nach den Stationen seiner bevorstehenden Reise zum Lager.

 

 Er würde sie wohl danach wieder sehen und es sich nicht verlaufen. In den Vorwochen hatte er als Reporter für die Hannoversche Zeitung unter anderem über den Sieg des Wasserballteams Waspo 98 im Champions League Duell und Heimstadion mit einem kroatischen Team berichtet, dann über Demonstration von Flüchtlingen aus Eritrea an der Weissekreuzstraße, die zwischen Zelten und kargen Bannern ausharrten, und zuletzt über die bedrängten und beinahe ausgerotteten Tiger auf Indonesien - jetzt sollte er zum Lager reisen. Er erinnerte sich an seine Reise nach Italien. Dort hatte er schon einmal Florenz besucht und war drei Jahre zuvor mit seinem Basketballteam in die ostitalienische Hafenstadt Ancona gereist, und von dort mit der Fähre nach Piräus gefahren und er fand es herrlich mit den vielen freien Basketballplätzen und der Nähe zum Meer. Vielleicht würde er mit ihr einmal dahin reisen. Bald begab er sich zu einer der ärmeren Stätten an der Küstenregion mit den geflohenen und verwundeten Menschen, den wohl vollen, elendigen Barracken, die sie sich teilen mussten, zu all denen, die der Wüste, den Schlangen, Skorpionen, dem Krieg, dem Totalitären und der Armut hinter dem Mittelmeer entflohen waren und die europäische Erde betreten hatten. Viele würdevoll, aber auch mit Illusionen und Verlusten, dachte Gabriel erneut.  Aber wahrscheinlich blieben sie hoffnungsvoll.

 

Viele wollten sich vielleicht losreißen von der Einquartierung und den Wachposten, aber beließen es, weil sie keine Strafe riskieren wollten. Sie haben einen Schlafplatz, Zigaretten und Hoffnung. Das ist ein Übergang. Und ich werde Herrn Barzagli kennenlernen und mit den Leuten mit den müden Schultern zusammensitzen. Auch mit einem der Wachposten werde ich sprechen und später das Hotel mit den sauberen Betten beziehen; er würde auch dann an sie denken und ob er sie wieder träfe. 


„Diesen Freitag werde ich fliegen“, fügte er hinzu.
„Diesen Freitag schon“, echote sie.
„Für fünf Tage“, bestätigte er.
„Dann werden wir weitersehen, wie es mit allem weitergeht“, sagte sie mit freudvollem, nachdenklichem Ausdruck im Gesicht. Sie verstummten bald, während im Wagen ein anderes Lied im rascheren, melodischen Sang der Jazzinterpretin Ella Fitzgerald spielte. Wenn wir uns nach dem Lager wiedersehen, könnten wir ins Kino oder in einem der Cafes der Stadt verabreden, dachte er. Es wird sich wohl alles ehrlich und richtig für uns ergeben.

 

 Bald kamen sie näher zu ihrer Siedlung am Rand der Stadt Nijmegen. Gabriel fuhr im langsameren Tempo. Sie lotste ihn, während er in einen der Feldwege abbog und das trockene Gras hinauffuhr. Etwa 2,5 Kilometer nördlich lebte ihre väterliche Familie, die nach dem Zweiten Weltkrieg begann dort zu siedeln. 

 

 Bald gingen sie quer über den Pfad und stakten über die knöchelhohen Gräser zu einer Wiese, die durch das schwach dämmernde, abendliche Licht und Scheinwerferlicht erhellt war. 
„Und du wohnst in der Siedlung weiter oben?“
Sie blickte und zeigte in die Richtung der kleinen Siedlung, deren Fenster hinter den Feldern und Pappelbaumgruppen bereits erhellt waren, eine zurückgezogene Siedlung hinter den Feldern und Pappelbaumgruppen war. 

 

Sie erzählte kurz vom anstehenden Salsatraining und Unterricht im Tanzsalon am nächsten Tag, näher zur Stadt, alles mit verlegenen, blitzenden Augen. Sie setzten sich bald auf die Wiese. Am Scheinwerferlicht flatterten einige Insekten. Es roch nach dem ungemähten, dichten Gras und dem milden Schwall ihres Parfums.

 

Bald fragte er sie, ob sie etwas trinken wolle. Dann ging Gabriel zum Wagen. Mit einem Taschenmesser und der Weinflasche kam er zurück. Auf dem Gras sitzend entkorkte er die Rotweinflasche.
„Ich trink etwas von dem Wein, aber es darf nicht auffallen, wenn ich zurück gehe zur Siedlung“, sagte sie lächelnd.

„Es wird nur ein Glas für jeden von uns sein. Der Wein gibt einem auch damit ein verrücktes Gefühl im Blut.“
Das Herz pochte an einer abseitigen, undurchdrungenen Welt. Sie tranken und er schmeckte den einfachen, köstlichen Wein. Nach einiger Zeit küssten sie sich. Er wollte mehr, küsste ihre Schultern und wollte sie ganz, aber sie wollte es noch nicht.

