Cover

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    Peawyn Hunter    

The Werewolfwhisperer

 

Die Eós Chroniken

Coverdesign

 

 

Hier möchte ich gerne meine wunderbare Coverdisignerin loben, die dieses wunderschöne Coverbild mit mir durchgeplant und dann für mich erstellt hat.

Ehrlich, ich hätte mir kein schöneres Cover vorstellen können!

 

Vielen lieben Dank an Büsra Yalaman alias sunshineandbirds.

 

 

Landkarte

 

 

Link, um die Karte zu vergrößern:

 

http://feuersternfantasy.deviantart.com/art/Landkarte-Eos-542726342

Prolog

 

Husten, Schnauben und Röcheln erfüllte die kalten, feuchten Zellen und Dunkelheit machte diese Geräusche noch unheimlicher, als es hier unten eh schon war. Unter seinen Füßen befand sich feuchtes Stroh, das von dem Urin früherer Gefangener und von ihm selbst getränkt war. In der rechten Ecke hörte er Ratten, die sich auf das vergammelte Brot gestürzt hatten, das einer der Wachmänner durch einen kleinen Schlitz in der schweren Zellentür geworfen hatte. Als ob er das essen würde, das wussten diese Männer nur ganz genau. Er rührte niemals dieses verfaulte Zeug an, sein Instinkt und das seines Wesens, seiner Bestie, einfach alles riet ihm davon ab und er hörte schon beinahe zweiundzwanzig Jahre auf diesen Instinkt.

Das, was ihm hier unten, seit seiner Geburt, Sicherheit und Schutz vor den grausamen Männern gab, die ihn und seine Mutter hier unten gefangen gehalten hatten. An sie erinnerte er sich nicht mehr völlig, denn sie starb kurz nachdem er geboren worden war. Sie war zu schwach gewesen, das Kind zu gebären, das ein grässliches Monster in sie gespritzt hatte, als man sie nackt und schutzlos in die Zelle seines Vaters geworfen hatte. Nur an den Geruch erinnerte er sich, der süße Duft nach Vanille hatte ihn Jahre seines Lebens begleitet, in denen er hinaus geschleppt wurde, in den Regen und an Pfählen mit Peitschenhieben getestet worden war.

Immer war dasselbe heraus gekommen.

Plötzlich öffnete sich die Tür zu den Kerkern, er konnte es hören, war er doch um einiges intelligenter, als normale Menschen. Schneller und beweglicher und in seiner Bestiengestalt auch größer.

Schritte kamen näher und blieben ausgerechnet vor seiner Zellentür stehen.

Langsam trat er zurück, rümpfte die Nase bei seinem eigenen stechenden Körpergeruch. Schließlich bekam man hier in den Zellen von Líz nicht jeden Tag einen Badezuber hingestellt, in dem man sich waschen durfte. Und als Gefangener einer Einrichtung von irren Forschern erst recht nicht.

Ein Schlüssel wurde gedreht und die Tür öffnete sich. Im Rahmen stand der oberste Meister einer durchgeknallten Sekte, die einen, für ihn unbekannten, Gott verehrten, der angeblich als einziger auf der Welt herrschte. Diese Leute predigten den Menschen vor, dass die Götter alle Unfug seien, dass dieser eine Gott über alle Naturgewaltigen gebieten konnte und die Menschen erschaffen hatte. Total bekloppt, wenn es nach ihm ginge.

»Weißt du eigentlich, dass in dem rechten Glauben, der erste Mann auf der Welt auch Adam hieß?«, fragte der Meister und trat in die Zelle, ohne sich um seine teure Robe sorgen zu machen.

Wenn er es recht bedachte, hätte er noch vor die Tür scheißen sollen, dann würde dieser Meister nun das an den Schuhen kleben haben, das er Jahr für Jahr für diese Sekte empfand. Abstoßung und Hass. Wobei er einem armen, nichts dafür könnenden Scheißhaufen, letzteres gegenüber sicher nicht empfand.

»Wie kann es rechter Glaube sein, wenn Eure Sekte die Menschen meuchelt, die nicht an die Tatsache glauben, dass es einen einzigen Gott gibt? Außerdem glaube ich nicht, dass der erste Mann auf der Welt eine Bestie war.«, erwiderte er trocken und verschränkte die Arme vor dem zerfleddertem Hemd, das beinahe schlimmer stank, als er selbst.

Der Meister lachte leise. »Die Ungläubigen werden sich früh genug besinnen, auch, wenn sich keiner solche Gedanken macht, wie du. Aber bei Letzteres hast du tatsächlich recht. Er war ein Mensch, nicht so etwas besonderes wie du. Kein übernatürliches Wesen... die Hexer der Akademie würden viel Gold bekommen, würden sie dich zwischen ihre Finger bekommen, schließlich bist du der erste deiner Art.«

Adam verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Ihr müsst mich nicht daran erinnern, dass Ihr meine Mutter ins Verlies eines Monsters geworfen und sie von ihm besteigen lassen habt, um mich heranzuzüchten. Das weiß ich auch so.«, knurrte er.

»Ich bin allerdings nicht hier, um mich mit dir über die Hure zu unterhalten, die du Mutter nennst.«

Adam spürte die Fangzähne in seine Unterlippe schneiden. Er hätte wohl alles gegeben, seine Arme und Beine und seinen Schwanz noch dazu, um einmal den Geschmack des Blutes auf seiner Zunge zu erleben, wenn er diesem Mann die Kehle heraus riss und damit seine Mutter rächte, die nur zufällig in die Fänge der Bluthand geraten war. Zwar hatte er keine Erinnerung an sie und würde sich niemals an sie erinnern, dafür bekam eine jede Bestie die Erinnerungen seiner Vorfahren durch das Blut vererbt. Und obwohl seine Mutter ein Mensch gewesen war, hatte er auch ihre Erinnerungen bekommen. Wie die Reiter der Bluthand sie mit sich nahmen, nachdem sie ihr Dorf dem Erdboden gleich gemacht hatten, ihren Geliebten getötet hatten. Nur, weil sie damals einen Liebhaber gehabt hatte, nannten sie sie Hure. Das verängstigte Mädchen hatten sie Tage und Wochen in den Gefangenenlagern außerhalb von Líz in Käfigen gehalten, wie Tiere. Dann, als die Zeit des Vollmondes heran gebrochen war, hatte man den Frauen die Kleider vom Leib gerissen und sie zu den Bestien gesperrt. Nur Adams Mutter hatte den Geschlechtsakt eines rasenden Biestes überlebt, die anderen wurden mit aufgerissenen Kehlen, Bäuchen und manchmal auch zerfetzten Geschlechtern am nächsten Morgen in den Zellen gefunden. Schließlich hatte seine Mutter ein Zimmer in dieser Burg bekommen und war dort eingesperrt gewesen. Diener hatten sich um sie gekümmert, denn das Kind, das das Monster in sie gepumpt hatte, durfte nicht sterben. Und das war es auch nicht. Wenige Monate nach der Befruchtung hatte man seinen Vater erschossen, sodass er nie gewusst hatte, welcher Mann hinter der Bestie steckte, denn auch in seinen Erinnerungen fand er nur das Bild eines Monsters. Schließlich war er geboren worden und seine Mutter bei der Geburt verblutet, da ihr Menschenkörper zu schwach für den Samen der Bestie gewesen war.

»Dann sagt mir, was Ihr dann wollt, Lucian.«, knurrte Adam.

Er machte eine einladende Geste, dann drehte er sich um und ging zur Zellentür. »Ich dachte mir, dass der Köter Auslauf braucht, schließlich sitzt du schon wieder zwei Wochen hier drinnen. Wirst du nicht langsam wahnsinnig da drinnen?«

Unbeeindruckt spuckte Adam aus. »Gemütlich. Besonders, wenn Nachts der Wind durch jede Ritze pfeift.« Adam kannte die Gemeinheiten des Meisters schon lange. Wie er sich einen Spaß daraus machte, dass seine Gefangenen litten, weil sie nicht aus den Zellen durften. Wenn sie nachts vor Kälte wimmerten oder am Pfahl schrien, wenn die Peitsche auf ihre Rücken sauste und dabei Furchen ins Fleisch riss... und der Boden getränkt war mit Blut.

»Wirst du freiwillig mitkommen oder müssen wir dir das Halsband anlegen?«

Adam verdrehte die Augen und ließ die Arme fallen, dann folgte er dem Meister.

Gleich von vier Wachmännern begleitet gingen sie den Mittelweg zwischen den Zellen entlang. Von überall her starrten ihn gelbe oder rote Augenpaare an und nicht alle waren von der Bestie, die er in sich wohnen hatte. Andere waren noch älter, als diese Gemäuer selbst. Bies', Harpyien und sogar eine Nixe waren in diesen Gemäuern weggesperrt. Die Sekte untersuchte diese Wesen, um zu verstehen, wo ihr Ursprung lag, da ihr ach so toller Gott, niemals solche Dämonen auf die Erde los lassen würde.

Doch seltsamerweise führte der Meister Adam nicht wie gewohnt aus der Seitentür zum Richtplatz, sondern den dunklen Gang hinter der Tür weiter, aus der er immer kam. Vorher war er nie in einem anderen Teil der Burg gewesen und fühlte sich deshalb etwas unsicher. Und dann auf einmal blieben sie vor einer weiteren Zellentür stehen. Durch eines der winzigen Fenster kurz unter der Decke fiel Mondlicht herein. Der Vollmond würde bald anbrechen, aber noch war der Abend zu früh.

»Öffnet die Tür.«, befahl der Meister.

Adam runzelte die Stirn, als einer der Wachmänner die Tür entriegelte und aufzog. Unsicher betrat er die Zelle dahinter, die im Vergleich zu seiner Zelle überaus sauber war.

Doch in der dunklen Zelle war er nicht allein, denn ein kleines Bündel Menschenhaut- und Knochen presste sich zitternd und mit klappernden Zähnen vor Furcht in eine Ecke. Das Mädchen, das dort auf dem Boden saß und mit dem weißen Nachthemd bekleidet war, durfte kaum älter als zwölf sein.

Nein. Das konnte nicht wahr sein. Er sah die beinahe gleiche Szenerie vor seinem inneren Auge. Wie seine Mutter in die Zelle des Monsters geworfen wurde. Er sollte sich mit diesem... diesem Kind paaren?!

Mit gefletschten Zähnen wandte er sich um und starrte den Meister an, doch dann wurde die Tür zu gestoßen und er prallte gegen Metall mit Silber versetzt, das ihm Höllenqualen bereitete. Schnurrend schlug er gegen die Tür. »Macht sofort diese Tür auf!«, brüllte er animalisch wie ein Tier, denn er spürte es bereits.

Wie das Licht sich durch den Raum bahnte, wie Ketten, die ihn niemals los lassen würden. Der Vollmond stieg auf und als er das Heulen einer Bestie hörte, war es aus mit seiner Kontrolle. Das Mädchen in der Ecke würde durch seine Hand sterben und das war das letzte, was er gewollt hatte. Ein unschuldiges Kind ermorden, das mit dieser ganzen schrecklichen Sache nichts zu tun hatte.

Stöhnend sank er auf die Knie und knurrte, was sich längst nicht mehr menschlich anhörte. Die Schmerzen, wenn er sich verwandelte, waren kaum zu beschreiben, denn bei der Verwandlung veränderte sich sein Körper dramatisch. Jeder Knochen brach sich, um sich neu zusammenzusetzen, brach erneut und setzte sich neu zusammen. Er spürte es bereits in seinen Oberschenkeln. Schließlich erklang das erste Knacken eines brechenden Knochen. Seine Haut verfärbte sich dunkel und er kniff vor Qual die Augen zusammen. Sein Gesicht knackte unheilvoll, bevor es sich langsam begann nach vorne zu schieben. Der Teil, der seinen Mund geformt hatte, begann sich eine eine lange, wölfische Schnauze zu verändern, weiße Zähne blitzten im Mondlicht, die Lefzen zogen sich bis zu seinen Ohren, die begannen, den Ort zu wechseln und sich zu großen Wolfsohren zu formen. Nun sank er auf alle Viere, wobei seine Fingernägel, die bereits zu Klauen geworden waren, über den Stein kratzten und sich schärften.

Und dann hörte er das Reißen von Stoff.

Als er die Augen wieder öffnete, blickte er in angstvoll geweitete Augen. Verweinte Augen, die ihn anstarrten, jede seiner Bewegungen. Adam schüttelte den mächtigen Kopf, doch überraschenderweise galt sein Zorn diesmal keinem unschuldigen Leben, wie es Jahre zuvor gewesen war und dafür schon Menschen starben. Sein Zorn galt dem Meister, dieser verfluchten Einrichtung. Mit ungeheurer Kraft sprang er an die Wand und krallte seine Klauen im Stein fest. Seine freie Pfote zerstörte mit wenig Aufwand die Gitterstäbe des Fensters, bevor er herunter kletterte und die Tür mit einem einzigen Hieb seines Schädels aufstemmte. Die Tür flog aus den Angeln, dann drehte er sich ein letztes Mal zu dem kleinen Mädchen um.

»Lauf«, knurrte er mit bestialischer, verzerrter Stimme.

Dann war er schon auf allen Vieren und schoss durch den Gang zurück zu den Kerkern. Sein Instinkt leitete ihn zu den Käfigen, doch da standen ihm auf einmal zwei Wachmänner im Weg.

»Bleib ja stehen, Bestie!«, schrie einer todesmutig. Hätte er es doch nicht getan.

Mit einer Pranke packte er den Wachmann an der Kehle und vergrub seine Zähne in seinem Fleisch. Der Andere versuchte, ihn mit seinem Schwert zu erwischen, aber Adam war schneller. Der Vollmond verlieh ihm ungeahnte Kräfte und in nur wenigen Sekunden hatte er seinen Kopf von den Schultern gerissen. Dann machte er sich daran, die Käfige der anderen Monster aufzubrechen. Ihm kamen andere Bestien entgegen, die in die Freiheit flohen und das war seine Chance.

Er folgte ihnen, wahnsinnig vom Licht des Mondes bis in den Innenhof. Dort blieb er stehen, reckte den Kopf in den Himmel und heulte aus voller Kehle. Denn das war es, was er war. Er war der Sohn eines Werwolfes, einer Bestie, die an den Mond und dessen Zyklus gebunden war, verdammt, immer die Gestalt eines Wolfes anzunehmen. Zwar hatte er das Mädchen retten können, aber er würde sicher noch viele Menschen töten. Das war sein Fluch. Seine Bürde, der er sein Leben lang zu tragen haben würde.

 

Eins

 

Draußen war es dunkel und die Menschen waren längst nicht mehr auf den Straßen des kleinen Dorfes Jorinsheim, welches seit vielen Generationen in den Rabenfeldern, landesmittig, lag und sein kleines bescheidenes Leben lebte. Reisende kamen von nah und fern, um eine Nacht in der Schänke ›zum blauen Elch‹ zu verbringen, ihre Pferde versorgen zu lassen und am nächsten Tag aufzubrechen.

Hier in Jorinsheim galt das Motto, ›pack mit an, oder sieh zu, wie du alleine klar kommst!‹. Das galt für jedes Dorfmitglied und jeder hielt sich daran. Man musste sich unter die Arme greifen, denn sonst war man verloren und so hatte jeder seine Aufgabe. Der alte Joé brachte Milch und Käse von seinem Hof, der eine Meile westlich von Jorinsheim lag, dafür bekam er Garn und Wolle von den Schafshirten, deren Frauen aus der Wolle Abends Garn und Schnüre sponnen. Dann gab es noch Wilmer, den Jäger, der tagtäglich als einziger, das Dorf wirklich verließ, um im Wald nach Wild zu suchen, das er schießen konnte. Davon profitierte das ganze Dorf, denn jeder brauchte seine Portion Fleisch, besonders die Kleinen, die die Nahrung brauchten, die Eiweiße und tierischen Fette, um nicht zu verhungern.

Und mein Vater war einer der fünf Bauern des Dorfes. Früher, als meine Mutter noch lebte, hatten wir alle angepackt, um den kleinen Hof und die wenigen Felder zu bewirtschaften, die unseren Lebensunterhalt darstellten. Mein Vater Harris, meine Mutter Mageret, meine älteste Schwester Kestral, meine zweitälteste Schwester Miriam und ich, die kleine Raven.

Zusammen waren wir unschlagbar gewesen. Ich hatte schon mit acht angefangen auf den Feldern zu arbeiten, zwar nicht solche Dinge, wie meine Schwestern bereits konnten oder meine Eltern, aber ich hatte das Unkraut heraus gerupft und meiner Familie oft Wasser geholt, damit sie bei der Arbeit nicht umkippten.

Bis zu jenem Tag, als meine Mutter nicht mehr aufstehen konnte, das Bett im Schlafzimmer nassgeschwitzt war und sie schlimmer glühte, als ein Kochtopf. Vater war völlig am Ende gewesen, hatte den Heiler Marcus um Hilfe gebeten, aber er hatte auch kein Heilmittel für meine Mutter gehabt. Und so war sie eines Morgens nicht aufgestanden, hatte sich nicht wecken lassen.

Sonst war ich jeden Tag zu ihrem Bett gegangen und hatte sie geweckt, da Vater oft früh auf den Feldern war, um nach der Ernte zu sehen. Wie immer war ich ins Schlafzimmer gegangen, war aufs Bett geklettert und war unter ihre Decke gekrochen, um sie sanft aufzuwecken, denn sie mochte es nicht, wenn es morgens hektisch war. Aber selbst, als ich geweint und sie angeschrien hatte, dass sie wach werden sollte, hatte sie die Augen nicht aufgeschlagen. Verwirrt und verängstigt schlich ich in die Stube, wo Vater vor dem Kamin gesessen hatte, die Augen nass und glasig. Er hatte vom Weinvorrat geplündert und sich die halbe Flasche teuren Mets in den Rachen gekippt. Damals hatte ich gefragt, was mit meiner Mutter los war und hatte die erste Ohrfeige meines Lebens von ihm bekommen.

Er war genauso erschrocken gewesen wie ich, war aufgesprungen und hatte meinen Namen geschrien, als ich schluchzend und weinend aus der Tür gerannt war. Meine Füße hatten mich damals getragen, meilenweit. Weit über die Grenzen des Dorfes hinaus in den Wald. Weinend war ich an einem alten, ausgetrockneten Flussbett zusammengebrochen und hatte mich vor Schock an eine Wurzel festgeklammert. Den ganzen Tag und die halbe Nacht hatte ich dort gehockt, dann erst fand mich Wilmer, der Jäger, und brachte mich nach Hause zurück.

Meine Schwestern hatten bereits gewusst, dass Mutter tot war und Vater betrunken und als ich wieder kam, war ihre Leiche verschwunden. Das Bett war aufgeschüttelt, neu bezogen gewesen und die Fenster überall in unserem kleinen Haus sperrangelweit offen.

Danach war irgendwann die Beerdigung auf dem kleinen Friedhof abseits von Jorinsheim, wo man zwei Stunden zu Fuß brauchte, um dorthin zu gelangen. Nie wieder fasste ich solch ein Vertrauen zu meiner Familie, wie ich es einst gehabt hatte.

Unsere Familie war schlichtweg kaputt.

»Ist es besser?«

Ich öffnete die Augen. Die Stimme von Miriam durchbrach die Stille, die seit einigen Minuten im ganzen Haus herrschte. Dunkelheit hatte sich in der Kammer ausgebreitet, denn die Kerze, die Miriam gerade eben noch angezündet hatte, war einfach aus gegangen. Wohl durch einen Lufthauch. Meine Tränen waren bereits versiegt, jedoch nicht der Schmerz meiner linken Gesichtshälfte, sodass ich mich fester an meine ältere Schwester schmiegte.

