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Peawyn Hunter

 

 

    RAVENWOOD    

Das Leben in Block B

 

Horror-Psychothriller

Prolog

Oktober, 1952

Es fühlte sich an, wie in einem Traum. Der Nebel, der die Fähre umgab und einem die Sicht raubte, sodass man nicht einmal weiter schauen konnte, als man einen Schritt tuen konnte; das Gefühl von Feuchtigkeit in der Luft, die einem in die Kleidung kroch und einen frieren ließ; das fahle Tageslicht, durch das man nicht wusste, ob Morgen oder Abend war. Es war alles ein nebliges, weißes Nichts. Alles auf der Fähre hatte an Bedeutung verloren. Das Leben, Freunde, Familie, Rang und Namen. Einfach alles war bedeutungslos, wenn man wusste, wohin man kam. Wohin dieses kleine Schiff fuhr.

Und ich wusste ganz genau, wohin das Schiff fuhr.

Einst war ich eine Frau gewesen. Eine Frau, die jeder geliebt, begehrt und geschätzt hatte. Vor vielen Wochen noch war ich Elisabeth Craine gewesen. Zusammen mit meiner Mutter hatte ich in London ein Haus besessen, das wir von meinem verstorbenen Vater hinterlassen bekommen hatten. Mein Vater, William Craine, war Soldat gewesen und war in eines der Konzentrationslagern der Nazis gestorben. Das jedoch erfuhren meine Mutter und ich erst Jahre nach seinem Tod. Doch das hatte meine Mutter nicht davon abgehalten, eine starke und unabhängige Frau zu sein. Sie hatte mich auch ohne ihn zu einer erwachsenen Frau heran gezogen. Wir waren alles, was wir noch hatten, aber das wurde jäh zerstört, als Henry Goldman aufgetaucht war, zusammen mit seinem sadistisch veranlagten Sohn aus erster Ehe. Bemerke, er war bereits vier Mal verheiratet und von seinen Frauen fehlte jede Spur.

Meine alleinerziehende Mutter, die sich verzweifelt nach Halt bei den Finanzen und der Liebe gewünscht hatte, um den Finger zu wickeln war einfach gewesen. Ich erinnerte mich noch an den ersten Tag, als sie von ihm gesprochen hatte. Ein gutaussehender Mitvierziger morgends beim Bäcker hatte ihr die heruntergefallene Geldbörse zurückgegeben und ihr einen Kaffee spendiert. Kaffee! Als ob sich meine Mutter das leisten konnte.

»Er war so höflich und stattlich!«, hatte sie geschwärmt.

Damals war es für mich das Wichtigste gewesen, dass sie glücklich war, weshalb ich zugestimmt und ihr meinen Segen gegeben hatte, als sie mir sagte, dass sie diesen Mann heiraten wollte. Und dann war das Chaos in unser Haus eingezogen.

Da ich selbst oftmals gar nicht Zuhause gewesen war, da ich ein Studium zur Ärztin begonnen hatte, waren mir die Merkwürdigkeiten nur dann aufgefallen, wenn ich am Wochenende oder in den Ferien heimgefahren war. Rechnungen verschwanden, das Geld von Mutters Konto war in der Monatshälfte bereits aufgebraucht gewesen und Henry war meist Nächtelang nicht Zuhause. Ich wusste, dass er sie mit seiner Sekretärin betrog. Und mit dem neuen Hausmädchen, der Wäschereibesitzerin und ja sogar der Bäckerin. Es war nicht selten vorgekommen, dass ich blondes Haar auf seinem Jackett entdeckt und meine Mutter damit konfrontiert hatte.

Sie wollte es nicht hören.

Warum nur wollte sie nicht darauf hören?

Hätte sie ihn verlassen, wäre alles besser geworden. Sie hätte eine große Summe von ihm bekommen, hätte unser Haus verkaufen können und aufs Land ziehen können. Dort ihr Leben in Ruhe verbringen können... Aber sie wurde krank. Sehr krank.

Mit jedem Tag sah ich sie ein Stückchen mehr dem Reich der Toten entgegen treiben.

Ich hatte sie nicht retten können...

Gleich nach dem Tod meiner Mutter hatte sich mein Stiefvater mit seinen Anwälten zusammen gesetzt und hatte sich alles unter den Nagel gerissen, was es in unserem Haus zu holen gab. Und bei den vielen Gerichtsterminen hatte ich auch begriffen, was es gewesen war, was ihn zu meiner Mutter hingezogen hatte. Es war das Vermögen, das mein leiblicher Vater meiner Mutter und mir hinterlassen hatte.

Tja... und, da ich die einzige, berechtigte Erbin war, war ich meiner angeheirateten Familie ein Dorn im Auge gewesen. Es war für Henry und Peter ein Kinderspiel zu behaupten, ich sei psychisch krank. Der Verlust meiner Mutter, das anstrengende Studium, die Last auf meiner zarten Seele... ich hatte so vieles gehört, was sie sich hatten einfallen lassen, als wir vor Gericht um das Erbe gestritten hatten. Die Krönung des Ganzen war nur noch, dass sie einen fachlich ausgebildeten Psychater zur Vorladung mitgenommen hatten, der all ihre irren Theorien bestätigen sollte. Dieser war kein Geringerer gewesen, als Dr. Roth Xanders. Einer meiner Professoren an der Oxford-Universität.

Und leider hat alles Leugnen nichts gebracht. Denn es war so: Je mehr und je öfter man sagte, man war nicht verrückt, desto mehr unterstützt man die Aussagen dieser Herrschaften. Desto größer ist die Auswirkung auf die besagte Störung.

Störung...

Ich und Störung.

Zuvor hatte ich noch nie etwas mit Psychatern zutun gehabt. Ich hatte mich vor allem mit dem Bau der Wirbelsäule und dessen Krankheiten beschäftigt während meines Studiums. Aber nun umringt von ihnen zu sein, wie ein Misthaufen von Fliegen, war kein angenehmer Gedanke.

Henry und Peter hatten es tatsächlich geschafft. Sie hatten es geschafft, mich einzuweisen und sich somit das Erbe unter die Nägel zu reißen. Denn sobald eine Person als unzurechnungsfähig eingestuft war, konnten sie tun und lassen, was sie wollten. Hauptsache man hatte ein schlimmes Erlebnis in der Vergangenheit, so konnte jeder, Freunde und entfernte Verwandte, sagen: »War ja klar, dass die irgendwann durchdreht. Bei dem, was sie erlebt hat? Kein Wunder.«

Der einzige Lichtblick, den ich im Moment hatte, war, dass ich endlich wieder frische Luft schnappen durfte. Wochenlang in einer geschlossenen Anstalt auf dem Festland zu verbringen war Horror pur gewesen. Kein bisschen frische Luft, kein Ausgang, kein gar nichts. Nicht unbedingt förderlich für meine Störung.

Ich wandte mich um und blickte direkt in das Gesicht einer Schwester.

Sie trug eine weiße Uniform bestehend aus einer weißen Bluse und einem langen Rock, der ihr bis zur Hälfte des Unterschenkels reichte. Ihre Beine wurden von langen Strümpfen verhüllt, die sie wohl in der Kälte des nahenden Abends schützen sollten. Sie trug eine Strickjacke um den Oberkörper, ein Häubchen auf dem Kopf und ein Namensschild, das an der Bluse befestigt war. Nanzi. Sie wirkte noch jung, jünger als ich selbst. Warum machte sie diese Arbeit?

»Geht es Ihnen nicht gut, Beth?«, fragte sie mit demselben überfreundlichen Tonfall, den man auch bei kleinen Kindern benutzte, die Angst vor etwas hatten.

Ich jedoch war kein kleines Kind.

»Miss Craine würde ich bevorzugen.«, zischte ich giftig, wie jedes Mal, wenn mich jemand dieser Psycho-Tanten ansprach.

»Das hatten wir doch schon, Beth. Auf Ravenwood interessiert es niemanden, was Sie vor all dem waren. Es interessiert die Doktoren nur, wer Sie jetzt sind. Und, wie man Ihnen helfen kann.«, erwiderte sie weiterhin freundlich.

Wie immer, wenn ich versuchte, ernsthaft mit diesen Menschen zu sprechen, pochte mein Herz wütend gegen meine Rippen und schien mir aus der Brust springen zu wollen. Bemüht ruhig atmete ich ein und aus und drehte mich wieder in Richtung des Geländers. Mein Blick glitt über den Nebel und das wenige Stück Wasser, was man noch sehen konnte. Es war schwarz wie die Nacht.

Wie lange war ich bereits auf diesem Schiff? Zwei Tage? Das konnte gut möglich sein. Seit zwei Tagen schon schifferte ich mit acht anderen Patienten, Schwestern und neuen Doktoren über das Wasser zu dieser unheimlichen Insel namens Ravenwood. Angeblich sollte diese Insel auf keiner einzigen Landkarte verzeichnet sein, damit die Gefangenen... pardon, Patienten nicht wussten, wo sie waren und, wohin sie gehen müssten, um von dort weg zu kommen. Noch nie hatte ein Patient, der Ravenwood einmal betreten hatte, die Insel je wieder verlassen.

Prima Aussichten also für mich.

Als ein klägliches Wimmern und Heulen im Wind aufstob, drehte ich den Kopf und sah, wie eine Handvoll Schwestern zu der Bank am Bug des Schiffes hin strömten. Auf der Bank hatte schon den ganzen Morgen eine junge Frau gesessen.

Ich hatte die Schwestern, wie immer liebevoll, Lucinda zu ihr sagen hören. Weshalb genau sie hier war, wusste ich nicht und ich könnte meine nette Betreuerin sicher einhundert Mal fragen, sie würde es mir nicht verraten. Grundsätzlich sprachen die Schwestern nicht über andere Patienten, das hatte ich schon mitbekommen. Sie wichen den Fragen so gekonnt aus, das ich mir vorstellen konnte, dass das erste, was sie auf den Schulen lernten, war, wie man Fragen von nervigen Patienten gekonnt abblockte. Bestimmt bestand die Hälfte der Lernzeit aus diesem Unterricht.

Wie am Vortag beim Abendessen sah ich, wie diese Lucinda sich krampfhaft den Bauch hielt und vor und zurück wippte. Ich könnte mir vorstellen, dass sie einmal schwanger gewesen war und ihr Kind verloren hatte oder etwas ähnliches, was ihr den Eintritt nach Ravenwood beschert hatte. Mit der einzigen Tatsache, dass sie im Gegensatz zu mir, tatsächlich eine Störung hatte.

Flüsternd und mit einigen Streicheleinheiten beruhigten die Schwestern Lucinda bis Dr. Xanders das Deck betrat und sich seiner Patientin sofort annahm. Das gute Zureden war garantiert nur eines der Dinge, die er im Studium gelernt hatte.

Angewidert von diesem Mann, der mit daran Schuld war, dass ich hier gelandet war, wandte ich mich ab und starrte in den Nebel hinaus. Die Wut kochte heiß und siedend in mir hoch und am liebsten hätte ich irgendjemandem den Hals umgedreht, aber bei allem, was ich im Moment empfand, war ich nicht dumm. Egal, was ich tat, es würde den Ärzten und Schwestern nur eine Anregung und Kanonenfutter geben, meine Akte mit Vorkommnissen zu füllen. Ich würde mich so ruhig verhalten, wie ich konnte. So wenig reden, wie ich konnte.

Als ich hinter mir Schritte hörte, drehte ich mich wieder zum Geschehen um und erblickte Dr. Xanders vor mir.

Er war ein älterer Mann, ungefähr mitte sechzig und weißem Bart, weißem Haar und einer Brille auf der Nase. Wie immer, wenn ich ihn sah, auch früher, trug er seinen Arztkittel. In der Brusttasche befanden sich säuberlich nebeneinander zwei Kugelschreiber und ein kleiner Notizblock.

»Wie geht es uns denn heute, Beth?«, fragte er mit einem scheinheiligen Lächeln auf den Lippen.

Ich war nur Millimeter davon entfernt, ihm eine Ohrfeige zu geben und ihn anzuschreien, aber ich zügelte mein temperamentvolles Gemüt und lächelte spitz zurück. »Mir geht es hervorragend, aber bei Ihnen bin ich mir nicht sicher.«

Er gluckste und lachte leise. »Immer noch ganz das freche Mädchen, das freut mich. Wenigstens Ihre Persönlichkeit hat unter Ihrer Krankheit nicht gelitten.«

Ich wusste sofort, dass das eine unausgesprochene Warnung war, die nur ich verstehen würde, da alle anderen auf diesem Schiff tatsächlich glaubten, dass ich irre war. Wir beide wussten es besser, weshalb ich wusste, dass die nächste Zeit kein Zuckerschlecken war. Er würde mir das Leben zur Hölle machen, weil er wusste, dass ich die einzige Person war, die seinen Ruf als angesehener Psychater ruinieren konnte.

Ein kurzes, warnendes Lächeln huschte über seine Lippen, ehe er auf mein Schultertuch deutete, das ich heute Morgen von meiner betreuenden Schwester bekommen hatte.

»Wenn Sie frieren sollten, ich habe eine Schwester angewiesen, Jacken zu verteilen.«

Ich griff nach meinem Schultertuch und zog es enger um mich, als müsse ich mich vor seinen Blicken schützen. »Vielen Dank, aber ich habe alles, was ich brauche.«

»Davon bin ich überzeugt.« Dr. Xanders nickte kurz, dann ging er davon und ich blickte ihm verärgert hinterher.

Obwohl verärgert nicht das richtige Wort war, um die Gefühle zu beschreiben, die in mir tobten.

Leise seufzte ich, als ich wieder mit Nanzi allein war, die wie den Tag zuvor, nicht von meiner Seite weichen würde. Es schien der jungen Frau jedoch nichts auszumachen, dass ich viel leichter händelbar war, als die übrigen Patienten und sie im Prinzip nichts zu tun hatte, als den ganzen Tag einer Frau hinterher zu laufen, die eigentlich vollkommen normal war.

Da hatten ihre werten Koleginnen durchaus mehr zu tun, da nicht alle Patienten auf diesem versoffenen Kahn nur drei Mal am Tag herum jammerten wie Lucinda. Nein, man hörte regelmäßig einen Mann in seiner Kabine schreien, weil er zu gefährlich war, als, dass man ihn zu den anderen Patienten, zu uns lassen konnte. Angeblich sollte er drei Frauen vergewaltigt und brutal und auf schrecklichste Weise ermordet haben. Aber vielleicht war es auch nur ein armer Schlucker, den sie umsonst eingesperrt hatten. Man konnte es ja nicht wissen.

»Sehen Sie, Beth! Wir sind da!«, rief Nanzi und deutete auf einige, im Nebel auftauchende, Silhouetten.

Mit großen Augen betrachtete ich den Horizont und ein auftauchendes, grelles Licht, das wohl von einem Leuchtturm stammen musste, der der Fähre in diesem Nebel, den Weg zeigte. Langsam tauchten zerklüftete Felsen und steile Felshänge auf, gefolgt von Nadelwald und Bergen. Dann tauchte ein winziger Hafen auf, der im Prinzip aus zwei kleinen Hütten bestand.

Es dauerte nicht lang, bis das Schiff angelegt hatte und wir zusammengetrieben wurden, wie die Hühner.

Dr. Xanders tauchte mit zwei anderen, älteren Männern und einer älteren Frau wieder auf und lächelte uns freundlich an. Dann wandte er sich an die Schwestern.

»Sobald wir die Fahrzeuge erreichen, möchte ich, dass Sie unsere Patienten gut anschnallen. Ihnen soll ja nichts geschehen! Und sobald wir auf dem Anwesen eingetroffen sind, werden die Patienten bitte sofort zur Untersuchung in unser Krankenhaus gebracht. Danach sollen Sie von Professor Wood in ihre Blöcke eingeteilt werden. Sie, meine Damen und Herren, werden ihre Schützlinge die ganze Zeit begleiten und unterstützen.«, teilte er den Schwestern und Pflegern mit.

Dabei spürte ich Nanzis Aufregung neben mir. Sie hüpfte und zappelte, wie eine Neunjährige zu Weihnachten.

Über die Treppe, die auf das Schiff führte kam ein gebeugter Mann. Er trug einen dunkelgrünen Regenmantel und hielt eine Öllampe in der Hand, die er immer wieder vor sich her schwenkte.

»Ah... Dr. Xanders, Olaf hat Sie bereits erwartet.«, begrüßte ihn der Mann.

»Olaf. Habt keine Angst vor ihm, das ist unser Hafenmeister, Olaf.«, erklärte Dr. Xanders und deutete auf den gebeugten Mann.

»Olaf sollte Sie schnell auf Land führen, Dr. Xanders. Ein Sturm naht, Olaf kann es riechen.«, murmelte Olaf leise vor sich her, machte kehrt und kletterte die Leiter wieder hinunter auf den Steg.

Ich runzelte die Stirn. Das fing ja prima an. Ein Hafenmeister, der von sich selbst in der dritten Person sprach, das sagte doch schon alles. Wenn ich bis jetzt nicht irre war, dann würde ich es hier alle Mal werden.

Dr. Xanders folgte mit den anderen Ärzten dem unheimlichen Hafenmeister hinunter zum Steg und verschwand mit ihnen im Nebel, während wir noch dabei waren, die wackelige Strickleiter hinunter zu klettern. Dabei ließ ich mir tunlichst nicht von den Pflegern helfen, die versuchten, meine Taille zu packen und mich herunter zu heben. Die sollten mich bloß nicht anfassen, sonst bekam ich tatsächlich noch eine Störung.

Als ich mit Nanzi auf dem Steg stand, war es eine wahre Erleichterung wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Tief sog ich die feuchte Luft in meine Lungen ein und blickte mich um, doch in der nahenden Abenddämmerung und dem dichten Nebel war nicht viel zu erkennen. Ich sah nur eine Ansammlung von Nadelbäumen, die hoch in den Himmel aufstiegen und dessen Spitzen man wegen dem dichten Nebel nicht sehen konnte.

Schließlich folgten wir der Reihe nach einer bulligen Oberschwester zum Waldrand, runter vom Steg, wo ein länglicher Wagen auf uns wartete. Einzeln wurden wir hinein gesetzt und angeschnallt, wobei ich genervt die Augen verdrehte, da ich mir wieder wie ein kleines Kind vorkam.

Hatten die nichts besseres zu tun?

Nanzi saß vorn bei einigen anderen Schwestern, sodass ich froh war, einmal halbwegs allein zu sein und nicht unter ständiger Beobachtung zu stehen. Während der Wagen ruckelnd los fuhr, wandte ich den Blick zu meinen Seiten und hob eine Augenbraue, als ich bemerkte, dass Lucinda direkt neben mir saß. Vollkommen ruhig diesmal, blickte sie geradeaus, uns gegenüber einen Jungen an, der nicht älter als sechzehn sein konnte.

Ich lehnte mich zurück und schloss einen Augenblick die Augen. Das alles war vollkommen surreal. Es war, als wäre ich in einem schrecklichen Traum gefangen und würde warten, daraus aufzuwachen. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich niemals daraus aufwachen würde.

Obwohl das Auto holpernd die unebene Straße entlang zur Heilanstalt fuhr und die Nadelbäume wie unheimliche Schatten an uns vorbei huschten, war ich auf einmal ganz ruhig. Meine Finger, die sich zuvor fest zusammen gekrampft hatten, waren ordentlich in meinem Schoß gefaltet und ich lehnte den Kopf gegen die Sitzlehne.

Ravenwood konnte niemals so schlimm sein, wie die geschlossene Abteilung in London, wo sie mich übergangsweise untergebracht hatten. Die Schreie der anderen Patienten zu hören, das Gemurmel und Geflüster auf den Gängen, es war grauenvoll gewesen. Und die hygienischen Zustände waren katastrophal. So war Ravenwood eine definitiv bessere Anlaufstelle, wie ich auf der Universität immer gehört hatte. Es sollte wohl sehr reinlich und sauber sein.

Ein Lichtstreifen am Horizont.

Heftig zuckte ich zusammen, als ein lautes Donnergrollen erklang.

»Habt keine Angst, das Wetter schwingt auf dieser Insel schnell mal um.«, kamen die Worte von der Fahrerkabine aus.

Es war ein junger Mann, dessen dunkelblondes Haar er ganz kurz geschoren hatte. Er trug eine dunkelgrüne Armeejacke und eine grüne Armeehose. Von meiner Position aus konnte ich sehen, dass er am Gürtel eine Halterung für eine Pistole trug und um den Hals die Kette mit seiner Marke trug. Was taten Männer des Militärs hier?

Mir wurde ganz mulmig im Bauch, als ich diesen Mann weiterhin von hinten anstarrte. Dann blickte ich durch eines der Fenster und strich mir eine meiner Haarsträhnen aus dem Gesicht. Es wurde immer finsterer und wir fuhren bereits mit Scheinwerfern.

Ich rieb mir über den Oberarm.

Mein Kopf wirbelte herum, als das Auto stehen blieb. Durch die Windschutzscheibe erblickte ich ein großes Eingangstor, das aus dunklen Gitterstäben bestand, die am Ende in spitzen speerartigen Fortsätzen mündeten. Im Schein der Scheinwerfer erkannte ich drei ältere Männer, die ebenfalls Armeekleidung trugen. Einer der Männer, ein unfreundlich wirkender Glatzkopf, umrundete das Auto und blieb an der geöffneten Fensterscheibe des Fahrers stehen.

»Acht neue Patienten, Sergant. Fünf Frauen und drei Männer. Dr. Xanders ist schon angekommen?«, fragte der Fahrer.

Der Glatzkopf blickte einmal grimmig über dessen Kopf hinweg in den Wagen. Als sein Blick über mich hinweg streifte, bekam ich eine unangenehme Gänsehaut im Nacken.

»Jawohl. Er bringt die Berichte vom Festland zu Professor Wood und lässt die Patienten eintragen. Kommen Sie, ich habe keine Lust, nass zu werden. Es sieht nämlich verdammt nach Regen aus!«, knurrte er und winkte das Fahrzeug durch.

Dieses setzte sich ruckelnd in Bewegung und fuhr durch das Tor, das sich langsam knarzend öffnete. Und, als ich durch das hintere Fenster blickte und sah, wie sich die Gitter des Tores wieder schlossen, ahnte ich irgendwie, dass ich Ravenwood niemals wieder lebend verlassen würde.

1. Kapitel

 

Meine Hände hatten sich selbst umfasst und kneteten in gleichmäßigem Abstand jeden meiner Finger. Ich spürte eine unangenehme Gänsehaut nach der anderen im Nacken und mir war so flau im Magen, dass ich das Gefühl hatte, jeden Augenblick meinen Mageninhalt der Öffentlichkeit Preis zu geben. Plötzlich fühlte sich auch das Schultertuch viel zu warm und zu schwer für meinen Körper an.

Der Nebel draußen war feucht und stickig auf einmal.

Ich fühlte mich alles andere als wohl, obwohl Ravenwood vom ersten Erscheinungsbild ganz und gar nicht, wie die grausame Heilanstalt für psychisch Instabile wirkte. Wir fuhren einen nassen Sandweg entlang, der direkt zu einem imposanten, aus dunkelroten Ziegelsteinen erbauten Gebäude führte, dessen schwarze Dachziegel in der Dämmerung und dem Aufsteigen des Mondes, glänzten. Zu beiden Seiten des Weges waren säuberlich angelegte Beete verteilt, die mit Büschen und langsam verblühenden Blumen bestückt waren. Auch die Bäume, die auf dem Gelände verteilt waren, sahen sehr gepflegt aus.

Aber ich ließ mich von dieser trügerischen Idylle nicht täuschen.

Das hier war noch immer eine Sicherheitsanstalt für vollkommen labile Menschen.

Ich war die Einzige, die hier nicht hingehörte.

Das Fahrzeug machte eine scharfe Rechtskurve und steuerte auf ein anderes Gebäude zu, das nicht weit vom ersten entfernt war. Dieses war ebenfalls in dem Stil des ersten gehalten, jedoch war es größer und länger insgesamt und davor befanden sich einige weiße Autos, die ein dickes rotes Kreuz irgendwo auf dem Lack abgebildet hatten. Das musste das Krankenhaus sein, von dem Dr. Xanders gesprochen hatte.

Der Gedanke daran, dass wir dort hinein gebracht würden und untersucht werden sollten, bereitete mir bereits jetzt Magenschmerzen. Meine Finger fühlten sich nun feucht und klebrig an, je mehr ich diesen Gedanken verinnerlichte. Denn es fühlte sich noch immer an, als wäre das der Traum und dort draußen war die Realität. Leider sah die Wirklichkeit genau anders herum aus. Ravenwood war meine Realität und die Welt außerhalb war der Traum, der nie wahr werden würde.

Das Auto blieb ruckelnd stehen, sodass ich für eine Sekunde den Atem anhielt und angespannt lauschte. Jedoch konnte ich nichts hören, da der Junge vor uns, den Lucinda die Fahrt über angestarrt hatte, als wäre sie der Falke und er eine Maus, anfing zu wimmern und sich vor und zurück zu wiegen.

»Beruhige diese Bande hirnverbrannter Idioten, ich schau', wo der Doktor und die Schwestern bleiben.«, knurrte der Fahrer zu dem blondhaarigen Soldaten, öffnete die Tür und trat hinaus.

Beinahe machte sich Genugtuung in mir breit, dass es genau in dem Augenblick anfing, wie verrückt zu Blitzen und zu Donnern und ich das harte Trommeln von Regen auf dem Autodach hörte. Dieser unfreundliche Typ wurde wenigstens ordentlich nass, so ohne Schirm.

Ich sah auf, als sich der Soldat umwandte und versuchte, beruhigend auf den Jungen einzureden, aber der schüttelte bloß den Kopf und stöhnte laut und schnaufend, während er sich den Kopf hielt. Vollkommen irre, keine Frage.

Im nächsten Moment wurden schon die Türen des Wagens geöffnet. Dr. Xanders stand mit den Schwestern um sich herum versammelt auf dem Sandweg, während ihm eine junge Frau, einen Schirm über das Haupt hielt, damit der kostbare Doktor bloß kein Wasser abbekam.

Ich warf ihm sofort einen finsteren Blick zu, den er entweder nicht bemerkte oder gekonnt ignorierte.

Die Schwestern halfen sofort, den Jungen aus dem Auto zu bekommen und ihn in das Gebäude zu bringen, während sich unsere zugeteilten Betreuerinnen um uns kümmerten. Wie immer, ignorierte ich Nanzi, die versuchte, beruhigend auf mich einzureden, als wäre ich von dem bisschen Donnern und Regen geistig so am Ende, wie meine Mitfahrer.

»Kommen Sie, Beth. Drinnen ist es warm und trocken.«, murmelte Nanzi, als sie mir eine Regenjacke um die Schultern legte und mich sanft, aber bestimmend aus dem Auto zog und mich zu der geöffneten Tür des Gebäudes vor mir führte.

Doch je näher ich dieser Tür kam, aus der unheimliches gelbes Licht auf den Weg leuchtete und sich in den Pfützen wiederspiegelte, desto unruhiger wurde ich innerlich. Aber ich konnte Nanzi beherzten Griff nicht entkommen. Und dann verschluckte mich das künstliche Licht des Krankenhauses.

Zuerst war es zu grell, um etwas zu sehen.

Ich sah nur Licht.

Nichts anderes.

Und für kurze Zeit glaubte ich sogar, ich sei tot. Es war einfach logisch. Dieses weiße Grellen in meinen Augen, die Tatsache, dass ich kurzzeitig nichts hörte und fühlte, außer Nanzis erstaunlich kräftigen Händen an meinen Schultern. Doch dann atmete ich tief den stechenden Geruch von medizinischem Alkohol in meine Lungen ein. Blinzelnd blickte ich mich um und erblickte einen langen grauen und spärlich beleuchteten Gang vor mir.

Lose hingen Glühbirnen von der Decke, um die nicht nur eine Motte flatternd herum tanzte und dabei nicht wusste, dass es sich bei den heißen Lichterzeugern nicht um die Sonne handelte. Sie waren so dumm, dass sie andernd von unseren Lichtern angezogen wurden. Es war alles nur Illusion.

Ich erinnerte mich an eine Situation, als sich eine Motte einmal Abends in unsere Küche verirrt hatte. Meine Mutter hatte Isekten noch nie gemocht und hatte sie innerhalb von wenigen Sekunden mit einem Notizbuch erschlagen.

Irgendwie fühlte ich mich im Moment wie diese Motte.

»Morgan!«

Nanzi blieb ruckartig stehen und wandte sich zur Tür hinter uns.

Die bullige Oberschwester, von der ich nicht bemerkt hatte, dass wir an ihr vorbei geschritten waren, stemmte die wurstigen Hände in die breiten Hüften und machte ein Gesicht wie meine längst verstorbene Bulldogge Hutscher. »Ihre Patientin in Raum 195! Wir sind überbesetzt, Sie werden mit ihr warten müssen. Dr. Xanders kümmert sich zuerst um die anderen Patienten. Außerdem ist diese neue Doktorin, Wales, noch nicht angekommen.«

»Aber bei dem Sturm, der aufzieht, wird doch keine Fähre mehr anlegen, oder?«, fragte Nanzi und machte ein erschrockenes Gesicht.

»Das ist mir scheißegal, ob die ankommt oder, ob das Meer sie verschluckt. Das einzige, was mich ärgert ist, dass ich nicht zeitig in mein Bett komme und wir wegen ihr Extraschichten schieben dürfen. Und jetzt bewegen Sie Ihr dürres Hinterteil zu Raum 195!«, blaffte die Oberschwester, auf deren Namensschild ich den Namen ›Filiz‹ stehen sah.

Nanzi nickte hastig und schob mich dann voran durch den schmalen Gang. Vor mir wurden die anderen Patienten in unterschiedliche Räume gebracht und die eintönigen, grauen Türen wurden geschlossen. Mit leichter Nervosität bemerkte ich, dass es sich hierbei um Panzertüren handelte. Man hörte nicht das geringste, was dort drinnen geschah und man würde sie nicht so leicht aufbekommen.

Meine Betreuerin und ich liefen in langsamen Schritten den Gang entlang und so sah ich zu, wie immer mehr Patienten in verschiedene Räume gebracht wurden. Ich sah Lucinda hinterher, die vor mir in einen hellen Raum geschoben und auf einen Stuhl gesetzt wurde. Bevor sich die Tür schloss, sah ich noch, wie ein Betreuer mit einem Set Spritzen auf sie zu ging.

In mir sträubte sich alles, einfach weiterzugehen, da ich Lucinda, obwohl sie durchgeknallt war, gerne hatte. Vielleicht war es die Tatsache, dass sie nicht sehr viel jünger war, als ich.

Aber Nanzi drängte mich erbarmungslos weiter, um eine Ecke herum und zu einigen Treppen, die mit einem dünnen, rostigem Geländer versehen waren. Wir stiegen die graue Betontreppe herauf und nun bemerkte ich, dass dieser Teil des ›Krankenhauses‹ einem anderen Kaliber entsprach, als die eintönigen grauen Wände im unteren Stockwerk. Nein, hier im Treppenhaus zierten undefinierbare Flecken und Spritzer die grauen Betonwände. Ab und zu blitzte eine Ziegelsteinecke hervor, da das Beton von der Wand abgeplatzt war.

Als wir auf dem oberen Treppenabsatz ankamen, wurde mir speiübel. Auf dem kleinen Platou, das noch an die Treppe angrenzte, bevor man durch die nächste geöffnete Panzertür in einen weiteren kahlen Gang kam, standen alte rollbare Krankenbetten. Auf den zerfetzten Laken befanden sich getrocknetes Blut - in Unmengen.

Ich wurde blass und blieb für einen Moment stehen und starrte diese Szenerie an.

Nanzis Hand in meinem Rücken bewegte mich dazu, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Was hatte ich vor wenigen Minuten im Fahrzeug noch gedacht? Ravenwood konnte nicht so schlimm sein? Hier war es reinlich?

Ich sehnte mich bereits jetzt nach meiner winzigen Einzelzelle, die ich auf dem Festland provisorisch bezogen hatte. Und ich ahnte nichts Gutes, als ich in den nächsten Gang geschoben wurde.

Nebenbei und, ohne es wirklich zu registrieren, fragte ich mich, wie Nanzi das alles so mitmachen konnte. Die Oberschwester wäre mir da genau die richtige Person. Sie war unfreundlich und kalt wie ein Fisch. Aber Nanzi wirkte doch eher wie eine spontane, freundliche junge Frau. Wie konnte sie nur in solch einer Abteilung wie Psychologie landen?

Ich hätte sie mir eher als Süßwarenverkäuferin vorgestellt, die einem kleinen Kind noch einen Extra-Bonbon einpackte, wenn es jemanden nur niedlich genug anschaute.

Dieser Gang war noch unheimlicher, als der untere. Hier hingen weitaus weniger Glühbirnen von der Decke, sodass der Gang so gut, wie gar nicht beleuchtet war. Mich ergriff eine Gänsehaut nach der anderen, wenn ich eine dicke Kellerspinne an der Wand kleben sah, die sicher so groß wie meine Hand war. Die Türen hier waren mit gerade gedruckten Nummern versehen, jedoch beunruhigte mich nicht diese akkurate Schrift, sondern, dass an einer Tür die Zahlen zerkratzt waren, als hätte ein Raubtier versucht, in den Raum dahinter zu gelangen.

Was noch schlimmer war, war, dass Nanzi stehen blieb und die Klinke herunter drückte.

Panisch sah ich zur nächsten Tür. Nummer 196.

Die zerkratzte Tür war ausgerechnet der Raum, in den ich gebracht werden sollte?

Das flaue Gefühl in meinem Bauch nahm Überhand. Ich konnte mich kaum noch beherrschen, still stehen zu bleiben. Angst und... noch mehr Angst mischten sich zu einer explosiven Mischung, weshalb meine Finger fürchterlich zitterten, als Nanzi mich in den Raum hineinzog und die Tür knarzend ins Schloss fiel.

Überrascht blickte ich mich um.

In meiner Fantasie hatte sich bereits ein unheimliches Bild gebildet, wie es hier drinnen aussehen könnte. Dummerweise hatte ich dabei an Rasierklingen, Fleischermesser und tonnenweise Blut gedacht. Jedoch war der Raum wie ein gewöhnliches Behandlungszimmer beim Arzt eingerichtet. Die Wände waren grau, wie der Gang im unteren Stockwerk, die Schränkte und Theken waren so weiß, wie man es bei jahrelangem Gebrauch erwarten konnte. Es gab keine einzige Spur von Blut oder etwas ähnlichem.

Auf den Arbeitsflächen standen Dosen mit Tüchern, kleine Behälter und Unmengen von Papieren. Ging es auf diesen Schriftstücken etwa um mich? Wenn ja, dann war ich geplättet, wie viel diese Leute bereits aufschreiben konnten, obwohl ich nicht das Geringste getan hatte. Wie dick die Akte eines Patienten war, der schon zehn Jahre hier war, wollte ich gar nicht wissen.

»Setzen Sie sich, Beth.«, wies mich Nanzi an und lächelte freundlich, während sie auf einen schwarzen gepolsterten Stuhl zeigte, der in der Mitte an der Wand stand. Darüber klebte ein medizinisches Poster, worauf das menschliche Gehirn abgebildet war. Leider konnte ich die Schrift nicht lesen, da sie nicht auf Englisch geschrieben war. Seltsam.

»Miss Craine«, verbesserte ich sie gereizt, während ich mich in dem Behandlungsraum umsah. Außer der fremden Sprache auf den Postern schien in diesem Raum nichts ungewöhnlich zu sein - und genau das bereitete mir Sorgen.

Meine Sinne waren geschärft und Adrenalin pumpte sich mit jedem Herzschlag durch meine Adern. Sofort, als mein Hinterteil das Polster des Stuhls berührte, fragte ich mich, um was für eine Untersuchung es sich handelte. Zumahl Dr. Xanders wusste, dass ich psychisch vollkommen gesund war.

Was für eine Untersuchung hatte dieser Mann für mich geplant?

Ich wusste es nicht und wollte es eigentlich auch gar nicht wissen, aber die Situation erzwang es, dass ich mich damit auseinandersetzte.

Deshalb beobachtete ich meine vermeindlich freundliche Betreuerin auch ganz genau, als sie anfing, diverse Schränke zu öffnen und Dinge auf ein bereitgestelltes, weißes Tablett zu legen, die ich nicht sehen konnte, da sie den Blick mit ihrem gesamten Körper versperrte.

Frustriert biss ich mir auf die Unterlippe und umfasste mit meinen zitternden Händen die Armstützen des Stuhls. In meinem Nacken prickelte es vor Unbehagen und meine Handflächen begannen zu schwitzen, weshalb ich sie nervös an meinem Rock abwischte.

Schon drei Tage lang trug ich diesen karierten Rock, der mir bis zu den Fußknöcheln reichte und die einfache Bluse ohne Kragen, die sich für eine ordentliche Dame nicht schickte, aber das war diesen Leuten wohl egal. Zudem wohl auch noch, dass ich wahrscheinlich roch, wie ein Wildschwein, sie hatten es nicht für nötig gehalten, mir ein Bad zu gewähren.

Plötzlich öffnete sich die Tür und ich hielt den Atem an, als Dr. Xanders mit einem weiteren Mann eintrat, der eine weiße Hose und ein weißes, weites Hemd trug, auf dem sich am Saum zwei rote Spritzer befanden. Mein Herz pochte sofort in meiner Brust.

»Dr. Xanders, ich dachte, Sie nehmen sich erst der anderen Patienten an.«, sagte Nanzi überrascht und hielt eine ungeheuer große Spritze hoch, dessen Nadel wohl eher für einen Elefanten bestimmt war, als für mich.

Der Doktor nickte dem anderen Mann zu, der um meine Betreuerin herum ging und ihr die Spritze und das kleine Tablett abnahm. Dann lächelte Dr. Xanders beinahe freundlich, was mir eine eiskalte Gänsehaut bescherte.

»Da Beth die einzige Patientin ist, die ich Dr. Wales anvertraut habe, aber anscheinend noch niemand da ist, wollte ich sie nicht warten lassen. Würden Sie den Raum nun bitte verlassen, wir wollen doch unsere Diskretion bewahren.«, sagte er ruhig, aber mit einem warnenden Unterton in der Stimme.

Aber Nanzi war wohl zu blauäugig, um ihn wahrzunehmen, nickte und huschte aus dem Raum.

Im gleichen Moment, wie die Tür ins Schloss fiel, sprang ich auf und brachte eine Menge Abstand zwischen mich und diesem Doktor.

»Aber, aber, Beth. Bleiben Sie ruhig sitzen. Sie haben eine lange Reise hinter sich, da sind Sie sicher erschöpft.«, lächelte Dr. Xanders und deutete auf den Stuhl.

Ich verengte die Augen zu Schlitzen und ließ diesen zwielichtigen Betreuer nicht aus den Augen. »Ich fühle mich hervorragend, danke der Nachfrage.«

Der Doktor nickte zum Stuhl hin.

»Vielen Dank, ich stehe lieber.«, lächelte ich und zog das eine Ende des Schultertuchs enger um mich.

»Wie Sie wollen, Beth. Ich zwinge Sie zu nichts.«, erklärte der Doktor, wobei es mich wahnsinnig machte, dass er mich bei meinem Spitznamen nannte. »Sie erlauben, dass ich mich setze? Meine Knie, das ist das Alter.«

»Natürlich«, sagte ich kühl.

Ich beobachtete den Doktor ganz genau, als er sich einen hölzernen Hocker heran zog und sich ächzend darauf sinken ließ. Dann ergriff er das Klemmbrett, das ihm der Betreuer hinhielt und dann wieder anfing, die Ablage abzuwischen. Als ob die davon weißer wurde.

»Zu Anfang, Beth«, murmelte Dr. Xanders und hob das erste Blatt an, um die nächste Seite zu überfliegen. »muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen. Persönliche Fragen und ich möchte Sie bitten, diese alle korrekt zu beantworten.«

Ich runzelte die Stirn. »Das kommt auf die Fragen an.«

Er hob den Kopf und fing an, künstlich zu lächeln. »Natürlich... wie gesagt, ich zwinge Sie zu nichts.«

Wer's glaubt.

»Also, Ihr Name ist Elisabeth Maria Craine... sie lebten in London und studierten Medizin. Korrekt?«

»Korrekt.«, antwortete ich und warf dem Betreuer einen misstrauischen Blick zu.

Die Tatsache, dass ich alleine mit diesen beiden Männern war und meine weibliche Betreuerin weg war, beruhigten mich nicht wirklich.

»Gut... Wie war der Name Ihrer Eltern?«, fragte er.

Seltsame Frage. »Elonore Craine und William Craine.«

»Verstehe. Und Sie tragen noch immer Ihren Mädchennamen, also sind Sie nicht verheiratet?«

Ich schluckte. »Nein.«

»Verlobt?«

Auf meiner Stirn bildete sich eine steile Falte. »Nein, aber ich wüsste auch nicht, was Sie das anginge.«

»Ich brauche das für ihre Akte, Beth. Nun gut, weiter im Text: Sind Sie in ihrer Jugend irgendwelchen Süchten zum Opfer gefallen?«

Meine Finger krallten sich in meine Oberarme, während ich ihn anstarrte. »Süchten? Was denn für Süchte?«

»Alkohol, Zigaretten... Tabletten? Es gibt eine große Bandbreite von Drogen, die einem den Alltag erleichtern, sie alle aufzuzählen würde Stun-«

»Keine Drogen, keine Süchte.«, unterbrach ich ihn forsch und funkelte ihn an. »Der Stapel Papiere in Ihren Händen, besteht der nur aus solch lächerlichen Fragen? Wenn ja, dann können wir das genauso gut abkürzen.«

Wieder lächelte er, als hätte er es mit einem begriffsstutzigen Kind zutun. »Ich muss diese Fragen stellen, Beth. Nur so können wir mehr über ihre Störung herausfinden und vielleicht herausbekommen, wo sie ihren Anfang gefunden hat.«

Mein Atem verschnellerte sich und in mir begann es zu brodeln. Meine Störung. Wieder dieses Wort, als wäre ich eine Maschine, die nicht richtig funktionierte. Ich hatte keine Störung. Ich war nur auf das Übelste verraten und benutzt worden. Das war so ziemlich alles an Störung in meinem Leben.

Kurz atmete ich tief durch und lächelte freundlich zurück. »Dann sollten Sie rasch weitermachen, bevor ich das Interesse verliere, Ihre Fragen zu beantworten und meine Akte zu füllen.«

Dr. Xanders fuhr unbeirrt fort und stellte die lächerlichsten Fragen, die man sich vorstellen konnte. Ob ich Haustiere gehabt hatte, wie unser Haus aussah damals in London und allgemein, wie ich gelebt hatte. Die Stunden mussten verstreichen, so fühlte es sich zumindest an. Ich spürte, wie müde und erschöpft ich war, je mehr er mich mit Fragen löcherte.

Bis ich hellwach und alarmiert den Kopf hob und den Doktor anstarrte.

Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie der Pfleger den Kopf drehte und mich unauffällig anblickte.

»Wie bitte?«, krächzte ich kaum hörbar, so entsetzt war ich.

»Hatten Sie schon einmal Geschlechtsverkehr?«, wiederholte Dr. Xanders ungerührt seine Frage.

Mein Herz pochte mir bis zum Hals. »Glauben Sie tatsächlich, dass ich Ihnen diese Frage beantworte?«

»Ich weiß, dass Sie mir diese Frage beantworten werden, Beth.«, erwiderte Dr. Xanders und blickte mich unheilvoll an.

Ich trat einen Schritt zurück und stieß gegen eine metallerne Halterung für eine Invusion. »Was soll das heißen?«

»Ganz einfach. Diese Frage muss in dem Abschnitt ihrer Akte unter Gesundheit beantwortet sein. Das bedeutet, Sie sagen uns entweder, ob Sie schon einmal mit einem Mann intim geworden sind, oder ich untersuche Ihren Körper eigenhändig und mache mir selbst ein Bild.«

Meine Kehle wurde staubtrocken. »Sie sagten, Sie würden mich zu nichts zwingen.«, flüsterte ich und schämte mich dafür, wie dünn meine Stimme klang.

Das war zugegeben das, wovor ich eine heiden Angst gehabt hatte. Dass man mich auch körperlich untersuchen würde, an Stellen, wo ich nicht unbedingt von fremden Leuten angesehen werden wollte. Mein Körper war mir doch schon auf gewisse Art und Weise heilig und niemand sollte ihn sich ansehen.

»Ich weiß, was ich gesagt habe, aber das muss nun einmal sein. Jeder Patient in Ravenwood unterzieht sich dieser Befragung und es ist noch keiner daran gestorben, eine Frage wie diese zu beantworten. Also, haben Sie schon einmal in Ihrem Leben mit einem Mann geschlafen?«

Wut und Angst bildeten einen gewaltigen Knoten in meinem Bauch. »Nein.«

»Mit einer Frau?«

Ich lief rot an. »Was? Nein, um Gottes willen!«

»Keine intimen Aktivitäten...«, murmelte Dr. Xanders, während er meine Antwort auf eine dafür vorgesehene Linie schrieb.

Meine eigenen Arme umschlangen meinen Körper und mit den Fingern rieb ich mir über die Oberarme, da mir plötzlich kalt war. Das unangenehme Kribbeln in meinem Nacken, das mich schon früher immer vor Dingen gewarnt hatte, wollte partou nicht aufhören. Vor allem nicht, da mich dieser Pfleger mehr als seltsam betrachtete. Ich konnte nur erahnen, was er dachte.

Die letzten Fragen waren genauso unspektakulär, wie die ersten. Er fragte nach Allergien, besonderen krankheitsbedingten Vorkommnissen in meiner Kindheit und noch einiges mehr.

Meine Finger hatten sich nach wie vor in mein Schultertuch gegraben und hinter mir spürte ich den Ständer, an dem nagelneue Infusionsbeutel hingen.

»Gut. Dann hätten wir das. Nun müssen wir Ihnen Blut abnehmen, Beth.«, sagte Dr. Xanders und erhob sich von dem Hocker.

Dann deutete er auf den Stuhl.

Zwar versuchte ich meine Angst so gut es ging zu verbergen, aber ich schaffte es einfach nicht, das Zittern meines Kinns zu unterdrücken. Meine Finger krallten sich noch enger in das Schultertuch und ich starrte den Stuhl entgeistert an.

Waren die Handfesseln an den Armlehnen schon vorher da gewesen?

Ich blinzelte und schüttelte entgeistert den Kopf. »Ich werde mich sicherlich nicht dort hinsetzen!«, knurrte ich.

»Ich befürchtete, dass Sie das sagen.«, murmelte Dr. Xanders mit einem Seufzen und gab dem Pfleger ein kurzes Zeichen.

Dieser schoss auf mich zu und packte eisern meine Arme. Ein wütendes Heulen entrang sich meiner Kehle, während ich mich im Griff dieses Mannes wandt, wie ein Aal. Doch ich musste schmerzlich einsehen, dass er um einiges stärker war als ich. Er setzte mich auf den Stuhl, als wäre ich ein bockiges Kind, das eine Standpauke seiner Eltern gegenüberzutreten hatte.

Finster wie die Nacht starrte ich den bulligen Pfleger an, als mir dieser die ledernen Manschetten um die Handgelenke zog und das so fest, dass sich die Ränder in mein Fleisch schnitten. Ich quiekte auf, wie eine Quietscheente.

Schließlich trat der Pfleger zurück.

»Verstehen Sie doch, meine Liebe, wir wollen Ihnen nichts böses. Wir sind nicht der Feind. Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«, säuselte Dr. Xanders.

Mein tödlicher Blick traf ihn als nächstes. »Ich brauche keine Hilfe und erst recht keine von Ihnen!«

Der Doktor schnalzte einmal missbilligend mit der Zunge und schüttelte den Kopf. »Sie werden sich an Ravenwood gewöhnen müssen, mein Kind. Und an die Menschen hier, die Ihnen helfen wollen. Nun gut, Garvis? Nimm ihr Blut ab.«

Ich schrie auf vor Zorn.

Das war nicht sein Ernst!

Er konnte mir doch nicht gegen meinen Willen Blut abnehmen, oder?!

Egal, was die Antwort darauf war, ich würde es nicht zulassen. Nicht, ohne zu kämpfen.

Als der Pfleger, Garvis, mit einem Tablett näher trat, auf dem sich eine Handvoll Spritzen mit spitzen Kanülen drauf befanden, begann ich zu zappeln wie ein Schwein, das zur Schlachtbank geführt wurde. Der Stuhl jedoch bewegte sich keinen Millimeter vom Fleck, sodass ich ahnte, dass er am Boden verankert war, damit die Patienten nicht verrutschen konnten, sobald ihnen eine der spitzen Nadeln in die Adern geschoben wurden.

Meine Finger wurden klamm und ich spürte sie gar nicht mehr, als ich mich so gegen die Lederriemen stemmte. Kalter Schweiß brach auf meiner Stirn aus und mein Blick huschte getrieben von Furcht durch den Raum. Ich fühlte mich wie das Wild, das am feuerbereiten Ende eines Gewehres stand, kurz bevor die Augen brachen.

Wimmernd schüttelte ich den Kopf und warf Dr. Xanders einen flehenden Blick zu, den er mit einem kühlen Lächeln erwiderte.

Von diesem Mann konnte ich keinerlei Gnade erwarten.

Ausgerechnet in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, ohne, dass ich zuvor ein Klopfen gehört hatte. Mit schlammigen Schuhen betrat eine hoch gewachsene Gestalt den Behandlungsraum und stockte. Der Körper der Person war in einen dunklen Regenmantel gehüllt, an dem das Wasser noch immer abperlte und zu Boden tropfte.

Mir tat die arme Person leid, die hier jeden Tag sauber machen musste.

Blinzelnd blickte ich auf und war in diesem Moment so unendlich froh, dass diese Person das Behandlungszimmer betreten hatte und die beiden anderen ablenkte.

Garvis erhob sich aus seiner kauernden Position vor mir und hielt verdutzt das Tablett in seinen Händen.

»Entschuldigen Sie bitte?! Wer sind Sie?«, fragte Dr. Xanders aufgebracht.

Die Person zog sich die Kapuze in einer einzigen fließenden Bewegung vom Kopf und blinzelte in das trübe Licht des Behandlungszimmers.

Zu meiner Verwunderung stand ein überaus junger Mann in der Tür zu meinem Behandlungsraum. Er war vielleicht gerade Anfang dreißig, besaß eine helle Haut, auf der sich das Wasser in feinen Tropfen gesammelt hatte. Das feuchte Haar klebte ihm dunkel an der Stirn, jedoch ließ die Farbe erahnen, dass es ein helles Rehbraun oder Dunkelblond sein musste. Sein kantiges, eher streng wirkendes Gesicht wurde von einem gepflegten Dreitagebart geschmückt.

»Ich bin Dr. Wales, falls es Sie so brennend interessiert, Kollege.«, antwortete der Mann mit dunkler, grollender Stimme, ehe er mit einem finsteren Blick auf mich deutete. »Darf ich Sie fragen, was Sie da gerade mit meiner Patientin veranstalten?!«

Seine beinahe wütende, laute Stimme ließ mich zusammenfahren.

Das war Dr. Wales? Hatte die Oberschwester nicht etwas von einer Doktorin erzählt? Merkwürdig. Anscheinend wussten die Mitarbeiter nicht einmal genau, wer hier alles eingestellt wurde.

Dr. Xanders wurde blass. »S-sie sind Dr. Wales? A-aber... man sagte uns, es sei eine Doktorin

Spott blitzte in den Augen des Mannes auf, der seinen nassen Arztkoffer auf einem kleinen weißen Tisch abstellte. »Verzeihung, aber das wüsste ich.«, entgegnete er und blickte bedeutungsvoll an sich herunter. »Und jetzt erklären Sie mir mal, was Sie da gerade mit meiner Patientin tun. Professor Wood hat mir das Mädchen anvertraut und zwar nur mir. Ich denke nicht, dass er sehr belustigt sein wird, zu erfahren, dass Sie meine Patientin halb zu Tode erschrecken.«

Der andere Doktor umklammerte das Klemmbrett mit meinen Daten noch fester, als zuvor. »I-ich... wir haben sie nicht zu Tode erschreckt!«, beschwerte er sich lautstark.

Dr. Wales blickte ihn finster an. »Und warum hörte ich ihre Schreie bis die Treppe hinunter?!«

Sein Brüllen ließ mich abermals zusammenfahren.

»Und das Tuch dort hat sie sich wohl selbst von den Schultern geworfen und ist freiwillig auf den Stuhl gehoppst, oder was?«, knurrte Wales weiter und erhob mahnend einen Finger. »Ich kenne Ihre Art von Behandlung zur Genüge, Doktor. Verrückte zu Dingen zwingen, die sie nicht wollen und behaupten, sie hätten es sich eingebildet, weil sie ohnehin gestört sind und ihnen niemand glaubt, ist keine Option für mich. Ich bin vielleicht ein junger Bursche in Ihren Augen, da ich nicht über die Erfahrung verfüge, die Sie besitzen. Aber unterschätzen Sie mich nicht. Ich habe jahrelang mit Menschen zusammen gearbeitet, die im berühmt berüchtigten Alcatraz gesessen haben. Ich habe dort drei Jahre lang als Psychologe der Häftlinge gearbeitet... und einen Patienten zu fesseln, damit er ruhig bleibt, ist menschenunwürdig.«

Auf diese Standpauke fiel dem Doktor nichts mehr ein. Zum ersten Mal sah ich Dr. Xanders sprachlos vor einem weitaus jüngeren Menschen stehen.

Beschämt blickte er zu Boden, dann wanderte sein finsterer Blick zu mir und Garvis.

»Leg' die Sachen beiseite. Dann wird ihr eben ein andermal Blut abgenommen.«, murmelte er.

Wales beobachtete mit zusammen gekniffenen Augen, wie der Pfleger das Tablett auf eine Ablage stellte und sich endlich von mir entfernte.

»Ich will nicht, dass Sie meiner Patientin noch einmal zu nahe kommen. Und Dinge, die für ihre weitere Behandlung von Nöten sind, entscheide ich und nicht Sie. Schließlich wurde sie mir anvertraut.«, sagte Dr. Wales mit bestimmender Klarheit und deutete auf die Tür. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie die Tür von außen schließen und mich mit Miss Craine alleine lassen.«

Als Dr. Xanders zu einem Widerwort ansetzen wollte, schnitt ihm Wales mit einem letzten bösen Blick das Wort im Halse ab und nickte zur Tür hinüber.

Geschlagen schlich Xanders mit Garvis an seinen Fersen aus der Tür... aber nicht, ohne mir noch einen letzten tödlichen Blick zuzuwerfen.

2. Kapitel

 

Wie benommen starrte ich den Doktor an, als er seinen Regenmantel ablegte und über den Hocker warf, auf dem zuvor Dr. Xanders gesessen hatte. Er krempelte die Ärmel seines schneeweißen Hemdes hoch und lockerte seine gestreifte Kravatte, ehe er sich mir zuwandte und auf mich zukam.

Mit einem unwilligen Wimmern fuhr ich zurück und starrte ihn mit schreckensgeweiteten Augen an. Dieser Kerl glaubte doch nicht ernsthaft, dass ich ihm vertraute, nur, weil er gerade diesen irren Dr. Xanders rausgeschmissen hatte. Und seine Worte beruhigten mich nicht im Mindesten.

Ich hatte von Alcatraz gehört, wie beinahe jeder in medizinischen Kreisen. Viele Psychologen sahen es als faszinierend, dass dort die größten Schwerverbrecher der Welt hingelangten. Jene Verbrecher, die die übelsten und abstoßensten Taten vollbracht hatten, die man sich nur vorstellen konnte. Jeder Psychologiestudent träumte doch davon, einmal dort hin zu gehen und diese Männer zu studieren, als seien von einer besonders seltenen Vogelart.

Dr. Wales schüttelte nur den Kopf und kniete sich mit erhobenen Händen vor mir auf den Boden.

Entgeistert starrte ich ihn an und vergaß für einen Augenblick meinen Protest.

Was zum Henker tat er da?

»Sie müssen keine Angst vor mir haben, Miss Craine.«, versicherte er mir mit erhobenen Händen. »Ich werde Ihnen nichts tun und Sie zu nichts zwingen. Dazu bin ich auch nicht berechtigt. Dieser Dr. Xanders wird Ihnen nichts mehr tun können und Ihnen nicht zu nahe kommen... ja?«

Mit schwerem Atem blickte ich in seine Augen, die grün wie Smaragde blitzten. Es war seltsam, aber ich glaubte ihm aufs Wort. Jedenfalls für den Moment.

Langsam nickte ich und zuckte zusammen, als er meine Handgelenke sanft von den Fesseln befreite. Seine warmen Fingerkuppen strichen dabei über die Innenseite meines Handgelenks, sodass sich augenblicklich mein Puls verschnellerte.

Auf diese Reaktion meines Körpers, breitete sich ein kleines Grinsen auf seinen Lippen aus, das ein tiefes Grübchen in seine linke Wange zauberte.

»Mache ich Sie nervös?«

Augenblicklich zog ich meine Hand fort und versuchte meinen schnellen Atem zu beruhigen. »Ja. Auf unangenehme Art und Weise.«, zischte ich wie eine Natter.

Er fuhr zurück und hob eine Augenbraue. »Wow. Eigentlich habe ich sonst eine andere Wirkung auf Frauen.«, bemerkte er und stand auf, als er auch die andere Handfessel gelöst hatte.

Ich blickte ihn streng von der Seite her an. »Weiß dieser Professor Wood, was Sie für Bemerkungen gegenüber Patienten machen?«

Überrascht blickte mich Dr. Wales über die Schulter hinweg an. Er hatte sich zu dem Tresen begeben und las sich die Antworten durch, die ich Dr. Xanders vor wenigen Augenblicken noch gegeben hatte. Plötzlich war es mir mehr als unangenehm, dass dort stand, dass ich noch Jungfrau war. Noch unangenehmer, als zuvor.

»Weiß er nicht«, gestand er. »Aber wir beide wissen auch, dass Sie in Wirklichkeit keine Patientin sind.«

Blinzelnd schaute ich ihn an und mir wurde plötzlich kalt. »Was? A-aber...«

Wales wandte sich zu mir herum und verschränkte die Arme vor der breiten Brust. »Professor Wood und ich haben uns eigehend beraten, nachdem wir erfahren haben, weshalb Sie hierher gebracht werden.«

Ich fuhr hoch und blickte ihn beinahe freudestrahlend an. »Dann kann ich also nach Hause? Das ist ja wunderbar! Das ist-«

»Sie können nicht nach Hause.«, unterbrach er mich forsch.

Erschrocken wandte ich mich ihm zu. »Wie bitte?«

Scheinbar desinteressiert zuckte er mit den Schultern. »Sie haben mich schon richtig verstanden, Miss Craine.«. erwiderte er und schlenderte durch den beengten Raum. »Es ist zwar sehr... tragisch, dass wir solch eine Entscheidung treffen mussten, aber es ist zum Besten aller Beteiligten. Dass Ihr Stiefvater und Ihr Stiefbruder damit vor Gericht durchkamen, Ihnen eine Geisteskrankheit anzuhängen, hätte nicht passieren dürfen. Dr. Xanders ist dabei ziemlich über seine Berechtigung als Psychologe hinaus gegangen. Aber das können wir nun nicht mehr ändern.«

»Was?! Natürlich können wir das ändern! Sie sagen einfach, dass das ganze ein Versehen war und ich kann heim!«

»Ach wirklich? Können wir das?«, fuhr er mich verärgert an. »Wie würde Ravenwood, eines der sichersten geschlossenen Anstalten des gesamten Jahrhunderts dastehen?«

Fassungslos stand ich da. Mir wurde plötzlich kalt, denn, obwohl ich ihm dankbar war, dass er Dr. Xanders in seine Schranken gewiesen hatte, konnte ich nicht glauben, dass ihm der Ruf dieser Anstalt wichtiger war, als meine Freiheit.

»Es ist mir ganz gleich, wie dieses furchtbare Gemäuer dasteht!«, fauchte ich. »Das, was Sie hier tun, ist Freiheitsberaubung.«

»Das interessiert hier niemanden.«, erwiderte er kühl. »Ravenwood würde imens an Ansehen verlieren, würde Ihr Fall öffentlich werden. Und deshalb werden Sie hier bleiben. In Ravenwood.«

»Das können Sie nicht machen.«, hauchte ich, kaum verstehend, was das bedeutete. Sie würden mich hier behalten, so tun, als wäre ich eine Patientin und mich zwischen diesen Menschen leben lassen, nur, damit ihr Ruf keinen Schaden nahm. Das konnte doch alles nur ein Alptraum sein.

»Da wir das jetzt geklärt haben, darf ich Sie bitten, sich auf den Stuhl zu setzen, damit ich Ihnen Blut abnehmen kann?«

Ich verstand ihn beinahe nur wie durch Watte. Eine Kälte hatte sich in meinem Körper eingenistet, ließ mich zittern. Mein voheriges Leben war nun endgültig vorbei, genau wie meine Freiheit. Ich war eine Gefangene auf dieser Insel und konnte nicht fliehen. Jeder hier würde wissen, dass ich keine Verrückte war und sehr wohl bei klarem Verstand. Sie würden noch mehr auf mich Acht geben, als auf einen normalen Patienten, sodass ich keine Chance hatte, zu entkommen.

Als Dr. Wales einen Schritt auf mich zutrat, zuckte ich zurück und hob warnend die Hände. »Kommen Sie mir bloß nicht zu nahe.«, sagte ich kalt und strafte ihn mit einem frostigen Blick. Niemand würde mich brechen können, das versprach ich mir in diesem Moment ganz fest. Keiner der Doktoren oder Pfleger würde mich jemals klein kriegen und mich dazu bekommen, dass ich aufhören würde zu kämpfen. Ich würde frei kommen. Vielmehr als mein Leben hatte ich ohnehin nicht mehr zu verlieren.

»Miss Craine, sein Sie vernünftig. Ich werde Ihnen nichts tun, das verspreche ich Ihnen. Mehr noch, können Sie mit allen Problemen zu mir kommen.«

Kaum hörbar schnaubte ich, denn ich glaubte ihm kein einziges Wort. Dieser Mann war nur einer von diesen Männern, die mich hier einsperrten und es auch noch gut fanden.

Dennoch wandte ich mich um, da ich einsah, dass er keine Ruhe geben würde, bis er mir Blut abgenommen hatte. Wenn jetzt nicht, würde er mich ein anderes Mal dazu bringen, sodass ich mit einem kühlen, beherrschten Blick zurück auf den Stuhl setzte, meinen Arm aus der Strickjacke befreite und die verwundbare Stelle in meiner Ellenbogenbeuge freigab.

Zufrieden nickte Dr. Wales, auch, wenn sein Gesichtsausdruck unwillig aussah. Er wandte sich zum Tresen, nahm die Utensilien, die Jawis zuvor dorthin gelegt hatte und kam auf mich zu. Er tränkte einen kleinen Mulltupfer mit Alkohol und wischte über meine Haut. Seine freie Hand umfasste beinahe sanft meinen Unterarm, sein Daumen lag auf der Hauptschlagader meines Armes, schien meinen Puls zu befühlen. Dieser war erstaunlich ruhig.

»Ich wollte nicht, dass es so zwischen Ihnen und mir aussieht. Ich hatte, ehrlich gesagt, gehofft, dass sie unsere Beweggründe verstehen würden.«, sagte er ruhig, legte den Tupfer beiseite und legte seinen Daumen in meine Armbeuge. »Bitte bilden Sie eine Faust.«

Ich gehorchte ihm, denn das fiel mir in Anbetracht der Situation nicht schwer. »Und ich hätte erwartet, dass Sie meine Reaktion nachvollziehen können.«

»Das kann ich.« Er nahm eine Spritze und führte sie unter meine Haut.

Ich zuckte nicht zusammen, noch zeigte ich irgendeine Emotion in diesem Moment. Ich wollte ihm einfach nicht zeigen, welche Angst ich verspürte. In nur wenigen Momenten war mir jegliche Hoffnung geraubt worden, jemals wieder frei zu sein. Niemandem würde ich die Genugtuung geben, zu zeigen, welche Angst ich hatte. Niemals.

Erst, als er einen weiteren Tupfer auf den kleinen, blutenden Punkt drückte, bemerkte ich, dass er fertig war. Genau in diesem Augenblick, öffnete sich die Tür und Nanzi kam hinein.

Bevor sie mich hinaus führen konnte, warf ich Dr. Wales noch einen Blick zu. »Glauben Sie nicht, dass ich aufhören werde, zu kämpfen.«

Er runzelte die Stirn, ehe er Nanzi zunickte, die mich am Arm griff und hinaus führte. Wieder kamen wir den Gang entlang, der beinahe noch düsterer wirkte, als beim Hinweg. Das war also mein neues Leben. Hier in Ravenwood.

Nanzi schob mich weiter den Gang entlang, bis zum Ausgang. Vor der Tür war es nun ruhig. Wir entfernten uns vom Krankenhaus, gingen den beleuchteten Sandweg entlang auf das Hauptgebäude zu. Nanzi und ich betraten nur wenig später einen pompösen Eingangssaal durch eine quietschende, braun lackierte Tür.

Ein dunkler Teppich dämpfte unsere Schritte, ein dämmrig glimmender Kronenleuchter schenkte uns etwas Licht, gab den Blick auf dunkle Eichenholzkommoden frei und eine dunkelbraune Treppe führte in den zweiten Stock. Die Wände waren dunkel gehalten und versprühten einen seltsamen beklemmenden Eindruck.

Mir wurde augenblicklich eiskalt, während Nanzi mich zur Treppe führte. An den Wänden hingen unheimliche Portraits von Männern in dunklen Anzügen. Ihre Augen schienen mich die ganze Zeit zu verfolgen, als ich die knarzenden Stufen hinauf stieg. Hinter mir klebte Nanzi an meinen Fersen, während ich den kurzen Absatz überwandt und eine weitere Treppe hinauf stieg. Meine Schritte wurden von einem dunklen Teppich gedämpft auf dem sich braune und rote Muster befanden. Auf verschiedenen dunklen Kommoden standen antike Vasen.

An den Wänden hingen dunkle Bilderrahmen, die verschiedene Portraits zeigten. Die toten Augen der Personen schienen meine gedämpften Schritte zu verfolgen.

Schließlich kamen wir im zweiten Stock an. Dort führte ein einziger langer Gang von einem Ende des Hauses zum anderen. Mehrere dunkle Türen verbargen die Räume dahinter. Auf der zentralen Tür, die der Treppe direkt gegenüber war, war ein goldenes Schild angeschraubt. Darauf stand in Großbuchstaben geschrieben ›PROFESSOR WOOD‹.

Ich biss mir auf die Innenseite meiner Wange, als mich Nanzi direkt auf diese Tür zuschob. Leise schluckte ich und erzitterte, als sie die Tür öffnete und diese knarzend aufschwang. Wir betraten das Zimmer, das einem Direktorenbüro glich.

Auch hier dämpfte ein dicker Perserteppich meine Schritte. Frontal, direkt gegenüber der Tür befand sich ein dunkler, massiver Eichenholzschreibtisch. Links gab es eine Front aus Bücherregalen, aus dem mir mehrere medizinische Titel entgegenschlugen. Rechts befand sich ein breiter, alter Kamin, in dem ein Feuer prasselte, das den Raum erhellte und wärmte. Verschiedene Sitzmöbel und kleinere Kommoden und Tische sorgten für ein beinahe gemütliches Ambiente.

Direkt hinter dem Schreibtisch befand sich ein ausladender Vogelkäfig, in dem ein riesiger Rabe saß. Das schwarze Gefieder plusterte sich auf, als Nanzi mich drängte, näher zu treten. Die großen, schwarzen Augen wirkten wie tote Knöpfe in einem lebendigen Körper. Jetzt begriff ich auch, woher der Name für diese Anstalt her kam.

Knarzend drehte sich der mächtige Ledersessel und die Gestalt eines älteren Mannes kam zum Vorschein. Silbergraue Haare befanden sich auf seinem Kopf und ein gepflegter Bart schmückte das markante, noch attraktiv wirkende Gesicht. Helle graublaue Augen blickten mir kühl und beherrscht entgegen, während der Mann vor mir die Finger ineinander verschränkte. Sein Blick war abschätzig, neugierig und auch nachdenklich.

Eine ganze Weile sagte niemand etwas, bis ein Muskel unter seinem Auge zuckte und er eine wegwerfende Handbewegung ausführte. »Sie können gehen, Miss Tailers.«

Nanzi nickte hastig, drehte sich um und verließ den Raum.

Die Stirn gerunzelt blickte ich die Tür einen Moment lang an. Ob sie alle Patienten mit so wichtigen Leuten wie Professor Wood alleine ließen? Andererseits war ich auch keine einfache Patientin.

»Also«, begann Professor Wood.

Ich drehte mich zu ihm und wunderte mich einen Moment, wie er so schnell und lautlos zum Kamin gelangen konnte und, vor allem, wo das Glas Whiskey in seiner Hand herkam.

»Ich nehme an, dass Dr. Wales Sie bereits über die Situation aufgeklärt hat?« Er warf mir einen abschätzenden Blick über den Ring seines Monocles zu, ehe er es von einem Auge entfernte und in die Brusttasche seines dunkelbraunen Anzuges stopfte.

Zuerst war ich viel zu perplex, als dass ich reagieren konnte, doch dann warf ich ihm einen tödlichen Blick zu. »Er behauptete, dass er wüsste, dass ich nicht hierher gehöre. Ich bin keine von Ihren Patienten und das bedeutet, dass ich noch heute diese Insel verlassen werde.«

Leises Glucksen erklang.

Was gab es da zu lachen?!

»Dr. Xanders erzählte mir bereits, dass Sie ein sehr gesundes Selbstbewusstsein haben, Miss Craine. Jedoch würde ich mich etwas zügeln.« Er warf mir einen beinahe tadelnden Blick zu. »Dr. Wales hat Ihnen doch sicher erzählt, dass es unmöglich ist, sie heim zu schicken.«

Wütend trat ich einen Schritt auf ihn zu. »Sie wissen gar nicht, wie egal mir das ist. Sie können mich hier nicht gegen meinen Willen festhalten. Und das werden Sie niemals können.«

Die einzige Reaktion seinerseits war es, den Whiskey in einem Zug hinunter zu kippen. Dabei verzog er nicht einmal die Miene.

»Das, was Sie hier tun, ist illegal«, knurrte ich.

Professor Wood stellte das Glas auf einen kleinen Beistelltisch, auf dem sich eine Karaffe mit dunkelbrauner, klarer Flüssigkeit befand. Dann schlenderte er zu seinem Schreibtisch, wo er einmal prüfend in den Käfig blickte und sich dann wieder an den Tisch setzte.

»Miss Craine, ich kann mir vorstellen, dass Sie alles andere als begeistert sind, hier zu sein. Jedoch kann ich diese Einrichtung nicht riskieren, damit sie wieder in ihr gewohntes Leben zurückkehren können. Es gibt Patienten hier, die ohne Ravenwood nicht die geringste Chance auf ein halbwegs normales Leben haben. Und zum Wohl meiner Patienten, bin ich sehr wohl bereit und auch berechtigt, sie hier festzuhalten.«

Dieser Mann hatte sie nicht alle. Wahrscheinlich war er genauso verrückt wie seine Patienten, dass er glaubte, mich hier behalten zu können.

»Ich werde Ihrem Personal davon erzählen, irgendjemand wird mir helfen, hier wegzukommen.«, zischte ich und funkelte ihn hasserfüllt an. Es musste doch irgendwas geben, womit ich ihn dazu bringen konnte, mich freizulassen. Er konnte mich ja nicht ewig hier behalten.

Doch das Lächeln auf seinem Gesicht, das mein Blut gefrieren ließ, sagte mir, dass er auf alles vorbereitet war. Auch diese Drohung, diese versuchte Erpressung, fruchtete nicht im Mindesten. Und ich wusste sofort, weshalb. Es war, als würden wir beide in diesem Moment dasselbe denken, was mehr als unheimlich war. Vor allem, wenn man bedachte, wo ich war.

»Sie enttäuschen mich, Miss Craine.«, seufzte er und lehnte sich zurück.

»Jeder würde mich für verrückt halten.« Ich flüsterte die Worte nur, waren sie doch glasklar in meinem Verstand verankert. Es glaubte ohnhin jeder, dass ich eine psychisch Kranke war und, wenn ich dem Personal meine Verschwörungstheorie auftischte, würden sie mich vermutlich eher wegsperren, als mir bei meinen Fluchtplänen zu helfen.

Stille entstand zwischen uns, während ich diesen Gedanken verinnerlichte.

Dann kniff ich die Augen zusammen. »Ich werde trotzdem nicht akzeptieren, dass ich hier mein Dasein fristen soll.«

»Das hatte ich auch nicht erwartet.«, bemerkte Professor Wood und lächelte zufrieden, als hätte er diese Situation vorhergesehen. »Wir werden sehen, wie es sich mit Ihnen hier entwickelt. Aber nun ist es schon spät und ich denke, dass auch Sie erschöpft sind. Und Sie werden Ihre Kräfte für Morgen brauchen. Gehen Sie schlafen, Nanzi begleitet sie zu ihrem Block.«

Viel zu verwirrt, um auf seine Worte einzugehen, fragte ich: »Block?«

Er nickte. »Die Patienten auf Ravenwood sind in verschiedene Zellenblöcke unterteilt. Ich habe mir die Freiheit genommen, Sie in Block B unterbringen zu lassen.«

Block B? War das jetzt positiv oder negativ?

Wie durch ein unsichtbares Zeichen öffnete sich die Tür und Dr. Wales kam hinein. Er blieb direkt neben mir stehen und blickte den Professor abwartend an.

Dieser räusperte sich. »Da Sie ja schon einmal hier sind, können Sie Miss Craine doch sicher zu ihrem Zimmer begleiten, oder?«

»Sehr gerne, Professor. Miss Craine?« Wales deutete zur Tür und blickte mich auffordernd an.

Es war mir zuwider, ihnen jetzt nachzugeben und zu gehen, jedoch war ich sehr erschöpft und konnte etwas Schlaf gebrauchen. Ich musste Kraft tanken, um irgendwie hier heraus zu kommen und das schaffte ich sicherlich nicht, wenn ich mich jetzt gegen alles aufbäumte.

Ich warf dem Professor und auch Dr. Wales noch einen finsteren Blick zu, ehe ich mich auf dem Absatz umdrehte und zur Tür lief. Diese war noch geöffnet, sodass ich geradewegs hindurch stürmen konnte, ohne stehen bleiben zu müssen. Ich spürte den Doktor direkt hinter mir, er war mindestens genauso schnell wie ich. Er folgte mir die Treppen hinunter und führte mich anschließend aus dem Hauptgebäude hinaus.

Draußen herrschte Finsternis.

Die wenigen Straßenlaternen spendeten unheimliches Licht und ab und zu sah ich den Kegel einer Taschenlampe in der Ferne wackeln. Das Gelände musste gigantisch sein, dass so viele Wachmänner nötig zu sein schienen. Dunkle Sträucher und die Spitzen finsterer Tannenbäume ragten hinter den hohen, grauen Mauern Ravenwoods auf, ließen die Dunkelheit des Waldes nur erahnen. Ob es auf dieser Insel noch etwas anderes, als diese Anstalt gab?

Mein Blick fuhr herum, als wir einem gepflegten Kiesweg folgten. Es gab mehrere Gebäude, zwei kleinere auf der linken Seite des Geländes, in dem noch Licht brannte. Direkt gegenüber befand sich das Krankenhaus, das ebenfalls aus zwei gesonderten Gebäuden bestand. Der Doktor hingegen führte mich vom Krankenhaus weg auf zwei längliche Gebäude zu. Eines war mit einem großen B, das andere mit einem großen A gekennzeichnet. Das mussten die Zellenblöcke sein.

»Der Professor befand es für das Beste, Sie in Zellenblock B einzuweisen.«, erklärte Wales langatmrig.

Ich schnaubte nur in die nasse Kälte des Abends, da ich jetzt keine große Lust mehr hatte, mit irgendwem zu sprechen. Vor allem nicht mit ihm. Er, der jetzt mein Psychologe war. Als ob ich so etwas bräuchte.

»Sie werden dort mit anderen Patienten untergebracht werden.«, fuhr er fort.

»Das hatte ich erwartet.«, entgegnete ich kühl.

Er seufzte leise. »Ich weiß, dass Sie nicht glücklich über die Situation sind-«

»Das ist noch milde ausgedrückt«, unterbrach ich ihn und blieb stehen.

Um uns herum lag Finsternis, jediglich düster erleuchtet durch zwei meterweit voneinander entfernten Straßenlaternen.

Auch er hatte angehalten und blickte auf mich herunter, da ich doch sehr viel kleiner war, als er. »Sie werden sich an Ravenwood gewöhnen. Und die Bewohner in Zellenblock B sollen auch nicht so...«

»Gestört sein?«, beendet ich seinen Satz und schnaubte erneut. Beim besten Willen hatte ich keine Lust mehr mit ihm über dieses Thema zu sprechen. Es hing mir bereits jetzt zum Halse heraus, wie alle Leute meinten, dass ich mich an all das hier gewöhnen würde.

Dr. Wales runzelte die Stirn, als ob er noch etwas sagen wollte, schien es sich dann doch anders zu überlegen und schob mich voran, den Kiesweg entlang. Ich schwieg, während er mich weiter auf das Gebäude zuführte, das mein neues Zuhause sein würde. Gelbes Licht leuchtete durch die verschwommenen Fenster zweier großer Flügeltüren, auf die wir zusteuerten.

Ich sah mich noch einmal um und erstarrte kurzzeitig, als ich in der Ferne eine Person im Lichtkegel einer Straßenlaterne erkannte. So, wie ich es auf die Entfernung erkennen konnte, war es eine Frau, die ein weißes Nachthemd trug. War ihr nicht kalt?

Kurz wandte ich mich zu dem Doktor um, der jedoch nichts bemerkt zu haben schien.

»Laufen um die Uhrzeit noch Patienten über das Gelände?«

Wales blickte auf mich herunter, runzelte die Stirn. »Nein. Um diese Uhrzeit sind schon alle in ihren Zellen. Weshalb?«

»Aber die Frau dort...« Als ich mich umdrehte, war sie verschwunden. Verwirrt sah ich mich um, blinzelte ein paar Mal, aber da war niemand. Hatte ich mir das nur eingebildet?

»Wer?«

Ich schüttelte einmal den Kopf, verwirrt über mich selbst. »Niemand... da war... niemand.«

Wales zuckte die Schultern, führte mich weiter und öffnete die Tür. Wir betraten einen grauen, farblosen Vorraum, in dem ein Wachmann saß. Sein massiger Körper konnte kaum noch von dem kleinen Holzstuhl gehalten werden, der neben einer Maschendrahtzaunwand platziert war.

Der Wachmann stand auf. »Wer sind Sie?«

Dr. Wales holte seine Brieftasche heraus, klappte sie auf und zeigte dem Wachmann seinen Ausweis. »Doktor Wales. Ich bin der behandelnde Psychologe von Miss Craine und soll sie in Professor Woods Auftrag zu ihrer Zelle geleiten.«

Der Wachmann stutzte einen Moment, ehe er sich rasch aufrappelte und zu einer Liste hinüber watschelte, die neben dem verschlossenen Maschendrahtzauntor hing. Fieberhaft ging er die Liste durch, bis er innehielt.

»Elisabeth Maria Craine?«

»Genau.«, erwiderte Wales und legte mir eine Hand ins Kreuz.

Mir lief eine Gänsehaut über den Körper, als ich den sanften Druck spürte, den er mit seinen Fingern auf meinem Körper auslöste. Es war mir neu, dass ein Arzt auch einen solch innigen, körperlichen Kontakt mit seinen Patienten hatte.

»Sie können einmal durchgehen, wir haben sie in der freien Zelle eingeteilt. Nummer 97.«, brummte der speckige Wachmann, während er aus seinem viel zu engen Gürtel einen Schlüsselring hervorzog, jeden Schlüssel genau einsah und schließlich den passenden ins Schloss rammte.

Knarzend öffnete sich die Tür und der lange Gang dahinter ließ mich erschaudern. Grauer Betonfußboden neben grauen, trostlosen Wänden zierten den Gang. Ansonsten war jedoch alles relativ sauber gehalten. Graue Türen mit kleinen Seefenstern markierten die einzelnen Zellen. Auf jeder Tür stand eine Zahl.

Als wir am Ende des Ganges angelangt waren und stehen blieben, kroch mir eine weitere Gänsehaut den Körper hinauf und wieder hinunter. Auf der leicht angelehnten Tür befanden sich Kratzspuren, wie bei dem Raum, in dem ich von Dr. Xanders befragt worden war. Die Zahlen waren kaum noch leserlich, da auch sie zerkratzt waren. Es sah aus, als hätte ein Raubtier diese Tür attakiert... oder etwas dahinter.

Wales drückte die Tür leicht auf und enthüllte ein ansonsten beinahe makelloses Zimmer. Die Zelle war nicht sonderlich groß, beherbergte ein Bett mit einer dünnen Matratze, auf der frisches Bettzeug lag. An einer Wand stand ein brauner kleiner Schrank, der vermutlich als Stauraum für Kleidung diente und neben dem Bett befand sich ein kleiner Nachttisch, auf dem bereits meine persönlichen Gegenstände lagen. Über dem Bett gab es ein kleines, vergittertes Fenster.

Ich betrat langsam das Zimmer, fühlte mich, als würde ich gleich wie ein Hund angekettet werden. Ab jetzt hatte ich keinerlei Kontrolle mehr über mein Leben. Zwar hatte ich das vorher auf dem Festland schon nicht gehabt, aber jetzt fühlte es sich alles noch endgültiger an.

Dr. Wales schaltete das Licht ein und eine surrende Glühbirne, die über dem Raum hing, erwachte zum Leben. Es war nicht viel und nicht besonders gutes Licht, aber immerhin etwas.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich meine Sachen wiederbekomme.«, sagte ich nachdenklich und strich über das silberne Amulett, das auf dem Nachttisch lag. Darin war ein Foto meiner Mutter, das einzige, was ich noch von ihr hatte, abgesehen von den drei Büchern, die sie mir einmal zum Geburtstag schenkte.

»Professor Wood ist kein Monster, wissen Sie? Er sorgt sich um seine Patienten. Jeder, der hier lebt hat persönliche Dinge, die man ihm nicht wegnehmen darf. Genauso auch Ihre Sachen.«

»Danke«, sagte ich und blickte ihn an. »Aber glauben Sie nicht, dass ich hier jemals leben will. Ich werde gegen Sie kämpfen, gegen Sie alle. Bis zu meinem Lebensende, denn mehr habe ich nicht mehr zu verlieren.«

Der Doktor sah mich durch seine klaren blauen Augen an, sah aber nicht glücklich aus. »Ich hatte erwartet, dass Sie das sagen. Es ist bedauerlich, dass Sie solch eine Einstellung haben. Aber nun gut, es war ein anstrengender Tag. Vielleicht sollten Sie sich hinlegen. Morgen wird Sie eine Schwester zur ersten Behandlung bringen. Bis dahin...« Er neigte kurz den Kopf, ehe er sich umwandte, die Tür schloss und ich das Klirren des Schlüssels hörte, der sich im Schloss drehte.

In diesem Augenblick knallte die Glühbirne durch, ein gleißender Blitz erhellte das Zimmer und das Donnergrollen, das daraufhin folgte, ließ mich zusammenfahren.

3. Kapitel

 

Meine Finger waren an meiner Brust wie Klauen verkrallt, während ich starr die Wand ansah, zu welcher ich gewandt auf dem Bett lag. Das frische Bettzeug hatte ich nicht angerührt, um die Matratze und die Bettwäsche zu beziehen, da der gestrige Abend viel zu nervenaufreibend gewesen war. Kurz nachdem Dr. Wales das Zimmer verlassen hatte, war der Strom ausgefallen, da ein Blitz vermutlich eine Leitung getroffen hatte. Ich hatte es noch eine Weile draußen stürmen gehört und gleichzeitig das Schreien anderer Patienten. Es hatte mich viel zu sehr aufgeregt, als dass ich noch an etwas anderes denken konnte, als mich auf das Bett zu legen und zu beten, dass ich irgendwann aus diesem Alptraum aufwachen würde.

Später in der Nacht war es dann ruhig geworden und das Licht war wieder angegangen. Schwerfällig hatte ich mich aus dem Bett gestemmt, hatte es ausgeschaltet und war zurück auf das Bett gekrochen. An diesem Morgen ging es mir schlecht.

Ich war völlig übermüdet, meine Füße waren in den Schuhen heiß und angeschwollen und ansonsten war mir kalt. Die unheimlichen Schatten, die sich unheilvoll an den Wänden erhoben hatten, als würden Krallen nach mir greifen wollen, hatten mich die Nacht über wach gehalten.

Müde seufzend setzte ich mich auf und strich mir einige meiner rotbraunen Strähnen aus dem Gesicht, die sich aus dem Knoten an meinem Hinterkopf gelöst hatten. Blinzelnd blickte ich mich in der kleinen Zelle um. Tageslicht fiel durch das vergitterte Fenster, beleuchtete die verschlossene Panzertür. Auf dem Gang draußen leuchtete Licht, das durch das kleine Glasfenster schien, welches in die Tür eingelassen war. Vermutlich, um hineinsehen zu können, wenn die Patienten nachts schliefen. Ich ließ den Blick über den Eichenschrank gleiten. Er war nicht besonders hoch, da die Decke meiner Zelle schräg war und er ansonsten nicht hineinpassen würde.

Ich drehte mich um und erblickte das Medaillion auf dem kleinen Nachttisch. Meine Hand griff automatisch danach und drückte es beschützend an meine Brust. Das kühle Metall beruhigte meine gespannten Nerven etwas. Meine Fingerkuppen strichen über die Maserung auf dem runden Medaillion. Etwas, das nur mir gehörte in dieser verrückten Realität.

Rasch hängte ich es mir um den Hals und kroch vom Bett. Mit zwei langen Schritten war ich am Kleiderschrank und öffnete eine der Türen. Ordentlich gestapelt fand ich einen Haufen weißer Blusen mit Blumenmuster vor. Ich öffnete den unteren Teil. Zwei hohe Stapel verschiedenfarbiger Röcke.

Ich stemmte beide Hände gegen den Schrank, schloss die Augen und atmete tief durch. Die Wut kochte wie am Vorabend in mir hoch. Am liebsten hätte ich geschrien, hielt mich jedoch zurück.

Auf einmal knarzte das Türschloss und ich fuhr herum. Die Klinke wurde herunter gedrückt, die Tür sprang auf und die bullige Oberschwester stand in meinem Zimmer. »Ah, Sie sind schon auf den Beinen. Los, nehmen Sie das, was sie anziehen wollen und folgen Sie mir!«

Irritiert blickte ich sie an. »Wie bitte?«

»Sie haben schon richtig gehört. Kommen Sie, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«

Um ehrlich zu sein, wusste ich nicht im Geringsten, was sie von mir wollte. Mit langsamen, unsicheren Bewegungen nahm ich eine hellblau karierte Bluse und einen dunkelgrauen Rock. Dann ging ich auf sie zu.

Grob schob sie mich aus dem Zimmer auf den Gang.

Draußen standen bereits mehrere Frauen vor jeweils einer geöffneten Zellentür. Neben ihnen ihre Betreuer. Einige von ihnen sprachen beruhigend auf die Patienten ein, die ebenfalls Kleidung in der Hand hielten. Die Oberschwester schritt zwischen den Frauen hindurch bis nach vorne zu dem Maschendrahtzauntor.

»Guten Morgen, Beth.«, grüßte mich Nanzi und lächelte mich herzlich an.

Wie immer ignorierte ich sie.

»Alle mal aufgepasst! Wie einige eventuell mitbekommen haben, haben wir drei Neuzugänge in Block B.«, sagte die Oberschwester in einem gewöhnungsbedürftigen Unterton. »Einmal Beth, Lucinda und Nora. Da wir das ja geklärt haben, folgt mir, meine Damen!«

Die Oberschwester machte auf dem Absatz kehrt und lief durch das geöffnete Tor, bog scharf links ab und schritt durch eine Tür. Die übrigen Schwestern drängten uns, ihr zu folgen. Sie führte uns eine Treppe hinunter in den Keller. Dort traten wir auf einen langen, spärlich beleuchteten Gang.

Mir lief eine Gänsehaut über den Körper, als ich Garvis erblickte, der uns mit einer ebenso großen Männergruppe entgegen kam. Die Patienten hatten allesamt feuchtes Haar, wirkten leicht verstört. Was bei den Umständen hier wohl kein Wunder war.

Garvis führte die Männergruppe an uns vorbei und die Oberschwester führte uns weiter, bis an das Ende des Ganges. Eine graue Panzertür versperrte uns die Sicht auf den Raum dahinter, aber, als die Oberschwester davor stehen blieb und ihren dicken Schlüsselbund ergriff, blendete ich die Geräusche und Stimmen komplett aus.

Mein Blick war an dem massigen Schlüsselbund geheftet, den sie durchsah, um den passenden Schlüssel zu finden. Ich erhaschte nur für ungefähr eine Sekunde den Blick auf einen rechteckigen Schlüssel, auf den provisorisch ein Stück Papier geklebt war, das an den Rändern bereits ausfranste. Sie würde es bald ersetzen müssen. Doch mehr interessierte mich, was darauf, anscheinend in großer Eile mit Kugelschreiber gekritzelt worden war: Gate - Tor.

Das Personal besaß einen Schlüssel für das Haupttor?

Schließlich fasste die Oberschwester einen runden Schlüssel und rammte ihn in das Schloss der Tür. Sofort klackte der Riegel und sie stemmte die schwere Panzertür auf. Sie schritt zuerst hindurch, dann winkte sie uns näher und wir wurden von unseren Betreuerinnen ins Innere des Raumes gedrängt. Zum Vorschein kam ein gefliester schmaler Raum mit winzig kleinen, schmalen Fenstern knapp unter der Decke. An der gegenüberliegenden Wand unter den Fenstern waren Duschköpfe montiert.

Mein Entsetzen darüber lähmte mich beinahe. Es gab keinerlei Trennwände...

»So! Dann mal runter mit der Kleidung, meine Damen!«, befahl die Oberschwester.

Sofort fingen die Frauen um mich herum an, sich ihre Blusen aufzuknöpfen, Röcke herunter zu ziehen und Schuhe unter einigen Waschbecken abzustellen, die sich neben der Tür befanden. Auch die anderen beiden Frauen fingen zögerlich an, sich ihrer Kleidung zu entledigen. Einzig und alleine ich stand mitten zwischen den halb nackten Frauen, sah zu wie Bauch, Beine und Brüste entblößt wurden und presste meine Kleidungsstücke, die ich in den Händen hielt, so fest an mich, wie ich konnte.

»Bitte, ziehen Sie sich aus Beth. Sie wollen doch sicher nicht in ihren Sachen unter die Dusche.«, sagte Nancy, die zu mir getreten war.

Ich funkelte sie an, aber sie hatte wie zuvor ihren seligen Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Ich will mich nicht ausziehen! Und ich will nicht mit diesen anderen Frauen hier duschen gehen.«

Nancy legte den Kopf schief, als wäre sie ein begriffsstutziges Kind. Wer war denn hier nun die Irre von uns?

»Aber, Beth... Hier sind alle gleich. Diese Frauen haben nichts, was Sie nicht auch am Körper haben. Bitte, legen Sie nun Ihre Kleidung ab, Sie wollen doch sauber zu Dr. Wales erster Sitzung, oder nicht?«

Schon... aber um ehrlich zu sein, war mir Dr. Wales in diesem Moment relativ egal.

Ich drückte die Kleidung noch fester an mich.

»Gibt es hier ein Problem?« Die Oberschwester war mit bedrohlichen Schritten näher gekommen, sodass beinahe die Erde bebte.

Währenddessen gingen die jeweiligen, komplett nackten Frauen schon zu den Duschköpfen, wobei sich zwei fast lautstark um den Duschkopf in der Ecke stritten. Zwei Betreuerinnen eilten zu ihnen und trennten sie mit strenger Manier. Da hatte ich ja noch Glück, dass Nancy noch so freundlich war. Eine der beiden hätte mir wohl kaum, ohne gut Zureden, die Kleider vom Leib gerissen und mich zu einem der Duschköpfe geschubst.

Nancy warf der Oberschwester einen kurzen Blick zu, dann sah sie mich wieder an, diesmal eindringlicher. Ihr Blick sagte mir, dass ich doch bitte endlich die Sachen ausziehen und mich in die Dusche stellen sollte. Ich schluckte und versuchte mich selbst zu beruhigen. Es war ja nur die Dusche. Und es stimmte auch, was Nancy gesagt hatte, keine der Frauen hatte etwas, das ich nicht auch hatte. Aber ich war schon immer sehr konservativ von meiner Mutter erzogen worden. Das hieß nicht, dass wir nicht über solche Dinge, wie Nacktheit und solcherlei Dinge gesprochen hatten. Nur hatte sie stehts gesagt, dass ich nicht zu unbedarft mit dem Thema Nacktheit umgehen sollte, besonders nicht im Bezug auf Männer. Da mir diese Option ohnehin niemals gewärt sein würde und ich hier unter Frauen war, entspannte ich mich ein bisschen. Sofern es in einer Heilanstalt möglich war.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein... kein Problem.«

»Dann bewegen sie ihren Hintern, Beth. Ich habe alle Händevoll zu tun und keine Zeit für kleine Bürgerliche, die Extrawürste wollen!« Die Oberschwester kräuselte beim Sprechen die Stirn und sah einer Bulldogge noch ähnlicher, als ohnehin schon.

Ich blitzte sie gefährlich an, dann stapfte ich an ihr vorbei und legte meine sauberen Sachen auf das einzige noch freie Waschbecken im Raum, das auch schon bessere Tage gesehen hatte. Der Abfluss war gelblich angelaufen, der Wasserhahn völlig verkalkt und der Spiegel darüber war gesprungen. Es war der Einzige, der kaputt war. Kurz runzelte ich die Stirn, dann schlüpfte ich aus meinen Schuhen und den Strümpfen, obwohl sich alles in mir weigerte, meine nackten Füße auf diesen unsauberen Boden zu setzen. Die Fugen zwischen den Fliesen waren dunkel, die Fliesen an sich weiß, aber nicht so, wie man es sich wünschen konnte. Ich öffnete die Bluse, zog sie aus, schlüpfte auch aus dem Spitzen-BH und legte es zu dem dreckigen Kleiderstapel in der einen Ecke des Raumes. Auch mein Rock und das Höschen folgten. Als ich nackt dastand, fröstelte ich und schlug automatisch meine Arme um meinen Brustkorb. Am liebsten hätte ich auch die Beine übereinander geschlagen, damit man meine nur wenig behaarte Mitte nicht sehen konnte, aber dann hätte ich nicht unter den letzten freien Duschkopf steigen können.

Als ich darunter stand und neben mir Lucinda ansah, lief mir ein kalter Schauer über den Körper.

Das gelbliche Licht ließ ihre Haut aschefahl wirken, nur ihre Augen waren blutrunterlaufend, ihre Arme hingen schlaff an ihren Seiten herunter, ihre fettigen Haare nur in dünnen Strähnen. Ihre leicht hängenden Brüste waren frei sichtbar, genauso wie ihr Unterleib. Doch ich achtete gar nicht auf die Stelle zwischen ihren Beinen, vielmehr richteten sich meine Augen sofort auf die längliche, rötliche Narbe an ihrem Unterbauch. Sie schien schlecht verheilt zu sein, wahrscheinlich hatte sie genässt und geeitert, so rot, wie sie war.

Wenn es das war, was ich dachte, dann hatte ich in diesem Moment vermutlich den Grund gefunden, weshalb Lucinda hier war. Oder teilweise zumindest...

Schlagartig wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als die Oberschwester einen Hebel neben der Tür betätigte. Eiskaltes Wasser prasselte auf uns nieder und ich vernahm einen Schrei vor Überraschung, vermutlich mein eigener. Ich war so erschrocken von dem plötzlichen Temperaturtief, dass ich unkontrolliert zu zittern anfing. Meine verkrampften Hände an meinen Oberarmen wollten sich gar nicht lösen, als ich die Oberschwester entsetzt und zugleich wütend anstarrte.

Ihr hämisches Lächeln ging mir durch Mark und Bein. Sie genoss es, mich so zu sehen.

»Das ist eiskalt!«, knurrte ich sie durch den Lärm des prasselnden Wassers an, dass mich in eine kalte Umarmung zerrte.

»Gut erkannt, Beth«, sagte die Oberschwester. »Das warme Wasser ist den Doktoren und dem Professor vorbehalten. Aber glauben Sie mir, man gewöhnt sich schnell an das kalte Wasser.«

In mir wurde alles ganz heiß vor Wut, in meinen Augen brannten Tränen, aber ich gab mir ums verrecken nicht die Blöße, vor aller Augen zu weinen. Bestimmt nicht vor ihr! Zitternd und schwer atmend drehte ich den Kopf zu Lucinda, aber anders als erwartet, schien ihr das eiskalte Wasser nichts aus zu machen. Sie stand da, die rot geränderten Augen starr an die gegenüberliegende Wand gerichtet, während ihre Haare und ihre Haut von dem Wasser getränkt wurden. Es war unheimlich, wie abwesend sie wirkte.

Auf ein scheinbar unsichtbares Zeichen hin, drehten sich alle Frauen um - sie schienen alle bereits abgehärtet zu sein - und nahmen von einem kleinen schmutzigen Tablett, das an der Wand angebracht war, ein grobes Seifenstück und begannen sich einzuschäumen. Es widerstrebte mir zwar, diese ganze Prozedue zu unterstützen, indem ich mich fügte und wusch, aber ich tat es, um die Schmutzschicht, die auf meiner Haut klebte, loszuwerden. Die letzten Wochen waren anstrengend gewesen und niemand hatte mir gestattet, mich zu waschen. Sei es auch nur mit kaltem Wasser.

Energisch schrubte ich mich ab, dazu gab es eine kleine Handbürste. Auch das Haar seifte ich mir ein und spülte es rasch mit dem kalten Wasser ab. Noch immer zitterte ich, aber es war besser, als zu Anfang.

Plötzlich verstummte der Wasserstrahl und die Betreuerinnen scharten sich um einen kleinen Beutel. Aus diesem holten sie jeweils einen kleinen Rasierer und kamen auf uns zu. Natürlich, die Patienten konnte man mit potentiell tödlichen Gegenständen nicht alleine herum werkeln lassen. Doch, als Nancy auf mich zukam, fühlte ich mich unwohler, als ich mich ohnehin schon unter dieser eiskalten Dusche, nackt, gefühlt hatte. Ihre hochhackigen Schuhe klackten auf dem nassen Boden und, als sie sich vor mich hockte, um meine Beine zu rasieren, spannte sich mein ganzer Körper an.

Die Klinge glitt mühelos über meine Haut und schließlich, als sie fertig war, bedeutete sie mir, den Arm zu heben. Sie rasierte meine Achsel, eine nach der anderen, das gleiche taten die übrigen Betreuerinnen mit ihren Schützlingen, die dies alles ereignislos über sich ergehen ließen. Als Nancy fertig war und auch die anderen Betreuerinnen, zogen sie sich wieder zu den Waschbecken zurück und die Oberschwester drehte wieder das Wasser auf, um uns ein letztes Mal abzuspülen. Dann endlich ließ sie das Wasser komplett aus und wir bekamen jeder ein großes Handtuch, um uns abzutrocknen. Der Stoff war rau und kratzte meine empfindliche Haut, sodass ich mich mit dem Abtrocknen beeilte.

Anschließend bekamen wir jeweils einen weißen, schlichten Spitzen-BH und ein weißes Höschen, ehe wir unsere Sachen anziehen durften. Als alle fertig waren, wurden wir aus dem Raum geführt, den die Oberschwester wieder sorgfältig mit ihrem Schlüssel verschloss. Wir wurden zurück nach oben geführt, dann jedoch blieb sie im Eingangsbereich stehen und drehte sich herum. »Für die, die sich hier noch nicht auskennen«, begann sie und sah mich dabei ganz genau an. »jetzt geht es zum Frühstück in die Cafeteria.«

Ich erwiderte nichts, sah sie nur an.

Sie brummte zufrieden, wahrscheinlich, weil ich den Mund hielt, dann stapfte sie voraus, als sich die Tür öffnete. Gleißendes Hell blendete mich, als ich nach dieser Tortur endlich frische Luft einatmen konnte. Die ganze Zeit fühlte ich mich wie eine Gefangene, denn nichts anderes war ich. Doch jetzt an der frischen, sauerstoffreichen Luft fühlte ich mich ein wenig besser. Zwar nicht sehr, aber einen Hauch zumindest. Ich folgte mit den anderen zusammen der Oberschwester den gepflegten Kiesweg entlang. Überall lagen Äste auf dem Rasen, die von dem Sturm herunter gekommen sein mussten. Nun, wo es Tag war, machte die Anstalt einen etwas weniger beängstigenden Eindruck.

Es liefen sogar Patienten über das Gelände. Einige von ihnen schienen zum Saubermachen verdonnert worden zu sein, denn sie schwangen Besen und Harke in wachsamer Anwesenheit der Aufseher und Schwesternpersonals. Ein Patient trug sogar eine Fußfessel... ich wusste nicht, ob ich beruhigt oder beunruhigt sein sollte. Wir liefen weiter, bis wir schließlich am Haupthaus angelangten und durch einen seitlichen Eingang traten. Hier sah es überhaupt nicht aus, wie in dem Teil, in dem ich gestern gewesen war. Kein mit Teppcih ausgelegter Boden, dunkle, prunkvolle Möbel und Gemälde, die einen erschaudern ließen. Nein, der Boden war weiß gefliest, die Wände grauweiß und die Türen bestanden aus silbernem Stahl.

Wir traten in eine Art Eingangsbereich, wo sich einige Patienten aufhielten. Einer stand in einer Ecke, hielt sich den Kopf und wimmerte irgendwas unverständliches. Ein Betreuer versuchte ihn zu beruhigen, griff seine Schultern und hielt ihn, während er zuckend weiter wimmerte.

Ich schauderte und rückte näher an die Gruppe Frauen, die die Oberschwester nun durch eine große, geöffnete Flügeltür führte. Ein großer Raum kam zum Vorschein. Tische und Bänke waren überall systematisch angeordnet, an den Wänden standen große Mülleimer für Speisereste und eine langezogene Theke erfüllte ihren Zweck. Mehrere Patienten verzehrten soeben ihr Frühstück oder holten sich bei der bulligen Köchin ihre Schüssel Haferschleimsuppe ab. Diese Frau könnte beinahe die Zwillingsschwester der Oberschwester sein, denn sie sah ihr verdammt ähnlich. Jedenfalls den grimmigen Gesichtsausdruck hatte sie zur Perfektion gebracht.

»Ab hier dürfen Sie sich frei bewegen, meine Damen. Ein friedliches Morgenmahl wünsche ich.« Der Ton der Oberschwester wurde gehässig, doch das registrierte wohl niemand außer ich.

Sie rauschte an uns vorbei und zu diesem Zeitpunkt machten sich auch die Betreuerinnen vom Acker. Nur Nancy stand nachwievor an meiner Seite und lächelte mich an. Ich verdrehte die Augen. Alle anderen liefen bereits zur Theke, um sich etwas zu Essen zu holen und niemand hatte einen Babysitter an der Backe. Nur ich. Warum nur?

Ich ignorierte Nancy und folgte den anderen zur Theke. Zwar würde ich mich lieber um einen Fluchtplan kümmern, doch erstens hatte ich Hunger und zweitens konnte ich es vergessen, wenn mir Nancy auf Schritt und Tritt folgte. Sie würde unweigerlich Dr. Wales informieren und der würde es sofort Professor Wood mitteilen. Und ich hatte gestern Abend erlebt, wie Professor Wood über meine Situation dachte. Er würde alles tun, damit dieser Fehler - also ich - nicht an die Öffentlichkeit geriet.

Wie die anderen vor mir, schnappte ich mir eines der Tabletts und ging damit zur Theke. Dort waren hinter einer Glasfront lauter dampfende Töpfe aufgereiht. Es duftete nicht besonders angenehm und auch die Grütze, die dort in einem großen, bauchigen Topf vor sich hin blubberte, sah alles andere als appetitlich aus. Ich sah mich weiter um, als mich eine dominante Stimme aus den Überlegungen riss.

»Haben Sie sich entschieden?«

Ich hob den Kopf.

Die Köchin blickte mich so grimmig an, dass ich kaum den Mund aufbekam. Wer hatte ihr denn die Suppe versalzen?

»Ähm... noch nicht. Äh... was ist das?«

Sie folgte meinem Fingerwink. »Hafergrütze.«

Na, lecker.

»Und das?« Ich deutete auf das, was sie in einer Pfanne vor sich briet.

»Ei und Speck.«

Gut. Den Speck konnte man zwar kaum noch erkennen so schwarz wie er war, aber das Ei sah nicht so aus, als würde ich übermorgen an einer Lebensmittelvergiftung sterben. Und der Rest sah nicht viel einladender aus. Ich nickte innerlich. Prima. Dann eben Ei und... sehr krosser Speck. Mir gruselte es, dass mir so eine Entscheidung nun jeden Morgen, Mittag und Abend bevorstand.

»Dann nehme ich das. Und ein paar gebackene Bohnen.«

Die Köchin nickte nur grimmig, schlug alles auf einen Teller, als würde sie einem Mann mit den Eiern den Schädel einschlagen wollen und reichte mir den Teller. Ich stellte ihn auf mein Tablett.

»Was gibt es zu trinken?«, fragte ich sie, ohne darauf zu achten, dass sich hinter mir die Schlange bereits staute.

Sie hob eine Augenbraue und winkte mich weiter. »Kaffee oder Tee. Ist Selbstbedienung und jetzt bewegen Sie sich, Sie halten den ganzen Betrieb auf!«

Empört blickte ich sie an, schnaubte und rutschte mit meinem Tablett weiter. Tatsächlich gab es eine Selbstbedienung. Es gab zwei kleine Maschienen, die entweder Kaffee oder Tee gaben, daneben gab es eine Ansammlung von Wasser in Glasflaschen. Ich nahm mir einen der Pappbecher und nahm etwas Kaffee... es gab noch nicht einmal Milch oder Zucker. Vermutlich wurde die Versorgung der Patienten tatsächlich auf ein Minimum beschränkt. Ich seufzte und nahm mir eine der Glasflaschen, um zur Not Wasser nachkippen zu können.

Dann nahm ich mein Tablett und blickte mich suchend um. Beinahe alle Tische waren besetzt. Bis auf einen Tisch in der entlegendsten Ecke. Aber auch dort saß jemand. Ein schmächtiger Bursche, nicht älter als zwanzig. Mit dem würde ich schon klar kommen, irgendwie... Ich steuerte auf den Tisch zu und setzte mich ans äußerste Ende des Tisches auf die Bank. Der Junge saß am anderen Ende mir gegenüber und matschte mit den Fingern in seinem Essen herum, als hätte er nie gelernt, mit Besteck zu essen. Sein Löffel lag nutzlos auf dem Tablett.

Er sah kurz auf und mich durchfuhr ein unangenehmer Schauer. Seine hellen, beinahe weißgrauen Augen starrten mich unheimlich an. Sie lagen tief in den Höhlen und unter seinen Augen befanden sich dunkelblaue Ringe, als hätte er nächtelang nicht geschlafen. Das weißblonde Haar hing ihm wirr ins Gesicht.

Rasch wandte ich den Blick ab und starrte mein Essen an. Bestimmt war es mittlerweile etwas abgekühlt. Noch einmal hob ich kurz den Blick, aber der Junge hatte sich wieder seinem Haferschleimtürmchen zugewandt. Zum Glück. Diesen Irren waren wirklich unheimlich. Ich fragte mich, ob ich hier jemals eine Nacht friedlich schlafen könnte. Wenigstens nur eine Nacht.

Ich schüttelte den Kopf, nahm einen Schluck Kaffee und hätte beinahe über den ganzen Tisch gespuckt, hätte ich mich nicht so zusammengerissen. Das war ja ekelhaft dieses Gebräu! Ich schluckte heftig, nahm die Flasche und drehte sie auf. Rasch füllte ich den Kaffee zum Rand mit Wasser auf. Der war so stark, als hätte man ihn die ganze Nacht durchziehen lassen. Der bittere Geschmack auf meiner Zunge wollte einfach nicht verfliegen, egal, wie sehr ich mich anstrengte.

Es schüttelte mich und das lag nicht nur an meinen noch immer nassen Haaren, die mir im Nacken klebten, es lag vielmehr an der Atmosphäre. Der Junge, der dort mit seinem Essen spielte und dabei aussah, als würde er mit seinen Fingern in einem offenen Gehirn herum stochern wollen, die seltsame Stille in diesem Raum, der doch voller Menschen war und das Gefühl, ständig und überall beobachtet zu werden. Auf einmal tauchte Nancy aus meinem Augenwinkel auf. Ich hatte mich schon gefragt, wo sie abgeblieben war. Sie setzte sich mir gegenüber, in ihren Händen einen Becher Tee. Sonst nichts? Aß sie nicht? Es widerstrebte mir zu fragen und ihr somit zu zeigen, dass ich Interesse an ihr hätte, weswegen ich den Mund hielt. Und wenn sie verhungerte, mir doch egal!

Ich ignorierte sie, nahm meine Gabel - ein Messer gab es nicht - und versuchte halbwegs elegant mein Ei in Stücke zu hacken. Als ich jedoch einen Bissen nahm, stöhnte ich verzweifelt auf. Es war komplett versalzen. Alle Flüssigkeit wurde regelrecht aus meinen Speicheldrüsen gesogen, die darauf - gefühlt - ausdörrten und abstarben. Meine Güte! Hatte die die Pfanne bis zum Rand mit Salz gefüllt und das Ei darin eingepudert? Von den kleinen, vertrockneten, schwarzen Speckstreifen konnte ich mir nicht viel mehr erhoffen. Und das bei meinem verwöhnten Gaumen...

So oft hatte ich früher mit meiner Mutter gekocht. Die einfachsten Dinge waren in unserer Obhut zu seinem wahren Meisterwerk geworden. Sei es auch nur Ei und Speck gewesen. Ich vermisste meine Eier mit Speck. Der feine Pfeffergeschmack, leicht gesalzen, den Speck kross angebraten, aber noch etwas saftig. Mit Kartoffeln... Ich schluckte schwer, griff nach der Kaffeeplürre und kippte alles mit einmal Schlucken hinunter.

»Schmeckt es Ihnen nicht, Beth?«

»Das ist die Untertreibung des Jahres...«, keuchte ich verzweifelt. Es würde ein wahrer Kraftakt werden, diesen Teller zu leeren. Aber irgendwas brauchte ich im Magen, um klar denken zu können. Schließlich lag meine größte Aufgabe noch vor mir.

Ich musste einen Weg aus Ravenwood raus finden.

4. Kapitel

 

Nachdem ich den Teller mit Mühe und Not herunter gewürgt hatte, geleitete mich Nanzi zu meiner ersten Therapiestunde mit Dr. Wales. Ich verließ mit ihr im Schlepptau die Kantine und trat auf den säuberlich angelegten Kiesweg im Innehof der Anstalt. Noch immer waren Patienten und Wärter damit beschäftigt, die Schäden des Sturmes der vergangenen Nacht zu beheben. Äste wurden von den fein gemähten Rasen, von Beeten und Wegen geräumt und auf einen großen Haufen getragen.

Andere Patienten, die anscheinend keine Strafarbeiten verrichten mussten, bewegten sich mit unter vollkommen frei auf dem Gelände. Keine Schwester klebte ihnen an den Fersen, so wie mir. Jedoch waren sie auch nicht vollkommen frei, wenn das große Eingangstor, durch das ich am Vorabend hierher gebracht wurde, war verschlossen und wurde von einer Gruppe grimmig dreinblickender Wachmänner bewacht.

Ich runzelte die Stirn, als ich Nanzi zu dem Backsteingebäude folgte, in dem die Behandlungen stattfanden. Wenn ich tatsächlich fliehen wollte, wäre dieses Tor meine erste Hürde, die ich nehmen musste. Ich konnte mir denken, dass es sich nur dann öffnete, wenn neue Patienten Ravenwood betreten würden und, wenn einer der Doktoren seinen Urlaub nahm und dafür die Anstalt verließ. Mehr gab es auf dieser Insel nicht. Nur der Hafen. Zentrum dessen, dass Menschen die Insel verließen oder betraten.

Nanzi hielt mir die metallern glänzende Tür auf und ich trat an ihr vorbei in das Gebäude, in dem ich letzte Nacht schon mit Dr. Xanders gesessen hatte, bevor Dr. Wales eingeschritten war. Ob er mir heute würde Blut abnehmen wollen? Schließlich hatte er Dr. Xanders bei seiner Voruntersuchung, der sich wohl alle Patienten unterziehen mussten, unterbrochen.

Wieder liefen wir denselben düsteren Gang entlang. Kein Tageslicht fiel herein, denn in diesem seltsamen Gebäude gab es keinerlei Fenster. Ein beklemmendes Gefühl nistete sich in meiner Magengegend ein und das eklige Essen lag plötzlich wie ein dicker Klumpen in meinem Bauch. Ich spürte ein unangenehmes Druckgefühl dort, wo mein Frühstück hing, sodass ich kurz vor der Treppe stoppte. Erst, als Nanzi mich weiter vorwärts schob, schaffte ich es, meinen Beinen den Befehl zum Weitergehen zu geben.

Auf dem Treppenabsatz angekommen, fiel mein Blick augenblicklich auf den leeren Platz, wo gestern Abend noch die fahrbaren, blutbefleckten Patientenbetten gestanden hatten. Sie waren weg. Einfach weg...

Unsicher bog ich mit Nanzi in den Gang ein und wir blieben direkt bei der zweiten Tür stehen.

Nanzi klopfte einmal und öffnete dann die Tür.

Ich trat ein und ein ähnlich eingerichteter Behandlungsraum, wie der, in dem ich gestern gesessen hatte, kam zum Vorschein. Dr. Wales saß an einem großen Schreibtisch, auf dem verschiedene Unterlagen verstreut waren. Er sah nur ganz kurz von der Akte auf, die vor ihm lag und nickte kurz.

»Sie können gehen.«, sagte er zu Nanzi.

Diese nickte und schloss die Tür hinter sich.

Nun war ich mit meinem behandelnden Arzt alleine.

Nervös blickte ich mich in dem Raum um, blieb aber stehen, obwohl es wohl höflicher gewesen wäre, sich zu setzen. Allerdings müsste Dr. Wales allmählich wissen, dass ich nicht vorhatte, mich an die Vorschriften in Ravenwood zu halten. Jedenfalls nicht an die meisten. Das müsste er bereits am letzten Abend festgestellt haben.

Als ich keine Anstalten machte, mich zu bewegen, sah er wieder von dem Ordner auf. »Bitte setzen Sie sich, Miss Craine.«

Ich runzelte die Stirn, tat aber, was er sagte, er er mich höflich bat. Als ich vor ihm saß, verschränkte ich die Arme vor der Brust und schlug die Beine übereinander. Geschlagene zehn Minuten sah ich ihm dabei zu, wie er die Papiere auf dem Tisch sortierte, Dinge auf Notizzettel schrieb und in verschiedene braune Akten legte, auf denen verschiedene Zahlenfolgen gestanzt waren. Ich vermutete, dass das Patientenakten waren. Er hatte noch mehr Patienten, nicht nur mich. Eigentlich hätte mir das klar sein sollen, da es sicherlich nicht für hunderte Patienten jeweils einen Arzt gab, dennoch bemerkte ich, dass ich den Gedanken absonderlich fand, das noch mehr Menschen vor seinem Schreibtisch saßen, so wie ich.

Als er mir noch immer keine Aufmerksamkeit schenkte, begnügte ich mich damit, den Raum mit den Augen zu untersuchen. Vielleicht entdeckte ich etwas, was nützlich für meinen Ausbruch wäre.

Hinter seinem Schreibtisch an der Wand hingen eingerahmte Urkunden. Überall war sein Name verzeichnet. Unter anderem für speziell erlernte Methoden, die ihm bei der Arbeit als Psychologe halfen. Hypnose, Akupunktur und noch einiges mehr. Auf der anderen Seite des Raumes befanden sich Ablageflächen und Hängeschränke, vermutlich mit Untersuchungsmaterialien und an einer freien Stelle stand ein ähnlicher Stuhl, auf dem mich Dr. Xanders gestern Abend festgeschnallt hatte. Dem gegenüber ein Spiegel.

Schließlich hob Dr. Wales den Kopf und funkelte mich mit seinen durchdringenden Augen an. »Wie hat Ihnen das Frühstück gemundet?«

Spöttisch blickte ich ihn an. »Wollen Sie eine ehrliche oder eine diplomatische Antwort?«

»Immer auf Angriff, was, Miss Craine?« Er hob herausfordernd eine Augenbraue.

Ich schnaubte und schwieg.

Nachdenklich blickte er mich an, dann kritzelte er etwas auf ein liniertes Papier, das in einem scheinbar leeren Ordner eingeheftet war.

»Was tun Sie da?«, wollte ich wissen und beugte mich über den Tisch.

Er gab sich keinerlei Mühe, das Geschriebene zu verbergen und lehnte sich zurück. »Was glauben Sie denn, Miss Craine? Ich halte sie für überdurchschnittlich intelligent. Raten Sie.«

Ich verengte die Augen zu Schlitzen. »Sie führen eine Akte über mich?«

Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Sie sind ebenso Patientin in Ravenwood wie Zweidrittel der Menschen in dieser Einrichtung.«

»Sie wissen, dass das nicht wirklich so ist.«, brummte ich und blickte zur Seite, um meinen Unmut über die Situation auszudrücken.

»Aber alle glauben, dass es so ist. Und so lange das so ist, werde ich jeden Morgen und jeden Nachmittag mit Ihnen in diesem Raum verbringen. Es liegt an Ihnen, wie wir diese Zeit gestalten. Wir können reden oder uns eine Stunde lang anschweigen.«

Wütend presste ich die Kiefer zusammen. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Er wollte das tatsächlich durchziehen? Mich früh und spät hier einbestellen, als wäre ich tatsächlich gestört? Als wäre ich ein Patient, der Hilfe benötigte? Das alles war so suspekt und unwirklich, dass ich meine Wut kaum gezügelt bekam. Sie pulsierte heiß und siedend durch meine Adern, sodass ich ihn mit stummen Todesblicken taxierte.

»Was würden Sie in meine Akte schreiben, wenn ich eine Stunde lang schweigen würde? Sie hätten nicht besonders viel Lesestoff. Sicher nicht einmal halb so viel, wie bei den harmlosesten Patienten hier.«, sagte ich.

Er beugte sich langsam vor und legte die Fingerspitzen aneinander, bevor er mit den Zeigefingern seine Lippen berührte. Seine intensiven dunkelgrünen Augen blickten mich unverwandt an, schienen Löcher in meine Seele zu bohren. »Sie wären überrascht, was ich alles über Sie in diese Akte schreiben könnte.«

»Dinge, die Sie sich zweifellos ausdenken würden.«, entgegnete ich ihm.

»Sind Sie sich da wirklich sicher?«

Ich blickte ihn von der Seite an. »Hundertprozentig.«

Er verengte leicht die Augen, dann ließ er sich wieder zurücksinken. »Wollen Sie wissen, was ich denke?«

»Nicht wirklich.«, antwortete ich ihm schroff und wechselte meine Beinstellung.

»Dann sagen Sie mir, sobald Sie es erfahren wollen.« Seine Stimme war leise und suptil, als wolle er mich erneut herausfordern, ihm die Stirn zu bieten.

Er konnte sich darauf verlassen, dass ich dies tun würde. Immer und überall, zu jedem Augenblick. Vielleicht war es mein Schicksal, mein Leben hier zu verbringen und, wenn es für mich kein anderes Leben gab, wäre es dennoch kein Anlass für mich, mich dem Ganzen zu fügen. Ich würde kämpfen bis zum letzten Atemzug. Und sei es gegen ihn, gegen Nanzi, Filiz oder Professor Wood. Aber ich hegte dennoch noch immer die Hoffnung, einen Weg hinaus zu finden.

»Da Sie gestern bei Dr. Xanders sich nicht Blut abnehmen lassen wollten, werde ich Sie nun höflich bitten, sich auf den Stuhl zu setzen und mich das übernehmen zu lassen.«

»Und ich muss dankend ablehnen.«, knurrte ich bissig.

Dr. Wales legte den Kopf schief. »Warum machen Sie es sich selbst so schwer, Miss Craine?«

Ich sprang auf und legte beide Hände auf den Schreibtisch, beugte mich zu ihm vor und starrte ihn aufgebracht an. »Warum ich es mir so schwer mache? Wollen Sie mich eigentlich auf den Arm nehmen? Was würden Sie an meiner Stelle tun? Gefangen an einem Ort, von dem es kein Entkommen gibt und zwischen Irren umher laufen zu müssen und das Gefühl zu haben, der einzig klar denkende Mensch auf der ganzen Welt zu sein?«

»Verkriechen Sie sich aus diesem Grund in Ihrem Schneckenhaus?«, wollte er wissen und hielt meinem eisigen Blick stand.

Verächtlich lächelte ich ihn an. »Oh nein! Nein, nein, nein! Tun Sie das nicht!«

Er legte den Kopf schief. »Was?«

»Tun Sie nicht so, als könnten Sie mit diesen Psychoanalysen herausfinden, wer ich bin. Versuchen Sie bloß nicht, mich zu beurteilen, so, wie Sie es mit diesen durchgeknallten Leuten da machen.«, knurrte ich und deutete auf die anderen Akten. »All diese Menschen haben nichts mit mir gemeinsam. Nichts! Und ich bin keine Irre, die man analysieren muss, wie irgendein fremdartiges Geschöpf. Fangen Sie damit erst gar nicht an.«

Dr. Wales blickte mich einige Minuten stumm an.

Aufgebracht nahm ich meine Hände weg und entfernte mich von seinem Schreibtisch, dann blieb ich unschlüssig in der Mitte des kleinen, dunklen Raumes stehen und blickte mich erneut um. »Was wollen Sie eigentlich mit dieser Akte bezwecken? Womit werden diese Akten gefüllt?«

»Mit Personalbögen, die ungefähr alle drei Monate erneuert werden oder aktualisiert, Berichten über Therapiestunden und Gruppensitzungen, allgemeine Zwischenfälle und so weiter. Es ist wichtig, noch so kleine Dinge zu dokumentieren. Sie können Anhaltspunkte für spätere Zwischenfälle geben.«

Ich hob eine Augenbraue. »Faszinierend.«

Er lächelte kühl. »Warum habe ich das Gefühl, dass es bei Ihnen mehr zu dokumentieren gibt, als ich erwartet habe?«

»Vielleicht, weil Sie Psychologe sind, Dr. Wales.«, entgegnete ich und deutete auf den Stuhl. »Werden Sie mich zwingen, um Blut abnehmen zu lassen?«

Dr. Wales verzog leicht die Lippen. »Ich werde Sie nicht zwingen, weil ich Sie für so erwachsen und schlau halte, dass Sie hier hoffentlich keine hysterische Szene machen.«

Da musste ich ihm allerdings Recht geben. Ich wollte nicht wie ein unreifes Kind rüberkommen, damit es noch so wirkte, als wäre ich tatsächlich verrückt. Geschlagen seufzte ich und setzte mich auf den Untersuchungsstuhl. Dann beobachtete ich, wie Dr. Wales aufstand und zufrieden seinen Kittel richtete, bevor er zu mir trat und einige Materialien zusammen kramte. Dabei betrachtete ich, wie sich seine Muskeln unter der Kleidung bewegten. Schon seltsam, wie so ein Mann ausgerechnet Psychologe werden konnte. Solche Männer hätte ich früher gewiss gerne angesehen. So einen Mann hätte ich vielleicht später sogar geheiratet und Kinder mit ihm bekommen, aber nun gab es diese Zukunft nicht mehr für mich.

Seltsamerweise verspürte ich zum ersten Mal, seit ich hier war, eine tiefe Traurigkeit in mir.

Mir wurde bewusst, dass dieses Leben nichts mehr für mich bereit hielt. Keine Abenteuer, keine Spannung, nur noch Routine. Ich würde den ganzen Tag gleich verbringen. Schlafen, Essen, Therapiesitzungen und so weiter. Jeden Tag. Immer wieder. Vermutlich die nächsten Jahre. Mir lief ein Schauer über den Rücken und ich starrte kurzzeitig ins Leere, als ich Dr. Wales' kühle Hände an meiner Bluse fühlte, wie er den Ärmel empor schob. Er prüfte eine Vene und stach schnell und präzise mit der Nadel in meinen Arm, aber ich spürte beinahe gar nichts.

Genauso wie in meinem Herzen.

Es war kein Gefühl übrig geblieben, seit meine Mutter weg war.

Ich hatte niemanden.

»Bitte drücken Sie das auf die Wunde«, sagte Dr. Wales.

Ich gehorchte und drückte den Mulltupfer fest auf den Einstich, als er dabei war, die Blutproben zu verstauen.

»Und die körperliche Untersuchung? Dr. Xanders war ja gerade hellauf begeistert, sie durchführen zu können.«, murmelte ich bitter.

Dr. Wales schwieg einen Moment und beschriftete ordnungsgemäß die Blutproben, ehe er sich mir zuwandte und die Arme vor der Brust verschränkte. »Das ist dasselbe, wie mit der Blutabnahme. Ich zwinge Sie zu nichts und außerdem würde diese Untersuchung eine Ärztin übernehmen. Ich bin nicht befugt, Sie zu untersuchen, wenn Sie das nicht wollen.«

Leicht runzelte ich die Stirn und presste den Tupfer fester auf die Stichwunde, drehte den Kopf zur Seite und dachte über meine Möglichkeiten nach. Dr. Wales schien mir noch der freundlichste Arzt zu sein, den ich hier antreffen würde. Ich kannte zwar noch nicht viele Ärzte, aber Dr. Wales hatte sich bereits an meinem ersten Abend hier für mich eingesetzt und war mir mit so etwas wie Sanftheit entgegen gekommen.

 »Sie lassen mich endlich in Frieden mit diesen Sachen, wenn Sie mich untersucht haben?«

Dr. Wales nickte ernst. »Ja.«

Ich seufzte leise und stützte die Stirn in der Hand ab, dachte einen Moment nach. Es blieb mir im Grunde ja nichts anderes übrig, sodass ich geschlagen den Kopf senkte und ihn dann auffordernd ansah. »Gut. Dann bringen wir es hinter uns.«

»Soll ich eine Kollegin dazu holen?«

Leicht funkelte ich ihn an. »So jemand wie Nanzi oder Oberschwester Filiz? Lassen Sie das mal, aber wehe Sie starren mich an.«

Seine Mundwinkel zuckten leicht. »Das würde mir nie in den Sinn kommen. Schauen Sie, dort drüben steht ein Stuhl und den Vorhang können Sie vorziehen, während Sie sich entkleiden. Ich bereite alles vor.«

Ich nickte nur und ging zu dem Stuhl, zerrte den Vorhang vor und setzte mich für einen Moment auf den Stuhl, um mein rasendes Herz zu beruhigen. Noch nie hatte ich mich vor einem Mann ausgezogen oder stand geschweige denn nackt vor ihm. Es machte mich zugegebener Maßen nervös. Doch der Gedanke, eine Ärztin würde mich untersuchen, hätte mich noch nervöser gemacht. Die Frauen, die ich hier bereits gesehen hatte waren alle nicht besonders vertrauenserweckend. Das bedeutete nicht, dass ich den Männern mehr Vertrauen entgegen brachte, aber ich wüsste bei solchen Frauen wie der Köchin aus der Kantine oder Filiz, dass sie nicht gerade zimperlich bei der Untersuchung mit mir umgehen würden.

Langsam stand ich auf und knöpfte meine Bluse auf, faltete diese und legte sie auf den Stuhl. Danach öffnete ich den Verschluss des einfachen weißen Büstenhalters an meinem Rücken und streifte ihn ab. Die kühle Luft des Raumes streifte meinen nackten Oberkörper und verursachte mir eine Gänsehaut, dann öffnete ich die Knöpfe an der Seite meines Rockes und streifte ihn zusammen mit den Kniestrümpfen und meinen Schuhen von meinem Körper, bis ich nackt war. Ich nahm den dünnen Morgenmantel, der an einem Haken hing und schlang ihn fest um meinen Körper. Dann erst trat ich aus der Umkleideecke und blieb neben der Theke stehen, auf der er die verschiedensten Instrumente ausgebreitet hatte.

»Setzen Sie sich, Miss Craine.«, wies er mich an und ergriff das Tablett, stellte es neben einem Behandlungsstuhl ab, der mit dunklem Leder gepolstert war. Ich ließ mich darauf sinken und das Leder knarzte leicht unter meinem Gewicht. Meine Füße berührten das kühle Metall des Stuhlfußes, mit dem der Behandlungsstuhl mit dem Boden verschmolzen war.

Dr. Wales zog sich einen rollenden Hocker heran und setzte sich bequem darauf, griff nach dem Stethoskop und steckte sich die Stöpsel in die Ohren. Er näherte sich mir so, dass ich seinen warmen Atem an meiner Stirn spürte, als er vorsichtig das kühle Metallende an meinen Brustkorb hielt.

»Bitte atmen Sie ruhig.«

Ich hatte kaum gemerkt, dass ich den Atem angehalten hatte.

Er umrundete mich und schob das kühle Ende an meinem Rücken unter den Stoff, hörte meine Atemgeräusche und das Schlagen meines aufgeregten Herzens. Irgendwann, es erschien mir wie eine Ewigkeit, ließ er von mir ab und notierte sich die Ergebnisse in meine Akte.

»Was schreiben Sie da?«

Schelmisch blitzte er mich an. »Herzschlag und Atmung normal. Soll ich fortfahren?«

»Mein Herz schlägt wie die Klingel eines Weckers. Das ist falsche Dokumentation, das wissen Sie doch, oder?«

Leicht hob er eine Augenbraue. »Kennen Sie sich etwa in dem Fach aus?«

»Man hat Sie nicht wirklich über Ihre Patienten informiert, oder? Sie wissen jediglich, dass ich eigentlich gar nicht hier sein dürfte. Aber, alles was Sie dort hinein schreiben, verstehe ich ziemlich gut, also versuchen Sie nicht, mir irgendwas zu verheimlichen.«

Er musste schmunzeln, dass stand er auf. »Das würde ich niemals versuchen. Bitte stehen Sie auf.«

Impressum

Texte: Peawyn Hunter
Bildmaterialien: Cover created by © Peawyn Hunter / PeawynHunterBookRix@gmail.com
Tag der Veröffentlichung: 03.07.2016

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