Sie nahm seine Hand und sie schien ganz glücklich. Wenige Minuten später saßen sie aneinander gerückt am Rand des mageren, grellen Scheinwerferlichtes. Schweigend verharrten sie in der kargen Dämmerung auf der Wiese.


Das wären die besonderen Minuten im Leben eines Menschen, sagte sie. Alles ringsumher, neben ihnen und dem abkühlenden Wagen, lag scheinbar still unter einer hiesigen, unzerstörbaren Kuppel des Himmels. Der Wein ist sehr gut. Der Alkohol im Blut ist jetzt sehr gut. Sie waren glücklich. Sie lagen eine Weile da. Doch bald kamen die Lagerbilder wieder in seinem Inneren, die Wachposten des Auffanglagers verschwanden nicht ganz ... Zwischendurch küssten sie einander wieder, während er ihr über die festen Brüste liebkoste und den Ausschnitt und den Hals hinab küsste. Sie mochte es, aber ließ noch nicht mehr zu. Doch nach einigen Minuten wollte sie auch mehr, machte ihre Beine breit und er drang in sie und liebte sie und küsste ihre Lippen und Brüste.

Bald lagen sie nebeneinander und blickten in die späte Dämmerung. 

 

Beide lagen noch eine Weile da, teils küssend, und etwas kühler, dann stand er auf, die Haare und das Hemd zurecht machend. Sie war hübsch, aber es gab die große Distanz ihrer Heimatstädte und Wohnungen. 

 

Dann horchten sie plötzlich auf: Sie blickten nach zwei Wagen, deren Scheinwerfer deutlicher wurden. Die Wagen steuerten entlang der Maisfelder und nahe des Feldweges. Sie glättete ihr Haar und ihren Rock und wandte sich dann zur Siedlung. Auch der zweite Wagen war vorübergewirbelt. Sie drängte, es wäre besser vor Mitternacht in ihre Siedlung heimzukehren, ehe jemand nach ihr suchte. Bald gingen sie zum Wagen. Etwas später hielt er vor einer Kreuzung, nahe der Siedlung und den zwischen den Bäumen aufglimmenden Fenstern und ließ sie aus dem Wagen. Sie verabschiedeten sich und er küsste sie, aber es war plötzlich ein distanzierter, beinahe entfremdeter Kuss zwischen den beiden.

 

Irgendwann nach Mitternacht kam er mit dem Wagen an einer Straßenbiegung mit einer Apotheke und einem Sportcenter entlang, in seine Ortschaft. Schließlich gelangte er über eine schmale Steinbrücke in die fast schlafende, deutsche Kleinstadt. Er kam zurück in sein Wohnviertel. Einige Sterne blinkten in der schwarzen Wölbung. Die Nacht war wunderbar, aber plötzlich hatte ihn ein sonderbares Gefühl gepackt, aber er wußte nicht, wie er es deuten sollte. Die Straßen der Kleinstadt waren still und fast finster. Die Kaffeehäuser, Pizzerien und die Bar am Straßenrand waren geschlossen.  

 

Er würde bald zum Lager der Bootsleute fahren, zur Armut und zu den Internierten in den Barracken, zur Zuversicht der Menschen entlang der Küste. Danach werde ich die Besondere wieder sehen, redete er sich zu. Er war erschöpft und es war ein merkwürdiges, widerspenstiges Gefühl. Wie würde es weitergehen. Würden sie es festigen und sich bald verloben? 

 

Dann vergingen die Tage und er reiste nach genauem Fahrplan nach Süditalien zu den Barracken mit den Boatpeople.

An der Küste hatte er sich an einem Nachmittag mit einem Wachposten eines Lagers gestritten, der ihm das Verbot der Porträtierung mancher Boatpeople aussprach. Er verbrachte viele Stunden im Cafe und unweit der Barracke, wo er andere aus der Welt Geflohene traf.

 

So waren die Entwicklungen in seinem Leben in diesen Wochen. Den fertigen Bericht und eine Reportage über die interviewten Menschen in den Lagern schickte er der Redaktion in Hannover per Mail ein, ehe er zum Bahnhof in der italienischen Stadt fuhr, zur Weiterreise nach Deutschland. 

 

Dann dachte er an sie und ob sie sich vor dem Jahresende noch verloben würden, wenn alles gut ginge und es so sein sollte. 

Er wusste, daß er die schwierige Reise zum Lager überstanden hatte und noch andere schwierige Tage im Leben bestehen würde. 

Dann trafen sie sich noch acht, neun Mal in den Folgewochen und merkten, dass sie noch nicht so weit waren, ehe sie einander nicht mehr anriefen, schrieben und ihm die niederländische Stadt Nijmegen wie ein schöner, aber dann unwirklicher Traum, den er nicht mehr hochhielt, in  Erinnerung blieb. 


© Deniz Civan Kacan

 

Impressum

Texte: Denis Civano
Bildmaterialien: -
Tag der Veröffentlichung: 02.06.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /