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  PEAWYN HUNTER  

The Hunt

 

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PROLOG

 

Die Sonne strahlte hell an diesem Tag. Lauer Wind wehte durch die Bäume, ließ das saftig grüne Blätterdach leise und friedlich rascheln. Mischwald duckte sich am Rücken des Großen Gebirges. Sonnenstrahlen fluteten die Umgebung und malten Fleckenmuster auf den teilweise grasigen Boden. Die Temperaturen waren angenehm warm, Schmetterlinge und Bienen surrten durch die Luft. Die Blumen blühten wieder und gaben Hoffnung auf einen warmen, beutereichen Sommer. Noch war es Frühling, aber die Monde schritten voran.

In diesem Moment duckte sich ein kleines Mädchen in den Schatten einer hoch gewachsenen Eiche und ließ ihre Hand durch einen Korb mit gesammelten Eicheln gleiten. Sie pflückte ab und zu eine heraus, die nicht mehr essbar war und warf sie fort. Ihr Blick glitt ab und zu über die lichtgeflutete Lichtung, in dessen Mitte sich ein gewaltiger Felsbrocken befand. Er war flach und manchmal lag sie dort und blickte in den Himmel, zählte die Wolken und manchmal auch die Sterne in der Nacht. Sie wusste, dass sich niemand um sie sorgte, wenn sie sich des Nachts heimlich davonstahl. Ihre Eltern, einst die Oberhäupter ihres Stammes, waren schon lange tot und der einzige Onkel, den sie noch hatte, verbrachte die meiste Zeit im Wald und wollte von seiner Nichte nichts wissen. Deshalb lebte sie bei der Heilerin und Priesterin ihres Stammes am Waldrand. Doch die Frau war so sehr damit beschäftigt Kranke und Verwundete zu behandeln, dass kaum Zeit blieb, sich um das kleine, mutterlose Mädchen zu kümmern.

Fea liebte die Abgeschiedenheit inzwischen. Vielleicht hatte sie sie lieben gelernt, da sie nie eine andere Wahl gehabt hatte. Schon immer mieden die Kinder ihres Stammes sie, da sie eine Ausgestoßene war. So war es halt. Einst leiteten ihre Eltern diesen Stamm, bis ihr Vater bei einer Mammutjagd schwer verwundet wurde und nach zwei Wochen des Kampfes seinen Verletzungen erlag. Und eine Frau, wie Feas Mutter, konnte einen Stamm nicht ohne Mann führen. Der nächst ranghöchste Jäger und Krieger beanspruchte die Führung des Stammes innerhalb weniger Wochen und ließ Feas Mutter hinrichten, da diese sich den Gegebenheiten nicht beugen wollte. Beinahe hätte der Stammesführer auch Fea getötet, aber es musste die Tatsache gewesen sein, dass sie ein wehrloses dreijähriges Kind gewesen war, das ihn umgestimmt hatte. Dennoch war Feas Leben nicht leicht.

Sie durfte die Erwachsenen nicht direkt ansehen, nicht sprechen, wenn sie nicht gefragt wurde und, wenn es um die Meinung des Stammes zu wichtigen Angelegenheiten ging, war ihre Meinung unrelevant. Nicht einmal mit den anderen Stammesmitgliedern beten durfte sie. Es war ihr schlichtweg verboten, den Göttern in Anwesenheit der Übrigen zu huldigen und ihnen für ihr Leben zu danken, denn das würde sie ins falsche Licht rücken. Es wäre, als würde sie ihrer verräterischen Mutter Recht in allem geben. Und das durfte sie nicht.

Und, da sie ohnehin kaum jemand im Lager sehen wollte, verbrachte sie die meiste Zeit draußen in der Natur. Im Zelt der Heilerin würde sie nur Kräutergestank und das Jammern alter Männer erwarten, die sich über ihre Gebrechen beschwerten.

Manchmal weinte sie darüber, dass sie so behandelt wurde. Manchmal fluchte sie sogar, aber sie hatte es im Laufe ihres kurzen Lebens akzeptiert. So geschah es jenen, die viel besaßen. Ihre Familie hatte viel besessen. Ihr Vater war Stammesführer und oberster Jäger und Krieger gewesen. Eine große Ehre und er hatte mit seinem Leben bezahlt und auch das seiner Frau und seiner kleinen Tochter für immer verändert.

Nun zählte Fea acht Winter und seit fünf lebte sie nun schon dieses Leben.

»Du siehst aus, wie ein kleiner Fuchs.«

Die Stimme erschreckte sie, sodass sie einen kleinen Schrei ausstieß und der Korb von ihrem Schoß fiel, als sie zur Seite robbte. Ihr schmaler Rücken presste sich an einen wulstigen Stamm und in der Fellkleidung wurde ihr auf einmal viel zu warm. Sie kniff die Augen gegen die grelle Sonne zusammen und hielt sich eine Hand vor das Gesicht, um besser sehen zu können.

Ein Junge stand vor ihr. Er war schmal gebaut, beinahe zwei Köpfe größer als sie und trug eine lederne Hose, ein Fellgürtel war um seine schmalen Hüften gezurrt. Seine Füße steckten in relativ großen Fellstiefeln, aber sein Oberkörper war nackt. Auf seiner Kinderbrust prangte eine kunstvolle Malerei mit schwarzer Farbe und Fea konnte erkennen, dass er am Hals tättowiert war. Ein runenhafter Schriftzug zog sich vom Anfang seines Halses fast bis hinunter zur Schulter. Dennoch wirkte sein Gesicht jungenhaft, sein dunkelbraunes, leicht rötlich schimmerndes Haar war kurz und gepflegt.

Seine großen hellbraunen Augen hatten etwas von geschmolzenem Gold.

»Habe ich dich erschreckt?«

Sie starrte ihn weiterhin an, dann schüttelte sie ärgerlich den Kopf.

Er gluckste. »So wie du geschrien hast, sagt mir das aber etwas anderes.«, bemerkte er vergnügt. »Kannst du auch sprechen?«

»Natürlich kann ich sprechen!«, blaffte sie und griff nach dem Korb, starrte auf die verteilten Eicheln um sie herum. »Und ich sehe gar nicht, wie ein Fuchs aus. Füchse sind hinterlistig.«

»Wer weiß, vielleicht bist du es ja.« Der Junge sah auf sie hinunter, als sie sich hinkniete und die Eicheln aufsammelte. »Wie heißt du?«

»Ich soll nicht mit Fremden reden.« Sie griff sich eine Handvoll Eicheln und warf sie zurück in den Korb.

»Also, ich bin Dillion. Jetzt kennst du mich. Ich bin kein Fremder. Ich finde es nur fair, wenn ich auch deinen Namen kenne.«

Sie runzelte verärgert die Stirn, ignorierte ihn und fingerte sich die Eicheln aus dem hohen, blumig duftenden Gräsern. Das war gar nicht so leicht, ohne sich mit den scharfen Halmen in die Finger zu schneiden.

Der Junge schnaubte ungeduldig, als wäre er es nicht gewohnt, dass man ihm nicht Rede und Antwort schuldete. Im nächsten Moment kniete er neben ihr und sammelte ebenfalls die Eicheln auf, die Fea hinunter gefallen waren. Sie harrte aus, als sie ihn im Augenwinkel bemerkte und starrte ihn an. Was tat er da? Als alle Eicheln im Umkreis aufgesammelt waren, griff er nach dem Korb und stand auf. Auch Fea stemmte sich auf die Beine, da drückte ihr der Junge den Korb auch schon an die Brust.

»Sagst du mir jetzt deinen Namen?«

»Warum sollte ich? Du kommst nicht von meinem Stamm. Ich kenne dich nicht. Und ich muss bald zurück, meine Eltern werden sich wundern, wo ich bleibe.« Sie wusste, dass dies eine Lüge war, aber sie wollte den Fremden so schnell wie möglich loswerden. Fremde in den Wäldern zu treffen, die offentsichtlich nicht von ihrem Stamm kamen, war nicht gut. Vielleicht trieben sich noch andere in den Wäldern rum. Erwachsene.

»Ich habe dir mit den Eicheln geholfen!«, sagte der Junge. »He, warte! Wo gehst du hin?«

»Heim! Und du gehst mir auf die Nerven!« Sie knurrte die Worte und folgte dem plattgetrampelten Pfad entlang, der sie zurück nach Hause geleiten würde.

Der Junge, Dillion, blieb stehen und sah ihr nach. »Wir sehen uns bestimmt wieder, kleiner Fuchs!«

»Ganz bestimmt nicht.«, brummelte Fea vor sich hin und beschleunigte ihren Schritt. Nach ein paar Minuten merkte sie, dass ihr der Junge nicht mehr folgte. Das war seltsam...

 

An diesem Nachmittag tobte einer der seltenen Frühlingsstürme. Dennoch hatte sich Fea auf den Weg zu der geheimen Lichtung gemacht, um etwas alleine zu sein. Der Mittag war für sie nicht sehr erfreulich gewesen, denn sie hatte sich mit der Tochter des Stammführers gestritten. In ihrer Wut darüber, dass das Mädchen, das nur zwei Winter älter war, als sie, in ihren Sachen herum wühlte, hatte Fea sie geschubst. Ihr war nichts geschehen, aber Fea hatte gleich gegen zwei Regeln verstoßen, die ihre Ausgestoßenheit mit sich brachte. Sie hatte es gewagt, die Tochter des Stammesführers anzurühren und sie zu verletzen.

Ihre Strafe waren drei Ohrfeigen gewesen. Wie immer, wenn sie einen Fehler gemacht hatte, übernahm ihre Bestrafung der erste Jäger des Stammesführers.

Sie rieb sich über die aufgeplatzte Lippe und stapfte weiter den matschigen Pfad entlang zur Lichtung.

Als sie ankam, spiegelte sich das fahle Tageslicht in den tausenden Wassertröpfchen auf den Halmen der Gräser. Diesmal summten keine Bienen in der Luft. Von dem großen Sonnenfelsen tropften Wassermassen hinunter, tränkten den Boden. Fea stapfte auf ihn zu, statt sich unter den Bäumen Schutz vor dem Regen zu suchen. Sie kletterte auf den nassen Felsen, es war ihr egal, dass ihre Kleidung durchnässte und zog die Kapuze ihres Fellmantels tiefer in ihr Gesicht. Ihre roten Strähnen klebten ihr an den Wangen, die bereits eine rötliche bis bläuliche Farbe annahmen.

Sie seufzte leise und zog ihre Beine eng an ihren schmalen Körper.

»Dich bei diesem Regen hier zu sehen, hätte ich nicht gedacht.«

Fea fuhr zusammen und hob den Kopf. Beinahe direkt neben ihr lehnte der aufsässige Junge, den sie vor wenigen Tagen das erste Mal hier traf. Sein dunkelbraunes Haar klebte ihm nass an Stirn und Wange und seine goldenen Augen blitzten vor Schelm. Aber Fea war überhaupt nicht nach Lachen zu Mute. Sie betrachtete seine Kleidung. Heute war sein Oberkörper von einem leichten Lederhemd bedeckt und sie konnte einen Blick auf eine Runentättowierung an der Innenseite seines rechten Unterarmes erhaschen.

»Was ist los, kleiner Fuchs? Heute keine Lust, dich mit mir zu streiten?«

Fea zog die Kapuze von ihrem Gesicht und sah ihn ernst an.

Dem Jungen schien das Lachen im Halse stecken zu bleiben und starrte Fea für eine gefühlte Weile sprachlos an. »Wer hat das gemacht?«

Sie schüttelte den Kopf und legte das Kinn auf ihren Knien ab. »Das ist unwichtig. Ich war selbst Schuld.«

»Inwiefern? Was hast du denn verbrochen?« Seine Stimme klang finster.

»Du kennst mein Volk nicht, Fremder. Du würdest es nicht verstehen.«

»Ich verstehe es auch nicht«, bemerkte er und kletterte neben sie auf den Felsen, um sich neben ihr auf den nassen Stein zu setzen. »Ich verstehe nicht, wie man ein kleines Mädchen schlagen kann. Was hast du gemacht, dass dir jemand wehtut?«

Mit großen Augen starrte sie ihn an. Und dann erzählte sie ihm von dem Vorfall im Lager. Sie erzählte ihm von ihrer Situation. Davon, dass sie keine Eltern mehr hatte, dass niemand daheim auf sie wartete. Sie erklärte ihm, dass sie die Tochter des Stammesführers nicht hätte anrühren dürfen und es aus Wut dennoch tat. Und, wie der Stammesführer den Befehl erteilte, sie zu erziehen. Dillion saß neben ihr, hörte ihr zu und unterbrach sie kein einziges Mal, wenn sie davon sprach, wie sie im Zelt der Heilerin lebte.

Irgendwann schwieg Fea und starrte wieder auf die Lichtung. Es war ihr sogar egal, dass Dillion nun wusste, dass sie ihn angelogen hatte, als sie ihm sagte, dass ihre Eltern auf sie warteten. Auf sie wartete niemand.

»Das sind seltsame Regeln, die dein Volk da hat«, murmelte Dillion nach einer Weile, dann berührte er ihre schmale Schulter. »Darf ich jetzt deinen Namen wissen? Jetzt, wo ich auch alles andere irgendwie weiß?«

Sein Lächeln war freundlich und Fea musste trotz ihrer Verletzungen ebenfalls lächeln.

»Fea«, murmelte sie leise.

Dillion hob die Brauen. »Wie die Fee?«

Fea schüttelte den Kopf. »Wie die Göttin.«

»Die Kriegergöttin? Nach ihr bist du benannt?«

Fea blickte ihn etwas beleidigt an. »Wieso denn nicht?«

»Du wirkst auf mich eher wie eine Fee, als wie eine Kriegerin.«

Sie starrte ihn an, dann schnaubte sie empört und stand auf. Umständlich hüpfte sie von dem Felsen, wobei Wassertropfen vom nassen Gras in alle Richtungen stoben. Geradewegs stapfte sie zum Ende der Lichtung, um zurück zum Lager zu laufen.

»He! Warte!« Sie hörte Dillion ebenfalls vom Felsen springen.

»Lass mich in Frieden! Du hast doch keine Ahnung!«, fauchte Fea ihn wütend an. »Ich habe schon immer gekämpft! Als ich geboren wurde, atmete ich nicht! Die Götter schenkten mir durch ein Wunder das Leben, nur, damit ich alle verliere, die mir wichtig waren. Und jetzt kommst du und erzählst mir etwas von Feen und Kriegergöttinnen. Du weißt nichts!«

Dillion blieb stehen und sah sie nur an. »Dann erkläre es mir doch.«

»Was willst du von mir? Warum sollte ich dir die Gebräuche meines Volkes erklären?«

Er zuckte die schmalen Jungenschultern und tippte ihr auf die Stirn. »Lass mich dir eine Gegenfrage stellen.«

Gespannt verharrte sie, während sein Finger auf ihrer Stirn lag.

»Du hast keine Familie. Keine Eltern, keine Freunde. Du bist eine Ausgestoßene. Du sagtest selbst, dass niemand auf dich wartet. Warum weist du mich ab, wenn ich der Einzige bin, der dein Freund sein will, kleiner Fuchs?«

Benommen sah Fea ihn an. Seine Worte drehten sich hin und her in ihrem Kopf, wirbelten herum und drangen in ihren Geist und ihre Seele. Sie spürte seinen Finger fester gegen ihre Stirn drücken. Dann blinzelte sie, als sie seine Worte endlich verstand. Er wollte ihr Freund sein? Sie hatte noch nie einen Freund. Bisher hatte es auch niemand sein wollen. Die Kinder im Lager starrten sie immer so abwertend an, mieden ihren Blick und gingen weg, wenn Fea ihren Weg kreuzte. Warum wollte ausgerechnet er ihr Freund sein?

»Warum solltest du mein Freund sein wollen?«

»Ich will mit jemandem reden, der mich nicht jedes Mal, wenn ich den Mund aufmache, kritisch beäugt.«, murmelte er und nahm die Hand fort. »Jetzt geh' heim, kleiner Fuchs.«

Sie blinzelte. »Sehe ich dich wieder, Dillion?«

Ein Lächeln lag auf seinen Lippen und ein Grübchen bohrte sich tief in seine Wange. »Das wirst du, kleiner Fuchs.«

 

»Was ist das für eine Spur?«

Dillion beäugte sie kritisch, während sie sich die im Schlamm festgetretenen Spuren ansah, die sich zu ihren Füßen fand. Sie kniete sich nieder und betrachtete die Spur ganz genau. Sie biss sich von innen auf die Lippe, als sie seinen strengen Blick bemerkte. Dillion war ein strenger Lehrer, obwohl er nur vier Winter mehr zählte, als Fea. Sie hatten sich nun schon oft auf der Lichtung unweit ihres Lagers getroffen, hatten geredet und manchmal zusammen Kräuter gesucht, wenn sie für die Heilerin ihres Stammes welche besorgen musste. Sie erzählte ihm dabei vom Stammesleben. Von ihren Bräuchen und Riten, von dem strengen Glauben, der in ihrem Stamm herrschte. Im Gegenzug erzählte Dillion ihr etwas über die Natur und die Jagd, jedoch nie etwas über sein Volk. Er sagte ihr nie, woher er kam, oder, ob er Verwandte hatte, wenn sie ihn danach fragte. Auf seiner Stirn erschien bloß eine kleine Zornesfalte und er schüttelte den Kopf.

Nun hatte Dillion ihr das Angebot gemacht, ihr etwas über die Jagd beizubringen.

»Ich... eine Bergziege?«

»Ist das eine Frage?« Dillion stand mit verschränkten Armen neben ihr.

»Nein«, blaffte sie und stand wieder auf.

Die Luft um sie herum war frisch vom Regen und roch nach feuchter Erde. Der Sommer war bereits vorbei, die heißen Tage kühlten ab, die Nächte wurden länger und das Blätterdach der Laubbäume färbte sich in den prächtigsten Gold- und Rottönen. Sie hatten sich nun schon öfter heimlich auf der Lichtung getroffen, da ihr Stamm nichts davon wissen durfte. Der Stammesführer war Fremden gegenüber misstrauisch und einem Jungen, der so gekleidet war und so tättowiert war, wie Dillion hätte er gewiss als Bedrohung gesehen.

»Du bist zu heißblütig, kleiner Fuchs.«, sagte Dillion. »Zu ungeduldig.«

»Sag mir doch einfach, was das für eine Spur ist und wir können uns darum kümmern, das Tier zu erlegen.«

Ärgerlich musterte Dillion sie. »Wenn ich dir sagen würde, von welchem Tier diese Spur stammt, was hättest du dann gelernt?«

Schnaubend zog Fea einen Schmollmund und starrte wieder auf die Spur zu ihren Füßen.

»Du musst lernen, dem Wald zuzuhören, in dem du lebst. Alles kann ein Vorteil sein. Das Rauschen der Blätter, der Tröpfeln von Wasser, der Wind in deinem Gesicht. Bei einer Jagd geht es nicht in erster Linie darum, das Tier zu töten.«

»Worum geht es denn dann?«, fragte Fea unwissend.

»Es geht darum, wie du deine Beute zur Strecke bringst. Wenn du wie ein Mammut durch den Wald marschierst, wirst du hungrig zu Bett gehen, Fea. Wenn du allerdings geschickt bist, wenn du auf den Wind lauscht, kannst du dich an deine Beute anschleichen, bevor sie dich wittert. Wenn du auf den Boden achtest, kannst du dich anschleichen, bevor sie dich hört.«, erklärte Dillion. »Wenn du weißt, von welchem Tier die Spur stammt, die du verfolgst, siehst du dich vielleicht einer einfachen Beute, einer Bergziege, oder einem Riesenhirsch gegenüber, der dich töten könnte. Verstehst du, worauf ich hinaus will?«

Sie seufzte leise und ließ den Kopf sinken. »Ja. Ich verstehe.«

Dillion nickte und deutete in die Richtung, aus der sie von der Lichtung gekommen waren. »Lass uns zurückgehen. Ich denke, du bist noch nicht soweit.«

Fea wollte schon widersprechen, aber ein finsterer Blick von Dillion gebot sie zu schweigen. Zusammen gingen sie den matschigen Pfad zurück zur Lichtung. Das Gras war beinahe gold gefärbt, die Blüten waren vergangen und warteten darauf im nächsten Frühling erneut zu erblühen. Der Fels war in fahles Licht getaucht, da es bereits zum Abend dämmerte.

»Du solltest jetzt heim gehen, kleiner Fuchs. Es wird schon dunkel.«, sagte Dillion und blickte nach Norden.

»Wo gehst du hin?«

Dillion drehte den Kopf. »Wir haben doch schon darüber gesprochen, Fea. Ich will nicht weiter darüber reden. Ich gehe dahin, wo mich meine Füße hintragen. Und du, wo dich deine hintragen. Geh jetzt.«

Sie seufzte leise, ließ die schmalen Schultern hängen, dann wandte sie sich um und lief den Pfad entlang zum Lager zurück.

 

Zwei Tage später waren Dillion und Fea wieder in den Wald aufgebrochen. Diesmal jedoch ließ er sie keine Spuren lesen. Dafür war das Mädchen noch nicht bereit. Er brachte ihr stattdessen bei, den Wald in seiner Hülle und Fülle besser wahrzunehmen. Auf jedes kleine Geräusch zu achten, sei es das Knirschen von Eichhörnchenzähnen auf Nüssen, das Hämmern eines Spechtes oder das Zetern streitender Waschbären. Er zeigte ihr, wie sie, auch ohne den Himmel zu sehen, Norden und Süden finden und so immer den Weg wissen konnte. Anhand feuchter Erde und der Ausrichtung der Blätter eines Baumes wies er ihr den sicheren Weg zu einer Süßwasserquelle oder einen Bach. Er zeigte ihr, wie man aus den Rinden der Bäume, Larven klaubte, die einem im Falle des Hungers, über die Tage helfen konnten, bis man echte Beute machte.

»Atme den Wald, kleiner Fuchs.«, sagte er stehts zu ihr und sie versuchte seine Lektionen zu beherzigen. Gierig saugte sie jedes seiner Wörter auf, verfolgte seine anmutigen Bewegungen mit großer Neugier. Niemand hätte ihr aus dem Stamm gewagt, das Jagen beizubringen. Die meisten Frauen ihres Stammes waren keine Jägerinnen. Sie wurden von ihren Müttern zu Kräuterkundige und anständige Weiber erzogen, die von einem Mann begehrt werden würden. Nur wenigen Frauen war es gestattet, Jägerin zu werden. Nur Mädchen, die von Anfang an, ein Talent dafür besaßen. Noch unwahrscheinlicher war es, dass man sie als Jägerin akzeptieren würde. So etwas gehörte sich für Gewöhnlich nicht für eine Frau ihres Stammes.

Umso glücklicher war sie jede Stunde, die sie mit Dillion im Wald verbringen konnte.

Die Tage verstrichen so schnell, dass Fea sie gar nicht zählen konnte. Der Herbst machte einem bitterkalten Winter Platz. Das Laub war von den Bäumen gefallen, nur noch die Nadelbäume, Tannen und Fichten, besaßen ihr immerzu stacheliges Blattwerk. Eine weiße Decke hatte sich über das Land gebreitet, das Zwitschern der Vögel war erstorben und die Tiere hatten sich in den Schutz ihrer Unterschlüpfe zurückgezogen. Hier und dort sah man noch das Werk eines Rehs, wenn die Rinde der Jungbäume bis zu einer bestimmten Höhe abgenagt waren.

Fea hatte sich in ihrer kleinen Ecke im Heilerzelt am Waldrand zurückgezogen. Sie lag auf ihren Deckenrollen und zitterte, obwohl eine dicke Wolldecke über ihr bereitet war. Das Essen, was ihr die alte Heilerin hingestellt hatte, hatte sie nicht anrühren können, so sehr schmerzte das Schlucken in ihrer Kehle. Seit Tagen fieberte sie furchtbar und konnte nicht mehr zu Dillion in den Wald gehen. Es frustrierte sie, dass sie ans Bett gefesselt war. Sicherlich fragte sich Dillion bereits, ob sie überhaupt noch einmal wiederkam. Es waren jetzt bereits drei Tage, die sie nicht mehr auf der Lichtung war.

Sie hustete leise in ihre Faust und krümmte sich enger zusammen. Schüttelfrost rüttelte ihren Körper durch.

»Ich werde noch etwas Tee kochen.«, murmelte die Heilerin, nachdem sie Feas Stirn mit ihren eisig kalten Knochenfingern berührt hatte. Sie schlurfte schwerfällig durch das Zelt und verließ es schließlich, um neue Kräuter zu holen.

Müde schloss Fea die Augen.

»He, kleiner Fuchs.«

Sie riss die Augen auf und drehte suchend den Kopf.

Dillion quetschte sich gerade unter der schweren Zeltplane hervor und kniete sich an ihr Lager.

»Was machst du hier?«, flüsterte sie panisch und blickte zum Zelteingang. »Wenn dich hier jemand sieht, Dillion!«

»Keine Sorge, kleiner Fuchs. Mich sieht man nicht so leicht.«, bemerkte er und legte eine Hand an ihre Stirn, die wunderbar kühl im Vergleich zu ihrer glühenden Haut war. »Bei den Göttern, du glühst ja.«

»Die Heilerin sagt, es sei eine Grippe«, krächzte Fea und ließ sich schwach auf ihr Lager zurücksinken.

Dillion runzelte die Stirn und blinzelte ein paar Mal, ehe einen Finger auf Feas Stirn drückte. Auf einmal glühten seine Augen eisblau auf und ein warmer Schauer durchfuhr Feas Körper. Die Luft um sie herum schien stillzustehen. Kein Staubkorn bewegte sich mehr, dann war dieser seltsame Moment auch schon wieder vorbei und sie wurde unglaublich schläfrig. Dillions Augen hatten aufgehört, wie geschmolzener Stahl zu glühen und er zog die Decke höher bis an ihr Kinn.

»Was hast du gemacht?«, flüsterte sie schläfrig, wobei ihr Rachen nicht mehr so entsetzlich brannte.

»Etwas, damit es dir bald besser geht, kleiner Fuchs. Jetzt schlaf und ich sehe dich in drei Tagen wieder auf der Lichtung. Ruhe dich solange gut aus. Beim nächsten Mal werden wir einen Riesenhirsch jagen.«

Obwohl Feas Herz aufgeregt in ihrer Brust hüpfte, schlief sie beinahe noch, als er mit ihr redete, ein.

 

Drei Tage, nachdem Dillion sie im Zelt der alten Heilerin besucht hatte, wachte sie motiviert auf. Ihre Glieder fühlten sich nicht länger schwer und schmerzhaft an und ihr Kopf war leicht und frei. Sie setzte sich in ihrer Schlafstätte auf und krabbelte unter den ganzen Decken hervor, griff sich das Speisebrett, das ihr die Heilerin am gestrigen Abend hingestellt hatte und verschlang alles, was sich darauf befand. Danach lief sie zu dem kleinen Wassereimer, der sich, immer gefüllt, im Zelt befand. Rasch unterzog sie sich einer kurzen Katzenwäsche, schrubbte ihr Haar und ihre Zehen. Danach zog sie sich ein frisches, gut warm haltendes Fell über und stürmte nach draußen.

Kalter Wind schlug ihr entgegen, vereinzelt spürte sie die Wärme der Lagerfeuer und der Duft von gebratenem Fleisch wehte zu ihr herüber. Aber Fea konzentrierte sich darauf, was Dillion gesagt hatte. Heute würde sie einen Hirsch jagen.

Sie hoffte, dass die Lektionen, die ihr Dillion bisher erteilt hatte, ausreichend waren.

Seit Tagen, bevor sie erkrankt war, hatte er sie im Spurenlesen unterwiesen. Er hatte ihr gezeigt, wie man alleine nur an dem Geäfte erkennen konnte, ob sich eine Bergziege oder ein wilder Keiler sich in der Nähe verbergen konnte. Er hatte ihr Wolfsspuren und Bärenspuren gezeigt. Nun kannte sie die Spuren und hoffte, dass sie Dillion zufriedenstellen könnte.

Fea rannte den Weg aufgeregt entlang bis sie in den Schutz des Waldes eintauchte. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen und stob von den Gebüschen auf, an denen sie vorbei wetzte. Ihre Lungen brannten, als sie endlich an der Lichtung angelangte. Dort stand Dillion bereits neben dem Felsen. Feas Herz schlug aufgeregt, als sie die Waffe in seinen Händen sah. Es war ein Bogen, der genau für ihre Größe gemacht zu sein schien. Sie lief zu ihm und blieb gespannt vor ihm stehen.

Doch Dillions Gesichtsausdruck wirkte ernst.

Sie runzelte die Stirn. »Ist alles in Ordnung?«

Er reagierte für einen Moment nicht, als hätte er sie gar nicht bemerkt, dann blickte er auf sie hinunter, beinahe etwas träge. »Alles gut. Hier. Nimm den Bogen und dann, finde einen Hirsch für mich.«

Sie nahm den Bogen und blinzelte leicht, ehe sie die Sehne dehnte und zufrieden die Kraft des Bogens testete. Als Dillion ihr den Köcher mit den Pfeilen hin hielt, nahm sie ihn entgegen und führte ihn dann in den Wald. Dillion ging ein paar Schritte hinter ihr, während sie in den Wald horchte. Das nackte Geäst der Bäume raschelte im leichten Wind, der weiße Teppich zu ihren Füßen glitzerte in der Sonne und knirschte leise bei jedem Schritt. Es war schwer, im Winter zu jagen. Aber Fea war entschlossen.

Auf einer Anhöhe sah sie einige Spuren im Schnee glitzern.

Sie blieb stehen und kniete sich nieder.

»Ein Hirsch?«, wollte Dillion wissen.

Fea schüttelte den Kopf und erhob sich. »Nein. Ein Wildschaf.«

»Gut, dann weiter.«

Sie nickte und lief weiter, erklomm einen Felsbrocken und eine weitere Anhöhe. Sie umrundeten dicke Bäume und Tannen, die in den Himmel ragten. Bis sie eine neue Spur aufspürte. Nachdenklich hockte sie sich nieder, betrachtete die Fährte genau. Dillion blieb neben ihr stehen, wartete.

»Auch kein Hirsch.«, erklärte sie und stand wieder auf, sah seinen auffordernden Blick. »Zu breit. Hier ist ein alter Keiler lang gekommen.«

Dillion nickte zufrieden und nickte wieder Richtung Wald. Fea nickte zurück und führte ihn weiter nach Norden, wo der dünne Bach, dem sie in einigem Abstand folgten, in einem See mündete, dessen unterirdische Quelle, unendlich viel Wasser speiste. Während Fea ihn so durch den Wald führte, musste sie wieder an den Abend im Zelt denken.

»Vor drei Tagen, im Zelt... was hast du da gemacht?«

Dillion schwieg einen Moment, dann atmete er tief durch. »Ich habe dich besucht, das weißt du doch.«

Fea schüttelte den Kopf. »Du weißt genau, was ich meine. Deine Augen haben geglüht, als wärst du von einem Geist besessen, als du meine Stirn berührt hast.«

»Das war gar nichts, Fea.«

»Aber...«

»Lass es gut sein, ja?« Seine Stimme klang ärgerlich, viel zu ernst. Etwas stimmte nicht. Sie spürte es mit jeder Faser ihres Körpers und auch sein ernstes Gesicht sagte ihr, dass etwas nicht in Ordnung war. Aber Dillion schien nicht weiter darüber reden zu wollen. Er stapfte voran und ließ Fea wortlos stehen.

Sie seufzte leise, da sie ihn offensichtlich nervte und flitzte an ihm vorbei weiter durchs Unterholz, bis sie eine neue Spur fand. Diesmal war sie sich sicher, dass es ein Hirsch war. Ein ausgewachsener Bulle. Aufmerksam hob sie den Kopf und lauschte in den Wald. Sie horchte auf Schritte, auf das Röhren des Hirsches oder andere Anhaltspunkte, die ihr sagten, in welcher Richtung sie suchen musste. Sie schlich mit Dillion im Schlepptau durch den Wald, über umgestürzte Baumstämme und zwischen Gebüschen hindurch. An einigen Zweigen entdeckte sie weiße Fellfetzen.

Fea pflückte das Fell von den Zweigen und schnüffelte daran. Er roch nach Moschus und Erde. Sie warf das Fellstück beiseite und zog den Bogen von ihrem Rücken. Er war nicht weit, sie spürte es. In geduckter Haltung schlich sie vorwärts bis hin zu einer kleineren Lichtung. Felsbrocken und umgestürzte Baumstämme deckten Fea und Dillion, als sie das mächtige Geschöpf mit schweren Schrittes durch den Schnee stapfte. Das gewaltige Geweih glänzte kritallern im Sonnenlicht und Eiszapfen hingen daran herab. Es war ein Eishirsch... das weiße, schimmernde Fell, von dem bei jedem Schütteln Schnee stob und das klirrende Geweih bestätigten die Legenden dieses Riesenhirsches. Anders als die goldbraunen Geschöpfe im Süden des Landes auf den Ebenen.

»Er ist wunderschön«, flüsterte Fea Dillion zu.

Dieser hatte sich neben sie gehockt. »Ja, das ist er. Nimm einen Pfeil und denk daran, was ich dir beigebracht habe, Fea. Du hast nur eine Chance.«

Mit zitteriger Hand griff sie nach einem Pfeil und legte ihn ein, bevor sie tief durchatmete und sich erhob. Sie zog den Pfeil an, spannte die Sehne und fühlte die Spannung in ihrem ganzen Körper. Ihr Herz pochte an ihrem Hals und Schweiß trat auf ihre Stirn, als sie auf den verwundbaren Kopf des Hirsches zielte. Nur so würde sie das gewaltige Tier zu Fall bringen können. Tief durchatmend konzentrierte sie sich auf die Lektionen, die Dillion ihr gegeben hatte.

Den Bogen ruhig halten, ein Auge schließen und die Pfeilspitze in die Richtung halten, die sie treffen sollte. Den Kopf, mitten durch die Schläfe sollte er gehen. Die Schläfe war ein relativ dünner Knochen und der Pfeil würde einfach hindurch brechen und den Hirsch auf der Stelle töten. Es gäbe nicht einmal viel Blut.

Doch dann drehte der Hirsch auf einmal den Kopf in ihre Richtung.

Blau glühende Augen starrten sie an. So blau, wie gefrierendes Eis.

Das Tier hob den Kopf und schnüffelte, es witterte sie und blickte sie direkt an, floh jedoch nicht.

»Warum läuft er nicht weg?«

»Vielleicht kennt er keine Menschen.«, bemerkte Dillion. »Er hat keine Angst. Es ist beinahe unfair.«

Sie erinnerte sich plötzlich an eine Lektion, die Dillion nie wieder angesprochen hatte. Er hatte ihr nur ein einziges Mal die Grundlage des Jagens erklärt und hatte es danach nie wiederholt. Bei der Jagd ging es nicht einfach nur um das Töten der Beute. Es ging darum, abzuwägen, was wichtiger war. Was war denn wichtiger im Moment? Welches Leben wog mehr? Es war ein Abwägen. War es wichtiger, dass dieses Tier starb, damit mehr Menschen überleben konnten?

Nein.

Sie würde den Körper dieses Hirsches nicht stolz ins Lager tragen können.

Kein Mensch würde von seinem Fleisch satt werden.

Weil sie eine Ausgestoßene war und eigentlich nicht einmal eine Waffe tragen dürfte.

Sie entspannte sich und ließ den Bogen sinken. »Die Jagd ist nicht das reine Töten einer Beute. Es ist ein Abwägen von Leben und Tod. Keines meiner Stammesmitglieder würde akzeptieren, wenn ich jage. Keiner wird von seinem Fleisch kosten. Sein Tod wäre ein sinnloser Tod.«, sagte sie.

Dillion sah sie anerkennend an und erhob sich.

Der Hirsch hatte sich bereits abgewandt und ging fort.

»Das hast du gut gemacht, kleiner Fuchs.«, sagte Dillion und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Die Jagd ist ein ständiges Abwägen. Lohnt es sich einen Riesenhirsch oder bloß ein zwei Tauben zu schießen. Du musst abwägen, wie viele Menschen von deiner Beute satt werden. Nur du, oder ein ganzer Stamm. Ich bin stolz auf dich.«

»Ich hatte einen guten Lehrer.«, bemerkte Fea. »Woher hast du das Jagen gelernt?«

Dillion rieb sich die Stirn. »Mein Vater hat es mir beigebracht.«

Fea blinzelte. »Ist er tot?«

»Ja.«, seufzte Dillion und blickte in den Himmel. »Aber sein Geist ist immer bei mir. Er leitet mich. Genauso, wie deine Eltern dich leiten, Fea. Komm. Es ist schon spät. Wir sollten zurückgehen.«

Als sie die Lichtung wieder erreichten, wollte Fea Dillion den Bogen zurückgeben.

Er schüttelte den Kopf. »Behalte ihn.«

»Ich kann ihn aber nicht ins Lager mitnehmen.«, bemerkte sie.

»Verstecke ihn und übe mit ihm. Ich bin mir sicher, dass du eine gute Jägerin werden wirst, kleiner Fuchs.«

Fea wollte den Mund öffnen, um zu antworten, als ein Ruf die Stille des Wald zerriss.

»Dillion!«

Der Junge neben ihr erstarrte wie angewurzelt. Sie sah, dass Schweiß auf seine Stirn trat. Dillion packte Fea am Oberarm und stieß sie zu den Bäumen. Verwirrt stolperte sie mit ihm, versuchte in die Richtung zu starren, aus der die Rufe drangen, aber Dillion zerrte sie weiter, stieß sie ins Gebüsch.

»Was ist denn los?!«, rief Fea.

»Sei still!«, zischte Dillion und zerrte sie auf die Knie. »Bleib hier, versprich es mir. Egal, was passiert, bleib hier! Bewege dich nicht und mach keinen Mucks!«

Verwirrt nickte sie und spürte seinen Finger auf der Stirn.

»Versprich es«, forderte er.

»Versprochen.«

Dillion nickte angespannt, in seinen Augen stand die Angst, als er ihr ein kleines Messer in die Hand drückte. Dann stand er auf und trat wieder auf die Lichtung, da brachen drei hoch gewachsene Männer durch die Sträucher auf der anderen Seite der Lichtung. Sie trugen schwarze Kleidung, Felle und Lederhosen, Stiefel, die ihnen bis zu den Knien reichten. Ihre Äxte waren mit glühenden Runen versehen. Sie stapften geradezu auf Dillion zu. Sie redeten kurz mit ihm, aber Fea verstand nicht, was sie sagten. Dann stolperte Dillion einen Schritt zurück und die Faust des Mittleren fuhr geradewegs in sein Gesicht.

Beinahe hätte Fea geschrien vor Entsetzen, aber sie presste ihre Fäuste auf ihren Mund.

Der Mittlere warf sich den bewusstlosen Dillion über die Schulter und sie Männer verließen mit ihm die Lichtung.

Benommen saß Fea in ihrem Versteck, wusste nicht, was sie von dem Geschehen halten sollte. Sie machte sich Sorgen um Dillion. Sie hatten ihn einfach so geschlagen! Sie blickte sich mit verschwommenem Blick um, dann schob sie ihren Bogen in einen hohlen Baumstumpf und stand auf. Sie lief auf die andere Seite der Lichtung, aber so sehr sie sich bemühte, die Männer zu finden, die Dillion mit sich genommen hatten, sie waren fort. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zurück zu ihrem Lager zu gehen und zu hoffen, dass sie Dillion wiedersah.

 

Doch sie sah ihn nicht wieder.

Jeden Tag kehrte sie zur Lichtung zurück. Die ersten Tage verharrte sie auf dem Felsen und blickte sich scheu um, in der Befürchtung, dass die Männer wiederkehren und sie entdecken könnten. Aber niemand kam auf die kleine Lichtung. Irgendwann begann sie mit dem Bogen zu jagen, in der Hoffnung, dass Dillion bei ihrer Rückkehr zur Lichtung an dem Felsen lehnte. Doch auch das tat er nicht. Sie jagte kleine Tiere, Eichhörnchen und Hasen, um selbst satt zu werden. Manchmal legte sie die Tiere auch auf den Felsen, falls Dillion doch kam. Sie wollte ihm zeigen, dass sie nun jagen konnte. Abends versteckte sie den Bogen in dem hohlen Baumstumpf und kehrte zu ihrem Stamm zurück.

So ging es Jahr ein, Jahr aus.

Aber sie sah Dillion nicht wieder.

Sie hatte den einzigen Freund verloren, den sie jemals gehabt hatte. Und sie hatte keine Ahnung, ob er noch am Leben war, oder nicht.

EINS

 

Der Himmel war klar und blau, einige Wolken zogen an diesem Frühlingstag über das Land. Ein lauer, sanfter Wind wehte durch die Schluchten und Bergkuppen des Weißen Gebirges. Die hellen Spitzen der Gipfel glänzten in der Morgensonne. In den Tälern hing noch leichter Nebeldunst. Auf den Bergpflanzen glitzerte der Tau. Leicht blinzelte ich, auf meinen Bogen gestützt und starrte hinunter in die Tiefe. Direkt vor mir ging der Abgrund steil hinunter bis in den tiefen schwarzen Schlund der Schlucht, über mir den strahlenden Himmel mit der aufgehenden Sonne. Tief atmete ich die frische Bergluft ein und rückte mein Stirnband gerade, das mir das lästige Haar aus dem Gesicht hielt. Dann erhob ich mich endlich, meine Beine waren bereits steif.

Meine Hand umklammerte den Bogen fester, das glatte Holz wog leicht in meiner Hand.

Seit Tagen verweilte ich auf diesen Bergen, nächtigte in meinem gefütterten Schlafsack, nur, um nicht nach Hause zurückkehren zu müssen. Ich genoss diese Abgeschiedenheit, die Ruhe und den Frieden. Es war besser, als in all die Gesichter sehen zu müssen, die mich ohnehin nicht da haben wollten. Manchmal war es aber auch einsam. Niemanden zu haben, mit dem man seine Gedanken teilen konnte, zermarterte einen irgendwann. Aber ich hatte gelernt, es still zu dulden.

Ich hängte mir den Bogen über den Brustkorb und ging zu meinem provesorischen Lager hinüber, das ich an einem der Hänge errichtet hatte. Mit raschen, gezielten Handgriffen rollte ich den Schlafsack zusammen und verstaute das wenige Hab und Gut, das ich besaß, in einem dafür vorgesehenen Beutel, dann schnallte ich mir alles auf den Rücken. Der Köcher, in dem meine Pfeile steckten, hing wie immer um meiner Hüfte. Zum Schluss häufte ich Erde über die Feuerstelle des Vorabends und machte mich auf den Weg zurück zum Lager meines Stammes. Ich wusste, dass die Menschen dort mich nicht vermissten, das tat niemand. Aber ich hatte schlichtweg kein anderes Heim und, da ich in der Wildnis vielleicht für ein paar Tage, aber kein Leben lang überleben würde, musste ich zurück. Ob es mir gefiel oder nicht.

Auf dem Weg zurück durchstreifte ich die Wälder und schoss noch zwei Tauben, die sich auf einem Ast aufgeplustert hatten. Es war leicht, solche Tiere zu schießen. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich es gelernt hatte. Damals hatten mich strenge Augen beobachtet, wenn ich den Bogen gespannt hatte. Es hatte in den Muskeln geschmerzt, aber ich hatte die Zähne zusammengebissen und getan, was er von mir verlangt hatte. Weil ich es geliebt hatte, endlich die Aufmerksamkeit von einem Menschen zu erhalten. Und er hatte mir diese Aufmerksamkeit nur zu gerne geschenkt. Wie oft wir uns getroffen hatten, konnte ich gar nicht zählen, aber irgendwann war diese Zeit vorüber gewesen.

Ich band die beiden Tauben an den Füßen aneinander und warf sie mir über die Schulter, strich mir mit dem blutigen Zeige- und Mittelfinger über die Nase, als Dank an die Götter, dass sie mir dieses Mahl bescherten. Heute Abend würde ich sie in der Feuerstelle im Heilerzelt zubereiten und der Frau, die mich aufgezogen hatte, ein Abendessen geben. Das tat ich öfter, als Gegenleistung, dass sie mich bei sich hatte leben lassen all die Jahre.

Die Gerüche des Lagers wehten mir bereits entgegen. Kochendes Essen, Waschwasser, gegerbtes Leder. Es dauerte nicht viel länger, bis mir auch die Geräusche mit dem Wind entgegenwehten. Ich hörte das Lachen von spielenden Kindern, das Murmeln der Gespräche, das Hämmern, Klopfen, Ratschen von arbeitenden Stammesmitgliedern, das Bellen eines abgerichteten Hundes, das Brutzeln einer Feuerstelle und noch vieles mehr, was das Clanleben ausmachte. Wie immer überkam mich ein unbehagliches Gefühl, wenn ich diese Geräusche und Gerüche wahrnahm.

Sie alle waren einst meinem Vater untergeben gewesen. Sie hatten seinen Rat geschätzt, obwohl er ein junger Mann gewesen war, damals, als er sich noch Stammesführer nennen durfte. Bis zu jenem schicksalshaften Tag, an dem alles zerbrach, das ich gehabt hatte. Sein Tod hatte das Schicksal meiner Mutter besiegelt. Es war schlichtweg Glück gewesen, dass der neue Stammesführer, der damals der erste Jäger meines Vaters gewesen war, es nicht über sich bringen konnte, ein Kind zu töten. Es wäre gegen die Gesetze der Götter gewesen. Der genaue Wortlaut dieses Gebotes lautete: Ehre die Kinder dieser Welt. Er hätte sich gegen die Götter gestellt und das Wohle des Stammes aufs Spiel gesetzt, hätte er mich damals einfach umgebracht. Und so entschied er sich stattdessen, dass mein Leben verwirkt war und ich fortan als Ausgestoßene leben musste.

Was das bedeutete, konnte man kaum an einem einzigen Tag zusammenfassen. Für mich hatte es vor allem Einsamkeit bedeutet. Keines der übrigen Clankinder durfte mit mir spielen, ich durfte sie nicht anfassen oder ansprechen, es sei denn, ich wurde gefragt. Mein Essen bekam ich von der Heilerin, die mich großgezogen hatte und sich notdürftig meiner annahm, als ich als kleines Mädchen zu ihr kam. Wenn es einmal nichts zu essen gab, dann hatte ich Pech. Die Auswirkungen auf mein Leben als Frau waren gravierender. Ich durfte niemals bei den wichtigen Stammesentscheidungen mitbestimmen. Da ich eine Ausgestoßene war, war mir auch der heilige Gang zum Göttertempel verwehrt, den die jungen Frauen taten, wenn sie im heiratsfähigem Alter waren, um ihre Seelen und Körper vor den Göttern reinzuwaschen. Zudem war es mir verwehrt, einen Mann zum Gefährten zu nehmen oder Kinder zu bekommen. All das störte mich jedoch wenig, da ich schon als Kind gelernt hatte, was es bedeutete, jemanden zu verlieren, den ich liebte.

Lieber ertrug ich die Einsamkeit.

Ich bahnte mir meinen Weg zwischen den Zelten hindurch.

Die ledernen Wohnstätten waren gut isoliert von Regen und Unwettern, überall verteilt gab es Feuerstellen, wo sich die Menschen zusammen gefunden hatten, um den Vormittag mit Arbeit zu verbringen. Ich kannte beinahe jeden Menschen im Stamm, aber die meisten ignorierten mich geflissentlich. Die Jäger saßen alle vor ihren Zelten und arbeiteten an ihren Waffen, während ihre Weiber das Mittagsmahl zubereiteten und die Kinder vor den Zelten spielten. Am großen Führerzelt sah ich Domhnall, den Stammesführer, sitzen und an seiner Axt schnitzen. Seine Frau Britta nähte soeben an einem Fellmantel.

Ich wandte den Blick ab und stapfte weiter bis ans andere Ende des Lagers zu der Anhöhe am Waldrand. Dort stand das Zelt, in dem ich seit Jahren lebte. Ich stieg den plattgetrampelten Pfad hinauf zu diesem Zelt und registrierte, dass Muirgheal, die Heilerin, neue Kräutersträuße gebunden und zum Trocknen an ein Holzgestell gebunden hatte. Manchmal übernahm ich das für sie, da ich wusste, dass sie ihre Arme nicht mehr richtig bewegen konnte. Nach einem Fieber hatten sich ihre Schulterblätter versteift und die Sehnen waren ab und an entzündet und schmerzten. Ansonsten jedoch erfreute sie sich bester Gesundheit.

Vor dem Zelt prasselte die Feuerstelle und ein würziger Duft stieg von dem kleinen schwarzen Kessel auf, der an dem Gestell befestigt war. Die Stämme, auf denen wir Abends manchmal saßen und unsere Arbeiten erledigten, waren neu ausgerichtet worden. Ich legte meinen Bogen und meinen Köcher dort ab, dann betrat ich das Zelt. Im Innern herrschte wie immer ein schwerer Kräuterduft, der einen benommen machen konnte. An den Zeltwänden duckten sich Regale und große Körbe, in denen Muirgheal ihre Kräuter und Pulver aufbewahrte. In der Mitte des Zeltes befand sich eine weitere Feuerstelle, diese war jedoch heute erloschen. Direkt an einem der Stützbalken des ausladenen Heilerzeltes stand der große Arbeitstisch, in dessen Rillen und Rissen bereits die grünliche Farbe der verschiedensten Kräuter gezogen war. Wie immer lagen Stängel und Büschel irgendwelcher Pflanzen darauf. Die beiden Hocker standen ordentlich darunter und der Wasserbottich war zur Hälfte geleert. Auf der gegenüberliegenden Seite stand Muirgheals gemachtes Schlaflager. Meine Bettrolle, die ich direkt neben den drei Lavendelkörben aufgeschlagen hatte, war ordentlich zusammen gerollt und seit mindestens einer Woche nicht angerührt.

Mit einer schwungvollen Bewegung warf ich die beiden Tauben auf den Arbeitstisch und nahm zwei Händevoll Wasser aus dem Bottich, um mir die Blutspur aus dem Gesicht zu waschen.

»Ich weiß, dass dir das Clanleben so ziemlich am Hintern vorbei geht und du keine gute Erziehung genossen hast, aber wirf dein blutiges Federvieh nicht zu meinen Heilkräutern.« Die Stimme der Alten drang krächzig und rau an mein Ohr.

Ich richtete mich auf und schnaubte. »Seid etwas dankbarer, das wird unser Abendessen.«

Muirgheal kam näher und griff nach dem Seil, das die Tauben aneinander hielt und drückte mir die toten Tiere an die Brust. »Schaff sie raus und rupfe sie erstmal. So rühre ich keines von ihnen an.«, grummelte sie und schob ihre Sträuße beiseite. »Wo warst du so lange? Ich habe mir Sorgen gemacht.«

»Da seid Ihr wirklich die Einzige.«, murmelte ich bitter und löste die Schnur von den Hinterläufen der Tauben.

Muirgheal seufzte leise und schüttelte den Kopf. »Bei den Göttern, du bist verbitterte, als eine alte Frau wie ich.«

Ich lächelte bitter. »Wir können gerne tauschen.«, murmelte ich und ging mit den Tauben raus, um ihnen die Federn zu rupfen. Draußen setzte ich mich auf einen der Baumstämme und legte meinen Schlafsack neben mir auf den Boden. Ich griff mir eine der Tauben und begann die Federn zu lösen. Wie wild rupfte ich das Vieh, bis es nackt war. Dann warf ich es über den Stamm neben mir und wittmete mich dem Zweiten.

»Du bist zurück«, hörte ich nur wenig später eine tiefe Stimme sagen.

Ich spürte die unangenehme Gänsehaut im Nacken und hob genervt den Kopf. »Gerade eben wieder gekommen.«

»Und? Etwas Spannendes gesehen?«

Wieder unterbrach ich meine Tätigkeit und blickte den Mann vor mir an. »Was willst du von mir, Reik?«

Er legte den Kopf leicht schief und grinste mich unheilvoll an. »Das weißt du doch längst, Fea.«, murmelte er so leise, dass nur ich ihn verstand, dann ließ er sich neben mir auf den Baumstamm sinken.

Fest presste ich die Kiefer aufeinander und drehte mich von ihm weg, riss dem Tier die Federn aus, da spürte ich seine Hand an meinem Oberschenkel und seinen Atem in meinem Nacken. Ich entzog mich ihm und rückte von ihm ab. Als er dann meine Taille umfasste, stand ich vollständig auf und ich hörte Reiks wütendes Schnauben.

Er packte meinen Arm und drückte zu. »Allmählich bin ich es leid, dass du dich so zierst.«, knurrte er an meinem Ohr.

»Ist es nicht unter deiner Würde, einer Ausgestoßenen nachzuhängen, Reik? Vom künftigen Stammesführer erwartet Domhnall sicher mehr.«

»Was sagst du, du kleine...«

»Hallo Reik«, sagte Muirgheal vom Zelteingang ruhig. »Was führt Euch zu mir?«

Der Mann, der mich gepackt hielt, ließ mich nun langsam los und musterte die Heilerin von Kopf bis Fuß. Schon immer hatte Reik wenig Respekt vor der Heilerin und Geistigen des Stammes gehabt. Jedenfalls sehr viel weniger, als sein Vater Domhnall. Ich konnte nur erahnen, was mir blühen würde, wenn er eines Tages die Position seines Vaters übernehmen würde. Von ihm würde ich keine Gnade erfahren.

Reik fuhr sich einmal durch das beinahe schwarze Haar, dann trat er einen Schritt von mir zurück und schnaubte. »Ich wollte nur nach dem Rechten sehen.«

»Das habt Ihr ja jetzt«, entgegnete Muirgheal schlagfertig.

Reik biss die Zähne so fest aufeinander, dass seine Kiefermuskeln hervortraten. »Gewiss. Dann lasse ich die Damen ihre Arbeit erledigen.«

Ich starrte finster auf meine Beute, dann auf den Boden und atmete erleichtert auf, als er endlich weg war.

Muirgheal blieb am Zelteingang stehen und starrte ihm hinterher, bevor sie sich mir zuwandte. »Er hat es auf dich abgesehen.«

»Ich weiß«, murmelte ich und ließ mich wieder auf den Baumstamm sinken, riss dem Vogel die letzten Federn aus.

»Du weißt, was passieren wird, wenn er Stammesführer und oberster Jäger ist.«

Ich unterbrach meine Arbeit und starrte sie genervt an. Dieses Thema hatten wir seit vielen Monden bereits in unseren Gesprächen diskutiert. Genau genommen seid etwa einem Jahr, seit meinem achtzehnten Geburtstag. Damals hatte ich es endlich geschafft, all meinen Mut zusammen zu nehmen und mich Domhnall zu stellen, ihm zu sagen, dass ich jagen konnte und mit einer Waffe umgehen konnte. Zuerst hatte es im ganzen Stamm Empörung gegeben, dass ich als Frau und auch noch als Ausgestoßene jagen wollte und es auch schon konnte und heimlich tat. Domhnall hatte wie damals, als ich ein Kind gewesen war, Milde gezeigt. Er erlaubte es mir, wenn ich dafür meine Strafe für den Ungehorsam und dem Verschweigen akzeptierte. Und ich hatte die Schläge auf dem blanken Rückgrat akzeptiert, dafür, dass mir das Jagen erlaubt wurde. Den Preis für meine Freiheit trug ich noch heute, ein Jahr später auf dem Rücken. Genau das hatte mir die Aufmerksamkeit des Clansohnes eingebracht, der mich nunmehr seit einem Jahr beobachtete und mir nachstellte, egal, wie sehr ich mich bemühte, ihn zu ignorieren oder ihn abzuschütteln, er war beinahe jede freie Minute, die ich im Lager verbrachte, da.

Aus diesem Grund plante ich innerlich schon meinen nächsten Jagdtripp in die Berge.

»Ihr müsst mir nicht sagen, dass ich dann dazu gezwungen sein werde, sein Bett zu wärmen, bis er genug von seinem Spielzeug hat.«

Muirgheal seufzte und nickte nachdenklich. »Ich sorge mich nur um dich, Mädchen. Schließlich habe ich dich großgezogen.«

»Werdet Ihr etwa weich im Alter?«, fragte ich bissig und dachte an die vielen Male, wenn ich auch ihre Hand in meinem Gesicht gespürt hatte.

»Du weißt genau, wozu das nötig war.« Muirgheal blickte mich eisig an, wie sie es immer tat, um mich daran zu erinnern, dass sie diejenige war, die mir das Leben geschenkt hatte, indem sie mich aufnahm. Indem sie mich gütiger Weise auf dem Boden in der Ecke ihres Zeltes hatte schlafen lassen, mich von ihrem Essen hatte essen lassen und mir Tee gekocht hatte, wenn es mir schlecht gegangen war.

Ich griff nach meinem Messer, das ich als junges Mädchen bekommen hatte und schnitt dem Vogel damit den Kopf ab, Blut tropfte auf die Erde. »Ihr tatet es, um mich härter und stärker zu machen. Und dann wundert Ihr Euch, dass ich verbittert bin.«, knurrte ich und blickte sie kalt an.

Die Heilerin verkniff den Mund, schwieg aber.

Ich war schon lange aus dem Alter raus, in dem man mir einfach den Mund verbieten konnte oder, mich mit finsteren Blicken zur Räson zu bringen. Es brachte schon lange nichts mehr, weil ich schon vor langer Zeit aufgehört hatte, allen gefallen zu wollen. Es würde mich niemals aus der Situation bringen, in der ich schon mein Leben lang steckte.

Muirgheal schüttelte nur leicht den Kopf, als wäre sie es leid, mit mir diese Gespräche zu führen und verschwand wieder im Zelt, um sich auf ihre Arbeit nach dem Mittagsmahl vorzubereiten. Ich wittmete mich stattdessen dem Ausnehmen der Tauben, damit sie heute Abend über dem Feuer braten konnten. Derweil versuchte ich tunlichst, nicht über meine Situation nachzudenken.

 

Abends, als endlich der letzte Mann fort war, dem Muirgheal etwas gegen seine Gebrechen gegeben hatte, saßen die Heilerin und ich schweigend vor dem Zelt am Feuer und sahen den Tauben beim Braten zu. Ab und an drehte ich den Spieß, damit sie von allen Seiten goldbraun wurden. Mittags hatte ich die Überreste der Tauben den Hunden gegeben, die sich über die Innereien nur zu sehr gefreut hatten.

Muirgheal hatte sich einige Kräuterkörbe mit ans Feuer genommen, um die Blüten und Blätter von den Stängeln zu trennen und zu sortieren. Eine Weile sah ich ihr dabei zu, bevor ich mir den Bogen holte, an dem ich seit Wochen arbeitete. In der letzten Zeit hatte ich wenig Zeit dafür gehabt, da ich die ganze Zeit unterwegs gewesen war. Nun, wieder daheim im Lager, fand ich die Zeit und Ruhe, um an diesem Bogen weiterzuarbeiten. Ich griff mir mein kleines Messer, das mir schon jahrelang gute Dienste erwies und, das mich an eine Zeit erinnerte, in der ich so etwas wie glücklich gewesen war. Leicht schloss ich die Augen und dachte an diesen Tag zurück, als dieser seltsame Junge mit den goldbraunen Augen mir das Messer als Schutz in die Hand drückte. Seitdem hütete ich es wie meinen Augapfel. Nachdenklich betrachtete ich das gebogene Holz. Es hatte Wochen gebraucht, ihn so biegsam zu machen. Immer wieder hatte ich das Fett von ausgebratenen Tieren genommen und ihn damit eingerieben, ihn im Wasser getränkt, wieder eingerieben. Es war aufwändig gewesen, aber nun hatte er die gewünschte Form. Nun würde ich mich um das Aussehen kümmern.

Unwillkürlich musste ich an die Runentättowierung an seinem Hals denken, die mich damals immer wieder fasziniert hatte. Die Zeichen waren so präzise und scharf gewesen, als wäre es ihm in die Haut gebrannt worden.

Benommen begann ich die Runen, an die ich mich noch erinnerte in das Holz zu schnitzen.

»Du baust einen Neuen?«

Meine Hand verharrte und ich hob den Kopf, um die Heilerin anzusehen. »Was glaubt Ihr, tue ich die ganzen Wochen mit einem Stück Holz?«

Sie zuckte die Schultern und starrte wieder auf die Pflanze in ihren Händen.

Nachdenklich wandte ich mich ab und blickte auf das glatte, gebogene Holz in meinen Händen. Es war seltsam, dass sie sich auf einmal für mich interessierte. Ansonsten war es ihr gleich, was ich tat oder dachte. Auch die Worte der Sorge hatte sie zuvor nie in den Mund genommen. Jedenfalls nicht, als ich noch ein Kind gewesen war und sie dringend einmal gebraucht hätte.

Ich unterbrach meine Arbeit und drehte die Tauben erneut, blickte dann auf das Lager hinunter, das sich an den Hang schmiegte, auf dem Muirgheals Zelt stand. Überall flackerte das Licht von Lagerfeuern und die sanften Abendgeräusche des Stammeslebens wehten mit dem auffrischendem Wind zu uns herüber. Das leise Murmeln von Gesprächen zwischen Familienmitgliedern, das leise Bellen eines Hundes und strahlende Ewigkeit der Sterne darüber. Ein Leben, das ich niemals verstehen würde und, das mir immer schon fremd war.

Während ich so in den Himmel über dem Lager blickte und mich fragte, ob die Geister uns tatsächlich zusahen und uns lenkten, versuchte ich an früher zu denken. Vor diesem Leben. Als ich noch die erste Tochter des Stammes gewesen war und mein Vater Gallahad, Stammesführer der Mammutjäger. Und meine Mutter das Weib des Stammesführers. Ich erinnerte mich an einen strahlenden Sommer mit blühenden Gräsern. Ich erinnerte mich, wie mein Vater sich vor mich kniete und sein kupferfarbenes Haar in der Morgensonne rot schimmerte, als er mir sagte, dass ich stark sein und auf meine Mutter aufpassen sollte, solange er auf die Jagd ging. Abends kehrten sie wieder und meinem Vater fehlte die Hälfte des Bauches, weil der Keiler ihn zerfetzte. Er kämpfte, viele Wochen lang. Ich saß jeden Tag an seinem Lager und hatte die Götter und Geister meiner Ahnen angefleht, sie mögen mir meinen Vater wiedergeben. Aber er verlor den Kampf. In einer Nacht erlag er seinen Verletzungen und ich lag bei ihm und merkte nicht, wie sein Herz aufhörte zu schlagen. Erst am Morgen hatte ich gemerkt, dass er erkaltet war. Und, als Domhnall sich die Führung unter den Nagel riss, besiegelte es auch das Schicksal meiner Mutter.

An genaue Details erinnerte ich mich nicht mehr.

Ich erinnerte mich nur an den Moment, als sie meine Mutter enthaupteten und ich geschrien hatte, sie sollten aufhören.

Danach war alles verschommen.

»Worüber denkst du nach?«

Ich senkte den Kopf und blickte Muirgheal an. »Ihr wisst, worüber ich nachdenke.«

»Das tust du oft in letzter Zeit.«, murmelte sie. »Woran liegt das?«

Unwissend zuckte ich die Schultern. »Vielleicht frage ich mich nur, welche Schmerzen die beiden Menschen erleiden musste, die ich je geliebt habe, alte Frau.«

Die Heilerin hörte mit ihrer Arbeit auf. »Würde es dich trösten, wenn ich dir sagen würde, dass deine Eltern keine Angst vor dem Tod hatten?«

»Wahrscheinlich nicht.«, zischte ich. »Ich bin nur immer wieder, wenn ich darüber nachdenke, erstaunt, dass man so eine Sache so tot schweigt, wie alle Menschen dieses Stammes es tun. Als hätten sie niemals existiert.«

»Es war nicht unsere Entscheidung, Fea.«, erklärte Muirgheal. »Es ist das Gesetz des Stammesführers. Sei lieber froh, dass er dir Gnade erwiesen hat. In so vielen Dingen.« Sie nickte auf den unfertigen Bogen in meinen Händen.

In dieser Sache musste ich ihr Recht geben. Zwar hatte ich meine Bestrafung für den Ungehorsam erhalten und die Spuren waren bereits auf meinem Rücken vernarbt, aber er hatte es geduldet, dass ich ab nun an eine Jägerin war und meine eigene Beute machen durfte. Die einzige Bedingung war, dass ich nicht Beute für den Stamm machen durfte, da ich nicht zum Jägertrupp des Stammes zählen durfte. Das war Gesetz und hat wieder einmal mit meinem Dasein, als Ausgestoßene zutun. Das alles war etwas, das er nicht hätte tun müssen. Er hätte mich auch gleich töten können und den Schandfleck seines Stammes endlich beseitigen, aber er hatte es nicht getan. Und dafür war ich Domhnall dankbar. Er hatte mir damit etwas Freiheit zugestanden, die ich so sehr ersehnt hatte, dass ich es irgendwann nicht mehr aushielt und ihm von meinen heimlichen Ausflügen zur Jagd erzählt hatte. Es war riskant gewesen, aber es hatte sich gelohnt.

Ich senkte den Blick auf den Bogen und verdrängte die vielen Gedanken, die sich ohne Vorwarnung in meinen Kopf schleichen wollten. Manchmal fragte ich mich, weshalb mir Domhnall so viel Gnade erwies. Ob es das schlechte Gewissen war? Konnte man so etwas haben, wenn man die Familie seines besten und ältesten Freundes verriet?

»Ich glaube, die Tauben sind durch«, murmelte ich, legte den Bogen zur Seite und stand auf, griff nach dem Spieß und hängte ihn vom Feuer.

Schweigend verbrachten wir unser Mahl. Ich zerpflückte meine Taube größtenteils und das meiste von ihr konnte man auch kaum essen, da sie ziemlich fettig waren. Aber wenigstens das Brustfleisch und die Keulen konnte ich hinunter würgen. Jedoch war mir der Appetit von dem Gespräch vergangen und ich warf meine Überreste einem vorbei streunenden Hund zu, der sich über die Mahlzeit freute. Dann griff ich mir meinen unfertigen Bogen und erhob mich.

»Gehst du schon schlafen?«

Ich hielt inne. »Ja.«, erwiderte ich. »Ich werde morgen früh los ziehen.«

»Du verlässt uns wieder?«

»Das ist die einzige Möglichkeit, um Reik aus dem Weg zu gehen.«

Sie seufzte leise. »Da hast du wohl recht. Wie lange wirst du fort sein?«

»So lange, wie es nötig ist.«, murmelte ich.

Muirgheal schwieg und ich wollte mich schon ins Zelt zurückziehen, als sie noch einmal die Stimme erhob. »Falls du wilde Kamille auf deinem Weg siehst, bringst du mir etwas mit?«

Ich drehte den Kopf über die Schulter und nickte. »Wie immer.«

»Wie immer«, wiederholte sie.

Dann trat ich ins Zelt und spürte die tiefe Ruhe, die diesen Ort erfüllte. Schon immer war ich dankbar gewesen, an diesem Ort aufgewachsen zu sein. Im Lager erwarteten mich die finsteren Blicke der übrigen Stammesmitglieder, die Abneigung und die Distanz. Hier oben, etwas abseits des Lager im Zelt der Heilerin hatte ich mich immer etwas wohler gefühlt. Zwar war es nie ein Ort gewesen, den ich als Zuhause oder Zuflucht beschreiben konnte, wie ein Zelt für die anderen gewesen wäre, aber dieser Ort mit seinen duftenden Kräutern fühlte sich besser an, als das Lager.

Ich verstaute meine Waffen neben meinem Schlaflager in einer Kuhle, die ich in den Boden unter dem Zelt gegraben hatte und legte den Lederläufer darüber, der im ganzen Zelt ausgelegt war, um sie zu verstecken. Dann zog ich mir das Jagdgehänge aus Leder aus und streifte auch meine Hose ab, die aus festem Leder und Fell bestand. Beides legte ich neben meiner Bettrolle und zog mir eine kurze weiche Lederhose über und behielt ansonsten das Brustband, das meinen Oberkörper bedeckte, jedoch meinen Bauch frei ließ und meiner Haut die Möglichkeit gab, zu atmen. Dann griff ich nach meiner Bettrolle und rollte sie auf der gewohnten Stelle aus. Müde und erschöpft von diesem Tag krabbelte ich unter die Decke und schloss die Augen.

Der einzige Lichtblick in dieser Situation war, dass ich morgen schon wieder in die Wälder ziehen und das Lager hinter mir lassen konnte. Kein Domhnall, keine Muirgheal, kein Reik. Niemand anderes, außer ich und meinen Bogen.

ZWEI

 

Strahlender Sonnenschein flutete die Lichtung, um mich herum summten Bienen und Schmetterlinge. Ich spürte den warmen Wind in meinem Gesicht und roch den Duft der Blüten. Während ich auf dem Weg zum Sonnenfelsen war, stockte ich so plötzlich, dass mir der Korb mit Eicheln aus den Händen fiel. Benommen starrte ich den grinsenden Jungen an, der sich an den gelblichen Felsen lehnte und mich beobachtete. Seine goldenen Augen blitzten vor Schelm und Freude. Sein Name lag mir auf den Lippen, doch plötzlich spürte ich ein Rütteln an meiner Seite.

Dillion!, rief ich in Gedanken.

So lange hatte ich seinen Namen nicht ausgesprochen. Wie auch? Es war mir schlichtweg unmöglich gewesen, jemandem von dem Jungen zu erzählen, der mir das Jagen beigebracht hatte. Und wie sollte ich jemanden erzählen, dass er entführt worden war, wenn niemand wissen durfte, dass er überhaupt existierte? Schließlich war Dillion kein Junge meines Stammes gewesen. Wer er eigentlich war und von welchem Stamm er kam hatte er mir nie gesagt. Immer, wenn ich ihn über seine Vergangenheit gefragt hatte, hatte er mich finster angesehen und geschwiegen. Es hatte nie etwas gebracht, mehr herausfinden zu wollen. Dennoch war Dillion mein Freund gewesen. Der einzige Freund, den ich jemals gehabt hatte.

Wieder rüttelte es mich an der Schulter.

Ich erwachte allmählich aus dem zehenden wabernden Traum, der mich in eine bessere Zeit entführt hatte und blinzelte in das Licht einer Kerze. Benommen ruckte ich hoch, denn Muirgheal hockte an meinem Lager mit wildem, animalischem Blick. Schweiß stand ihr auf der Stirn und jetzt erst drangen die Geräusche außerhalb des Zeltes an mein Ohr. Schreie und das Klirren von Metall.

»Was...?«

Muirgheal zischte und gebot mir zu schweigen. »Du musst dich verstecken. Jetzt sofort!«

»Was ist los?«

»Frag nicht so viel! Versteck dich dort und komm nicht heraus! Egal, was du hörst. Hast du verstanden?«

»Was ist da draußen los?!«, knurrte ich, als sie mich am Arm packte und mich auf die Füße zerrte, mich hinter die hohen Lavendelkörbe stieß.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht! Männer sind gekommen, sie brennen die Zelte nieder und nehmen Gefangene. Ich weiß, was mit jungen Mädchen, wie dir passiert! Also versteck dich und halte den Mund!«

Verwirrt nickte ich und hockte mich hinter die Körbe, damit man mich nicht sehen würde und hielt die Luft an. Kaum zwei Sekunden später hörte ich, wie jemand die Zeltplane zur Seite riss. Muirgheal hatte sich schon längst abgewandt und war in die Mitte des Zeltes geschlurft. Ich hörte schwere Schritte, das Klimpern von Metallschnallen eines Brustharnischs.

»Und? Ist da drinnen jemand?« Eine tiefe, dunkle Stimme.

»Nur eine alte Frau.«, kam die Antwort.

»Durchsucht das Zelt trotzdem. Eine Frau unten im Lager hat auch versucht, ihre beiden Töchter vor uns zu verstecken. Seid lieber gründlich, sonst wird Krassas zornig.«

»Ihr müsst das Zelt nicht durchsuchen!«, zischte Muirgheal. »Ich lebe alleine. Was sollte eine alte Frau vor euch zu verbergen haben?«

»Wer weiß, was Ihr hier versteckt haben könntet«, knurrte eine weitere Stimme.

»Sieh mal hier drüben«, kam die andere Stimme.

Es mussten zwei Männer sein, die im Zelt waren. Mir trat Schweiß auf die Stirn und mir lief es eiskalt den Rücken herunter, als ich Schritte näher kommen hörte.

»Da ist eine Bettrolle.«

»Nein! Geht weg da!«, hörte ich Muirgheal rufen und das Reißen von Kleidern erklang.

Mein Herz raste in meiner Brust und, als ich an den Lavendelkörben vorbei blickte, erkannte ich zwei hoch gewachsene Männer. Sie waren muskelbepackt und trugen dunkle Lederkleidung, die mit Fell bestückt war. Ihre Rücken und Brustkörbe waren nackt und mit schwarzer Farbe bemalt, was sie noch bedrohlicher und barbarischer aussehen ließ. Der eine, dessen dunkles Haar im Nacken zu einem Rossschweif gebunden war und dessen wilder Bart ihn animalisch wirken ließ, hatte Muirgheal am Kragen ihres Gewandes gepackt. Auf seiner Wange prangte ein blutiger Kratzer, dem sie ihm mit ihren Nägeln zugefügt haben musste.

Wut kochte in meinem Körper hoch und Hitze stieg mir bis in den Kopf, so zornig wurde ich, als ich sah, wie dieser Mann sie anfasste. Es schien ihm kaum etwas auszumachen, dass er ihr Gewand eingerissen hatte und man einen unzüchtigen Streifen Haut sah. Ich sprang zur Seite auf mein Lager und griff unter das Leder in mein Versteck. Meine Hand streifte den Bogen und ich packte ihn, spannte den Pfeil blitzschnell.

»Lass sie los, du Scheusal!«, fauchte ich.

Die Männer zuckten zusammen und wandten sich mir zu.

»Ein Weib mit einem Bogen?«, knurrte der, der Muirgheal nach wie vor gepackt hielt.

»Ich habe ansonsten keine Weiber im Lager mit einer Waffe gesehen. Was bist du?«

»Wenn du sie nicht sofort loslässt, dann bin ich das Letzte, was du jemals sehen wirst!« Ich zog den Pfeil an und starrte ihn finster an.

Der Kerl, der die Heilerin gepackt hatte, zog ein Messer hervor und hielt es Muirgheal an die Kehle. Ihre großen, grauen Augen waren vor Angst geweitet und ihre Hände zitterten, als er sie herum riss, um mir zu drohen. Ich kniff die Lippen zusammen und blickte auf die Hand, die das Messer an ihrer dünnen, faltigen Kehle hielt. Die Hand, die gerade das Leben unserer Heilerin bedrohte. Zwar stand es mir nicht zu, ihr Leben zu verteidigen, da ich kein vollwertiges Stammesmitglied war. Und dennoch starrte ich diese Hand an, als wäre sie der Grund für alles Übel dieser Welt.

Ich ließ los.

Der Mann schrie auf und stolperte zurück. Das Messer fiel zu Boden und Muirgheal sackte auf die Knie, als der Mann sein Handgelenk umfasste und schrie. Der Pfeil hatte seine Hand durchbohrt und Blut tropfte auf den Boden.

Doch bevor ich nach dem nächsten Pfeil greifen konnte, spürte ich die Faust des anderen Mannes im Gesicht. Ich keuchte erschrocken auf, der Schmerz jagte von meinem Schädel bis in meine Zehenspitzen und wieder hinauf, als ich ächzend auf die Knie sank. Auf der Zunge schmeckte ich Blut und meine rechte Gesichtshälfte pochte im Takt meines heftig schlagenden Herzens. Mein Bogen war irgendwo zur Seite gefallen. Benommen von dem heftigen Schlag legte ich eine Hand an mein Gesicht. Es fühlte sich heiß und taub an.

»Verdammt! Ich bringe diese kleine Hure um!«, schrie der Verletzte, seine Stimme war schrill vor Schmerz.

»Krassas sagte, dass wir niemanden töten sollen, Finch!«

»Das ist mir gerade so egal! Geh mir aus dem Weg!«

Ich hob den Kopf und der, der mich geschlagen hatte, hielt den tobenden Krieger zurück, der auf mich zustapfen wollte. Er riss Finch den Pfeil aus der Hand und gab ihm ein Tuch, das er auf die Wunde pressen sollte, dann stieß er ihn zum Zelteingang, wo gerade noch mehr Männer auftauchten. Einer führte den fluchenden Mann hinaus, ein anderer kam hinein und packte Muirgheal, die mich mit angstgeweiteten Augen anstarrte, am Arm und hievte sie auf die Beine. Der Mann, der mir den Schlag verpasst hatte, riss mich auf die Füße. Stolpernd folgte ich ihm, als er mich aus dem Zelt führte.

Als ich das Lager sah, stockte mein Herz in meiner Brust. Ich hörte Schreie, das Weinen von Kindern und sah das Brennen von Zelten. Die Menschen wurden wie Tiere zusammengetrieben und zum Herzen des Lagers gescheucht, den Richtplatz, auf dem auch meine Mutter damals starb. Der Mann stieß mich an der Schulter weiter. Immer mehr Menschen wurden aus ihren Zelten getrieben. Die Männer trieben sie in Gruppen zusammen zum Richtplatz.

Während ich mit klopfendem Herzen Muirgheal folgte, betrachtete ich die Krieger, die mit geschärften Waffen über uns herfielen. Sie waren allesamt mit schwarzer Farbe bemalt. Einige hatten unheimliche Tättoowierungen im Gesicht oder auf dem Oberkörper. Man sah ihnen an, dass sie irgendeinem Stamm angehörten, jedoch konnte es kein Stamm des Landes der ewigen Jagd sein. Kein Stamm wagte es, den anderen anzugreifen. Jeder Stamm war friedlich und der Frieden hielt seit Jahrhunderten. Jeden sechsten Vollmond zogen die Stammesführer mit ihren besten Jägern zum großen Göttertempel, um dort den Göttern zu huldigen und Verhandlungen zu führen, über wichtige Dinge zu diskutieren.

Zudem kannte ich niemanden, der so aussah.

Kurz, nachdem meine Mutter starb und ich zur Ausgestoßenen wurde, nahm mich Domhnall zur Versammlung mit und zeigte mich den übrigen Stämmen. Er erklärte, was in seinem Stamm vorgefallen war und, dass ich ab nun keine Ansprüche mehr auf den Titel als Stammesführerin hätte, da mein Vater tot war, bevor er mich als mündig erklären und mir die Führung überlassen konnte. Zudem wären meine Ansprüche auch fragwürdig gewesen, da eine Frau für Gewöhnlich einen Stamm nicht alleine führen konnte.

Wir erreichten den Richtplatz, der aus einem einfachen Sandplatz bestand. An einem Ende stand der Hackblock, auf dem meine Mutter ihren Kopf verlor, dem gegenüber ein dicker Holzpfosten, an den ich bereits gefesselt worden war, um die Peitschenhiebe in Empfang zu nehmen und meine gerechte Strafe zu erhalten. Doch an diesem Abend hing nicht ich in den Fesseln, sondern Domhnall. Er atmete schwer und sein schweißnasses Gesicht war gegen das Holz gepresst, auf seinem Rücken glänzte das Blut von den Schlägen.

Ich starrte ihn an und für einen Augenblick begegneten unsere Blicke sich.

Er riss die Augen weiter auf, als er meine zerschlagene Gesichtshälfte erblickte.

Aber ich konnte ihn nicht länger ansehen, denn der Mann, der meinen Oberarm noch immer grob gepackt hielt, stieß mich zu den Männern meines Stammes, die alle auf einer Seite des Platzes gefesselt knieten. Einige von ihnen hatten ebenfalls Blutergüsse im Gesicht, andere hatten aufgeschlagene Lippen oder Dreck im Gesicht, doch in all ihren Augen sah ich den Hass und den Kampfgeist, als sie ihren Anführer Domhnall am Pfosten hocken sahen. Die Frauen hockten auf der anderen Seite des Platzes.

»Was soll das?«, knurrte ein großer Mann, der gebaut war, wie ein Bulle. Eine große Bemalung zeichnete sich von seinem kahlen Schädel bis auf seine Brust. »Die Weiber kommen dort drüben hin zu den Kindern und Alten.«

»Glaub mir, Balian, dieses Mädchen gehört nicht zu den Weibern, die dir Fellmäntel nähen werden.«, spuckte der Mann neben mir und zerrte ein Seil fest um meine Handgelenke, wie um der der anderen Krieger. »Sieh dir Finch an, dann verstehst du, was ich meine.«

Der Bulle hob eine Augenbraue, betrachtete mich kurz und schnaubte dann. »Man sieht selten Frauen an den Waffen in diesen Völkern der Sanftblüter.«

»Wir sind keine Sanftblüter, du Barbar!«, knurrte Reik und ich bemerkte jetzt erst, dass er nur knapp neben mir hockte.

Ich hob den Kopf und blickte über den Platz zu den Frauen. Es kostete mich Mühe, aber dann erkannte ich Britta, die neben ihren beiden Töchtern kniete, ihre Wangen waren von Tränen geflutet und auch die beiden jungen Stammesführerstöchter sahen verstört aus. In der Menge weinte ein Kind und nicht wenige der Frauen versuchten ihr Schluchzen zu unterdrücken.

Balian trat einen bedrohlichen Schritt vor und holte aus. Der Schlag hallte über den gesamten Platz und Reik keuchte vor Schmerz auf. Wie auch der Mann, der mich geschlagen hatte, erwies er ihm keine Gnade. Sofort verfärbte sich die Haut von Reiks rechter Gesichtshälfte dunkelrot und er spuckte Blut neben mir in den Sand. Diese Männer kannten kein Erbarmen.

Schwer atmend starrte ich den Bullen an, wagte es nicht, Reik anzusehen. Zwar hasste ich ihn und ich wollte es nicht, dass er mir andauernd nachstellte. Jedoch war Reik ein Krieger meines Stammes und im Moment ein Verbündeter gegen die Fremden, die uns angriffen.

»Also«, erhob sich eine tiefe, unheilvolle Stimme über die Menge und schwere Schritte erregten meine Aufmerksamkeit. »Ihr seid beinahe das schwächste Volk, das ich jemals unterjocht habe. Das alles hat kaum eine halbe Stunde gedauert, kleiner Stammesführer.«

Ein groß gewachsener Mann löste sich von der Menge an Fremden, die am Kopf des Platzes standen. Er sah bösartig und grausam aus. Sein linker Arm steckte vollkommen in einem stählernden Schutzpanzer, der ihm über die Brust festgeschnallt war. Der Stahlhandschuh war so geschmiedet worden, dass seine Fingerspitzen wie Krallen aussahen. Sein eines blindes Auge war von einer Narbe durchzogen, die ihm das Gesicht verunstaltete und sein ansonsten massiger Körper wirkte imposant. Ohne Zweifel, er war der Anführer dieser Männer.

Domhnall spannte die Muskeln an, schwieg aber, da er sich bewusst war, dass wir alle in der Gewalt dieses Wahnsinnigen waren. Und er musste sich dessen ebenso bewusst sein, wie ich es war. Sie würden nicht davor zurückschrecken, uns alle abzuschlachten, wenn er etwas Falsches sagte.

Der Anführer der Fremden umrundete den Pfahl, stand nun zwischen Domhnall und den Frauen. Er ließ den Blick über die Menge gleiten. Die Alten hockten hinter den Frauen und Kindern, auch Muirgheal musste unter ihnen sein. Als er mit seiner Bekundung fertig war, stapfte er weiter und blieb ruckartig stehen, als er in meine Richtung starrte. Mein Herz machte einen ängstlichen Satz, als er direkt auf mich zukam.

»Was ist das? Eine Frau?«

Der Mann, der mich gefesselt hatte, trat einen Schritt vorwärts. »Sie hat Finch in dem Zelt auf dem Hang angegriffen. Eine Alte hatte sie versteckt, doch, als Finch das Zelt durchsuchen wollte, ist die Alte auf ihn losgegangen. Das Mädchen hat die Alte verteidigt. Sie hatte einen Bogen mit Pfeilen. Sie muss eine Kriegerin sein.«

Der Anführer starrte auf mich herunter, dann griff er nach meinem Kinn und drehte mein Gesicht.

Fest presste ich die Lippen aufeinander und funkelte ihn finster an.

»Eine Kriegerin bei den Sanftblütern... das hätte ich nicht erwartet.«, murmelte der Anführer, sein blindes trübes Auge starrte mich genau an. »Für gewöhnlich stricken eure Weiber doch und spreizen die Beine, wenn ihr mit dem Finger schnippt. Wie kommt es, kleiner Stammesführer, dass sie auf dieser Seite des Platzes sitzt?«

Die Aufmerksamkeit der Fremden lag nun auf Domhnall, der schwer atmend von den Wunden an dem Pfosten hing. Er hob den Kopf und starrte mich an.

»Das Mädchen... sie ist keine Kriegerin. Sie...«

»Keine Kriegerin?«, fragte der Anführer und ließ mein Kinn los. »Mein Mann hier sagt aber etwas anderes. Sie hat einen Bogen benutzt. Was ist ein Mann, der eine Waffe schwingt bei euch? Ist er dann kein Krieger? Kein Jäger?«

»Doch, aber...«

»Und eine Frau, die eine Waffe schwingt? Willst du mir erzählen, dass sie wie die anderen Weiber dort drüben Körbe flechtet?«

Domhnall senkte den Blick und presste die Lippen aufeinander, ich sah seinen Kiefermuskel zucken.

Mein Herz pochte wie wild in meiner Brust und mein Atem kam stoßweise, aber ich bemühte mich bei Leibeskräften, mir meine Ängste nicht anmerken zu lassen. Ich biss die Zähne so fest aufeinander, wie ich es vermochte. All die Jahre über hatte ich meine Angst und meinen Schmerz in den Tiefen meiner Seele verschlossen und das musste ich auch jetzt machen.

»Zeigt mir die Waffe, die sie benutzt hat.«

Finch trat hervor, an die Seite des Mannes, der mich hierher geschleift hatte und übergab dem Anführer meinen Bogen. Eine dicke Mullbinde war um seine verletzte Hand geschlungen, aber selbst dort hindurch blutete es. Er warf mir einen finsteren Blick zu und ich erwiderte diesen Blick, während der unheimliche Mann vor mir meinen Bogen begutachtete.

Als er damit fertig war, wandte er sich wieder an Domhnall. »Und du willst mir erzählen, dass sie keine Kriegerin ist? Sieh dir meinen Krieger an. Blutet, wie ein abgestochenes Schwein.«, zischte er und drückte dem Anderen den Bogen in die Hand. »So etwas brauche ich in meinem Stamm. Ein Weib, das sich nicht einfach fügt und kocht und sauber macht. Bringt sie zu mir.«

Ich riss die Augen auf und warf mich herum, als mich der Bulle packte und mich zu dem Anführer hinüber zerrte und mich vor ihm auf den Boden stieß.

Dieser sah mich mit einem finsteren Lächeln an und zeigte um sich herum. »So, Mädchen. Du kannst jetzt ein führendes Beispiel für deine Leute sein. Dein Anführer hat sich geweigert, vor mir das Knie zu beugen und mich, als Anführer anzusehen. Geh voran und werde eine Kriegerin meines Stammes. Ich gebe dir deinen Bogen zurück. Was sagst du, Mädchen?«

Ich starrte ihn benommen an. Seine Worte drangen kaum bis zu meiner verstörten Seele durch. Alle Aufmerksamkeit lag auf mir, was ich bisher noch nie gehabt hatte, außer zu diesem Zeitpunkt, als meiner Mutter der Kopf abgeschlagen worden war und man meine Reaktion abgewartet hatte. Wie ich reagieren würde auf die Tatsache, dass sie meine Mutter getötet hatten, sie auf der anderen Seite jedoch eine Verräterin war. Jeder wusste, dass ich sie dafür hasste. Dass ich Domhnall dafür gehasst hatte, dass er die Axt geführt hatte. Und doch war ich meinem Stamm verpflichtet gewesen. Jetzt war es genauso. Es war nie ein Geheimnis gewesen, dass ich den ganzen Stamm für das hasste, was sie mir angetan hatten. Und dieser Mann vor mir bot mir an, Kriegerin in seinem Stamm zu werden. Etwas, was ich schon immer sein wollte. Ein vollwertiges Stammesmitglied. Es würde vermutlich niemanden überraschen, wenn ich das angebot annehmen würde.

Ich blickte den Mann, der vor mir kniete und mich erwartungsvoll musterte, kalt an und spuckte ihm geradewegs ins Gesicht.

Ein Raunen ging durch die Menge und im nächsten Moment spürte ich seine Faust im Gesicht. Keuchend vor Schmerz fiel ich hart auf die Seite. Meine Ohren klingelten und ich zitterte, während ich das Blut im Mund ausspuckte. Nun wurde auch meine andere Gesichtshälfte taub vor Schmerz und ich spürte das Pochen an meiner aufgeplatzten Augenbraue.

»Du kleines Miststück«, knurrte er mich an und packte meinen Hals mit seiner stählernden Hand. Die gebogenen Klauen gruben sich schmerzhaft in meinen Hals, als er mich auf die Beine zog und dann hoch hob, sodass meine Füße den Boden nicht mehr berührten. »Ist das deine Entscheidung? Willst du wirklich sterben? Hier und jetzt? Dann verlass dich darauf, jeder, der es dir gleichtut, stirbt mit dir.«

 Ich klammerte mich an seinem Arm fest, keuchte angestrengt, denn er drückte mir die Luftröhre ab. Es gelangte keine Luft mehr in meine brennenden Lungen und ich zappelte in seinem Griff, bis er mich abrupt los ließ und ich hart auf den Boden aufkam. Ächzend stemmte ich mich auf die Hände und umgriff meine schmerzende Kehle. Ich spürte Blut an den Fingern, da wo seine Krallen in mein Fleisch gedrungen waren.

»Und? Welches Schicksal soll das deine sein?«

Ich hustete, dann stemmte ich mich auf die Hände und richtete mich auf. Mit einem finsteren Blick musterte ich ihn und wischte mir unter der blutigen Nase entlang. »Lieber sterbe ich, als einem Scheusal zu dienen.«, sagte ich mit fester Stimme. Innerlich bereitete ich mich darauf vor, jetzt zu sterben. Meine Familie wartete schon viel zu lang auf mich.

Der Mann vor mir blickte mich einen Moment ungläubig an, als könnte er nicht glauben, dass sich ein Weib erdreistete, sein Angebot auszuschlagen. Aber ich war mir sicher. Ich würde mich nicht beugen, nur, weil es für mich ein besseres Leben bedeutete. Ich hatte auch meinen Stolz. Der Blick des Mannes wurde kalt, dann holte er mit seiner klauenbesetzten Hand aus, die im Schein der Fackeln unheilvoll glänzte.

»Dann soll es so sein«, knurrte er. »Begrüße deine Ahnen!«

Als er ausholte und die Klaue auf mich niedersauste, kniff ich die Augen zusammen und machte mich für den Schmerz bereit.

»Halt!«, brüllte eine tiefe Stimme.

Ich zuckte heftig zusammen und riss die Augen auf.

Der Mann vor mir hatte innegehalten und starrte für einen Moment auf mich herunter, dann hob er den Kopf und blickte auf seine Reihe von Kriegern, die noch immer am Kopf des Platzes standen. Ein junger Mann kämpfte sich zwischen den Kriegern hindurch und kam auf uns zu. Sein kupferfarbenes Haar glänzte rötlich im Schein der Flammen und seine Augen sprühten Funken, sie wirkten wie geschmolzenes Gold, in dem sich der Fackelschein spiegelte. Sein breiter Brustkorb wurde von einem Wehrgehänge verdeckt, das jediglich seine Brust, jedoch nicht seinen kunstvoll bemalten Bauch bedeckte. Seine Unterarme stecken in Lederschienen, die von Metallriemen geschmückt wurden und er trug hohe Fellstiefel. Um seine Hüfte war ein Fellgürtel geschlungen.

»Was tust du da, Sohn?«, wollte der Mann vor mir mit noch immer erhobener Hand wissen.

Der Angesprochene blieb stehen, warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er seinen, offensichtlich, Vater anblickte. »Was glaubst du, passiert, wenn du sie tötest?«

Verwirrt blickte er ihn an. »Was meinst du? Ich verschaffe mir den Respekt, den mir dieses kleine Ding nicht gibt.«

»Oder du schaffst eine Märtyrerin.«, erwiderte der junge Mann neben uns. »Sieh dir dieses Volk an. Was würden sie lernen durch deine Tat? Sie würden sich irgendwann zusammenrotten, anstatt für uns zu kämpfen.«

Der Anführer senkte den Arm. »Und, was würdest du vorschlagen, Dillion?«

Mein Herz setzte einen Schlag aus und ich starrte den jungen Mann nur an. Dieses braune Haar mit dem Kupferstich, die Augen wie geschmolzenes Gold... Als er den Kopf drehte erhaschte ich einen Blick auf eine Runentättoowierung an seinem Hals. Der Name Dillion. Eine Gänsehaut schoss mir über den Rücken und ich konnte nichts mehr tun, außer zu atmen. Konnte es wahr sein? Konnte er überlebt haben? Hatten die Männer, die ihn damals mit sich nahmen, nicht umgebracht, wie ich es immer vermutet hatte? War er vielmehr einer von ihnen?

»Dieses Mädchen ist ein Beispiel, dass eine Frau mehr sein kann, als jemand, der strickt und Bälger versorgt. Sie ist eine Kriegerin. Doch von je her wurden Bündnisse mit einer Verbindung geschlossen.«

»Eine Verbindung?« Nun hatte sich der Mann vollkommen von mir abgewandt und blickte den jungen Mann fragend an.

»Gib sie einem der Männer.«

Er hob eine Augenbraue und sein Grinsen wurde dreckig. »Und welchem sollte ich diese kleine Cobra geben? Wer wäre ihr gewachsen, was meinst du?«

»Gib sie mir.«, sagte Dillion geradeheraus.

Raunen und protestierende Rufe drangen durch die Mengen, aber ein Ruf gebot sie alle zu schweigen.

Der Anführer kniff ein Auge zu, dann starrte er auf mich herunter. »Warum sollte ich sie dir geben?«

»Du hast mir eine Belohnung versprochen, als ich dir die Köpfe unserer Feinde brachte, Krassas. Jetzt fordere ich sie als Belohnung.«, sagte Dillion mit fester Stimme.

Krassas blieb stumm, eine ganze Weile sogar, als würde er abwägen, was ihm mehr nützte. Ob ich tot oder lebendig mehr wert war für das, was er mit uns vorhatte. Unruhig lief er im Kreis, dann blieb er stehen und lachte leise.

»Weißt du, Junge, warum ich dich am liebsten von meinen Söhnen mag? Weil du mehr Hirn im Schädel hast, als deine blutdürstigen Brüder. Du handelst mit Köpfchen, was ich von den dreien nicht behaupten kann. Du sorgst dafür, dass sie eine von uns wird, was allen ein Mahnmahl sein wird und dann hast du auch noch eine junge, hübsche Frau in deinem Bett, die die Beine für dich breit machen wird. Was will ein Mann mehr?«, fragte Krassas in die Runde und einige seiner Männer lachten, dann nickte er zu mir herunter. »Sie soll dir gehören.«

Dillion kam auf mich zu und packte meinen Oberarm, zerrte mich grob auf die Beine, die entsetzlich weich waren. Ich war viel zu geschockt von all dem, dass ich nur wackelig auf den Beinen stand und Dillion anstarren konnte. Er jedoch beachtete mich kaum und machte Anstalten, mich vom Platz zu führen, doch ich wehrte mich in seinem festen Griff. War das noch der Junge von damals? War er es überhaupt?

»Du dreckiger Barbar, fass sie nicht an!«, schrie uns Reik hinterher.

Ich wandte mich zu ihm um.

Er tobte im Griff des Mannes, der mich gefesselt hatte. Krassas ging schnellen Schrittes auf ihn zu und, als er ausholte und seine klauenbesetzte Hand über Reiks blanke Kehle fuhr, schrie ich auf. Blut spritzte in alle Richtungen, sprenkelten den Sand unter unseren Füßen und ich spürte es auch in meinem Gesicht. Gurgelnd sank Reik zusammen, durch die Metallklauen war seine halbe Kehle aufgerissen. Er sackte zur Seite und er hatte noch nicht einmal aufgehört zu atmen, da sickerte sein dickes Blut in den Untergrund. Entfernt hörte ich Britta und Domhnall schreien und auch mir saß ein weiterer Schrei in der Kehle. Hatte ich eben noch geglaubt, dass vielleicht alles gut werden würde, so wurde ich jetzt eines besseren belehrt.

Zwar hatte ich Reik nicht gemocht und wenig für ihn übrig gehabt, jedoch schockierte mich sein Mord genauso wie jeden anderen in unserem Stamm. Domhnall wütete an den Pfosten und Britte sackte wimmernd zusammen, als sie sah, wie ihr einziger Sohn sein Leben aushauchte. Reiks eine Schwester Gwen brach in kläglichem Geschluchze aus, die andere Maelle starrte wie hypnotisiert auf den Leichnam ihres älteren Bruders. Das Klagen schwoll an, bis Krassas in die Menge brüllte, sie sollten still sein, sonst würde ihnen dasselbe Schicksal blühen. Ihm war nicht bewusst, was er meinem Volk angetan hatte. Er hatte die Zukunft des Stammes ermordet. Er hatte Reik umgebracht, den Erben des Stammesführers.

»Bitte, sei ruhig!«, zischte Dillion an mein Ohr.

Erst da bemerkte ich, dass er mich festhielt, da mir ansonsten die Beine weggeknickt wären. Er zerrte mich vom Platz, sodass die Lichter und Menschen weit hinter uns lagen. Noch immer zitternd folgte ich ihm, hatte keine andere Wahl, mit ihm zu gehen. Mein Herz hüpfte unregelmäßig in meiner Brust, mein Kopf hämmerte schmerzhaft und die Luft fühlte sich erdrückend warm an.

»Komm, komm«, raunte er und trug mich halb durch das Lager und den Hang hinauf, bis wir im Heilerzelt waren.

Dort schaffte ich es endlich die Kraft aufzuwenden, mich von ihm loszureißen. Ich stolperte von ihm weg und stieß schmerzhaft mit der Hüfte gegen den Arbeitstisch der Heilerin, spürte die Tränen über meine Wangen fließen. Es fühlte sich fremd und falsch an, zu weinen. Besonders um Reik zu weinen, aber ich konnte es noch immer nicht fassen, dass Krassas ihn einfach so umgebracht hatte. Und das nur, weil er dem Mann vor mir gedroht hatte, er sollte mich nicht anrühren. Er war meinetwegen tot. Allein diese Tatsache ließ Tränen der Wut über meine Wangen strömen. Seit Jahren hatte ich nicht mehr geweint, weil es einen kein Stück weiter brachte.

Als Dillion näher kommen wollte, packte ich eines der Messer, mit denen ich oft genug die Kräuter beschnitten hatte und hielt es warnend in seine Richtung. »Halt dich fern von mir, du Monster!«

DREI

 

Meine Hände, die noch immer gefesselt waren, hatten das Messer umfasst und zitterten so stark, dass ich mich selbst verfluchte, weshalb ich diese Gefühle zuließ. Diese Angst, den Zorn und die Unsicherheit. Es hatte kaum eine halbe Stunde gedauert, da hatte sich mein Leben komplett auf den Kopf gestellt. Alles war verdreht und verbogen. Ich wusste nicht, was nun auf mich zukommen würde. Was würde nun passieren? Noch immer konnte ich die Ereignisse nicht ganz fassen. Domhnall hatte nicht länger die Kontrolle über diesen Stamm. Reik, sein einziger Sohn, war tot. Wurde vor meinen Augen von dem Anführer dieser Barbaren getötet mit bloßen Händen.

Mein Magen krampfte sich bei der Erinnerung an das zerfetzte Fleisch seiner Kehle zusammen. Mittags noch hatte ich mit ihm gesprochen und hatte seine Berührung an meinem Körper gespürt. Das, was mir vor so wenigen Stunden noch zuwider gewesen war, wünschte ich mir nun beinahe herbei. Nur, um zu wissen, dass das alles ein schrecklicher Alptraum war.

Als der Mann vor mir sich bewegte, wachte ich aus meiner Starre auf und wich zurück. »Komm mir bloß nicht zu nahe!«

»Verdammt, Fea! Lass es mich erklären!«, knurrte er mit tiefer Stimme, die der des Jungen von damals sehr ähnlich war. Nur erwachsener, tiefer und sehr viel ernster.

Ich zuckte beim Klang seiner Stimme unvermittelt zusammen und wich weiter aus, brachte den Tisch zwischen uns. »Bei den Göttern, du bist es wirklich, oder?«

Dillion blieb stehen, seine goldenen Augen schimmerten in der Dunkelheit des Zeltes beinahe dunkelbraun. »Sag du es mir, kleiner Fuchs.«

»Das kann nicht sein.«, flüsterte ich und schüttelte den Kopf. »Der Junge, den ich von damals kannte, ist tot!«

Er tat einige Schritte auf mich zu, aber ich stolperte zurück und stieß mit dem Rücken gegen eines der Regale, in denen Muirgheal ihre Schriftrollen aufbewahrte. Als er merkte, dass ich ihm keine Chance lassen würde, mir auch nur ein Stück näher zu kommen, blieb er seufzend stehen und fuhr sich nervös durch das Haar. Es stand ihm wirr in alle Richtungen ab.

»Vielleicht hast du in gewisser Weise recht«, wisperte er und schüttelte den Kopf, ehe er sich gegen den Arbeitstisch lehnte. »Wenn ich es dir erkläre, hörst du mir dann zu?«

Meine zitternden Finger umklammerten das Messer so fest, wie ich konnte. »Du musst mir gar nichts erklären, du elender Lügner!«

Er hob eine Braue. »Warum Lügner?«

Ich presste die Zähne so fest aufeinander, dass es wehtat, nur, um nicht weinen zu müssen. Wie oft hatte ich manchmal stundenlang auf dem Sonnenfelsen auf der Lichtung gesessen und hatte gehofft und zu allen Göttern gebetet, sie mögen mir den einzigen Freund zurückgeben, den ich jemals gehabt hatte? Und wie oft hatte ich Abends in diesem Zelt gelegen und hatte die Tränen unterdrückt, weil niemand wissen durfte, dass Dillion überhaupt existierte? Domhnall hätte ein fremdes Kind, das nicht zu unserem Stamm gehörte, niemals akzeptiert. Noch weniger, wenn ich diejenige gewesen wäre, die ihm von Dillion erzählt hätte. So oft hatte ich kurz davor gestanden, unseren Anführer um einen Suchtrupp zu bitten, der Dillion finden sollte, weil ich ihn so sehr zurückgewollt hatte. Weil ich ihn wieder haben wollte. Aber ich hatte keine Wahl gehabt und dieses Gefühl, nichts tun zu können, hatte mich beinahe wahnsinnig gemacht.

»Du hast mir versprochen, bei mir zu bleiben.«, flüsterte ich mit brüchiger Stimme. »Du hast mir geschworen, dass nichts zwischen uns kommen würde. Weder Himmel...«

»... noch Hölle würden mich von dir trennen.«, beendete Dillion den Satz, den er mir im Sommer gesagt hatte, nachdem ich wieder Prügel von jemanden bezogen hatte.

Ich blickte ihn an, spürte die Tränen, die mir über die Wangen liefen. Ich konnte schlichtweg nicht fassen, dass er am Leben war. Ich hatte mich schon vor vielen Jahren damit abgefunden, dass ich ihn nie wieder sehen würde. Und doch hatte es umso länger gedauert, bis ich es endlich akzeptiert hatte. Bis ich aufhörte, am Sonnenfelsen zu warten und zu hoffen.

»Ich dachte, du wärst tot«, brachte ich mit gepresster Stimme hervor. »Und jetzt tauchst du hier mit diesen Barbaren auf und versklavst mein Volk! Ich dachte, sie hätten dich entführt. Ich dachte immer, sie hätten dich umgebracht.«

»Mich kriegt man nicht so leicht klein.«, antwortete er und streckte die Hand aus. »Gib mir das Messer und wir reden über alles. Ich erkläre dir alles, was du willst. Ich verspreche, dir jede Frage zu beantworten. Gib mir nur das Messer.«

Benommen starrte ich ihn an, als er näher kam und mit ausgestreckter Hand das Messer forderte. Doch in mir sträubte sich schlichtweg alles, es damit gut sein zu lassen. Was er mir angetan hatte konnte sich niemand vorstellen. Welchen Schmerz ich all die Jahre erlitten hatte. Wie oft ich gehofft und gebetet hatte, bis es keine Hoffnung mehr gegeben hatte. Immer wieder hatte ich vor dem Zelt gesessen und stundenlang in das Lager hinunter geschaut, hatte den Kindern dabei zugesehen, wie sie mit ihren Freunden gespielt hatten. Wie sie sich so viele Dinge wünschten, die vollkommen bedeutungslos waren. Spielzeug, Waffen, Kleider. Und ich hatte mir nur eines immer gewünscht. Den einzigen Freund zurück, den ich jemals gehabt hatte.

In diesem Moment der Unachtsamkeit packte Dillion mein Handgelenk und drehte es schmerzhaft zur Seite, sodass ich das Messer fallen lassen musste. Ich schrie auf und warf mich herum. Sein einer Arm umfasste meine Taille, sein anderer hielt meine Hand noch immer fest, während er mich mit dem Rücken an seine muskulöse Brust zerrte. Wie wild wand ich mich in seinem Arm wie ein Aal wand. Wie verrückt begann ich um mich zu schlagen, er sollte mich bloß los lassen. Doch Dillion war größer und stärker als ich, wie es immer gewesen war.

»Lass mich los, du verfluchter Bastard!«, kreischte ich und schaffte es, mich in seinem Griff umzudrehen und ihn anzusehen. »Du weißt nicht, wie das war! Nachdem du fort warst, war ich jeden Tag dort! Jeden verdammten Tag! Ich habe Stunden auf dich gewartet, habe dir Essen und Trinken dort gelassen und habe immer wieder gehofft, dass du noch am Leben bist. Es dauerte solange, bis ich sechzehn war, bis ich begriff, dass das Essen nicht von dir verzehrt wurde, sondern ein Fuchs es Nacht für Nacht stahl! Ich bin nächtelang schreiend durch den Wald gerannt, um dich zu finden!«

»Fea, bitte beruhige dich!«, zischte er an meinem Ohr, presste mich so fest an ihn, dass ich nur seinen tiefen, männlichen Duft in der Nase hatte und nichts sah, außer seiner blanken Haut direkt vor mir. »Ich weiß, wie schwer es gewesen sein muss. Ich habe auch jeden Tag an dich gedacht. Du warst die einzige Freundin, die ich noch hatte. Um alles in der Welt wollte ich zu dir zurück, aber ich konnte nicht.«

»Warum nicht?«, wisperte ich gegen seinen Hals, mein Körper fühlte sich schwach und erschöpft an.

Ich spürte, wie er locker ließ, dann hob er mich kurzerhand auf die Arme und trug mich durch das Zelt. Als er mich auf Muirgheals Schlaflager setzte, wollte ich bereits protestieren. Wenn die Heilerin dies wüsste, würde ich mir Schläge einfangen, so viel war sicher. Sie hasste es, wenn jemand ihre Schlafstätte anrührte. Ich durfte dort nicht einmal die Laken wechseln.

Doch Dillion setzte mich bestimmend darauf ab und griff sich einen Eimer mit Wasser und einen Lappen. »Es gibt Dinge, Fea, die sehr kompliziert sind.«

»Dann erkläre sie mir.«, forderte ich mit schwächerer Stimme, als ich gewollt hatte. »Du hast mir versprochen, all meine Fragen zu beantworten.«

Er senkte den Kopf, starrte auf den Lappen in seiner Hand und nickte geschlagen. »Das habe ich wohl... was ist deine erste Frage?«

»Warum hast du mich angelogen?«, wollte ich wissen.

Dillion runzelte die Stirn. »Was genau meinst du?«

Ich zog den Kopf zurück, als er mit dem Lappen mein Gesicht berühren wollte. »Du hast mir damals gesagt, dass dein Vater tot ist. Aber dieser Krassas nannte dich ›Sohn‹. Also ist deine Familie gar nicht tot.«

Plötzlich schmunzelte Dillion, während er auf den Lappen in seiner Hand blickte. Doch dieses Lächeln wirkte kalt und verbittert, so, wie ich oft Muirgheal anlächelte, wenn sie wieder einmal über etwas sprach, was sie niemals nachvollziehen könnte. Vielleicht waren Dillion und ich uns doch ähnlicher, als ich in diesem Moment wollte.

»Ich sagte dir damals, dass mein Vater tot ist und sein Geist mich leite«, antwortete er und ignorierte meine Versuche, ihm ausweichen zu wollen, bis er endlich mit dem Lappen über die brennende Wunde an meiner Augenbraue strich. »Und ich habe nicht gelogen. Mein Vater starb. Ich habe keine Familie.«

»Aber dieser Krassas...«

»Er nahm mich auf, verstanden?« Nun klang seine Stimme ärgerlich, wie damals, wenn ich versucht hatte, aus ihm irgendeine Information heraus zu bekommen. Er seufzte leise. »Ich lebte einst in einem Stamm, der im Land des ewigen Schattens, jenseits der Meerenge, angesiedelt war. Wir lebten friedlich, verstehst du? Bis Krassas kam. Er tat dasselbe, was er heute Abend tat. Das tut er immer. Er macht einem Stamm ein Angebot. Sich ihm anschließen, oder ausgelöscht werden. Die meisten nehmen sein Angebot an, aber mein Vater war zu stolz. Weißt du, was ich dir damit sagen will?«

Ich öffnete den Mund und blickte ihn ernst, aber auch entsetzt an. »Er war der Stammesführer... du sein Sohn.«

Dillion nickte. »Mein Vater weigerte sich, sich Krassas zu beugen. Als Konsequenz ließ Krassas den gesamten Stamm abschlachten. Meine Mutter tötete er vor meines Vaters und meinen Augen. Und dann tötete er meinen Vater mit den Worten, dass er im Jenseits daran nagen kann, dass sein Sohn nun einer von ihnen werden würde und eines Tages dasselbe tun wird, wie er... Als ich dich damals auf der Lichtung traf, hatte ein Spähertrupp auf dieses Land übergesetzt, um die Gegend zu erkunden. Zuerst war alles nur ein Auftrag, Fea, aber dann...«

Ich zuckte zusammen und allmählich formte sich so etwas wie Erkenntnis in meinem Kopf. »Du hast sie hierher geführt.«

»Ich wollte das nicht, aber... ich war ein verängstigtes Kind, das mit ansah, wie seine Eltern ermordet wurden auf brutalste Weise. Ich wollte nicht, dass mir dasselbe passierte, deshalb ging ich jeden Tag in die Wildnis hinaus und erkundete die Gegend, ob es hier auch Stämme gibt, die er unterwerfen kann. Und dann traf ich dich.«

Wütend schüttelte ich den Kopf, stieß seine Hand fort, die eine meiner Halswunden abtupfen wollte und kroch rückwärts auf das Bett. »Sprich nicht so, als hätte ich dein Leben verändert. Du bist ein Verräter... du bist nicht der Junge, den ich damals auf der Lichtung getroffen habe.«

»Doch, Fea«, flüsterte er flehend und kam mir nach, aber ich schlug seine Hände wütend fort. »Ich bin der Junge, den du von damals kanntest. Meine Gefühle von damals sind noch immer dieselben! Du bist alles, was ich damals hatte. Deswegen hatte ich solche Angst, als ich sie habe rufen hören. Solch eine Furcht hatte ich nicht einmal, als meine Eltern getötet wurden. Weil ich nicht wusste, was ihnen blühte. Aber ich wusste, was sie mit dir tun würden, wenn sie dich finden würden. Ich konnte nicht das einzige verlieren, was ich noch hatte.«

»Hör auf!«, schrie ich ihn an. »Hör auf, so zu sprechen, als würdest du tatsächlich etwas für mich empfinden!«

Er packte meinen Oberarm und hielt mich davon ab, vom Bett zu springen. »Verdammt! Hör mir doch zu! Ich habe das alles verdrängt damals. Als ich wieder zurück in unserem Lager auf der anderen Seite der Welt war, wusste ich, dass du in Sicherheit bist. Ich habe ihnen nie von eurem Lager erzählt. Nie! Ich habe ihnen jediglich gesagt, dass ich mir sicher sei, dass es hier Menschen gibt. Von dir oder den anderen habe ich nie mit ihnen gesprochen. Doch, als Krassas mir sagte, wir würden dieses Lager angreifen, wusste ich, dass du nicht länger sicher bist.«

»Von wegen«, knurrte ich und holte aus. Meine Hand traf sein Gesicht und für wenige Sekunden war er wie erstarrt. Mein Handabdruck zeichnete sich flammend auf seiner Wange ab und meine Hand brannte von dem heftigen Schlag, den ich ihm verpasst hatte. »Du bist nicht mein Freund. Ein Freund hätte das alles verhindert, was heute Abend geschehen ist. Ein Freund hätte mich nicht jahrelang alleine gelassen!«

Dillion blinzelte, seine Nasenflügel bebten, dann packte er mich. Vor Wut wand ich mich in seinem Griff, doch er ließ nicht locker. Meine Hände kratzten über die gefütterte Matratze, bis ich eine Schale vom Nachttischchen zu fassen bekam. Mit voller Wucht schlug ich sie ihm gegen den Kopf und er keuchte vor Überraschung auf. Ich schaffte es, mich unter ihm hervor zu winden und rutschte vom Bett. Er knurrte wie ein Tier, während ich über den Boden robbte, um möglichst viel Abstand zwischen uns zu bringen. Aber Dillion musste zu einem ausgezeichneten Kämpfer ausgebildet worden sein, denn er hatte sich genauso schnell wieder gefangen, wie ich ihn überrascht hatte und stürzte sich auf mich. Ich kreischte wie eine Wildkatze, warf mich herum und wir rollten quer durch das Zelt. Für einen kurzen Moment saß ich auf seiner Hüfte und seine Augen funkelten wie geschmolzenes Gold. Doch dieser Moment endete genauso schnell und er rollte herum, nagelte meine Hüfte mit seinen muskulösen Oberschenkeln auf dem Boden fest und seine Hände hatten meine noch immer gefesselten Handgelenke über meinem Kopf auf das Leder des Zeltbodens gedrückt.

»Jetzt beruhige dich endlich!«, brüllte er und ich hörte den Zorn in seiner Stimme. »Als ich dich gesehen habe, musste ich etwas unternehmen. Ich dachte, er bringt dich um, Fea!«

Bitter verzog ich den Mund und starrte ihn verächtlich an. »Und dann verlangst du mich als Geschenk? Als Belohnung dafür, dass du deinem Vater die Köpfe eurer Feinde bringst? Damit ich die Beine breit mache?«

Sein Blick wurde kühl. »Für diesen Reik hättest du sie breit gemacht.«

Meine Augen weiteten sich und ich konnte ihn für eine Minute nur anstarren. »Du hast uns belauscht!«

»Ich hatte den Auftrag, zu beobachten.«, erwiderte er.

Ich funkelte ihn zornig an. »Das ist dasselbe!«

Dillion schnaubte, dann stieg er von meiner Hüfte und blieb neben mir hocken. »Es gibt noch so vieles, was du nicht verstehst. Es ist unmöglich, dir alles in dieser Nacht zu erklären. Eines muss ich dir aber noch sagen.«

Wütend richtete ich mich auf und rückte ein Stück von ihm weg. »Was denn noch? Warum sollte ich dir überhaupt noch zuhören?! Ihr habt Reik umgebracht und meinen Stamm versklavt! Ich müsste ich eigentlich umbringen!«

Ein spöttisches Grinsen trat auf seine Lippen. »Könntest du das denn, kleiner Fuchs?«

Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf, als er meinen Spitznamen wieder in den Mund nahm. Diese Worte hatte ich so lange nicht gehört und ich gab zu, dass ich sie mehr als vermisst hatte. Dennoch wollte ich mir nicht anmerken lassen, wie sehr ich seine Nähe eigentlich genoss und wie gerne ich ihn wieder als den Freund betrachten wollte, der er damals gewesen war. Wie sehr ich vergessen wollte, was diesen Abend geschah.

Ich wandte den Blick ab. »Wahrscheinlich nicht.«

Plötzlich fühlte ich eine Berührung an meinem Hals und sah auf. Dillion war kaum einen Meter von mir entfernt. Sein Blick wirkte auf einmal düster und wurde dann finster, als er über die Wunden an meinem Hals strich, wo Krassas seine klauenbesetzte Stahlhand hinein gegraben und mich hoch gehoben hatte. Dann blickte er mir fest in die Augen.

»Hör mir gut zu, Fea.«, bat er, seine Stimme war nun ernst und ruhig. »Egal, was zwischen uns jetzt ist. Ob es jemals so wie früher sein wird, kann ich dir nicht versprechen. Eines ist sicher. Krassas ist gefährlich und er wird ein Auge auf dich haben. In mir hast du einen Freund. Vertrau mir in dieser Hinsicht. Unter den Kriegern gibt es auch jene, die ihm aus Furcht folgen und nicht aus Überzeugung. Aber diejenigen, die ihm folgen, sind bösartig.«

»Was sollen wir tun?«

»Wir können noch nichts tun. Viele Krieger werden ihr Leben verlieren, wie Reik. Weil sie alle einem Gott dienen, der Menschenopfer verlangt und dieses Verlangen kann nur durch Blut gestill werden. Reik war der Erste von Vielen. Aber wir, kleiner Fuchs, müssen zusammenhalten. Versprich mir, dass wir das schaffen. Versprich es mir.«

Ich sah ihn mit trüben Augen an. »Versprochen.«, sagte ich das Wort, das ich ihm auch damals sagte, bevor ich ihn nie wieder sah.

Er nickte, dann schob er eine Hand in meinen Nacken und zog mich eng an sich. Ich vergrub das Gesicht an seiner Brust und atmete bebend ein und aus. Das alles war zuviel. Menschenopfer, fremde Gottheiten, Blut und Tod. Krassas, der mein Volk versklavte. Ich wusste, was passierte, wenn ein Stamm versklavt wurde. Die Krieger wurden getötet oder zumindest dezimiert. Die Hälfte der Frauen würde heute Nacht vergewaltigt werden und die Hälfte davon würde morgenfrüh einen Bastard im Bauch haben. Ich schluchzte vor Schmerz und Angst auf. Dillion schwieg und wiegte mich nur vor und zurück. Er verstand meine Gefühle besser, als jeder andere. Das hatte er schon damals gekonnt. Er hatte genau gewusst, wann er mich mit einem Scherz aufheitern konnte oder, wann mich ein Witz nicht trösten könnte, sondern nur sanfte Worte oder eine Umarmung. Diese Fähigkeit hatte er in den Jahren bei diesen Barbaren offenbar nicht verlernt. So hart und eiskalt er vorhin auf dem Platz gewirkt hatte, als er mich wie ein Stück Fleisch als Preis verlangt hatte, so sanft war er nun. Ich hatte das Gefühl, dass vor mir wieder jener Junge vor zehn Jahren sitzen zu haben.

Sanft murmelte er mir etwas in Ohr, von dem ich nichts verstand. Es war eine mir fremde Sprache, die er sprach und seine goldenen Augen glühten auf einmal eisblau auf. Warme Schauer durchfluteten mich und eine Gänsehaut bildete sich auf meinen Armen und Beinen. Die Schläfrigkeit wurde so stark, dass sich mein Körper schwer und warm anfühlte.

»Was tust du?«, murmelte ich, aber meine Lippen fühlten sich auch schon zu schwach an, um noch klare Worte zu bilden.

»Etwas, damit es dir bald besser geht, kleiner Fuchs.«, raunte Dillion und hob mich auf seine Arme.

Ich krallte mich in sein Wehrgehänge, bevor er mich auf dem Bett ablegte. Im Halbschlaf spürte ich noch, wie er die Fesseln an meinen Handgelenken löste und fort warf. Dann spürte ich eine dünne Decke über mir und im selben Moment driftete ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf ab. Insgeheim hoffte ich, dass all dies nur ein Alptraum gewesen war und ich morgen ganz normal in meiner Bettrolle wieder erwachte, um dann auf die Jagd zu gehen. Doch die Chancen, solch einen verrückten Traum gehabt zu haben, waren schwindend gering.

 

Aus keinem bestimmten Grund erwachte ich.

Duseliges Halblicht empfing mich, das von den rötlichen Zeltplanen ins Innere geworfen wurde. Zuerst glaubte ich tatsächlich, dass alles nur ein schrecklicher Alptraum gewesen war und ich wieder in meiner Bettrolle lag, wie jeden Morgen, den ich in diesem Zelt erwachte. Doch dann spürte ich die feste Matratze unter mir, die Decke über mir. Das weiche Federkissen unter meinem Ohr. Ich blinzelte. All das war kein Traum gewesen. Es stimmte. Dillion war am Leben. Er war der Sohn des grausamen Barbarenanführers Krassas, der am gestrigen Abend mein Volk versklavte und Reik getötet hatte, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte an die Zeltdecke.

In mir machte sich eine erschreckende Gleichgültigkeit breit. Momentan verspürte ich nicht einmal Angst, nur die Nüchternheit und Sachlichkeit eines Stategen, der seinen nächsten Zug plante. Eines Soldaten, eines Kriegers, der das Für und Wider abwägte, um sein Ziel zu erreichen. Mit so wenig Verlust, wie möglich. Die einzige Sache, die mich selbst verwirrte war, dass ich keine Ahnung hatte, was mein Ziel war.

Stöhnend fasste ich mir an die Stirn. Mein Kopf schmerzte, doch, als ich mit der Hand über meine Verletzungen fahren wollte, merkte ich, dass dort nichts mehr war. Ich keuchte auf und ruckte hoch, sodass ich in den Laken saß und blinzelte verwirrt. Gestern hatte ich die aufgeplatzte Haut an meiner Augenbraue und meiner Lippe gespürt! Ich berührte meinen Mund und die Schwellung war beinahe vollkommen verschwunden. Auch meine Halswunden waren fort.

»Du bist wach«, hörte ich die Stimme des Mannes, von dem ich geglaubt hatte, dass er schon längst tot war.

Ich hob den Kopf und sah ihn am Arbeitstisch lehnen. Sein Wehrgehänge lag darauf, auch sein Fellgürtel und die Armschienen. Nun erhaschte ich wieder einen Blick auf die Tättoowierung an seinem Unterarm. Runenzeichen, die sich auch an seinem mittlerweile muskulösen Hals wiederfanden. Sein kunstvoll bemalter, muskulöser Bauch spannte sich, als er sich von dem Tisch abstieß und zum Bett kam. Sein Oberkörper war nackt und auf eine gewisse Art und Weise machte mich die viele nackte Haut nervös.

Rasch zog ich die dünne Decke an meine Brust, die noch immer jediglich von dem Brustband verdeckt wurde.

Dillion setzte sich neben mich auf die Bettkante und berührte unwillkürlich mit dem Daumen meine noch leicht geschwollene Lippe. »Ich gebe zu, ich bin etwas aus der Übung, aber für den Anfang reicht es.«

»Was hast du getan?« Ich runzelte die Stirn und senkte den Blick auf seine Tättoowierung.

»Das Gleiche, was ich vor so vielen Jahren getan habe«, murmelte Dillion und drehte den Arm, damit ich die Runen besser sehen konnte. »Ich habe deinem Körper gesagt, dass er sich heilen soll.«

Ich hob den Kopf und sah ihn fragend an. »Und... was hat das damit zutun?«, wollte ich wissen und deutete auf die Tättoowierung.

Er biss sich auf die Unterlippe und runzelte die Stirn, als wäre es ihm unangenehm, darüber zu sprechen. »Diese... Runen wurden mir mit meinem ersten Namenstag tättoowiert.«

In diesem Moment wagte ich es nicht, etwas zu sagen. Er sprach von sich aus freiwillig über seine Vergangenheit. Da würde ich nicht im Traum daran denken, ihn zu unterbrechen. Ich wollte mehr von dem Jungen wissen, der einst mein bester und einziger Freund gewesen war. Im Augenblick war er der einzige Schutz, den ich gegen diese Barbaren hatte. Ansonsten hatte ich keine Verbündeten.

»In meinem Stamm war es Tradition, dass die Eltern eines Kindes, dem Kind mit dem ersten Namenstag eine Gabe schenken durften. In einem besonderen Ritual wird einem eine Runentättoowierung gestochen und das Kind erhält die Gabe, die die Mutter und der Vater für das Kind auswählen, mit diesem Schriftzug. Meine Mutter schenkte mir die Gabe der Heilung mit meinem Arm. Mein Vater gab mir die Gabe des Sehens an meinem Hals.«

Ich öffnete leicht den Mund, starrte ihn an, dann berührte ich den Schriftzug an seinem Hals und sah ehrfürchtig darauf. »Was bedeutet das?«

Er drehte den Kopf zu mir, griff nach meiner Hand und öffnete sie. »Das bedeutet, dass ich Krankheiten und Verletzungen heilen kann. Aber es kostet mich Energie, sodass ich danach meist ziemlich erschöpft bin.«

»Und das Sehen?«, wollte ich wissen.

»Ich kann sehen, was vergangen ist. Was gerade ist und, was sein wird. Aber nur manchmal. Bruchstückhaft. Diese Gabe habe ich noch nicht oft angewandt.«, murmelte Dillion und seine Augen wurden düster. »Ich hatte eine Vision, kurz bevor Krassas deinen Stamm angriff. Ich sah dich.«

Als sich unsere Blicke kreuzten, konnte ich ihn nur ansehen und seine goldenen Augen brannten sich in meine Seele. Es war so verwirrend, ihn hier direkt vor mir sitzen zu sehen. Es war so surreal.

»Was hast du gesehen?«, wisperte ich.

»In einer Version sah ich, wie er dich tötet.«, sagte er und seine Stimme klang gepresst. »In einer anderen fielen die Männer über dich her und ich hörte deine Schmerzesschreie in meinem Kopf. Es hat mich beinahe wahnsinnig gemacht.«

»Wird alles wahr, was du siehst?«

»Nein. Es kommt auf die Entscheidungen einer Person an. Ich sehe nie das Ganze... dennoch hätte es so kommen können.«

Benommen schüttelte ich den Kopf. »Du warst da, um das zu verhindern. Dafür danke ich dir.«

»Nicht dafür, kleiner Fuchs.«, murmelte er, dann hob er den Kopf. »Du solltest dich noch ausruhen und hier bleiben, so lange, wie es geht. Die Männer werden heute mit Sicherheit die Zelte durchsuchen und welche für sich beanspruchen. Aber hier solltest du vorerst sicher sein.«

»Was geschieht mit meinem Volk?«

Er seufzte leise und schüttelte den Kopf. »Ich denke, dass sie alle in Käfigen untergebracht sein werden. Außer diejenigen, die ihnen nützlich sein werden. Deine Heilerin zum Beispiel und...«

Als er schwieg, wusste ich, was er meinte. Die Frauen, die den barbarischen Kriegern zu Willen sein könnten. Es sträubte sich alles in mir dagegen, dieses Schicksal zu akzeptieren, aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich konnte nichts tun, noch nicht. Eines wusste ich jedoch sicher. Ich wollte Rache und so, wie Dillion aussah, trachtete er bereits sein ganzes Leben nach dem gleichen Ziel. Rache für die Menschen, die er geliebt hatte und eines grausamen Todes sterben sah. Und ich wollte Gerechtigkeit für mein versklavtes Volk, für Reiks Ermordung. Was auch immer zwischen uns gewesen war, solch einen Tod hatte er gewiss nicht verdient! Ich würde alles daran setzen, den Mann, der meinem Stamm das angetan hatte, brennen zu sehen.

VIER

 

Kurz nachdem Dillion und ich miteinander gesprochen hatten, entschloss ich mich dafür, mich endlich richtig anzuziehen. Allmählich wurde es mit dieser Kleidung kühl, zudem war es mir unangenehm, vor Dillion darin zu stehen. Er war noch immer ein Freund und musste nicht mehr Haut sehen, als es normal üblich war. Aus diesem Grund wühlte ich in meinem Wäschekorb und holte eine Lederhose und ein ärmelloses Oberteil aus weichem Hirschleder heraus. Ich zog beides über und kämmte mir das Haar mit den Fingern, bevor ich es in einen lockeren Knoten band.

Dann drehte ich mich herum und sah, wie Dillion sein Wehrgehänge von dem Tisch nahm und es sich versuchte, wieder anzuschnallen. Dabei bemerkte ich eine Reihe Vernarbungen auf seinem Rücken, die er damals noch nicht gehabt hatte. Was musste er in seinem Leben als Krieger bisher erdulden? Welchen Schmerz hatten die Menschen, die er erzwungener Maßen für seine Familie dulden musste, ihm zugefügt?

Ich seufzte und kam zu ihm herüber, griff nach dem Wehrgehänge und nahm es ihm aus der Hand. »Lass mich dir helfen.«

Er hielt inne und ließ mich machen, als ich es ihm über zog und die Riemen an seiner rechten Seite festzurrte. Nachdem ich fertig war, griff er sanft nach meiner Hand und strich über meine Fingerknöchel. »Wie geht es dir damit?«

Ich schüttelte den Kopf und unterdrückte die Frusttränen, die mir am liebsten über die Wangen laufen wollten. Aber ich hielt mich zurück. Letzte Nacht hatte ich mir gezwungener Maßen die Blöße gegeben und vor ihm geweint. Hatte meiner Angst ein Gesicht gegeben, was ich nicht mehr getan hatte, seit Dillion damals verschwunden war. Damals hatte ich jegliche Gefühle in meinem Herzen weggeschlossen und er hatte es so leicht geschafft, diese Mauer einzureißen. Und dennoch war ich nicht mehr das Mädchen von damals, das lachend und scherzend mit ihm durch die Wälder lief. Und er war auch nicht mehr der Junge, der mich kritisch musterte, wenn ich ihm eine Tierspur zeigte. Wir waren erwachsen geworden, jeder auf seine Weise. Wir waren keine Kinder mehr.

»Ich weiß es nicht«, murmelte ich und hob den Kopf, um ihn ansehen zu können. »Ich weiß nicht, was jetzt passieren wird. Wie geht es weiter?«

Dillion wich meinem Blick aus, als wäre ihm etwas unangenehm. »Für alle anderen ist klar, was diese Nacht in diesem Zelt zwischen uns geschehen ist, Fea. Verstehst du, was ich meine?«

Eine unangenehme Gänsehaut bildete sich auf meinem Rücken und ich spürte, wie mir die Hitze in die Wangen stieg. »Sie glauben alle, wir... hätten das Bett miteinander geteilt?«

»Ich habe dich schließlich als Preis verlangt.«, bemerkte er. »In ihren Augen bist du ab letzter Nacht meine Geliebte.«

Ich errötete und blickte peinlich berührt zur Seite. »Unheimliche Vorstellung.«

»Tatsächlich?« Ich hörte den Spott in seiner Stimme.

Finster blickte ich ihn an. »Hör bloß auf damit, ja? Ich bin immernoch wütend auf dich.«, brummte ich und gab ihm einen Puffer mit der Faust in die Seite.

Grinsend blickte er mich an. »Die Hauptsache ist, dass du deine Rolle spielst, kleiner Fuchs. Wir dürfen uns nichts anmerken lassen. Schaffst du das?«

»Wenn du es schaffst?«

Er schmunzelte und für einen Augenblick erkannte ich den Jungen von damals wieder, der mich frech angegrinst hatte. »Zusammen.«

»Zusammen«, lächelte ich, dann folgte ich ihm hinaus.

Doch dort draußen holte uns ganz schnell die Realität wieder ein. Dunkler Qualm stieg von den teilweise verbrannten Zelten auf. Totes Getier lag an den Lagerrändern und man hörte das Klagen der Frauen. In den Zelten hörte ich an diesem Morgen, der trüb und regnerisch war, die obszönen Geräusche der Vereinigungen. Hörte das Schluchzen der Mädchen, die den Kriegern zu Willen sein mussten und in mir kribbelte das Verlangen, in jedes Einzelne davon zu stürmen und jedem Barbar den Schwanz abzuschneiden. Ich presste die Zähne aufeinander, um den Frust unter Kontrolle zu halten. Ich spürte Dillions Hand, die meinen Ellenbogen umfasst hielt. Er schien meine Anspannung zu spüren und, als ich den Kopf zu ihm drehte, erkannte ich, dass sein Lächeln restlos verschwunden war. Jetzt war er wieder der kalte, harte Mann, den ich gestern Abend zum ersten Mal an ihm gesehen hatte.

Wir kamen zum Richtplatz. Dort waren provisorische Holzkäfige errichtet worden, in denen ein Großteil des Stammes hockte. Die Männer hockten getrennt von den Frauen auf einer Seite, auf der anderen waren die Frauen und Älteren untergebracht. Als ich sah, dass Britta und Gwen alleine dort hockten und von der vierzehnjährigen Maelle die kleinste Spur fehlte, wusste ich sofort um das Schicksal des jungen Mädchens. Ich sah es in Brittas Blick, in ihrem verzweifelten Schluchzen, in ihrem wütend zusammen gekniffenen Mund. Sie hatte am Vorabend ihren einzigen Sohn sterben sehen und nun war die jüngste Tochter zu einem Lustspielzeug für diese Barbaren geworden.

Das mussten Monster sein!

Dillion zog mich weiter bis zum Ende des Richtplatzes.

Doch, als ich sah, was diese Männer getan hatten, stockte ich sofort und kreischte auf. Der Schrei rutschte mir einfach heraus, meine Beine stemmten sich in den Untergrund und ich weitete vor Entsetzen die Augen. Mein Unterkiefer zitterte so heftig, dass ich mich kaum mehr unter Kontrolle halten konnte. Mein Herz wummerte in meiner Brust und nicht einmal Dillions leises Gemurmel konnten mich beruhigen.

Vor mir hing der Leichnam von Reik. Sie mussten noch am Vorabend zwei Pfosten in den Boden gerammt haben, die mindestens zwei Meter lang waren. Man hatte ihm das Oberteil ausgezogen und ihm mit seinem eigenen Blut heiknische Runen auf die Brust gemalt. Ein Beutel war über seinen Kopf gestülpt, sodass man sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, dennoch erschreckte mich die Art und Weise, wie man seinen Leichnam geschändet hatte. Sie hatten das Seil um seine Handgelenke geschlungen und ihn damit an den Pfosten aufgeknüpft. Blut lief von der Wunde an seiner Kehle bis hinunter in die Wollhose, de er am Abend getragen hatte. Seine Beine hingen schlaff herunter.

Keuchend, da ich vor Schock kaum Luft bekam, starrte ich diese Szene an.

»Fea! Fea, beruhige dich!«, zischte Dillion an meinem Ohr. Er hatte meine Taille gepackt und mich an sich gezogen.

Ich schaffte es kaum, meinen Blick von Reik loszureißen, aber ich schaffte es, ihn an zusehen. »Wusstest du es?«, flüsterte ich. »Wusstest du, dass sie das tun würden?«

Dillion seufzte schwer, dann nickte er langsam. »Das ist eines der Rituale, von denen ich dir erzählte. So geschieht es jedem Menschenopfer.«

»Ich hasse sie...«, hauchte ich und schüttelte verstört den Kopf.

Dillion nickte an meiner Seite, als könnte er meine Gedanken voll und ganz nachvollziehen. Und ich wusste, dass er dasselbe dachte, wie ich. Doch mir blieb keine Zeit, zu verarbeiten, was ich soeben gesehen hatte. Dillion zog mich bereits weiter, flüsterte mir ins Ohr, dass ich ihm vertrauen sollte und brachte mich ans andere Ende des Lagers. Dort auf der Anhöhe stand das Zelt, das bis zum gestrigen Abend dem Stammesführer gehört hatte. Nun, als Dillion mich ins Zelt zog, sah ich, dass es sich Krassas dort drinnen gemütlich gemacht hatte. Von Domhnall oder irgendjemanden sonst war nichts zu sehen. 

Ich atmete schwer, als er mich vor Krassas Füßen auf den Boden zwang, eine Hand beruhigend in meinem Nacken. Ich wusste, dass er nun eine Rolle spielte und versuchte so, mich innerlich zu beruhigen. Er hatte es mir gesagt, bevor wir aufgebrochen waren. Ich sollte ihm vertrauen, ich musste meine Rolle in dieser Geschichte spielen, bis wir einen Plan ausgearbeitet hatten. Bis dahin blieb uns nichts anderes übrig.

Mein Blick glitt durch das Zelt, das einmal meine Heimat gewesen war. An Vieles jedoch konnte ich mich nicht erinnern. Ich war ein Kleinkind gewesen, als ich hier mit meinen Eltern lebte. Ob sich viel verändert hatte, dadurch, dass Domhnall und Britta es bezogen hatten, wusste ich nicht. Mein Blick fiel auf das große Schlaflager, das den beiden Stammesführern gehörte. An der Feuerstelle standen kleine Schemel, Körbe und Regale schmiegten sich an die Zeltwände, in denen sich das Sammelsurium der letzten Jahre angesammelt hatte. Es würde sich keine Sache mehr darin befinden, die meinen Eltern gehört hatte, da Domhnall und Britta alles hatten verbrennen lassen, nachdem meine Mutter starb und ich zur Ausgestoßenen wurde.

Nun saß Krassas auf dem breiten Stuhl, den Domhnall sicherlich immer besetzt hatte und blickte neugierig auf mich herunter, bevor er Dillion mit einem dreckigen Grinsen ansah. »Und? Wie war die Nacht für dich, Sohn?«

»Unvergesslich mit solch einer rothaarigen Schönheit.«, antwortete Dillion und strich zart über die Seite meines Halses.

Ich presste die Zähne aufeinander und entzog mich seiner Berührung.

Krassas lachte leise, dann blickte er Dillion wieder an. »Was bringst du mir diese kleine Wilde? Diese Belohnung lässt sich nicht umtauschen, falls du noch mehr kleiner Jungfrauen willst.«

»Keine Sorge, Krassas«, sagte Dillion hinter mir und schlenderte hinter mir auf und ab, während ich den Kopf senkte. »Noch ist sie eng genug.«

Ich hörte Krassas wie durch Watte lachen, doch mir blieb ein Kloß im Halse stecken. Was erzählte er da? Wütend funkelte ich ihn an und mein Zorn war nicht gespielt. War er diesen Männern gegenüber wirklich so? Eine Frau so abwertend zu behandeln? Dillion ignorierte meinen finsteren Blick und blieb letztendlich neben mir stehen.

»Was willst du dann, Sohn?«

»Gib ihr ihren Bogen wieder.«

Ich fuhr zusammen und starrte ihn an.

»Warum sollte ich das tun? Damit sie dich im Schlaf umbringt und flieht?«

»Das wird sie nicht.«, versicherte Dillion ihm. »Sie ist als Jägerin nützlicher, als wenn sie mir den ganzen Tag das Bett wärmt. Wir haben diesen Stamm übernommen. Doch auch wir brauchen Nahrung. Ein Jäger kann sie uns beschaffen. Außerdem würde sie damit ein Zeichen setzen. Eine Frau, der wir eine Waffe in die Hand drücken.«

Krassas berührte sein stoppeliges Kinn mit seiner nicht behandschuhten Hand und runzelte die Stirn, als würde er angestrengt über seine Worte nachdenken. Dann seufzte er, als wäre ihm diese Unterhaltung bereits zu nervig und erhob sich. Er lief hinüber zu einem kleinen hölzernen Tisch und goss sich etwas von dem Apfelmost in einen Becher. »Gut, Dillion. Du tust gut daran, diesem Mädchen zu vertrauen, aber mein Vertrauen muss man sich verdienen. Das weißt du selbst, Junge. Sie bekommt das Messer zurück, das wir bei ihr gefunden haben. Den Bogen muss sie sich ebenso verdienen, wie mein Vertrauen, denn gestern Abend hat sie keine Glanzleistung hingelegt. Und da sie jetzt dir gehört, bist du für sie verantwortlich.«

»Sicher doch«, erwiderte Dillion.

»Wir werden ohnehin noch eine Weile hier bleiben, bis sich die Männer ausgeruht haben und ich entschieden habe, was mit den Gefangenen passiert. Solange soll sie dir dienen.«

»Wenn das deine Entscheidung ist, dann soll es so sein. Komm!«

Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass Dillion nun mit mir sprach. Stolpernd kam ich auf die Füße und spürte Dillions Hand an meinem Ellenbogen, wie er mich festhielt, als fürchtete er noch immer, dass ich in Krassas Gegenwart die Nerven verlieren und auf ihn losgehen würde. Doch so dumm war ich nicht. Ich spürte zwar Wut und Frustation in mir und ich täte nichts lieber, als einen meiner Pfeile zwischen seinen Augen zu platzieren, jedoch war es noch nicht der richtige Augenblick. Alles, was ich erreichen würde, wäre vermutlich, selbst getötet zu werden.

Krassas holte das Messer hervor, das mir Dillion damals gegeben hatte, als er von Krassas Männern mitgenommen worden war. Er kam auf mich zu und sah ernst auf mich herunter. Er überragte mich um mindestens zwei Köpfe und war damit ein kleines Stück größer, als Dillion. Als er mir das Messer hinhielt, wusste ich im ersten Moment nicht, wie ich reagieren sollte. Unsicher griff ich danach und spürte das gewohnte Gewicht der Waffe in meiner Hand. Und auf einmal fühlte ich mich beruhigter.

»Ich mag dir diese Waffe zugestehen, jedoch merke dir: wenn du auch nur die kleinste Bedrohung für mich oder meine Männer darstellst, endest du genauso, wie dein Geliebter gestern Abend. Hätte er den Mund gehalten, dann wäre er jetzt noch am Leben. Weißt du, was ihm wiederfahren ist?«

Meine Hand umfasste das Messer fester und für einen Augenblick war ich versucht, es ihm so schnell über die Kehle zu ziehen, wie er mit seinen Klauen Reiks Kehle aufgerissen hatte. All dem ein Ende bereiten. Aber ich konnte es nicht. Ich wusste, dass dies nicht der geeignete Zeitpunkt war. Ich war eine Jägerin, keine kampferprobte Kriegerin so wie diese Männer es waren.

»Ich sah es«, zischte ich finster.

»Gefällt es dir?«

Ich schwieg, starrte ihn mit Todesblicken an und biss die Zähne so fest aufeinander, dass es wehtat. Dann senkte ich den Blick. Ich würde es nicht wagen, ihm zu widersprechen, wo er mir gerade eröffnet hatte, dass er mich auf die Probe stellte und ich mich beweisen müsste. Er begann bereits jetzt, mich auf Herz und Nieren zu testen.

»Dachte ich es mir doch.«, murmelte Krassas und seine Hand hob sich an mein Gesicht.

Ich widerstand dem Drang, mich ihm zu entziehen und funkelte ihn stattdessen finster an. Beinahe zart strich er mir eine wirre, rote Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus meinem Knoten gelöst hatte, dann wanderte sein Finger meinen Kiefer entlang zu meinem Kinn und hoben es an. Ich sah ihm direkt in die kalten, beinahe schwarzen Augen, die etwas von einer dunklen Geistergestalt aus den Erzählungen der Stammesältesten hatten. Früher hatten sie uns damit Angst eingejagt, damit wir nicht in die Wälder gingen oder des Nachts das Lager verließen, da uns ansonsten ein solcher Geist leicht zu fassen bekommen und fressen würde. Nun war ich mir sicher, dass es nicht bloß Geschichten gewesen waren, sondern die Wahrheit. Er musste ein solcher Geist sein.

»Sorge dafür, dass sich diese kleine Blume nützlich macht, ansonsten kann sie in den Käfigen sitzen und darauf warten, dass einer der Männer sie zu sich nimmt.«

»Sie gehört mir, Krassas.«, brachte Dillion im gezwungenen Tonfall heraus.

Krassas wandte den Blick zu ihm, sein eines schwarzes Auge glänzte im trüben Licht. »Dann wird es dich nicht stören, dass du die Verantwortung für sie hast. Ich dulde keine Faulenzer und ich dulde es nicht, dass sie den ganzen Tag dein Bett anwärmt, bis du Abends zu ihr kommst.«

»Das wird nicht passieren.«

»Dann bin ich ja beruhigt.«, bemerkte Krassas und wandte sich ab.

Innerlich atmete ich auf, dass er endlich ein Stück von mir abrückte. Ich hasste es, wenn man mir so nahe kam.

Dillion griff nach meinem Oberarm und führte mich aus dem Zelt und brachte mich zurück zum Heilerzelt. Auf dem Weg sah ich, wie einige Frauen meines Stammes unter der Aufsicht der fremden Krieger, Essen bereiteten oder die Älteren zu Handarbeiten gezwungen wurden. Von unseren Kriegern war weit und breit nichts zu sehen. Sie wurden noch immer weggesperrt, denn die Fremden wussten ganz genau, dass es jedem Einzigen unter den Nägeln brannte, eine Waffe in ihre Schädel zu treiben. Ich konnte nur ahnen, wie die Männer meines Stammes sich fühlen mussten. Frust und Wut waren eine gefährliche Mischung. In einer Nacht waren sie versklavt worden und konnten nichts gegen die Versklavung ihrer Kinder und die Vergewaltigungen ihrer Frauen tun.

Ich stockte, als ich einen hoch gewachsenen Krieger, der sicher das Doppelte von Dillion war, sah, der die junge Maelle am Arm gepackt hatte und sie durchs Lager führte. Das Mädchen sah vollkommen abwesend aus. Ihre großen hellblauen Augen waren geweitet und getrocknete Tränenspuren befanden sich auf ihren schmalen Wangen. Ihr strohblondes Haar war offen und zerzaust. Was mich noch viel mehr erschreckte, war der dunkelblaue Bluterguss auf ihrer Wange und getrocknetes Blut klebte an ihren Oberschenkeln, denn sie trug nur ein kurzes Hemd. Sie wirkte so abwesend.

»Maelle«, hauchte ich und berührte ihre Schulter.

Der Krieger zerrte das Mädchen sofort von mir weg und seine Hand sauste auf mein Gesicht nieder. Ich keuchte auf und presste meine Handfläche auf meine pulsierende Gesichtshälfte, spürte Dillions griff fest an meinem Oberarm, wie er mich von dem Krieger wegzerrte. Maelle starrte mich nur mit angstgeweiteten Augen an.

Das mussten Tiere sein! Wie konnte ein Mann nur so ein junges Mädchen vergewaltigen! Sie war noch ein Kind!

»Halt dein Weibsstück unter Kontrolle, Dillion, sonst fängt sie sich noch eine!«, knurrte der Krieger.

Dillion zog mich hinter sich. »Ich denke, sie hat es gelernt. Jetzt zieh ab.«

Er schnaubte nur und zerrte Maelle mit sich.

Dillions Griff wurde fester, als er mich zum Heilerzelt zog. Er stieß mich ins Innere und ich stolperte durch das Zelt.

»Bist du wütend auf mich?«, fragte ich patzig, während er an mir vorbei rauschte.

»Ich koche vor Wut!«, fuhr er mich an. »Du solltest nur still sein, Fea! Nur still! Ist das etwa zu viel verlangt? Stattdessen forderst du Krassas heraus, genauso wie gestern Abend und nun das!«

Ich funkelte ihn an, während er auf meine geschlagene Gesichtshälfte deutete. »Still? Siehst du nicht, was sie meinem Volk antun? Wie soll ich da still daneben sitzen und zusehen? Das Mädchen eben war vierzehn! Vierzehn, Dillion! Sie ist noch ein Kind!«

»Wir mussten auch früh erwachsen werden.«

Entsetzt starrte ich ihn an, dann schüttelte ich den Kopf. »Das kann nicht dein Ernst sein. Wenn du so denkst, dann bist du nicht besser, als sie. Nicht besser, als Krassas.«

Drohend trat er einen Schritt auf mich zu. »Wirf mich nicht mit diesem Monster in einen Topf, Fea!«

Seine laute Stimme ließ mich zusammenfahren und zurückschrecken. Ich versuchte wirklich, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich Angst vor ihm hatte in diesem Augenblick. Er war so zerfressen von Zorn und ich wusste im Grunde nicht, was ich falsch gemacht hatte. Alles, was ich tat, war Maelle anzusprechen, aber selbst das schien ihn wütend zu machen.

»Was willst du tun? Mich auch schlagen?«

Dillion starrte mich an, als könnte er nicht glauben, dass ich das jetzt tatsächlich gesagt hatte. Dann seufzte er leise und schüttelte den Kopf, sah weg von mir. »Glaubst du wirklich, dass ich das tun würde?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«, murmelte ich und blickte zur Seite.

»Ich weiß, dass du Angst hast, Fea. Ich habe auch Angst, aber wir müssen uns auf andere Dinge konzentrieren, als das, was mit den Menschen deines Stammes passiert. Es sind Dinge, die wir nicht verhindern können.«

Ich blickte ihn fest an. »Aber es sind Dinge, vor denen wir nicht die Augen verschließen können, Dillion. Und ich werde es nicht hinnehmen, was er meinem Volk antut. Das kann ich nicht.«

»Warum kümmert es dich, was mit ihnen geschieht? Es hat keinen einzigen gekümmert, was mit dir passierte, als man deine Mutter ermordete. Jeder hat nur zugesehen.«

»Wenn es danach ginge«, knurrte ich ihn finster an. »dann würde sich jeder nur um sich selbst kümmern.« Ich wandte mich von ihm ab und stapfte noch immer zornig zu meiner Bettrolle hinüber, begann darauf etwas Ordnung zu schaffen. Ich hörte Dillion entnervt schnauben und dann unruhig durch das Zelt stapfen. Noch immer konnte ich nicht fassen, was ich gesehen hatte. Reik war wie eine Opfergabe zwischen zwei Pfosten aufgehängt worden und seine jüngere Schwester Maelle schien brutal vergewaltigt worden zu sein. Diese Bilder würde ich nicht mehr loswerden.

Ich rieb mir müde über die Augen und zischte leise, als ich die Verletzung an meiner Wange spürte. Sicherlich würde dort eine Narbe übrig bleiben. In mir staute sich die Hitze und ich rieb mir wütend über die feuchten Augen. Es fühlte sich alles so ausweglos an. Ob wir jemals frei sein würden? Ich wusste es nicht und ich konnte nach diesem Erlebnis nicht einmal mehr sagen, ob Dillion diesen Männern nicht doch ähnlicher war, als ich gedacht hätte.

 

Die Zeit verging so schnell, dass ich kaum merkte, wie es zum Abend dämmerte. Dillion war in der Zwischenzeit vor das Zelt gegangen, jedoch hatte er mich nie lange außer Augen gelassen, als fürchtete er, dass ich doch noch in Krassas' Zelt stürmte und ihm mit dem Messer die Kehle aufschlitzte. Stattdessen hatte ich versucht, ein wenig Ordnung in das einsame Heilerzelt zu bringen. Ohne Muirgheal, die hier die Kranken behandelte oder das Klappern der Dosen und Fläschchen wirkte das Zelt nicht mehr so, wie ich es von Kindesbeinen an kannte. Ich fragte mich, wie es der alten Frau ging. Ob sie zu Essen bekamen und Wasser. Ich wusste um ihre Schultersteifheit und hatte Angst, dass sie Schmerzen hatte, wenn sie stundenlang in diesen kleinen Käfigen am Richtplatz hockte. Mit Sicherheit ging es gegen ihren Stolz, dass sie in den eigenen Exkrementen sitzen musste.

Schließlich entfachte ich in der kleinen Feuerstelle in der Mitte des Zeltes ein Feuer und öffnete die Abzugshaube am Zeltdach. Ich wärmte mich an den Flammen und zog die Beine an, drehte das Messer hin und her und fragte mich, was die Zukunft nun noch für mich bereit halten sollte. Wie würde es weitergehen? Sollte ich tatsächlich Krassas' Vertrauen gewinnen, könnte ich dann so nahe an ihn heran kommen, dass ich ihn töten könnte? Und dann? Würde Domhnall dann wieder Stammesführer werden, dann würde er mich wegen Verrat hinrichten lassen, weil ich mit unseren Feinden gemeinsame Sache gemacht hatte. Es wäre unerheblich, dass ich ihnen allen das Leben gerettet hätte.

Plötzlich öffnete sich die Zeltplane und Dillion trat ins Zelt. Seine Bewegungen waren unsicher und er wich meinem Blick aus, als wäre er nicht sicher, ob er Willkommen war. Langsam lief er zum Tisch hinüber und begann, sein Wehrgehänge abzunehmen, bevor er zu mir kam und mir ein Brett hinhielt.

Ich starrte kurz darauf, dann wandte ich den Blick ab.

»Du musst etwas essen, Fea.«

»Ich nehme an, das wäre das, was eine gute Sklavin tun würde.«

Genervt knurrte er und stellte das Brett krachend neben mir hin. »Verdammt, kannst du nicht einmal damit aufhören?! Du bist keine Sklavin.«

»Für dich vielleicht nicht«, fauchte ich und blickte ihn fest an. »Für alle anderen bin ich deine Konkubine, die dir das Bett schön warm hält, bis du kommst, um mich zu bespringen.«

Dillion schüttelte den Kopf und fuhr sich durch das dunkelbraune, im Licht kupfern schimmernde, Haar. »Ist es, weil ich dich gestern Abend beansprucht habe? Weil ich diese Sachen vor Krassas gesagt habe?«

»Du hättest dich ruhig zurückhalten können.«, bemerkte ich spitz.

»Du weißt, dass ich das nicht ernst meine, Fea. Ich spiele eine Rolle. Wenn ich dich nicht als Preis verlangt hätte, dann wärst du jetzt nämlich tot.«, erklärte er mir und hob die Hand, berührte mein Haar, bevor er die Stirn gegen meine Schläfe presste.

Die plötzliche Nähe war ungewohnt und ich atmete zitterig ein und aus.

»Und das hätte ich nicht ertragen, Fea.«, murmelte er. »Du bist alles, was ich hier habe. Und wir müssen zusammenhalten. Wir haben doch nur uns.«

»Ich weiß«, murmelte ich und starrte auf seine Hand, die meine umfasst hatte. »Aber wir können nicht ignorieren, was mit den Menschen meines Stammes passiert. Maelle ist ein Kind.«

»Ich weiß, Fea. Aber wir können ihnen nicht helfen. Noch nicht.«

»Wann wird es soweit sein?«

»Eines Tages vielleicht. Aber noch ist nicht der geeignete Zeitpunkt gekommen.«

Ich nickte verstehend, dann sah ich ihn ernst an. »Was meinte Krassas damit, solange wir noch hier sind?«

Dillion wandte den Blick von mir ab und starrte in die Flammen. »Wir sind ein Kriegertrupp, Fea. Das ist ein Bruchteil unseres Stammes. Der Rest ist im Land des ewigen Schattens, jenseits der Meerenge.«, erklärte mir Dillion. »Krassas sucht sich die Menschen aus einem Stamm heraus, die ihm nützlich sein könnten. Du bist sehr nützlich. Eine junge Frau, die ihm wagte, die Stirn zu bieten, ist für ihn eine interessante Eroberung. Er wird die meisten Frauen mitnehmen, dessen bin ich mir sicher. Sie sind immer eine gute Kriegsbeute für seine Männer. Was mit den Kriegern jedoch passiert, die sich ihm nicht beugen...«

»Sie werden wie Reik enden.«, hauchte ich und dachte wieder an das schreckliche Bild, das sich mir geboten hatte, als wir an diesem Tag den Richtplatz betreten hatten und ich Reiks Leichnam so furchtbar geschändet vorgefunden hatte. Der Tod bedeutete diesen Männern nichts, wohingegen er in meinem Stamm heilig war. Ein Toter wurde zwei Tage lang auf seine Reise in die Geisterwelt vorbereitet, es wurden Rituale vollzogen, sein Körper wurde gesalbt und anschließend verbrannt. Doch diese Fremden traten unseren Glauben, unsere Kultur und unsere Traditionen mit Füßen. Keiner der Männer würde das akzeptieren.

»Das müssen wir verhindern, Fea. Und dafür müssen wir zusammenarbeiten. Nicht gegeneinander. Alles, was ich da draußen sage, ist nicht die Wahrheit.«, sagte er.

Ich blickte ihn an. »Schaffen wir das?«

»Zusammen.«, flüsterte er.

»Zusammen.«

FÜNF

 

Ich hob den Kopf, eine laue Brise fuhr mir durch das Haar und streichelte mein Gesicht. Allmählich heilten die Wunden, wir lebten nun schon eine Woche mit den Barbaren im Lager zusammen. Das Klagen der Frauen hatte abgenommen und eine unheimliche Stille kehrte gegen Abend und morgens im Lager ein, als würde jeder zu den Geistern unserer Ahnen beten, sie mögen uns Kraft für das geben, was noch kommen mochte. Jeden Morgen war ich alleine zum Richtplatz gegangen und hatte vor den Pfosten gestanden, die die Tage über gefolgt waren. Reik hing noch immer dort, stinkend vom Verwehsungsprozess und zerfressen von den Raben, die vom Blutgeruch angelockt worden waren. Neben ihm hingen Brent, der Sohn des Mannes, der unsere Stahlwaffen im Feuer fertigte, der nur neunzehn Winter gezählt hatte; Moran, der Krieger gewesen war und siebenunddreißig Winter gezählt und hatte Frau und das frischgeborene Mädchen zurückgelassen; Keylam, welcher einer der Ältesten und Heiligen des Stammes gewesen war. Und ich könnte noch drei weitere Namen nennen. Ihre Leichen hingen wie zu einer Opferung dargeboten an den Pfosten. Moran hing an einem einzelnen Pfosten, seine Arme an einem dünnen, hölzernen Gerüst, das mit orangerotem Stoff bespannt war, gebunden.

Und jeden Morgen kehrte ich dorthin zurück, um mich an die Wut zu erinnern, die in meinem Bauch rumorte.

Die meisten Frauen waren bereits wieder frei, jedoch wurden sie unter Aufsicht gehalten. Die Jüngeren sah man meist nicht, da sie sich in den Zelten der Krieger aufhielten, um ihnen zu dienen. Die Älteren saßen vor den Zelten und arbeiteten unter den strengen Augen der grimmigen Krieger. Es wurden sogar einzelne Männer meines Stammes aus den Käfigen geholt, um mit den übrigen Kriegern zu jagen.

Ich fragte mich nur, wie das weitergehen sollte. Wir hatten eine Art Alltag gefunden, dem wir nachgingen. Dillion bewachte meist das Heilerzelt tagsüber, sodass ich im Innern meinen Frieden hatte, all dem nachging, was mir Muirgheal beigebracht hatte. Denn die Heilerin saß noch immer bei den wenigen Frauen und Ältesten, die Krassas einfach nicht gehen ließ. Ich stellte Tinkturen und Salben her und arbeitete, bis mir der Schweiß über den Körper lief, nur, um den ständig wirren Gedanken zu entkommen, die mir durch den Kopf schossen.

Doch an diesem Tag war ich froh, endlich vom Lager wegzukommen.

Schon seit einer gefühlten Ewigkeit hockte ich auf einem dicken Ast eines gewaltigen Baumes und blickte finster zu Dillion herunter, der in der Mitte einer kleinen Lichtung saß und die Augen geschlossen hielt. Die ganze Zeit versuchte ich darüber nachzusinnen, wie ich ihn am besten angreifen sollte. Denn das hatte er mir vor einer ganzen Weile aufgetragen. Ich sollte ihn angreifen und überwältigen.

Ich musste wieder an das Gespräch vor zwei Tagen denken, das Dillion und ich mit Krassas gehabt hatten. Er hatte ihm gesagt, dass er mich mit in den Wald auf die Jagd nehmen würde. Doch statt zu jagen, trainierten wir für den Ernstfall. Egal, was das für ein Fall sein würde. Ich wusste, dass ich kämpfen lernen musste, denn eines Tages würde ich Krassas gegenüberstehen und ich würde ihn töten.

Mein Messer fest gepackt, schlängelte ich mich vom Baum herunter und griff es fester, dann rannte ich los, direkt auf Dillion zu. Doch er war viel erfahrener als ich und packte mein Handgelenk, bevor mein Messer auch nur in die Nähe eines verwundbaren Körperteils gelangen konnte und warf mich um. Ich schrie wütend auf, trat nach ihm, versuchte ihm das Gesicht zu zerkratzen, aber Dillion war so viel stärker als ich. Er rollte mich herum und setzte sich auf meine Hüfte, sodass ich beinahe bewegungsunfähig war.

Er lächelte spöttisch auf mich herunter. »Du atmest lauter, als ein Mammut, kleiner Fuchs. Du musst ruhiger werden. Ich habe dich die ganze Zeit gehört.«

Frustriert ließ ich locker.

Langsam ließ er ebenfalls locker und ließ auch mein Handgelenk los, das er fest gepackt hatte, damit ich nicht mehr mit dem Messer zustechen konnte. In einer kurzen fließenden Bewegung nahm er mir die Waffe ab und rammte sie neben uns in den Grasboden. Dann lehnte er sich langsam zurück und das Gewicht seines Körpers ließ von meinem ab, sodass ich leichter atmen konnte.

»Ich weiß, dass in dir ein Haufen Wut steckt, Fea«, sagte er, seine Stimme klang nun ernster und sanfter. »Aber es bringt dir nichts, dich wie eine wilde Furie auf dein Opfer zu stürzen. Im schlimmsten Fall endet es für dich mit einer aufgeschlitzten Kehle und das will ich nicht zulassen. Also beherrsche dich. Du musst wissen, was dein Gegner denkt, seine Bewegungen voraussehen. Doch das lernst du nicht innerhalb eines Tages.«

Schnaubend sah ich zur Seite zu dem Messer, dann blickte ich wieder ihn an. »Wie schaffst du es, so ruhig zu bleiben?«

»Jahrelange Übung.«

Wütend schüttelte ich den Kopf und, als er den Blick abwandte und in die Ferne sah, nutzte ich die Gelegenheit, brachte ihn blitzschnell aus dem Gleichgewicht und rollte mich auf ihn. Mit der Rechten packte ich das Messer und drückte es ihm an die Kehle. Überrascht starrte er mich an und ich blickte zu ihm herunter. Für einen Augenblick blickten wir uns nur an und ich konnte mich nicht von seinen goldenen Augen abwenden, die mich mit solcher Intensität musterten, dass mein Magen unruhig flimmerte. Ich fühlte mich seltsam und, als Dillion seine eine Hand an meinen Oberschenkel legte, zuckte ich zusammen. Ruckartig zog ich die Klinge von seinem Hals und sah weg.

»Wir sollten zurückgehen.«, murmelte ich.

»Ja... das sollten wir.«

Ich stand langsam auf und steckte das Messer zurück in meinen Gürtel und wartete, bis auch er sich aufgerappelt hatte. Schweigend gingen wir den Pfad zurück zum Lager. Es ging mir ziemlich gegen den Strich, dass wir zurück gingen, aber diese seltsame Situation war mir mehr als unangenehm, sodass ich es beinahe begrüßte, in das stickige Zelt zurückzukehren, um weiter an den Salben und Tinkturen zu arbeiten. Es wäre mir nur recht, wenn ich den ganzen Tag im Zelt verbrachte und Dillion nicht mehr sehen musste heute.

Innerlich rumorte mein Bauch. So sollten Freunde einander nicht anrühren. Ich wusste nicht, was in diesem Moment in Dillion gefahren war, aber das war falsch. Ganz einfach.

Wir kehrten ins Lager zurück, wo uns wie immer die gedrückte Stimmung erwartete, die seit Tagen herrschte. Die Menschen meines Stammes waren ängstlich und wütend, die Fremden behandelten uns wie Abfall. Doch heute war ich nicht in der Stimmung, mir darüber Gedanken zu machen, sodass ich mit Dillion geradewegs das Heilerzelt ansteuerte, in dem wir seit Tagen alleine lebten. Doch heute erwartete uns nicht, wie gewohnt, die Stille der Einsamkeit. Vor dem Zelt saßen zwei Krieger am Feuer. Darunter Finch, dessen Hand noch immer eingewickelt war. Er sah alles andere, als gesund aus. Seine Augen waren rot gerändert, blutunterlaufend und Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Die Haut war blass und seine Lippen wirkten im Halblicht des Nachmittags beinahe etwas bläulich.

»Was ist hier los?«, wollte Dillion wissen und schob sich vor mich, sodass ich nur noch seinen muskulösen Rücken ansehen konnte, der unter dem spärlichen Wehrgehänge hervor blitzte.

Der zweite Mann, dessen Name ich nicht kannte, erhob sich. »Finch braucht Arzneien. Die Verletzung hat sich entzündet und will nicht heilen. Und deine Hure kennt sich doch mit Heilpflanzen aus, oder?«

»Das tut sie.«, erwiderte Dillion.

»Kann sie sich Finch mal ansehen?« Die Stimme des anderen Mannes klang seltsam. Kleinlaut und, wenn ich es nicht besser wüsste, ein wenig ängstlich.

Dillion zögerte, dann drehte er sich zu mir und zog mich ein Stück beiseite. Finster starrte ich ihn an und schüttelte vehement den Kopf. »Ich kümmere mich bestimmt nicht um Finch! Er wollte Muirgheal schlagen!«

»Ich weiß, Fea.«, sagte er leise. »Ich weiß, dass dir das hier gegen den Strich geht, aber du weißt, dass du Krassas' Vertrauen gewinnen musst. Und er vertraut dir sicherlich nicht besonders, wenn du dich verweigerst. Sieh dir seine Wunde wenigstens an.«

Wütend presste ich die Lippen aufeinander, dann starrte ich an seiner Schulter vorbei zu dem Verwundeten. Finch sah wirklich schlecht aus. Doch in mir sträubte sich noch immer etwas, diesem Mann zu helfen, den ich von Anfang an gehasst hatte. Er hatte Muirgheal grob angefasst und wollte sie schlagen, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre. Eine alte, wehrlose Frau.

»Bitte.«, flüsterte Dillion und griff sanft nach meiner Hand.

Ich runzelte genervt die Stirn und entzog ihm meine Hand. Wut flammte in mir auf, weil er recht hatte. Wenn ich Krassas überzeugen wollte, dass er mir vertrauen konnte, dann durfte ich nicht einen seiner Männer sterben lassen, weil ich zu stolz war. Ich musste mir einen Ruck geben und über meinen Schatten springen. Auch, wenn es mir ziemlich gegen den Strich ging, wie Dillion es bereits ausgesprochen hatte.

Ich wandte mich ab und trat zu den Männern. »Dann kommt herein, damit ich mir seine Hand ansehen kann.«

Der fremde Mann blickte mich erleichtert an, dann half er Finch auf die Beine, die gefährlich schlotterten. Er führte Finch hinter mir her ins Zelt, auf unseren Fährsen folgte uns Dillion, als würde er den Männern trotz Finchs schlechtem Zustand nicht vertrauen. Dillion blieb am Zelteingang stehen, als ich Finch auf einen der Schemel derigierte. Beinahe wäre er zur Seite gekippt, hätte ihn der andere Mann nicht festgehalten.

»Wie lange geht es ihm schon so schlecht?«

Der Mann richtete sich auf, hielt Finch jedoch an der Schulter fest. »Seit zwei Tagen. Aber er wollte nicht, dass ich etwas sage, deshalb sind wir erst jetzt hier. Ich hörte, dass du heilen kannst.«

Unsicher blickte ich zu Dillion, der unbeweglich am Zelteingang stand und uns beobachtete. »Nun ja... so richtig heilen kann ich nicht. Aber... ich schaue, was ich für ihn tun kann.«

Er nickte und blickte wieder besorgt zu Finch herunter, der den Mund noch nicht einmal auf gemacht hatte. Mir fiel auf einmal auf, wie ähnlich die beiden Männer sich sahen. Sie besaßen das gleiche dunkelbraune Haar und die gleichen braunen Augen. Außerdem teilten sie sich eine Tättoowierung am Oberarm, die genau identisch aussah. Sie mussten Brüder sein.

Ich griff nach Finchs Hand und er wehrte sich nicht dagegen, sodass ich langsam den unordentlichen Verband löste und mir die Wunde ansah. Der Pfeil, den ich abgeschossen hatte, war ein glatter Durchschlag gewesen, jedoch waren die Wundränder nicht geschlossen, wie sie es nach dieser Zeit hätten sein sollen. Das Fleisch war dunkel gerötet und nässte. Zudem zogen sich seine Adern dunkel den Arm entlang. Das war mehr, als eine einfache Entzündung. Das grenzte bereits an eine Blutvergiftung, was tödlich war.

Schweiß trat mir auf die Stirn.

Nein.

Das konnte ich nicht alleine behandeln. Wenn ich etwas falsch machte, könnte es Finch das Leben kosten und sein besorgter Bruder wäre der Erste, der mich dafür verantwortlich machen würde. Falls er mich nicht beschuldigen würde, ihn mit Absicht umgebracht zu haben. Ich schüttelte leicht den Kopf und wickelte den Verband wieder locker um seine Hand. Dann trat ich zu Dillion, der die verschränkten Arme sinken ließ.

»Er hat Wundbrand«, flüsterte ich so leise, dass die beiden Männer es nicht hören konnten.

Dillion weitete kurz die Augen, dann blickte er zu Finch und dessen Bruder. »Du kannst ihm nicht helfen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich kenne jemanden, der es kann.«

»Das wird Krassas niemals erlauben. Alleine, dass die beiden hierher gekommen sind, grenzt an ein Wunder.«

»Was meinst du?«

Er seufzte. »Ein Verletzter ist ein Klotz am Bein. Ein Maul, das man stopft, ohne, dass er seinen Teil zum Stamm beiträgt.«

»Aber Frauen kämpfen doch meist auch nicht.«

Dillion hob eine Augenbraue. »Eine Frau macht die Beine breit und sorgt dafür, dass ein Mann Dampf ablassen kann. Außerdem gebärt sie neue Krieger für den Stamm. Sie hat einen Zweck. Aber ein Mann, der nicht kämpft, das Lager nicht verteidigt. Was nützt er uns?«

»A-aber... was macht ihr dann mit den Alten und Kranken?«

»Wenn die Alten zu schwach sind, zu arbeiten... dienen sie als Blutopfer für die Götter. Und die Kranken... entweder sie werden aus eigener Kraft gesund, oder nicht.«, erwiderte Dillion.

Ich blickte zu Finch herüber, der schwach lächelte, als sein Bruder ihm etwas sagte.

»Kannst du ihn nicht heilen?«, fragte ich leise.

Dillion weitete leicht die Augen, dann zog er mich ein Stück zur Seite. »Nein, Fea. Das kann ich nicht. Sie wissen nichts von meinen Fähigkeiten. Und so muss es bleiben. Zudem... eine solch große Wunde kann ich nicht mehr heilen. Kratzer und blaue Flecke, Krankheiten, wie deine Grippe damals. Das schaffe ich noch, aber das... Wenn ich so etwas heile, könnte ich selbst sterben.«

Verzweifelt sah ich mich um.

Also konnte ich Finch nicht retten? Bei den Göttern, ich konnte ihn doch nicht dem Tod überlassen. Was Krassas mit ihm machen würde, das wäre grausam. Das konnte ich nicht zulassen. Ich lief wie ein eingesperrtes Tier im Zelt herum, bis ich vor einem der Kräuterkörbe stand. Einmal hatte ich gesehen, wie Muirgheal mit diesem Kraut, einem Jäger half, der zuvor bei einer Jagd von einem Mammut schwer verletzt worden war. Sie hatte die Giftstoffe damit aus der Wunde gezogen und allmählich war die Wunde geheilt.

Ich presste die Lippen aufeinander und schnappte mir einen ganzen Büschel des Krautes und legte es auf den Arbeitstisch.

»Fea«, murmelte Dillion, aber ich ignorierte ihn und löste den Verband wieder, warf ihn ins Feuer, das in der Zeltmitte prasselte. Dann griff ich nach einem sauberen Tuch und strich damit vorsichtig über Finchs verwundete Hand. Er biss die Zähne zusammen und atmete schwer, sodass sein Bruder ihn festhalten musste. Ich hoffte so sehr, dass das funktionierte, was ich da vorhatte. Ich trocknete seine Hand, dann zerkaute ich das bittere Blutkraut, bis es eine schmierige Masse war. Ich trug die Paste auf seine Hand auf, griff dann nach einem sauberen Verband und umwickelte seine Hand, knotete ihn locker fest. In ein paar Stunden würde ich das alles wiederholen.

»Er muss solange hier bleiben.«, sagte ich leise. »Wir müssen das Fieber senken und er muss viel Flüssigkeit zu sich nehmen.«

Finchs Bruder nickte, dann half er ihm auf die Beine und zusammen schleppten wir ihn zu einer einfachen Pritsche, wo sich Finch ausruhen könnte. Ich legte eine leichte Wolldecke über ihn, nachdem wir ihm das Wehrgehänge und die Schuhe ausgezogen hatten. Und so begann unsere Wacht. Finchs Bruder, der den Namen Artas trug, verabschiedete sich, nachdem ich ihn dazu zwang, das Zelt zu verlassen. Dann waren Dillion, Finch und ich alleine. Die Stille kehrte gegen Abend ein. Irgendwann ging Dillion raus, um uns etwas zu Abend zu besorgen, solange blieb ich bei Finch und wechselte immer wieder den nassen Lappen auf seiner Stirn. Eine Nebenwirkung bei diesem Kraut war das hohe Fieber, da es den Körper dazu animierte, zu kämpfen.

Ich seufzte und setzte mich auf einen der glatt geschmirgelten Stämme, die um das Feuer in der Zeltmitte standen. Müde rieb ich mir die Augen, sah auf, als die Zeltplane raschelte. Dillion trat mit zwei Speisebrettern ein und setzte sich zu mir. Dankbar lächelte ich und ich merkte erst jetzt, wo der Duft des gebratenen Fleisches mir in die Nase stieg, welchen Hunger ich hatte.

Zusammen verzehrten wir unser Abendmahl schweigend, ehe Dillion mir das leere Speisebrett aus der Hand nahm und es beiseite stellte. Dann hingen wir beide unseren wirren Gedanken nach. Irgendwann legte ich meinen Kopf an Dillions Schulter und seufzte müde. Das war ein anstrengender Tag gewesen und die Erschöpfung zerrte an meinen Kräften. Allein die Tatsache, dass Finch nur wenige Meter entfernt auf der Pritsche lag und um sein Leben kämpfte laugte mich so sehr aus, dass ich die Augen schloss und meine Wange gegen seine Schulter drückte.

Auf einmal legte Dillion einen Arm fest um meinen Rücken und drückte mich an sich.

Ich blinzelte und sah zu ihm hoch.

Mein Herz tat einen Satz, als ich spürte, dass er mich beobachtete.

»Fea...«, flüsterte er und seine Stimme klang rau dabei.

In meiner Brust flimmerte es, wie heute Vormittag, als er mich am Bein berührte. Diese Nähe war nicht gut. Ganz und gar nicht. Vor allem nicht, wenn ich mich auf das Hier und Jetzt konzentrieren musste. Bei den Göttern, was war nur los? Wir waren doch Freunde! Das war in jedem Fall falsch, egal, was das hier war. So nahe beieinander hatten diese Berührungen nichts mehr von Freundschaft. Unsere Oberschenkel berührten sich und mein Atem verschnellerte sich, als Dillion die Stirn an meine drückte. Sein süßer Atem traf mein Gesicht und ich biss mir auf die Unterlippe. Es fühlte sich schön an... aber auch falsch. Wir waren Freunde, nichts weiter. Das konnte doch nicht funktionieren! Wir kannten uns, da waren wir Kinder. Auf solche Dinge konnte ich mich jetzt nicht konzentrieren.

»Dillion... nicht.«, hauchte ich beinahe gequält und drückte eine Hand auf seine Brust.

Er lehnte sich mir entgegen. »Warum nicht?«

Ich hielt den Atem an und hob den Kopf, um ihn und seine Absichten sehen zu können.

In diesem Moment stöhnte Finch laut auf seiner Pritsche und ich fuhr in Dillions Umarmung heftig zusammen. Mein Kopf drehte sich automatisch zu dem Kranken hinüber und mit einem Ruck befreite ich mich von Dillion, um zu Finch an die Pritsche zu gehen. Widerwillig ließ er mich ziehen und ich war froh, einer Konfrontation für ein paar Minuten aus dem Weg gehen zu können. Ich nahm einen frischen Lappen und tauchte ihn in das Eiswasser eines Eimers, der neben der Pritsche stand und wechselte den kalten Umschlag an Finchs Waden. In der Zeit versuchte ich mein rasendes Herz zu beruhigen.

War das wirklich Dillions Ernst gewesen?

Hatte er mich tatsächlich... küssen wollen?

Ich rieb mir über die Stirn und eine steile Falte bildete sich zwischen meinen Brauen.

Diese elenden Gedanken, die einfach kein Ende nehmen wollten machten mich vollkommen unruhig. Wie sollte ich diese Nacht nur ein Auge zubekommen, wenn Dillion nur wenige Meter entfernt von mir lag und ebenfalls versuchte in den Schlaf zu kommen. Ich stand von Finchs Pritsche auf und trat wieder ans Lagerfeuer, ehe ich mir über den Oberarm rieb. »Ich... werde jetzt schlafen gehen.«

Er rieb die Hände aneinander, dann sah er über die Schulter. »Können wir darüber reden, Fea?«

»Was gibt es da zu reden, Dillion?« Ich schüttelte den Kopf, verwirrt über alles, was ich fühlte.

»Ich... weiß nicht. Fühlst du dich unwohl, wenn ich dich... berühre? Du zuckst jedes Mal zusammen, als würde ich dir Schmerzen zufügen.«

Benommen sah ich in die Flamme. Ich zuckte zusammen? Tatsächlich? Dessen war ich mir überhaupt nicht bewusst gewesen. Vielleicht lag es daran, dass mir Berührungen genauso fremd waren, wie die Liebe oder Zuneigung eines Menschen. In meiner kurzen Kindheit, die ich gehabt hatte, hatte ich nicht viel Zeit gehabt, die Liebe meiner Eltern zu genießen und noch weniger Erinnerungen hatte ich daran. Danach hatte mich nie jemand in den Arm genommen, wenn ich traurig gewesen war.

»Ich fühle mich nicht unwohl«, gestand ich ihm, wich seinem Blick jedoch aus. »Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Und... wir sind Freunde. So etwas sollte nicht zwischen uns stehen.«

»Fühlt es sich für dich falsch an?«, wollte Dillion wissen und stand auf.

Wieder kam er mir so nahe, dass ich das Gefühl hatte, nicht atmen zu können. Ich wusste einfach nicht, woher das kam und, ob das mit guten oder schlechten Gefühlen zusammenhing. Es war im Moment einfach zu viel, mir auch noch darüber Gedanken machen zu müssen.

»Ich... ich weiß einfach nicht, was ich denken oder fühlen soll, Dillion. Du bedeutest mir sehr viel, natürlich, aber ich kann mich jetzt nicht auf so etwas konzentrieren. Nicht auf solche Dinge. Ich muss Finch wieder auf die Beine bringen, obwohl es mir mehr als nur gegen den Strich geht, dann muss ich lernen zu kämpfen und in den freien Minuten muss ich mich an den Zorn erinnern, der mich antreibt. Und in der Nacht mache ich mir so unsagbare Sorgen um alles und jeden. Auch um dich.«

»Und... wenn das alles nicht wäre, dann könntest du dir etwas vorstellen?« Dillions goldene Augen funkelten flammend im Schein des prasselnden Feuers und es malte seidige Schatten auf seine straffe Haut.

Ich biss mir auf die Unterlippe, atmete tief durch. »Ich weiß es nicht.«

Er presste die Zähne aufeinander, was ich an dem zuckenden Kiefermuskel sah. Er war mit meiner Antwort nicht zufrieden. Seine Nasenflügel blähten sich und er starrte an mir vorbei an die Zeltwand, dann schüttelte er scheinbar erschöpft den Kopf und wandte sich von mir ab. Ich sah ihm hinterher, wie er zu meiner Deckenrolle ging und sich darauf niederließ. Blinzelnd sah ich zu, wie er das Wehrgehänge ablegte.

»Du solltest heute im Bett schlafen. Sicher wird die Nacht anstrengend genug für dich, wenn er alle fünf Minuten herum stöhnt. Da kannst du wenigstens ein weiches Bett vertragen.«

»Und du? Du schläfst da?«

»Sieht so aus.«

Seufzend nahm ich seinen kühlen Ton zur Kenntnis und ging zum Bett hinüber, um mich ein wenig hinzulegen. Dillion war zwar wütend, aber er hatte recht. Diese Nacht würde nicht viel Ruhe für mich bereithalten. Deshalb sollte ich so viel Kraft tanken, wie ich konnte. Finchs Zustand war immer noch instabil.

 

SECHS

 

Drei Tage später kämpfte Finch noch immer um sein Leben. Die Nächte schlug ich mir um die Ohren, da er krampfte und schrie. Ich behandelte ihn mit der Kräuterpaste und senkte sein Fieber mit kalten Tüchern, jedoch wurde es nur schleppend besser. Tagsüber stand ich unter den wachsamen Augen von Finchs Bruder, der an seinem Krankenlager wachte und Nachts machte mich Dillions Umhergewälze beinahe wahnsinnig. Die letzten Tage hatten wir uns beinahe nur noch angeschwiegen, seitdem ich ihm von meinen verwirrenden Gefühlen erzählt hatte. Tags- und Nachtsüber kümmerte ich mich um Finch, während Dillion mich und den Krieger mit Adleraugen beobachtete und das Zelt bewachte, uns Essen und Wasser besorgte und manchmal mit abwesenden Blick an einer Waffe arbeitete.

Doch heute hatte ich mir einen Morgen von den Pflichten im Heilerzelt befreit und lief mit einem Korb unter dem Arm zu einem Hain von Apfelbäumen. Jetzt im Frühjahr blühten sie und verströmten einen süßlichen Duft, der Schmetterlinge und Bienen anlockte. Das Summen um mich herum konnte mich zwar nur etwas von all dem ablenken, was tagtäglich im Lager vor sich ging, aber es war besser, als nichts. Ich kniete mich an den Boden zu den Füßen der Bäume und untersuchte das Gras nach besonderen Kräutern, die ich verwenden konnte.

Auf einmal hörte ich das Knacken von Zweigen und fuhr in die Höhe. Wie eine Wilde wirbelte ich herum und erstarrte.

»Maelle?«

Das Mädchen stand vor mir und sah mich mit einer Nüchternheit an, die ich niemals an ihr hätte vermuten können. Maelle war schon immer lebensfroh gewesen. Sie war ein wahrer Wildfang, der mit kleinen Tieren im Arm ins Lager gestapft kam und ihren Vater anbettelte, sie behalten zu dürfen. Sie hatte mit roten Wangen und strahlenden Augen mit den anderen Kindern Fangen gespielt und hatte schon immer Feuer in sich. Sie war anders als ihre ältere Schwester Gwen, die schon immer gewissenhaft und ruhig gewesen war. Doch nun sah mich Maelle an und wirkte wie eine erwachsene Frau, die bereits viele Jahre ihres Lebens gelebt hatte.

»W-was machst du hier, Maelle?«, fragte ich.

Sie sah mich kurz an, als würde sie sich erst jetzt meiner Anwesenheit bewusst werden, dann zuckte sie die mageren Schultern. »Ich wollte nur ein bisschen Ruhe, bevor ich zurück muss.«

»Wie geht es dir?«, fragte ich unsicher.

Ihre blutunterlaufenden Augen blickten in die Leere. »Wie soll es mir schon gehen? Es ist eine Pflicht, die ich erfüllen muss, wie alle anderen auch. Wie du.«

Ich senkte den Blick und biss die Kiefer zusammen. Plötzlich schämte ich mich. Ich schämte mich dafür, dass alle Männer und Frauen meines Stammes schreckliche Zeiten durchlebten und ich vergleichsweise gut behandelt wurde. Dillion zwang mich nicht, bei ihm zu liegen, so wie die fremden Krieger Mädchen wie Maelle dazu zwangen. Auch, wenn jeder glaubte, dass ich mit Dillion schlief. Aber das würde nie passieren. Im Gegensatz zu den anderen behandelte man mich gut und schenkte mir Vertrauen.

»Das ist wohl wahr«, wich ich ihr aus und kratzte mich am Hinterkopf. »Bereitet er dir Schmerzen?«

»Wahrscheinlich nicht mehr, als der Sohn des Anführers dir.«, entgegnete sie tonlos und seufzte schwer. »Ich wollte in den nächsten Tagen zu dir ins Heilerzelt kommen. Ich brauche Arznei.«

»Gegen die Schmerzen?«

Maelle schüttelte leicht den Kopf. »Damit ich kein Kind von ihm empfange.«

Meine Augen weiteten sich und mir wurde erst jetzt richtig bewusst, dass Maelle längst kein Kind mehr war. Sie war vierzehn Jahre alt und damit mehr als alt genug, um Kinder zu empfangen und auf die Welt zu bringen. Und, wenn sie mit diesem Krieger schlafen musste, konnte es schnell gehen. Bei den Göttern, sie war doch selbst noch ein Kind...

»Ich verstehe. Ich bereite dir etwas zu und du kannst es abholen, wann du willst.«

Maelle nickte leicht und ihr Mundwinkel formte sich zu einer entstellten Version eines Lächelns. »Danke.«

Ich nickte noch einmal, bis Maelle sich abwandte und den schmalen Pfad zurück zum Lager ging. Wahrscheinlich, um wieder im Zelt zu sein, bevor der Krieger, dem sie dienen musste, erwachte. Ich fragte mich, ob es immer noch der war, der sie vor ein paar Tagen durchs Lager geschleift und sie zum ersten Mal bestiegen hatte, oder, ob sich ein anderer das Mädchen genommen hatte. Es wäre nicht ungewöhnlich, wenn der Krieger, sich mehrere Frauen oder Mädchen genommen hätte und nicht nur bei einem blieb.

Benommen von diesem Gespräch sammelte ich die Kräuter, die ich für Finchs Verband brauchte und machte mich selbst auf den Rückweg zum Lager. Die meisten Menschen waren noch gar nicht auf. Nur vereinzelte Wachposten saßen an den wenigen morgendlichen Lagerfeuern. Ab und zu sah ich ein oder zwei ältere Frauen, die ihren morgendlichen Arbeiten nachgingen, wie Wäsche aufzuhängen oder das gefangene Wild auszunehmen. Allmählich arrangierten sich meine Stammesmitglieder mit den Fremden.

Ich ging zurück zum Heilerzelt und betrat es.

Finch schlief tief und fest auf seiner Pritsche und gab leise schnarchende Geräusche von sich.

Dillion hingegen war bereits auf und stand mit nacktem Oberkörper vor der Bettrolle am Boden und hielt meinen unfertigen Bogen in den Händen. Seine Finger strichen beinahe zart über die Maserungen, die ich am Abend vor dem Angriff in das Holz geschnitzt hatte, so sanft, als würde er den Körper einer Frau streicheln. Nachdenklich blieb ich stehen und musste kurzzeitig darüber nachdenken, ob er in seinem Land im Lager dieser Barbaren schon einmal mit einer Frau zusammen war. Es wäre nur natürlich, denn Dillion ist ein Mann und zudem auch noch vier Jahre älter als ich. Es wäre normal, wenn er seine ersten Erfahrungen bereits gesammelt hätte.

»Wo warst du?«

Ich erschrak und ließ beinahe den Korb fallen, dann sah ich ihn an. »Kräuter sammeln für Finchs Wunde.«

Dillion nickte leicht und blickte wieder auf den Bogen. »Hast du ihn angefertigt?«

»Ja.«

»Du konntest mich genauso wenig vergessen, wie ich dich, oder?«

»Dillion...«, murmelte ich leise und wandte mich zum Arbeitstisch, versuchte tunlichst zu ignorieren, dass er schon wieder halb nackt herum lief und mich damit völlig durcheinander brachte.

»Wo liegt das Problem, Fea?«

»Du sagst ständig diese Dinge... Dinge, die mich durcheinander bringen. Und ich muss mich auf andere Sachen konzentrieren. Das alles ist verwirrend.«

»Warum? Ich bedeute dir viel, das sagtest du selbst. Und du bedeutest mir auch viel, kleiner Fuchs.«, sagte er und ich hörte, wie er den Bogen neben mir auf den Tisch legte.

Meine Hände verharrten in mitten der duftenden Kräuter, als ich seine sanften Finger auf meinen nackten Oberarmen spürte. Mein Herz flatterte aufgeregt und mein Magen kribbelte, meine Haut prickelte unter seiner Berührung. Ich hielt den Atem an, denn er vergrub seine Nase in meinem Haar, war mir so nahe, wie noch nie jemand zuvor.

»Dillion, bitte. Ich kann das nicht.«, hauchte ich und drehte mich zu ihm um.

Sein Atem streichelte mein Gesicht und er lehnte seine Stirn an meine. »Wovor hast du Angst? Ist es, weil Freunde solche Dinge nicht tun sollten?«

»Nein, es ist... Ich kann es nicht beschreiben. Ich kann einfach nicht. Ich will dich einfach nicht verlieren.«

»Das wirst du nicht.« Seine Hand legte sich an mein Gesicht und zwang mich, ihn anzusehen.

Ich schüttelte den Kopf und zog seine Hand weg. »Das hast du mir schon einmal gesagt. Und dann sah ich dich viele Jahre lang nicht. Ich dachte, du wärst tot. Ich will das nicht wieder durchleben müssen. Und dieses Mal könnten wir beide sterben. Ein Fehltritt und Krassas bringt uns genauso schnell um, wie er Reik getötet hat. Ich kann dich nicht wieder verlieren.«

Er fuhr ein Stück zurück und blickte mich dann ernst an. »Und dann willst du mich lieber gar nicht erst an dich heran lassen, als es zuzulassen und mich dann zu verlieren?«

Ich senkte den Blick.

»Ich will dir eine Frage stellen, Fea.«, sagte er ernst. »Ist es besser, mich zu verlieren, ohne mich je geküsst, geliebt und mit mir gelebt zu haben? Sag es mir. Willst du mich nur als Freund, oder als Geliebten. Dann weiß ich wenigstens woran ich bin.«

Blinzelnd starrte ich ihn an. Stellte er mir gerade ein Ultimatum? Wenn ich ihm sagte, dass ich ihn als Freund wollte, würde er mich dann in Frieden lassen? Mich nicht mehr berühren? Ich wusste nicht, ob ich das tatsächlich wollte. Die Gefühle, die er in mir heraufbeschwor, seitdem er hier war, verwirrten mich und machten mich gleichzeitig süchtig nach seiner Nähe. Aber es kam mir falsch vor, einigermaßen glücklich zu sein, wenn der Rest meines Volkes litt. Auf der anderen Seite wusste ich, dass ich ihn auf eine verschobene Art und Weise liebte.

Ich presste die Lippen aufeinander und zog meine Hand vorsichtig unter seiner hervor, dann sah ich zur Seite.

Ich schaffte es nicht, auch nur einen Satz hervorzubringen.

Dillion seufzte leise, hob die Hand und für einen Moment glaubte ich, er würde mich wieder berühren. Doch er strich mir eine dünne, rote Locke hinters Ohr und senkte die Hand wieder. »Du hast deine Entscheidung getroffen. Ich erwarte dich heute Nachmittag auf der Lichtung zum Training.« Letzteres sagte er mit einer Kälte und Härte in der Stimme, die mich innerlich frösteln ließ. Dann wandte er sich ab und griff nach seinem Wehrgehänge.

»D-das war es jetzt?«, fragte ich und meine Stimme klang viel zu brüchig.

»Ich will nicht die ganze Zeit darauf hoffen und bitten, um jedes Mal von dir zurückgewiesen zu werden. Es tut weh, auch, wenn man es nicht glauben mag. Und jetzt weiß ich, dass zwischen uns kein Platz für solche Gefühle ist. Dann kann ich mich auf andere Sachen konzentrieren, als mir dauernd falsche Hoffnungen zu machen.«

»Dillion, so meine ich das doch gar nicht.«, flüsterte ich und griff nach seiner Hand.

»Wie dann?«

»Es ist so kompliziert, ich...« Verzweifelt schüttelte ich den Kopf.

»Nein, Fea, ist es nicht.«, entgegnete er und sah mich kühl an. »Entweder willst du mich oder nicht.«

Ich öffnete den Mund, aber kein Ton drang aus meiner Kehle. Dillion senkte den Blick und entzog sich mir, bevor er die Zeltplane beiseite stieß und mich allein ließ. Ich schluchzte leise auf und konnte im ersten Moment nicht fassen, dass ich tatsächlich weinte. Das tat ich so selten, dass es jedes Mal wie ein Schock war. Doch diesmal ließ ich den Tränen einfach freien Lauf. Ich hatte Dillion enttäuscht. Und zwar sehr. Ich konnte noch immer nicht richtig verstehen, was das für Gefühle waren, die er da in mir heraufbeschwor. Lag es daran, dass wir jetzt erwachsen waren und keine Kinder mehr, die miteinander spielten?

 

Den ganzen Tag über tauchte Dillion nicht mehr auf. Manchmal hörte ich ihn vor dem Zelt auf und ab laufen und ich könnte schwören, er lief eine Kerbe in den Boden. Ich versuchte mich abzulenken, indem ich begann, das ganze Zelt zu schrubben. Ich räumte alles von den Regalen, wischte Staub und sortierte die Kräuter und Pasten. Manchmal schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass Muirgheal mir vermutlich einen wütenden Klapps auf den Hinterkopf gegeben hätte, wenn sie davon wüsste, dass ich in ihren Arzneien herum wühlte. Aber das war mir egal. Mir schwirrte der Kopf von dem Gespräch mit Dillion und ich musste mich ablenken, ansonsten wäre ich vermutlich verrückt geworden.

Zwischen dem Herumräumen, kümmerte ich mich noch einmal um Finchs Hand, während er schlief und stellte eine Schale mit Brühe auf einen kleinen Hocker neben der Pritsche. Nachmittags tauchte Finchs Bruder auf und bewachte ihn, während Dillion und ich auf eine vermeindliche Jagd gingen. In Wirklichkeit jedoch gingen wir zur Lichtung und trainierten. Ich hatte meine lockere Kleidung übergezogen und lief schweigend neben Dillion her, der stur geradeaus blickte, nur, um mich nicht ansehen zu müssen.

Ich presste die Lippen aufeinander. Ich schämte mich noch immer, Dillion so verletzt und vor den Kopf gestoßen zu haben. Er war einer der wenigen Männer, die sich in meinem Leben je für mich interessierten. Der zweite Mann war Reik gewesen, der mir seine Nähe jedoch immer schon aufgezwungen hatte. Doch Dillions Nähe war mir immer schon angenehm gewesen, auch, wie er mich heute berührte, hatte mich erschaudern lassen. Und ich hatte ihn zurückgewiesen. Es zerrte an meinen Nerven, dass er wütend auf mich war, aber ich konnte ihn verstehen. Vermutlich wäre ich genauso wütend und genervt, wenn er mich bei einem Annäherungsversuch.

Wir kamen an der Lichtung an, als die Sonne sich allmählich dem Horizont entgegen neigte und ein Farbenspiel aus Orange- und Gelbtönen auf den Boden malte. Das Gras wogte sanft im seichten Wind und die Vögel zwitscherten. Eigentlich war es ein viel zu schöner Nachmittag, um so etwas ernstes wie Kampftraining zu betreiben, aber in mir baute sich wieder dieser Druck auf, den ich seit Tagen verspürte. Ich musste trainieren, auch, wenn ich lieber nicht mehr an die Dinge denken wollte, die seit diesem einen Abend im Lager vor sich gingen.

»Lass uns anfangen.«, sagte Dillion.

Ich seufzte leise, weil ich erneut den finsteren Unterton in seiner Stimme hörte und allmählich nervte mich sein Verhalten. Ich wusste doch nun, dass ich ihn enttäuscht hatte und es würde noch eine ganze Weile so sein, aber er konnte doch langsam aufhören, beleidigt zu sein. Leicht sah ich mich um und beruhigte mich, versuchte sachlich an die Sache heranzugehen.

»Womit machen wir heute weiter?«, fragte ich ruhig.

»Du wirst meine Bewegungen beobachten und dementsprechend handeln. Du musst meine Angriffe voraus sehen, sonst bist du arm dran.«

»Nett ausgedrückt.«, brummelte ich und rieb mir die Hände.

»Es ist so.«, erwiderte Dillion kühl. »Es bringt auch nichts, es sich schön zu reden, Fea. Und jetzt konzentrier dich und achte auf meine Bewegungen. Weiche meinen Schlägen aus. Deine Schritte müssen meine spiegeln.«

Ich nickte nur und machte mich bereit. Doch Dillion gab mir kaum die Gelegenheit, mich zu wappnen, er sprang beinahe sofort auf mich zu. Ich stolperte ungeschickt zurück und landete geradewegs auf meinem Hintern. Aber auch jetzt wartete er nicht, bis ich wieder auf die Beine kam, sondern kam auf mich zu und trat nach meinen Händen. Wütend zog ich meine Gliedmaßen fort und rollte mich über den Boden, bis ich genügend Abstand zu ihm gewonnen hatte.

»Komm hoch!«, knurrte Dillion.

Wütend funkelte ich ihn an und stemmte mich auf die Beine.

In diesem Moment schoss er auf mich zu und holte mit der Faust aus. Mühsam wehrte ich seinen Schlag mit dem Arm ab, aber seine linke Hand traf mich hart im Magen. Ich krümmte mich zusammen und stieß ihn von mir weg. Keuchend stützte ich mich auf meinen Oberschenkeln ab und massierte meinen schmerzenden Bauch. Ich hob den Kopf und funkelte ihn wütend an, dann stürzte ich mich schreiend auf ihn. Erschrocken fuhr er zurück, hielt sich jedoch, anders als ich, auf den Beinen. Ich blieb stehen und schaute auf seine Bewegungen. Wir umkreisten uns, wie zwei Wölfe, die einander nicht aus den Augen ließen. Er machte einen Schritt rückwärts, ich folgte. Dillion wich zur Seite, ich ging in die entgegengesetze Richtung. Ich fuhr zurück und er machte einen Schritt nach vorne, dann flog seine Hand wieder auf mich zu. Geschickt wich ich ihm aus und boxte ihn in die Seite.

Dillion japste und schlug instinktiv zurück.

Ich schrie erstickt auf und fiel zur Seite. Keuchend hielt ich mir die Seite und spürte schon, wie sich der Bluterguss direkt über meinen Rippen ausbreitete.

»Fea!«

Wimmernd strampelte ich mit den Beinen und lehnte mich an den Sonnenfelsen.

Entsetzt blickte mich Dillion an, die Arme hilflos ausgestreckt. »Fea, das wollte ich nicht!«, zischte er, er klang über sich selbst erschrocken.

Wütend starrte ich ihn an. »Es ist mir sowas von egal, ob du das wolltest, oder nicht!«, fauchte ich und blickte ihn mit Tränen in den Augen an. »Ich weiß, dass ich das vermutlich verdiene. Ich weiß, dass du verletzt bist und ich wahrscheinlich der verabscheuungswürdigste Mensch bin, der hier herum läuft. Aber mir eine reinzuhauen, ist keine Lösung.«

Blinzelnd blickte mich Dillion an, dann nickte er. »Ich weiß, Fea.«

Ich schnaubte. »Du hast keine Ahnung.«, knurrte ich und rappelte mich auf. »Ich gehe jetzt zurück und du brauchst heute wirklich nicht mehr ankommen und mit mir reden.«

»Fea«, murmelte Dillion und griff nach meinem Arm, als ich an ihm vorbei gehen wollte.

Vor Wut wirbelte ich herum und meine Hand vibrierte noch von der Ohrfeige, die ich ihm verpasste. Er stolperte einen Schritt zurück und starrte mich entgeistert an. Finster blickte ich ihn an, blinzelte und wandte mich ab. Meine Handfläche brannte und ich hatte gesehen, wie sich mein Handabdruck bereits flammend auf seiner Wange abzuzeichnen begann. Vielleicht brachte ihn das ein wenig zur Besinnung.

Ich ging zurück ins Lager. Auf dem Weg gab es keine besonderen Vorkommnisse und ich spürte auch, dass er mir nicht folgte, sodass ich es mir erlaubte, leise zu weinen. Wie immer, wenn niemand dabei war, denn niemand sollte meine Tränen. Im Lager angekommen, versiegten sie und ich rieb mir wütend über die Wangen. Die Feuer brannten bereits und die gewohnten Geräusche der arbeitenden und sich vergnügenden Männer drangen an meine Ohren. In manchen Zelten waren wie jeden Abend obszöne Geräusche zu hören, das Lachen und Scherzen der Krieger, das Schmatzen von essenden Menschen und das Klirren von Gegenständen.

Geradewegs lief ich zum Heilerzelt und erschrak, als mir Finch und sein Bruder Artas entgegen kamen. Finch lief schon wieder recht gut auf eigenen Beinen. Artas formte die Lippen zu einem leichten Grinsen.

»Ich nehme ihn jetzt wieder mit.«

Ich nickte nur leicht und warf Finch einen kurzen Blick zu.

Er starrte wortlos zurück und in diesem Moment wusste ich, dass er mir niemals dafür danken würde, dass ich ihm das Leben gerettet hatte. Er machte mich dafür verantwortlich, dass er erst in diese Lage gekommen war. Als er halb auf seinen Bruder gestützt an mir vorbei ging, konnte ich den Hass in seinem Blick erkennen. Er würde nicht aufhören, mich zu quälen. Jetzt hatte erst den perfekten Grund gefunden. Mir drängte sich die Frage auf, ob es nicht besser gewesen wäre, ihn sterben zu lassen.

Artas und Finch gingen und ich war in dem Zelt alleine.

Ächzend setzte ich mich auf einen der Schemel und blieb vor dem knisternden Feuer sitzen. Als ich das Hemd hoch zog, konnte ich einen Blick auf die verfärbte Seite werfen. Bereits jetzt hatte ich einen leichten Bluterguss, der in den nächsten Tagen mit Sicherheit anschwellen würde. Genervt zog ich das Hemd wieder herunter und stand wieder auf. Wie im Wahn begann ich die Pritsche abzuziehen und die Laken und Felle in den Wäschekorb am Zelteingang zu werfen. Dann zog ich mir die verschwitzte Kleidung vom Körper. Ich unterzog mich einer raschen Katzenwäsche und schlüpfte dann in ein frisches Nachthemd. Anschließend machte ich es mir auf meiner Bettrolle bequem, die die letzten Tage von Dillion besetzt worden war.

Ich schloss fest die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf, der mich mehr erschöpfte, als wenn ich wach gewesen wäre.

 

Am Morgen war Dillion noch nicht wieder zurück.

Ich verbrachte den Morgen damit, etwas kleines zu frühstücken und anschließend machte ich mich an das Mittel für Maelle. Als ich damit fertig war, stellte ich es beiseite, bis sie es abholen würde und machte mich daran neue Tinkturen und Öle herzustellen, bevor ich wieder zum Richtplatz ging und vor den Pfosten mit den Menschenopfern stehen blieb. Reiks Leichnam war bereits dabei zu verwesen. Seine Haut hatte sich blaugrau verfärbt und Fliegen und Aßfresser tummelten sich um die in den Boden gerammten Pfosten.

Ich warf einen Blick hinüber zu den Käfigen und sah, dass mich Britta anstarrte.

Sie war noch immer hier? Ihre Tochter Gwen schlief an ihre Brust gelehnt und die ehemalige Stammesführerin hielt sie fest an sich gedrückt, als fürchtete sie, dass man ihr auch noch die zweite Tochter fort nahm. Alle anderen in den Käfigen schliefen ebenfalls.

Sie winkte mich heran.

Unsicher lief ich zu ihr und kniete mich vor den Käfig.

»Du bist jetzt die Hure des Stammesführersohnes...«, murmelte Britta.

Ich schluckte und senkte den Blick. Sie hatte mich noch nie gemocht und ich wusste, sie hasste mich dafür, dass meinetwegen ihr erstgeborener Sohn tot war. Nur, weil er etwas für mich übrig gehabt hatte. Vermutlich nahm sie es mir nicht einmal übel, dass er überhaupt ein Auge auf mich gehabt hatte, sondern eher, dass ich nicht den Schneit besessen hatte, mit ihm zu sterben. Das würde sie mir mein Leben lang vorwerfen.

»Wir haben alle unser Päckchen zu tragen, Britta. Ich tue es nur, um zu überleben.«

»Du wirktest nicht so, als würdest du besonders leiden. Anders als wir, anders als Maelle. Du bist frei, stolzierst durch das Lager, als wäre nichts. Ich würde beinahe beschwören, dass du etwas mit ihrem Auftauchen zu tun hast.«

Ich blinzelte und starrte sie an. »Was? Nein, Britta, du irrst dich! Ich hätte niemals...«

Sie schnaubte abfällig und die feinen Fältchen in ihrem Gesicht, die sie immer hübsch aussehen ließen, wirkten wie Furchen. »Hätte Domhnall dich nur draußen in der Wildnis ausgesetzt und dich sterben lassen... dann wäre uns so vieles erspart geblieben. Wenn er deine Hure von Mutter nicht gefickt hätte, dann wäre mein Sohn noch am Leben.«

Mein Herz setzte für ein oder zwei Schläge vollkommen aus, um dann stolpernd weiterzuschlagen. Ich starrte sie an und schluckte heftig gegen den Kloß in meinem Hals an. »W-was...?«

»Du hörst ganz richtig!«, sie wurde so laut, dass Gwen an ihrer Brust benommen vom Schlaf blinzelte. »Ich war schon seine Frau. Reik war ein kleines Kind und nur, weil ich ihm keinen zweiten Erben schenkte, legte er sich zu deiner Hurenmutter ins Bett und zeugte dich. Nur deshalb nahm Gallahad sie zur Frau. Weil sie dann eine entehrte Hure gewesen wäre.«

Ich öffnete den Mund und konnte sie nur anstarren. Das konnte nicht stimmen. Das konnte einfach nicht sein. Wenn das stimmte, dann hätte Domhnall die Frau umgebracht, mit der er einst das Bett geteilt hatte. Und das war einfach nicht möglich. Er hätte die Mutter seines Kindes umgebracht und das ohne mit der Wimper zu zucken. Ich stand ungelenk auf und stolperte zurück. Starrte sie nur an.

»Das ist nicht wahr...«, hauchte ich.

Britta lächelte mich kalt an. »Ich wünschte, es wäre so. Dann würde ich nicht andauernd in meines Mannes Gesicht sehen, wenn ich dich Bastard anschaue. Die gleichen starken Augen, die gleiche Nase, der gleiche Mund. Und diese roten Haare wie diese Hexe, die ihn mir wegnahm. Er liebte sie immer mehr, als mich. Obwohl ich ihm Reik zum Erben schenkte. Immer, wenn Reik dich mit diesem lüsternen Blick angesehen hat, wollte ich die Welt zusammenschreien, weil ich wusste, dass ihr Halbgeschwister seid.«

Ich atmete viel zu schnell, denn ich ertrug keines ihrer Worte mehr. Benommen wandte ich mich ab. Sie sagte noch mehr, aber ich hörte sie nicht mehr. Alle Geräusche drangen wie durch Watte in mein Bewusstsein. Ich stolperte vom Platz und immer weiter durch das Lager, bis auch das Heilerzelt weit hinter mir lag. Wald, Bäume und Gras umgab mich und ich stolperte weiter. Mein Kopf dröhnte, mein Herz wummerte in meiner Brust und ich versuchte innerlich, alle Erinnerungen heraufzubeschwören, die ich hatte. Ich sollte nicht meines Vaters Tochter sein. Meine Mutter hatte mit Domhnall ein Verhältnis? Und daraus solte ich entstanden sein? Noch immer konnte ich die Worte nicht fassen, die mir Britta entgegen geschleudert hatte. Vermutlich hatte sie sie nur aus Wut gesagt, jedoch schmerzten sie. Denn so viele Dinge hätten einen Sinn ergeben, wenn es stimmte. Die Tatsache zum Beispiel, dass Domhnall mich damals nicht hatte umbringen lassen. Wie könnte er seinem Fleisch und Blut etwas antun.

Ich blieb an einen Baum gelehnt stehen und atmete heftig ein und aus. Meine Kehle brannte, meine Seiten schmerzten heftig und mein Magen fühlte sich so flau an, dass ich fürchtete, mich gleich übergeben zu müssen.

Müde starrte ich durch die Gegend und sank herunter auf den Boden, schloss die Augen und schluchzte auf. Bei den Göttern, das Weinen wurde allmählich zur Gewohnheit. Ich vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, mich zu beruhigen. Das war jedoch schwierger, als gedacht.

Ich musste unbedingt mit Domhnall reden.

SIEBEN

 

Wie in Trance lief ich durch das Lager. Mein Herz wummerte gegen meine schmerzenden Rippen, die noch immer von Dillions Schlag pochten. Doch dieses Pochen war nur ein Witz gegen das stetige Hämmern hinter meinen Schläfen. Ich wusste überhaupt nicht, wo mir der Kopf stand und ich wusste auch nicht mehr, was ich tun sollte. Sollte ich Domhnall zur Rede stellen? Er wäre bei den Käfigen der anderen Männer, noch immer angekettet an einen Pfosten und wartete darauf, dass man ihn freiließ. Aber ihm so gegenüberzutreten, wie er am Boden kauerte, das war unter meiner Würde. Hatte sich bisher nie jemand um mich geschert? Nicht einmal mein eigener Vater? Konnte es wahr sein?

Meine Füße trugen mich zurück in das Heilerzelt. Dillion war noch immer nicht zurück, sodass ich zum Bett schlurfte. Für mich gab es heute keine Motivation mehr, überhaupt noch etwas zu tun, sodass ich mich am Bett entlang auf den Boden sinken ließ. Ich zog meine Beine fest an meine Brust und vergrub das Gesicht an meinen Knien. Wieder, je mehr ich über all das nachdachte, beschleunigte sich meine Atmung und irgendwann japste ich vor Schock. Britta hatte mich schon immer gehasst, sie hätte das alles auch erfinden können. Doch dafür war es zu logisch. Es passte alles so gut zusammen, dass es mir schwerfiel, dem ganzen keinen Glauben mehr zu schenken.

Ich wusste, dass meine Mutter mit mir schwanger gewesen war, bevor sie Gallahad geheiratet hatte. Doch ich hatte immer angenommen, dass die beiden vor Leidenschaft getrieben worden waren und ich immer meines Vaters Tochter gewesen war. Doch nun sollte Gallahad nicht viel mehr, als ein Ziehvater für mich gewesen sein?

Leise winselte ich.

»Fea?«

Ich hob ruckartig den Kopf und starrte Dillion an, der im Zelteingang stand und mich entgeistert ansah. Sein kupferfarbenes Haar wirkte dunkel verfärbt und von den Haarspitzen tropfe Wasser. Er musste sich im Bach gewaschen haben, denn seine Haut schimmerte seidig. Doch sofort, als ich ihm in die goldenen Augen blickte, überkam es mich und ich schluchzte leise auf. Das alles war zu viel. Alles einfach... Er, die Fremden und nun das. Ich konnte es noch immer nicht fassen, dass ich Domhnalls Tochter sein sollte. Damit hätte ich ein Recht auf den Sitz als Stammesführerin, da Reik, als ältester Anwährter tot war. Bei den Göttern, er war mein Bruder!

Dillion ließ die Zeltplane fallen und kam zu mir. »Fea, ich... bei den Göttern, das wollte ich nicht.«, flüsterte er und setzte sich neben mir auf den Boden, zog mich an seine Seite und barg meinen Kopf an seinem Hals.

Vermutlich weinte ich seine ganze Kleidung voll, doch im Moment schien es ihn nicht zu stören.

»Habe ich dich verletzt?«, fragte er leise.

Ich schüttelte den Kopf.

»Bei den Göttern, rede mit mir, Fea. Ich wollte dir nicht wehtun...«

»Das hast du nicht... ich... es war alles eine Lüge.«, murmelte ich verzweifelt.

Dillion stockte und blickte auf mich herunter. »Wovon redest du?«

»Gallahad...«, schniefte ich.

»Dein Vater? Was ist mit ihm?«

»Er ist nicht mein Vater«, murmelte ich verbittert und starrte auf meine Hände. »Domhnalls Frau, Britta, hat mir erzählt, dass Domhnall mit meiner Mutter eine Affäre hatte, bevor sie überhaupt mit Gallahad verheiratet war. Reik war mein Bruder...«

Dillion hielt die Luft an und starrte zu mir herunter. »Aber... woher willst du wissen, dass diese Britta die Wahrheit gesagt hat?«

»Ich sah es in ihren Augen. Eine trauernde Mutter würde nicht lügen.«

Er wirkte bestürzt und starrte mich nur an, ehe er mich fest an sich drückte. Seine Hand strich beruhigend über meinen Rücken. Müde vergrub ich das Gesicht unter seinem Kinn und erbebte noch leicht unter meinen langsam versiegenden Schluchzern. Eine ganze Weile saßen wir noch so da, bis Dillion mir einen Kuss auf den Kopf gab. Benommen hob ich den Blick und sah ihm in die Augen. Das warme Gold seiner Augen schmolz und wurde dunkler, als er die Stirn sanft an meine lehnte. Zitternd atmete ich ein.

»Fea...«, seufzte er meinen Namen und ich erschauderte dabei.

Benommen senkte ich den Blick auf seine vollen Lippen, bemerkte, wie der Puls an seiner Kehle heftig schlug. Ich biss mir auf die Unterlippe und beugte mich instinktiv vor, doch Dillion zog den Kopf zurück und schloss leicht die Augen. Es sah aus, als würde er einen inneren Kampf ausfechten, bis irgendeine Seite sich dazu entschied, sich von mir abzuwenden. Seine Hand drückte mich an der Schulter zurück und ich konnte ihn nur anstarren.

»Das ist nicht das, was du willst, Fea.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte ich leise zurück. »Ich habe meine Meinung geändert. Ich... ich will jede Minute mit dir verbringen, ich...«

»Nein.«, unterbrach er mich und sah mich ernst an. »Was du willst, ist Liebe und Zuwendung, weil du verwirrt bist. Du denkst über deine Existenz nach und darüber, wer du bist. Du bist nicht klar bei Verstand. Wenn wir das jetzt tun würden, würdest du es bereuen. Glaub mir.«

»Dillion, das... das stimmt vielleicht, aber. Du wolltest es doch auch und jetzt will ich es genauso. Bitte.«

»Fea, nein.«, sagte er ruhig und stand auf.

Ich blieb benommen sitzen und schwieg, versuchte, meine wirren Gedanken zu ordnen. Mein Schädel brummte von dem ganzen Schlamassel, der bisher passiert war. Vielleicht hatte er aber auch recht. Vielleicht wollte ich jetzt nur Liebe, Trost und jemanden, der mir nahe war, weil ich verwirrt und nicht bei Verstand war. Langsam spürte ich, wie mir die Röte in die Wangen stieg vor Scham. Bei den Göttern, was dachte er jetzt nur von mir? Fest zog ich die Beine an meine Brust und rieb mir über das Gesicht, bevor ich ihn wieder anblickte.

»Es tut mir leid.«, murmelte ich und sah von ihm weg.

Er schüttelte leicht den Kopf. »Ich verstehe, dass du verwirrt bist.«

Langsam nickte ich. »Trotzdem. Ich hätte deine Zuneigung nicht ausnutzen sollen.«, murmelte ich kaum hörbar und blickte betreten zur Seite.

»Denk nicht weiter darüber nach. Ruhe dich lieber aus, denn das, was heute passiert ist, ist nichts gegen dem, was kommt.«

Aufmerksam blickte ich auf. »Wovon redest du?«

Dillion sah zum Feuer in der Mitte des Zeltes. »Ich habe mit Krassas gesprochen. Er hat uns einige Male beobachtet und meinte, dass es an der Zeit ist, dass du dich beweist... Wir ziehen mit einem Jagdtrupp mit. In zwei Tagen.«

Mit großen Augen starrte ich ihn an. »In zwei Tagen?« Fort waren die Gedanken an meine Vergangenheit und meinem, scheinbar, noch lebenden Vater. »Werde ich mit jagen?«

Dillion nickte leicht. »Krassas ist der Überzeugung, dass eine Frau, die Kinder zur Welt bringen kann, auch kämpfen kann für ihren Clan.«

»Erwartet er von mir, ohne Waffe zu kämpfen?« Ich stand auf und blickte ihn wütend an. »Und für welchen Clan soll ich kämpfen, Dillion? Für seinen?«

»Genau das wirst du tun, Fea. Genau das«, antwortete er mir mit ernster Miene. »Er testet dich. Die ganze Zeit über. Bei allem. Auch jetzt, ohne, dass du es merkst. Verstehst du das nicht, Fea? Er will herausfinden, ob du ihm von Nutzen bist, oder, ob er dich einfach töten soll. Du als Außenseiterin deines Stammes bist etwas Besonderes. Etwas, was seine Aufmerksamkeit erregt hat.«

Ich verdrehte die Augen.

Ich hatte so viele Dinge, über die ich nachdenken musste. Meine Vergangenheit, mein Leben... meine ganze Existenz. Und nun saß mir Krassas auch noch im Nacken. Die Gedanken, die ich mir über die Morde an meinen Stammesmitgliedern machte, über Reik, waren grausam genug gewesen. Aber nun sollte ich mit ihnen auch noch auf die Jagd kommen? Ich würde ohne jeden Zweifel mein Leben aufs Spiel setzen. Eine Jagd war schon ohne blutrünstige Barbaren gefährlich genug. Doch mit ihnen wäre es in jedem Fall mehr als nur gefährlich. Und Dillion musste ebenfalls eine Rolle spielen. Er könnte mich kaum verteidigen oder mich aus der Patsche ziehen, wenn ich dumm und unbedacht handelte. Mir wurde erst in diesem Moment bewusst, dass Dillion mir keinen Schutz bot. Er hatte mich an dem Abend gerettet, als Krassas mich beinahe umgebracht hätte, indem er allen vorgaukelte, ich sei seine Geliebte. Doch nun würde das niemanden mehr davon abhalten, sie zu töten. Dillion konnte seine Position im Clan nicht gefährden, indem er sich erneut vor mich warf.

Ich musste meinen Stolz hinunter schlucken.

Doch das war gar nicht so einfach.

 

Seit der Meinungsverschiedenheit mit Dillion hatten wir kein Wort mehr miteinander gesprochen. Wir schliefen an diesem Abend wie immer in getrennten Schlaflagern, wobei ich hörte, wie er sich immer wieder unruhig umherwälzte. Konnte er genauso wenig schlafen, wie ich es nach unserem neuerlichen Streit vermochte? Wir hatten doch nur uns, oder? In dieser Welt voller Feinde gab es kaum einen Menschen, auf den wir uns verlassen konnten. Er, der seine ganze Familie verloren hatte und mich damals wie eine Art Schwester und besten Freundin in der Jagd unterrichtet hatte. Nun wusste ich nicht mehr genau, ob von diesen Gefühlen noch etwas übrig war, denn zwischen uns war es merkwürdig, seitdem wir uns immer wieder näher gekommen waren.

In dieser Nacht dachte und grübelte ich sehr viel über das nach, was das zwischen uns war. Meine Gefühle waren verwirrend und ich wusste nicht, was ich von ihnen halten sollte. Die Situation, als er mich am Vormittag getröstet hatte, hatte mich wieder einmal durcheinander gebracht, ließen keinen Zweifel mehr, dass mehr zwischen uns war, als ich in diesem Moment vielleicht zugeben wollte.

Aber ich dachte nicht nur über Dillion und seine und meine Gefühle nach, sondern auch über das, was Britta mir gesagt hatte. Dass meine Mutter Gallahad nur geheiratet hatte, weil sie bereits von einem anderen Mann schwanger gewesen war. Die Gedanken über diese Ereignisse kreisten mir im Schädel, bis mir beinahe schwindelig wurde. Wie konnte der Mann, der zuvor mit meiner Mutter das Bett geteilt hatte und mit ihr ein Kind hatte, sie enthaupten lassen? Wie nur?! Hatte er sie nicht geliebt? War sie und ich ihm egal gewesen? Nur, warum hatte Domhnall mich dann verschont? Wieso hatte er mir so vieles zugestanden? Dass ich lebte und jagen durfte, als einzige Frau des Clans? Hatte er doch so etwas, wie ein Herz? Es gab so viele Fragen.

Erschöpft stand ich auf und wischte mir den Schweiß von der Stirn, denn in dieser Nacht herrschte eine unglaubliche Hitze. Langsam stand ich auf und ging zu einer Wasserschale hinüber und spritzte mir das kühle Nass ins Gesicht. Seufzend vor Erleichterung genoss ich das kühle Nass auf meiner Haut, was meinen erhitzten Körper etwas abkühlet.

Ich warf einen Blick auf Dillion, der im Schein des Mondes, der durch das Abzugloch in der Zeltdecke fiel, schlummernd auf dem Rücken lag. Benommen betrachtete ich jeden einzigen seiner Züge und bekam unverzüglich eine Gänsehaut, als ich der straffen Linien seines muskulösen Bauches folgte bis zum Bund der einfachen Stoffhose. Ich folgte der leichten Wölbung seines Schrittes, seine muskulösen Beine hinunter bis zu seinen Zehen. Leicht biss ich mir auf die Unterlippe. Er war wunderschön, wie mir im sachten Licht des Mondes bewusst wurde. Er war gutaussehend, so war er auch als Kind gewesen. Doch nun sah er wirklich gut aus. Die leichte Rundung seines kindlichen Gesichtes war verschwunden und hatte einem ausgeprägten, kompakten und maskulinen Kiefer Platz gemacht, der von einem leichten Bartschatten geschmückt wurde. Die dunklen Brauen waren breiter geworden, verliehen seinem Gesicht etwas verwegenes und das kupferfarbene Haar hing ihm leicht in der Stirn. Mir wurde in diesem Moment bewusst, dass ich ihn anziehend fand.

Heftig schluckte ich und wandte beschämt den Blick ab.

Um meinen Gefühlen zu entkommen, kroch ich zurück unter die Decke des Bettes und kniff fest die Augen zusammen.

Ich musste mich ausruhen, denn mir stand eine weitere Prüfung bevor. Die Jagd mit dem Clan der Barbaren.

 

Wir brachen am zweiten Tag, nachdem ich erfuhr, dass Domhnall mein Vater sein sollte, in die Berge auf. Der Trupp umfasste nur eine Handvoll Männer und mich, als einzige Frau. Krassas führte den Trupp mit grimmiger Entschlossenheit an, so bald wie möglich eines der Bergmammuts zu erlegen und dann ins Lager zurückzukehren. Er ahnte wahrscheinlich, dass mein Clan ihn noch nicht wirklich als Anführer akzeptiert hatte und ich konnte ihm ansehen, dass er mit dem Gedanken zu spielen schien, Domhnall zu töten, damit auch seine letzten Anhänger Krassas als wahren Anführer anerkannten. Jedoch würde ihm das auf der Jagd nicht gelingen, sodass ich noch etwas Zeit hatte, mir über dieses neuerliche Problem Gedanken zu machen.

Zu den Jägern, die Krassas mitgenommen hatte gehörten Finch, der jedoch noch sichtlich Probleme mit seiner Hand hatte, was er sich allerdings nicht anmerken lassen wollte und ich wusste auch weshalb. Dillions Worte, was ihm blühen würde, wenn man ihm seine Schwächen anmerkte, waren mir noch tief im Gedächtnis verankert. Und Finch wusste das auch, so bemühte er sich darum, seine Schmerzen zu verbergen.

Ein weiterer Jäger war Balion, der trotz seiner imposanten Erscheinung und der schweren Waffen erstaunlich leichtfüßig war. Dann gab es noch zwei Männer, die mit Bögen unterwegs waren, deren Namen ich jedoch nicht kannte. Ein Axtwerfer, ein Hammerschwinger und ein Kerl, der mit Messern werfen konnte. Zudem war einer von Dillions Brüdern dabei, die ich zuvor noch gar nicht gesehen hatte. Er war schmaler, als Dillion und ein Stück kleiner, wirkte schmächtig, besaß jedoch wie Dillion und ich, bevor Krassas ihn mir wegnahm, einen Bogen. Außerdem hatte er statt kupferfarbenes Haar, einen Büschel dunkelbraunen, drahtigen Locken auf dem Kopf. Das sagte mir bereits, was ich vermutet hatte, ohne Dillion zu fragen, dass dieser Mann gewiss nicht sein echter Bruder war. Hingegen all seiner optischen Unterschiede zu Dillion hätte er einen Bruder bei seiner Erzählung über seine Vergangenheit mit Sicherheit erwähnt.

Ich folgte der Truppe durch das unebene Gelände, da mir ohnehin nichts anderes übrig blieb. Schnee lag auf den hohen Gipfeln, die teilweise von Dunst und Nebel umschmeichelt wurden. Felsbrocken lagen auf unserem beschwerlichen Weg, an den Hängen wuchs wildes Bergkraut und Lavendel, der zu dieser Jahreszeit in den schönsten Violetttönen strahlte. Wäre diese Zeit, seitdem Krassas aufgetaucht war, nicht so ernst, angespannt und grausam, wäre es gewiss ein idyllisches Bild gewesen.

Nachdenklich betrachtete ich Dillions Kehrseite. Er hatte sich vor dem Aufbruch in die Berge das Haar raspelkurz geschoren, sodass ich seine helle Kopfhaut leicht durch die Stoppeln hindurch schimmern sehen konnte. Zudem hatte er einen leichteren Brustharnisch angelegt, der ihm viel Bewegungsfreiheit bot und am Morgen vor unserem Abmarsch, hatte ich ihm die Jägerbemalung seines Clans am Bauch und den Oberarmen erneuert, wobei ich eine Gänsehaut nach der anderen unter seinem intensiven goldenen Augen bekommen hatte. Doch, seitdem wir gemeinsam das Heilerzelt verlassen hatten, hatte er mich kaum eines Blickes gewürdigt und ich wusste, dass er ab nun wieder der Dillion war, der mir in Gegenwart der anderen in kühler Beherrschung gegenübertrat. Der Dillion, der mich am Abend des Überfalls als Preis gefordert hatte. Der Dillion, der Krassas gegenüber erwähnt hatte, das als Gespielin noch gut genug war.

Mir war bewusst geworden, dass Dillion, jedes Mal, sobald er vor das Zelt trat in seine Rolle des kalten, beherrschten Kriegers schlüpfte, den Krassas viele Jahre glaubte, heran gezogen zu haben. Und so war ich mir im Klaren, dass auch ich meine Rolle einnehmen musste, die ich seit unserem Aufbruch spielte. Wir erklommen ein hoch gelegenes Plateou, auf dem Krassas das Lager aufschlagen ließ. Die beiden Bogenschützen wurden angewiesen, Holz für ein Feuer sammeln zu gehen und der Rest begnügte sich damit, die Deckenrollen auszubreiten. Krassas geziemte sich an einem verborgenen Platz zu nächtigen, der von einigen Heidelbeersträuchern geschützt war, während ich Dillion zu einem Abhang folgte und meine Deckenrolle neben seiner ausbreitete.

Dillion warf mir einen kurzen Blick zu, dann sah er zu der Stelle, wo das Holz aufgehäuft wurde. Seine goldenen Augen hatten einen besorgten Schimmer. Er war angespannt, mehr als angespannt. Ich konnte den Stress in seinen nervös zuckenden Augenbrauen ablesen, von dem feinen Schweißtropfen, der seine Schläfe hinunter rann. Er schwieg, während wir unsere Schlaflager bereiteten und Dillions Bruder, dessen Name ich noch immer nicht kannte, brachte einen Fasan, den er, auf einem dicken Felsbrocken sitzend, rupfte.

Die Sonne neigte sich dem Horizont entgegen und bald schon machte das Rotgold dem Pechschwarz der Nacht Platz. Das Feuer wurde entzündet, sodass uns die Hitze des Feuers Wärme spendete. Die Nächte in den Bergen konnten kälter und erbarmungsloser sein, als im Innenland. Ein Feuer war überlebenswichtig, das hatte ich in meiner ersten Nacht im Gebirge auf der Jagd gelernt. Damals hatte ich gerade damit begonnen, heimlich zu jagen. Dillion hatte mir gezeigt, wie man jagte und Fährten las, jedoch war das Entzünden eines Feuers einer der wenigen Lektionen zu deren Vermittlung er durch sein Verschwinden nicht mehr gekommen war. Ich hatte in dieser Nacht gelernt, wie kalt und hart eine Winternacht in den Bergen war und wie gnadenlos und brutal Mutternatur sein konnte.

Es war eine wichtige Lektion.

Als Dillion mit seinem Lager fertig war, stand er auf, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen und trat zu seinen Kameraden. Sein Bruder gesellte sich zu ihm und beide schienen sehr angetan von ihren Bögen zu sein, dass sie sich unterhielten. Ich hatte das Gefühl, dass Dillion es nicht gut finden würde, wenn ich mich dazu gesellte, sodass ich unschlüssig neben meinem Lager hocken blieb. Ich legte den Lederbeutel mit meinen Habseligkeiten neben mein Schlaflager.

Als sich plötzlich ein Schatten über mir erhob, fuhr ich herum. Meine Augen verengten sich zu Schlitzen, denn direkt hinter mir stand Krassas imposante Gestalt. Über seiner Haut verliefen die Jagdrunen seines Clans und schimmerten fremdartig in der untergehenden Sonne. Mein Blick wurde jedoch nicht länger von seinen beeindruckenden Bauchmuskeln gefangen gehalten, sondern von dem, was er in seiner rechten Hand hielt.

Meine Haut begann zu prickeln und ich konnte ihn nur anstarren, als er mir meinen Bogen entgegenhielt. Es war nicht mein alter Bogen, sondern der neue, an dem ich gearbeitet hatte, als Krassas meinen Clan mit seinen Männern angegriffen hatte. Dieser Bogen war noch unfertig, die Sehne fehlte und ich hatte noch nicht alle Runen hinein geritzt, die ich von Dillions Tättowierungen kannte.

Was mich viel mehr überraschte, dass er meinen Bogen in der Hand hielt, dass er diesen Bogen überhaupt hatte. Mein Blick huschte zu Dillion. Er war der einzige, der von dem Bogen gewusst hatte, der mich danach gefragt hatte. Hatte er Krassas den Bogen gegeben? Und warum hätte er dies tun sollen? Ich hatte ihn doch extra versteckt, damit Krassas nicht herausfand, dass ich noch eine Waffe besaß.

Langsam stand ich auf und drehte mich zu ihm um.

»Ich nehme an, dir ist bewusst, dass du nicht hier bist, um meinem Sohn das Schlaflager zu wärmen. Du wirst jagen.«

Ich starrte meinen Bogen an, der in seiner Hand lag. »Mit bloßen Händen?« Meine Stimme troff vor Ironie.

Leise lachte er. »Zu gerne ich dieses Spektakel sehen würde, nein. Dillion brachte mir heute Morgen diesen Bogen und bat mich darum, ihn dir zuzugestehen.«

Mein Blick huschte zurück zu Dillion und ich bemerkte, dass er uns beobachtete, während sein Bruder ihn zutextete. Ich sah zurück zu Krassas, der mich noch immer leicht grinsend anblickte. Er war der erste, der den Blickkontakt abbrach. Er schwenkte meinen Bogen in seiner Hand und strich beinahe zärtlich mit seinen Fingern über das gemusterte Holz, fuhren die Kurven und Einkerbungen nach.

»Nenne mir einen Grund, weshalb ich ihn dir geben sollte.«

Verwirrt starrte ich auf seine Finger. Einen Grund? Was für einen Grund sollte er schon haben, mir diesen Bogen zu geben? Damit würde er mir eine Chance geben, ihn umzubringen. Mir die Rache zu nehmen, die ich seit seinem Auftauchen ersehnte. Er würde mir eine Chance geben, Reik zu rächen. Zwar hatte ich ihn nicht sonderlich gemocht, aber sofern Brittas Anschuldigungen wahr waren, war er immerhin mein Bruder gewesen. Mein Blut. Das sollte ihn keineswegs von seinen Vergehen frei sprechen, aber solch ein Ende hatte er nicht verdient. Dass sein Leichnam noch immer vor sich hin verrottete. Eine Chance...

»Ich kann dir keinen Grund nennen.«, erwiderte ich letztendlich.

Er hob die dicke, schwarze Augenbraue, dann trat er näher und ich konnte seine Körperwärme auf mir spüren. Er hielt mir den Bogen entgegen und unsicher griff ich danach. Auf einmal zog er mich ruckartig an sich und seine rechte Hand griff mir in den Nacken. Seine Finger waren beinahe zart auf meiner Haut und ich presste die Lippen aufeinander und musste mich beherrschen, ihm nicht ins Gesicht zu spucken.

»Weißt du... ich bin Dillion ganz dankbar, dass er mich aufgehalten hat, diese... zarte Kehle zu durchtrennen.«, säuselte er mir ins Ohr und hauchte seinen heißen Atem an meine entblößte Hauptschlagader. »Wenn mein Sohn dich nicht beansprucht hätte, kleines Lamm... würdest du dich Nacht für Nacht in meinem Schlaflager räkeln.«

Ich verzog wütend und gleichermaßen angeekelt den Mund, biss die Zähne fest aufeinander.

Nur langsam ließ er von mir ab, dann deutete er auf den Bogen in meinen noch zitternden Händen, die vor Wut bebten. »Geh zu Kjell, um dir eine Sehne für den Bogen zu besorgen. Du solltest dich beeilen, kleines Lamm, denn morgenfrüh gehen wir los.« Er wandte sich genauso schnell von mir ab, wie er zu mir gekommen war und zog sich zu seinem Schlaflager zurück.

Zittrig atmete ich aus, versuchte die Aufruhr in meinem Herzen zu verbergen und blickte in den Sonnenuntergang. Der letzte Streifen goldener Röte verschwand hinter dem Horizont. Mein Magen war flau und in meinem Nacken kribbelte meine Haut unangenehm. Krassas' Worte weckten eine Angst und Furcht in mir, die mich zutiefst beunruhigte. Wenn Dillion nicht wäre... Wenn Dillion nicht wäre, dann würde ich in Krassas Bett die Felle wärmen.

Mein Blick glitt unruhig zu Dillion, der sich wieder mit seinem Bruder in ein Gespräch vertieft hatte und mich nicht bemerkte. Ob er das Gespräch mit Krassas und seine Berührungen bemerkt hatte? Ich wusste es nicht und ich verdrängte alle Gedanken daran. Ich musste mich auf das hier und jetzt konzentrieren, sonst würde ich mein Ziel aus den Augen verlieren und die Gefahr nicht mehr wahrnehmen.

Ich umfasste meinen Bogen fester und wusste, das dies die Waffe sein würde, die Krassas eines Tages den Tod bringen würde.

ACHT

 

Die Dunkelheit war hereingebrochen, das Licht des beinahe vollen Mondes schien auf die Bergspitzen und Täler hinab. Die Nacht brachte Kälte und Finsternis und die Männer hatten sich um das Lagerfeuer herum gehockt und plünderten ihre Proviantbeutel. Flaches Fladenbrot, das jediglich aus Mehl und Wasser bestand und aufgebacken wurde, wurde herum gereicht und kleine Würste aus festem, getrockneten Fleisch wurde an die Männer verteilt. Ich beobachtete sie von meinem Lager aus und runzelte die Stirn. Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht, wie ich mich verhalten sollte in der Gegenwart dieser Jäger. Sollte ich mich einfach dazu setzen und so tun, als wären sie meine Jagdgefährten?

Ich starrte auf meinen Bogen, der in meinem Schoß lag. Gedankenverloren fuhr ich mit den Fingern über die Maserung, die ich vor so vielen Wochen begonnen hatte, einzuritzen. Nun hatte ich diesen Bogen wieder und konnte ihn vor aller Augen im Schoß liegen haben, sodass ich nun mit dieser Tätigkeit fortfuhr. Mit meinem kleinen Messer ritzte ich neue Runen hinein, die die noch gefehlt hatten und an die ich mich von Dillions Tättoowierungen erinnerte. Ich strich mit dem Zeigefinger darüber und nickte zufrieden. Nun brauchte ich nur noch die Sehne.

Leicht genervt blickte ich zu der Gruppe hinüber. Dillion saß in ihrer Mitte, als wäre er einer von ihnen. Irgendwie schmerzte es mich, ihn dort zu sehen. Zwischen diesen Mördern und Vergewaltigern. Dort hatte er so viele Jahre seines Lebens verbracht und, dass er nicht zu einem von ihnen geworden war, grenzte gar an ein Wunder. Dass er noch immer der Ansicht war, dass alles falsch war, was dort geschah. Das zeigte mir wieder einmal, was für ein guter Mensch er war, was für ein guter Mann aus ihm geworden war.

Und dennoch musste ich mir nun in den Hintern treten und meine Rolle spielen. Krassas hatte mir gesagt, dass ich von Kjell eine Sehne für meinen Bogen holen sollte, um morgen auf der Jagd von Nutzen zu sein. Ich war mir sicher, dass dies kein wohlgemeinter Rat gewesen war, sondern ein unterschwelliger Befehl. Wenn ich ihn nicht befolgte, dann war ich mir sicher, würde er mich morgen mit bloßen Händen jagen lassen.

Ich stand langsam von meinem Lager auf und ging mit dem Bogen in den Händen zum Lagerfeuer. Fest umklammerte ich das Holz, um Halt zu haben, als ich näher kam und auf einmal alle Gespräche verstummten. Leicht runzelte ich die Stirn.

»Dillion, was will deine Hure hier bei uns?«, fragte Balian, der gerade seine eine Axt mit einem Schleifstein bearbeitet hatte.

Dillion wollte den Mund öffnen, aber ich kam ihm wütend zuvor. »Dillions Hure braucht eine Sehne für ihren Bogen, damit sie dir den Arsch wegschießen kann, wenn du unverschämt wirst!«

Balian kullerten beinahe die Augen aus dem Kopf, den er anschließend zurück warf und laut und kehlig begann zu lachen, sodass glatt der Boden vibrierte. Die anderen stimmten in sein Gelächter mit ein, dann schlug Balian sich selbst auf das muskulöse Knie und schlug Dillion, welcher neben ihm angespannt gehockt hatte, auf die Schulter.

»Die Kleine hat ja Feuer unterm Arsch! Sei ehrlich, Dillion, sie liegt nachts oben, oder?«

Dillion schmunzelte wirklich überzeugend und knuffte Balian in die Seite. »Ich weiß, dass deine vollbusigen Nachtbekannschaften bei dir immer oben liegen.«

»Ich steh halt drauf, dass sie mich reiten.«, gluckste er und erntete weiteres Lachen von den anderen Männern, inklusive Krassas.

Genervt verdrehte ich die Augen, dann schwenkte ich vor ihren Augen mit dem Bogen, um die Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken und irgendwie von den dreckigen Themen abzukommen. »Wer ist jetzt dieser Kjell? Ich brauche eine Sehne für den Bogen, oder soll ich mit bloßen Händen jagen?«

Einer der Bogenschützen erhob sich und grinste mich an. »Das wäre in der Tat ein Schauspiel, aber nein. Komm, ich gebe dir einen.«

Ich seufzte dankbar und wollte ihm gerade zu seiner Tasche folgen, die an einem großen Felsbrocken lehnte, als Finch ihn an der Schulter griff und aufhielt. »Warte mal, Kjell. Jetzt haben Balian und Dillion mich echt heiß gemacht mit ihrem Gequatsche. Soll die Kleine sich den Bogen doch verdienen.«

»Wie verdienen?«, fragte einer der Männer.

Finch grinste zu Dillion, der ihn mit versteinerter Miene und eiskaltem Blick musterte. »Natürlich kitzelt es sicher jeden hier, die Hände an dieses Fleisch zu legen, allerdings befürchte ich dann, dass Dillion einem nach dem anderen das Gesicht ausreißt.«

»Wie immer, wenn jemand Hand an mein Eigentum legt.«, knurrte eben dieser bedrohlich.

Das alles gefiel mir ganz und gar nicht und ich bemerkte kaum, wie ich den Bogen so fest umgriff, dass meine Knöchel schon weiß hervorstachen.

Finch schlich um mich herum und blieb neben Dillion stehen, der noch immer angespannt auf dem Felsen hockte. Ein Muskel zuckte an seinem Hals. »Aus diesem Grund schlage ich vor, dass du uns ein wenig anders entschädigst? Wie wäre es mit ein wenig Lippenaktion?« Ich konnte kaum fassen, dass es sogar noch zustimmendes Gemurmel gab.

Dillion starrte Finch finster an. »Weißt du, ich bevorzuge es, mit einer Frau alleine intim zu werden und nicht vor aller Augen. Tut mir leid, da bin ich eigen.«

»Du willst deine kleine Freundin nicht mal küssen? So eitel bist du?« Finchs Worte troffen vor Spott.

Und diesmal hörte ich die unausgesprochene Warnung darin. Er musste uns gehört haben. Als er scheinbar im Fieberwahn gefangen gewesen war, musste er unsere intimen Gespräche belauscht haben und sich seinen Teil dazu gedacht haben. Er wusste, dass er mich nicht beansprucht hatte und er wusste, dass Dillion nicht mit mir schlief. Er wusste beinahe alles, wenn Dillion nun verweigerte, mich zu küssen. Vor aller Augen. Vor Krassas', vor Kjells, Balians und der anderen. Ich biss die Zähne aufeinander und stapfte zu den beiden hinüber, am Feuer vorbei. Innerlich verfluchte ich mich, dass ich Finch geholfen hatte und ich meinte in Dillions Augen ähnliche Emotionen zu sehen.

Ich drückte Finch grob den Bogen an die Brust, den er finster entgegennahm. Dann legte ich Dillion die Hände an den Hals und ich spürte, wie er scharf die Luft einsog, als ich mich auf seinen Schoß setzte, mich nahe an ihn presste. Seine Hände hielten mich beinahe scheu an der Hüfte fest, während ich ihm tief in die Augen sah. So viele Gefühle sprachen nun aus ihnen, wo er sie zuvor sorgfältig verschlossen hatte. Ich bat ihn stumm um Erlaubnis, um Kraft, einfach nur um Halt in dieser grauenvollen Situation. Meine Finger betasteten unsicher sein Gesicht, dann presste ich den Mund auf seine Lippen. Er keuchte leise auf und meine Lippen bewegten sich unerfahren und merkwürdig auf seinen, bis er eine Hand in meinem rot schimmernden Haar vergrub. Plötzlich war sein Mund gierig, fordernd und verwirrend. Über meinen Rücken schoss eine Gänsehaut nach der anderen und seine andere Hand an meiner Hüfte packte mein erhitztes Fleisch fester. Meine Hände hielten schwer atmend sein Gesicht, die Augen hatte ich fest zusammen gepresst.

Es fühlte sich gut an.

Entgegen allem, was in meinem Kopf vor sich ging, fühlte es sich gut an, Dillion zu küssen. Obwohl wir hier in mitten eines Dutzend lüsterner Männer saßen und ihnen ein wahres Schauspiel boten, waren sie nur am Rande meines benebelten Verstandes. Mein Körper fühlte sich mit einem Mal sehr viel heißer an, als zuvor. Meine Haut glühte unter seinen Händen und meine Finger an seinem Gesicht zitterten leicht. Auf einmal fühlte sich nichts mehr an, wie zuvor. Dillion war nicht länger mein bester Freund, der ein leicht romantisches Interesse zu mir hegte. Er war ein Mann. Das wollte mir vorher nie so wirklich klar werden. Er war ein Mann, der mich soeben fest an sich presste und bewirkte, dass ich mich wie eine begehrenswerte Frau fühlte. Nur durch seine stürmischen, vielleicht sogar etwas groben Lippen.

Ich keuchte an seinen Lippen auf, ohne auch nur an die anderen Männer um uns herum zu achten, als er meine Hüfte fest gegen seine presste. In diesem Augenblick, als ich die Härte in seiner Hose anschwellen spürte, wurde mir schlagartig wieder bewusst, dass wir keineswegs alleine waren. Meine Hand berührte zart sein Kinn und drückten leicht gegen sein Gesicht, um ihm Einhalt zu gebieten.

Es klappte. Er beendete den Kuss so sanft, wie er stürmisch gewesen war. Langsam lösten wir uns voneinander und ich schaffte es nur unter großer Kraftanstrengung, ihm nicht in die Augen zu sehen und ruckartig von seinem Schoß aufzustehen. Wir hatten immernoch eine Rolle zu spielen. Wenn ich mich von meinen positiven Gefühlen überwältigen ließe, sähe diese ganze Intinierung unrealistisch aus. Welches Mädchen wäre schon zärtlich und benahm sich beinahe verliebt, wenn sie den Mann zwangsweise küssen musste, der sie angeblich vergewaltigt hatte?

Ich drehte mich herum und streckte meine Hand Finch entgegen.

Mittlerweile war es still geworden, die Männer sagten kein Wort und Finch starrte mich so giftig und finster an, dass, wenn Blicke töten könnten, ich mit Sicherheit schon mehrmals umgefallen wäre. Ich blickte ihm mit der gleichen kalten Berechenbarkeit in die Augen, wie er mich soeben musterte. Dillion war beinahe völlig aus meinem Verstand gewichen, jetzt, wo ich dieses Scheusal wieder vor Augen hatte. Ich hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht, als ich mich so tollkühn auf meinen besten Freund gestürzt hatte. Er hatte erwartet, dass wir uns heraus reden würden, weil er wusste, was wirklich zwischen uns war. Doch jetzt wusste ich, dass ich ihn mir endgültig zum Feind gemacht hatte.

»Habe ich mir meine Sehne nun verdient, Finch?«

Er gab mir den Bogen langsam zurück, seine Hand verweilte jedoch eine Sekunde länger auf dem Holz, als es gebraucht hätte, um ihn mir wieder zugeben. Dabei sagte er keinen Ton, sondern verengte die Augen unmerklich zu feinen Schlitzen. Mein Nacken kribbelte leicht vor Unbehagen. Finch starrte mich so durchdringend an, als würde er mir seinen zorngeschwängerten Blick ins Gedächtnis brennen wollen. Er war nun mein Feind und das würde er vermutlich bleiben.

Ich wandte den Blick ab und ging zu Kjell, der eine Augenbraue anerkennend hob und mir die ledrige Sehne entgegen hielt. Genau wusste ich nicht, was ich diesem Mann, oder irgendeinem dieser Männer, bewiesen hatte, indem ich Dillion vor aller Augen geküsst hatte. Doch ich wusste, dass ich mir auf irgendeine Art und Weise Respekt verschafft hatte.

Ohne Dillion noch einmal anzusehen, verließ ich die Feuerstelle und begab mich zu meiner Schlafstätte, um meinen Bogen fertigzustellen.

 

Ich war am nächsten Morgen bereits früh auf. Es dämmerte erst langsam zum Morgen und die Männer schliefen alle noch, sogar Dillion neben mir hatte mir leise schnarchend den Rücken zugewandt. Mit schief gelegtem Kopf starrte ich seine Kehrseite einen Moment lang an, dann wandte ich mich ab und erhob mich. So leise wie möglich, schnappte ich mir meinen Proviantbeutel, in dem ich auch eine grobe Haarbürste und ein Stück von Muirgheals Lavendelseife verstaut hatte und schlich über den Platz. Am erloschenen Lagerfeuer von letzter Nacht saß Krassas bereits erwacht und schärfte die Klauen seiner rechten Stahlhand. Nun sah ich vielleicht auch den Grund, weshalb er sie trug, denn seine Finger waren hässlich vernarbt. Sie besaßen keinerlei Fingernägel mehr und der Daumen war leicht verkrüppelt.

Man durfte keine Schwäche zeigen.

Dieser Satz prangte so plötzlich in meinem Kopf wie ein Leuchtfeuer. Ich hatte keine Schwäche gezeigt, keine Angst am gestrigen Abend. Sondern unverhohlene Entschlossenheit. Das musste es gewesen sein, dass die Männer beeindruckt hatte. In diesem Moment, als Krassas seine Stahlhand schärfte, als würde er sich auf eine Schlacht vorbereiten, schwor ich mir, ebenfalls keine Schwäche zu zeigen. Das konnte ich mir schlichtweg nicht leisten. Zu viel stand auf dem Spiel. Dillion, mein Volk und meine Freiheit.

Leise schlich ich hinter einen dicken Felsvorsprung, damit Krassas mich nicht bemerkte und stieg den steilen Hang hinauf zu der Wasserquelle, die ich auf unserem Hinweg hatte plätschern hören. Als ich dort ankam, war es beinahe, wie in einem schönen Traum, der mich die grausige Realität vergessen ließ. Die Quelle war wie ein kleines natürliches Becken, dessen Beckenränder aus bloßem, glattgeschliffenem Fels bestand. Zu den Seiten wuchsen wildes Berggras und Bergblumen. Das Wasser tröpfelte sanft aus einer Felsnische in der Felswand darüber in das kleine Becken, in das ein Mensch problemlos hinein gepasst hätte.

Ich seufzte.

Leider hatte ich nicht die Zeit für ausschweifende Bäder, sodass ich meinen Beutel auf einen der Felsbrocken legte und die Seife heraus kramte. Ich zog mir das Stirnband aus dem Haar und legte es neben den Beutel, dann tauchte ich die Seife in das eisig klare Wasser und wusch mir ausgiebig Gesicht und Hals, Hände und Arme. Dann benetzte ich die Bürste ebenfalls mit Wasser und fuhr damit durch meine dicken, rostroten Strähnen, um sie etwas aufzufrischen, aber noch nicht waschen zu müssen. Körperpflege war bei der Jagd sehr wichtig, denn, wenn man stank zum Himmel würden das nicht nur Kameraden, sondern auch die Tiere riechen können.

Plötzlich packte mich eine Hand an der Schulter und wirbelte mich herum. Ich sah nur noch goldgelbe Augen aufblitzen, dann presste sich ein fordernder Mund auf meinen. Mir stieg der vertraute Duft von Wald und Freiheit in die Nase, noch bevor ich registrieren konnte, was Dillion gerade tat. Seine starken Arme schlangen sich um meine Taille und ich spannte die Schultern an, meine Arme hingen nutzlos in der Luft, meine Augen waren weit aufgerissen. Doch so erschrocken, wie ich war, so benommen wurde ich im nächsten Moment.

Meine Bürste fiel irgendwo auf den Felsboden und unsere Lippen begannen einen wilden, chaotischen Tanz zu führen. Ich erwischte mich dabei, wie ich leise an seinem Mund aufstöhnen musste, da packte er mich fester, seine eine Hand fuhr sogar an meiner Kehrseite hinunter zu der Rundung meines Hinterns. Das brachte mich erst recht zum Keuchen und er ließ auch seine zweite Hand zu meinem Hintern wandern, packte mich und hob mich von den Füßen. Erschrocken packte ich seinen Nacken, wagte jedoch nicht, seinen Mund zu verlassen. Plötzlich spürte ich den Rand des Beckens unter mir, denn Dillion setzte mich darauf.

Meine Hände machten sich ohne mein Zutun selbstständig, berührten die Hügel und Täler seines Oberkörpers, denn er trug am Morgen seinen Brustharnisch nicht. Unter meinen Fingerspitzen war nichts außer weicher, heißer, über harten Muskeln spannender Haut.

Auf einmal ließ er von meinen Lippen ab und wanderte zu meinem Hals. Diese Gefühle waren so verwirrend, hatte ich sie doch noch nie wirklich gefühlt. Die einzige Erfahrung, die ich darin hatte, waren die Geschichten, die mir Muirgheal erzählt hatte. Dinge, die Mann und Frau taten, um Kinder zu zeugen. Sie hatte mir alles immer nur im Groben erzählt. Hatte mir das Geschlecht eines Mannes beschrieben und, wie er es benutzte, um in eine Frau einzudringen und seinen Samen abzugeben, aus dem in einer Frau ein Kind heranwachsen würde. Doch von diesen Dingen, die darum herum geschahen, wusste ich nicht das Geringste, denn Muirgheal war angesichts ihres Alters und der langen Zeit, die sie alleine lebte, wohl auch nicht die passende Gesprächspartnerin.

»Dillion«, seufzte ich kaum hörbar, spürte seine tastenden Lippen, seine knarbbernden Zähne an meiner Haut.

Er brummte zur Antwort, hielt meinen Hals sanft mit einer Hand, mit der anderen fuhr er beinahe sanft über meinen nackten Oberschenkel unter meinen Jagdrock.

Mein Atem kam stockend. »Dillion nicht... die anderen...«

»Die anderen sind mir egal«, knurrte er leise. »Du nicht, Fea.«

Ich berührte sein Gesicht, um ihn von meinem Hals zu lösen. Erst fühlte es sich an, als wolle er mir nicht nachgeben, dann hob er langsam den Kopf, um mich anzusehen. »Dillion... ich kann das nicht. Nicht so.«

Seine goldenen Augen verdunkelten sich leicht, dann seufzte er leise, als wäre er enttäuscht und lehnte anschließend die Stirn an meine. »Warum nicht, Fea? So wie du mich gestern geküsst hast-«

»Das war nicht echt, Dillion.«, widersprach ich und schüttelte den Kopf. »Du weißt, das war die Rolle, die wir spielen mussten. Finch hätte nicht locker gelassen-«

»Und dieser Kuss?«, unterbrach er mich und sah mich wieder an. »Was hat dieser Kuss eben für dich bedeutet?«

Grübelnd biss ich mir auf die Unterlippe, wich seinem Blick aus. Was hatte dieser Kuss für mich bedeutet? Was nur? Ich wusste, dass er mir gefallen hatte und Dillion wusste das auch. Bei den Göttern, sogar der gestrige Kuss vor aller starrenden Augen hatte mir gefallen. Bei allem, was mir heilig war, er hatte mir so sehr gefallen, dass ich für eine Sekunde sogar mehr gewollt hatte. Auch jetzt wollte ich mehr, aber irgendetwas, das ich nicht benennen konnte, hinderte mich daran. Ich hätte sagen können, dass dies nicht der richtige Augenblick war, weil nur einen Steinwurf entfernt ein halbes Dutzend Männer schlief und uns hören würde. Ich hätte sagen können, dass sie bald aufwachen und losziehen wollen würden. Aber die Wahrheit war, dass ich es wollte und wir die Zeit und Möglichkeit hätten, es zu tun, wenn mich nicht dieser eine Grund hindern würde, den ich selbst nicht kannte.

Seufzend schüttelte ich den Kopf. »Dillion, du kennst meine Gefühle.«, flüsterte ich kaum hörbar, ansehen konnte ich ihn nicht. »Du bedeutest mir alles, aber ich kann nicht. Ich kann nicht an solche Dinge denken, egal, um wen es geht.«

Er packte meine Hände so unvermittelt und beinahe grob, dass ich zusammenfuhr, und beinahe sofort ein schlechtes Gewissen bekam, da er mich schon einmal darauf angesprochen hatte. Aber diesmal tat er es nicht. Er zwang mich mit seinem kräftigen Griff nur, ihm in die intensiven schimmernden Augen zu sehen. »Du beantwortest mir meine Frage nicht. Du weichst mir wieder aus. Ich will wissen, was dieser Kuss für dich bedeutet hat. Was bedeutet es dir, wenn ich dich berühre? Was fühlst du dabei? Fühlst du Abscheu? Fühlt es sich falsch an? Glaub mir, ich würde dich sofort freigeben, wenn ich wüsste, dass es sich für dich anfühlen könnte, als würdest du einen Bruder küssen. Ist es das? Bin ich so jemand für dich? Bin ich kein Mann?«

Ich starrte ihn mit offenem Mund an und konnte im ersten Moment gar nichts sagen. Mein Kopf drehte und wendete sich, mein Schädel schien von all den Emotionen zu explodieren. Instinktiv versuchte ich eine Hand zu lösen und an sein Gesicht zu legen, aber er hielt mich eisern fest und starrte mich beinahe zornig an, dann schüttelte er den Kopf. Nun war seine Miene spöttisch, beinahe sarkastisch.

Er schnaubte abfällig und ließ mich so abrupt los, dass ich ein Ächzen ausstieß, auf das er aber gar nicht einging.

»Hast du Mitleid mit mir?«, knurrte er mich so finster an, dass ich kaum zu Wort kam. »Du bist der Meinung, dass ich kein Mann bin, ist das richtig? Bin ich für dich immer noch der kleine Junge von damals, der mit dir durch die Wälder hüpft?«

»D-das habe ich nie gesagt!«

»Aber gedacht, nicht wahr? Für dich bin ich kein Mann, sondern immer noch dein kleiner Kindheitsfreund... ich hätte es doch besser wissen sollen.« Er schüttelte wütend über sich selbst den Kopf.

Es brach mir glatt das Herz, ihn so zu sehen. Wieder hatte ich ihm wehgetan. War ich nur dazu fähig? Die Menschen, die ich liebte entweder zu verlieren oder ihnen wehzutun? Mir saß ein Kloß im Hals und ich wusste, ich hätte etwas sagen sollen. Etwas, das ihm zeigen würde, dass das alles nicht stimmte, aber genau das war es, was mich abhielt. Er war mein bester Freund und ich wollte im Innern einfach nicht wahr haben, dass er im Grunde nicht mehr der Junge von damals war, der mit mir durch die Wälder gezogen, Kräuter gesammelt und mir das Jagen beigebracht hatte.

»Dillion, bitte!«, sagte ich und sprang von dem Quellenbecken herunter, als er sich von mir abwenden wollte. »Du willst wissen, was mir dieser Kuss bedeutet hat? Du weißt, dass ich nie gut darin war, über Gefühle zu sprechen, aber für dich würde ich es. Ich bin nicht gut darin. Aber dieser Kuss war alles, was ich mir jemals hätte wünschen können. Er war berauschend, er hat sich warm und weich angefühlt. Wie ein Traum aus einer lang vergessenen Zeit. Ich... ich habe mich zum ersten Mal in meinem Leben, wie eine Frau gefühlt.«

Er blieb stehen, dann drehte er langsam den Kopf zu mir und sah mich an.

Mir stiegen beinahe die Tränen in die Augen, denn solche intimen Dinge hatte und konnte ich zuvor niemandem anvertrauen. Mit wem hätte ich schon sprechen sollen? Mit Muirgheal? Ich war nie zu einer Frau meines Stammes erzogen worden. Die Mädchen meines Stammes wussten schon in jungen Jahren, sich so zu benehmen, wie eine künftige Frau es tun würde. Sie lernten Sticken, Nähen und Flechten. Sie lernten, ihre Körper wie Gefäße zu behandeln, die in einem bestimmten Alter den Besitzer wechseln würden. Sie lernten von Anfang an, eine Frau zu sein. Ich hingegen hatte gelernt, Kräuter zu sammeln, Tinkturen herzustellen und zu jagen. Ich war beinahe mehr Mann gewesen, als alles andere. Mein Körper war mir nie wirklich vertraut gewesen, ich hatte ihn gewaschen, ihn bewegt, in ihm gelebt. Nie hatte ich ihn so intensiv gefühlt, wie am gestrigen Abend in seiner unmittelbaren Nähe.

Mir schlotterten die Knie, meine Hände zitterten und mein Gesicht fühlte sich auf einmal nass an, angesichts dessen, was ich ihm im Begriff war, zu erzählen. »All die Jahre habe ich mich gefühlt, wie ein Geist! Wie ein Körper ohne Seele, irgendein geschlechtsloses Ding. Ich wusch mich, ich starrte mich nackt im Spiegel an, ohne wirklich zu wissen, was ich mit dem, was ich sah, anfangen soll. Bis du mich gestern geküsst hast, Dillion. Bis dahin wusste ich nicht mal, dass weiblich ein Gefühl sein kann.« Meine Stimme wurde zum Ende hin brüchig und leise.

Seine Augen flackerten leicht, dann schüttelte er den Kopf und legte eine Hand an mein Gesicht. »Fea, ich wollte nicht, dass du-«

Heftig schüttelte ich den Kopf. »Du bist alles, was ich will. Alles, Dillion. Du bist und warst mein bester Freund und der Kuss... ich hätte niemals zu träumen gewagt, dass mich jemand begehren könnte. Mich! Ich meine, sieh mich doch an!«

»Fea, das tue ich.«, murmelte er. »Das tue ich ständig. Jedes Mal in meinen Träumen sah ich dich vor meinen Augen und habe mir ausgemalt, wie du mittlerweile aussehen mochtest. Die Götter sendeten mir Bilder von dir... sie waren genauso, wie ich dich jetzt sehe. Du bist und warst immer das hübscheste Mädchen, das ich gesehen habe. Schon damals. Immer.«

Ich biss mir auf die Lippen, als er seine zweite Hand an meinen Hals legte. »Du bedeutest mir so viel... aber im Moment ist alles so kompliziert. Ich kann nicht an solche Dinge denken. Ich kann nicht...«

»Ich weiß.«, sagte Dillion leise. »Ich weiß, dass es kompliziert ist. Ich... ich werde warten.«

Benommen sah ich ihn an. »Das würdest du tun?«

Leise lachte er und schmunzelte sacht. »Jetzt wo ich weiß, dass du kein Problem mit meiner Männlichkeit hast...«

Ich verdrehte die Augen. »Warum habt ihr immer diese Komplexe, wenn es um eure Männlichkeit geht?«

»Keine Ahnung, ist so.«, grinste er und zuckte die Schultern, ehe er die Hände auf meine Hüften sinken ließ.

Leicht erschauderte ich, dann biss ich mir auf die Unterlippe und sah ihn etwas benommen an. »Küsst du mich noch einmal?«

Sein schiefes Lächeln wurde noch etwas breiter. »Einmal noch. Dann gibt es keine Gratisproben mehr.«

»Ich glaube, damit kann ich leben.«, murmelte ich und lächelte schüchtern.

Sanft griff er nach meinem Gesicht und dieser Kuss war weniger stürmisch, jedoch nicht weniger gefühlvoll. Seine Lippen bewegten sich im absoluten Gleichklang mit meinem Mund und meine Finger, die in seinem Haar hingen, zogen ihn enger am mich. Dieser Moment war beinahe perfekt. Die Gedanken stockten endlich mal für wenige Augenblicke und wir konnten unsere Probleme für einen Moment vergessen. Seine Hand in meinem Haar, der leichte Druck auf meinen Hinterkopf verrieten mir, dass Dillion sich zügeln musste, diesen Kuss nicht wieder entflammen zu lassen.

Ich legte alles in diesen Kuss hinein, denn ich wusste, dass ich ihn in nächster Zukunft nicht mehr küssen konnte. Jedenfalls nicht auf diese sanfte und intime Weise, wie wir uns jetzt küssten. Wenn, dann würden ein Dutzend Männer wieder um uns herum sitzen und uns anstarren. Umso mehr genoss ich diesen winzigen Moment, der gefühlt nicht enden wollte.

NEUN

 

 

Impressum

Texte: © Peawyn Hunter
Bildmaterialien: © Peawyn Hunter / unter Verwendung von Pixabay-Bildern
Cover: © Peawyn Hunter
Tag der Veröffentlichung: 25.05.2018

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