Vor nur wenigen Minuten hatte ich Vaters Wein verschüttet, als ich geglaubt hatte, dass er vor Betrunkenheit eingeschlafen war. So schnell, wie seine Hand in meinem Gesicht gelandet war, hatte ich gar nicht gucken können. Vor Überraschung war ich nach hinten gekippt und hatte mir auch noch die Handflächen an den Scherben aufgeschnitten. Er hatte mir noch eine verpassen wollen, aber Kestral hatte sich schützend vor mich gestellt und ihn davon abgehalten. Mit einem Wink hatte sich mich raus geschickt und ich hatte mich in der kleinen Kammer, die mein Zimmer war, eingeschlossen.

Dann hatte es geklopft und Miriam wollte rein kommen. Nur kurz hatte ich die Tür geöffnet und mich dann gleich wieder in eine Ecke verkrümelt.

Und nun saß ich hier. Mit schmerzendem Gesicht und einem neuen Pfeilchen und Stille im ganzen Haus. Ich fragte mich, was dort unten in der Stube vor sich ging. Würde unser Vater Kestral irgendwas antun? Sicher würde er ihr auch eine Ohrfeige verpassen oder sie verprügeln, schließlich hatte sie sich ihm in den Weg gestellt.

»Es geht.«, murmelte ich kaum hörbar.

»Kestral sagte doch, dass du dich von Vater fern halten sollst, Raven.«, flüsterte sie und zog mich enger an sich, bettete ihren Kopf auf meinem und strich mir über die kalten Oberarme. »Es wird alles gut.«

Seufz... Miriam, die hoffnungslose Optimistin. Sie war schon immer die gutgläubigste von uns allen gewesen. Außerdem war sie sanft und liebevoll und hatte viel von unserer Mutter geerbt. Sehr viel. Sie hatte das hellbraune Haar und die hellblauen Augen ebenfalls von unserer Mutter geerbt. Kestral hingegen hatte das schwarze Haar unseres Vaters und die dunkelbraunen Augen, die auf alles sehr realistisch und objektiv auf die Dinge blickten. Ich hingegen war so ziemlich mittig mit meinem brünetten Haar und den grauen Augen. Alles an mir wirkte durchschnittlich und unspektakulär.

Plötzlich klopfte es an der Tür und als sie sich öffnete, stand die schlanke Gestalt meiner großen Schwester Kestral darin. Sie schloss die Tür, kam zu uns und ließ sich auf meiner anderen Seite auf den Boden fallen, schlang die Arme schweigend um mich und tröstete mich ungemein. Das alles war grausam.

Irgendwann stand Kestral auf und zog mich sanft mit zum Bett. Mit wenigen Gesten bedeutete sie mir, dass ich mich hinlegen sollte und ich tat es, kroch unter die Decke und blieb ruhig liegen, als sie einen kleinen Verbandskasten holte, um meine aufgeschnittenen Handflächen zu verbinden. Als sie damit fertig war und ich meine pochenden Hände an meiner Brust zusammen krampfte, strich sie mir schweigend über die Stirn, küsste sie und nahm Miriam mit sich aus meiner kleinen Kammer heraus.

Wahrscheinlich dachten sie, dass ich schon schlief, da sie ungehemmt vor meiner Tür miteinander sprachen, was mich zittern ließ.

»Das geht nicht mehr, Kestral, Vater prügelt sie irgendwann noch tot.«, zischte Miriam und ich hörte Klappern. Vermutlich hatte sie ihr das Verbandskästchen aus der Hand gerissen.

»Ich weiß doch auch nicht, was wir tun sollen... Ich sehe vielleicht immer so stark aus, aber in Wahrheit habe ich keinen blassen Schimmer.«, erwiderte meine älteste Schwester. »Vielleicht... wenn wir sie verheiraten... dann ist sie zumindest aus diesem Irrenhaus weg.«

Ich hörte Schritte und Miriams Stimme hörte ich nur noch mit Mühe. »Mit vierzehn? Verheiraten? Glaubst du wirklich, dass sie weniger grauenvolle Dinge erfährt, wenn sie einen Mann heiratet? Sie ist zu jung für solche Dinge.«

»Wir müssen alle früh erwachsen werden, außerdem gibt es weitaus schlimmere Dinge, als für einen Mann die Schenkel zu spreizen.«, erwiderte Kestral gereizt.

Ich merkte wie meine Zähne aufeinander schlugen. Vierzehn... Eigentlich hätte ich längst heiraten müssen, genau wie meine Schwestern, aber Vater war seit Jahren egal, was aus uns wurde, sodass er Kestral und Miriam auch keinen Mann gesucht hatte und mir auch nicht. Dabei war ich nur noch eineinhalb Monate noch vierzehn, dann war mein fünfzehnter Geburtstag. Und ich müsste schon Tante sein, schon Mutter. Aber ich wollte es nicht.

Zwar wusste ich auch nicht, was ich wollte, aber seit dem Tod meiner Mutter fühlte ich mich in keinster Weise mehr mit diesem Dorf verbunden. Weder mit den Menschen, noch mit dem Land. Alles war wirr und verdreht.

»Nur weil du für den Sohn des Schmiedes bereits die Beine breit gemacht hast, glaubst du, dass es für Raven nicht grauenvoll werden würde? Ein Ehemann ist etwas anderes, als ein Liebhaber, für den du deine Ehre gerne in den Dreck wirfst.«, knurrte Miriam.

Manchmal kam es mir so vor, als wäre sie auf Kestral eifersüchtig. Viele im Dorf wussten von meiner ältesten Schwester und Robb, dem dreiundzwanzigjährigen Schmiedesohn, mit dem sie vor einem Jahr, zu ihrem neunzehnten Geburtstag, ins Heu gestiegen war und niemand machte sich etwas daraus, da beinahe jeder wusste - außer meine Schwester natürlich -, dass er seit Monaten an einem Ring arbeitete, um sie zur Frau zu nehmen.

Miriam hingegen war siebzehn und hatte mir auch schon anvertraut, dass sie manchmal solche Träume hatte, wo sie mit Kjell, dem Sohn des Holzfällers, für den sie heimlich schwärmte, im Bett lag und sich ihm hingab. Öfters hatte sie mir gesagt, dass ihr Schoß tagsüber gezogen hatte und feucht war, wenn sie an die Szenen dachte, die sie in ihren Träumen gesehen hatte.

Manchmal dachte auch ich daran, wie es war, bei einem Mann zu liegen. Schließlich hatte ich nicht um das Thema herum kommen können, als mir meine Schwestern von diesen Dingen erzählte. Davon, was geschah, wenn ein Mann und eine Frau gewisse Dinge taten, um Kinder zu zeugen. Wie das Geschlecht eines Mannes aussah und wie er es benutzte, um einer Frau ein Kind zu machen. Es hatte mich anfangs erschreckt, als ich erklärt bekommen hatte, dass ein Mann ein Glied hatte und damit in eine Frau eindrang, um dort seinen Samen abzuspritzen. Noch immer fragte ich mich, wie so ein Kind entstehen konnte, aber auch Kestral und Miriam hatten keine Antwort darauf gehabt. Sie sagten mir, dass es einfach passierte. Früher oder später.

»Sag nichts über Robb, das geht dich nichts an, Miriam!«

»Dann hör auf, davon zu sprechen, Raven an irgendeinen Kerl zu verschacheln. Sie ist vierzehn und soll nicht das Leben einer Ehefrau erfahren, bevor es nicht zwingend notwendig ist.«

Ich drehte mich in meinem Bett auf die Seite und vergrub mein Gesicht fester in den Kissen, dann blickte ich zum Fenster hinüber, als ich Schritte draußen hörte. Miriam und Kestral gingen hinunter. Gut so. Dann musste ich nicht länger zuhören. Bebend atmete ich ein und aus, schloss die Augen und biss mir auf die Unterlippe, wobei mir die Tränen über die Wangen liefen.

Besser wäre es, würde ich einfach fortlaufen.

Manchmal rannte ich in den Wald, wenn ich einsam war oder Vater wieder zugeschlagen hatte. Rannte Stunde um Stunde bis ich den Friedhof erreichte und vor dem Grabstein meiner Mutter auf die Knie sank und ihr erzählte, was Zuhause wieder los war. Ich wusste, dass sie traurig wäre, würde sie wissen, was Vater uns und auch sich selbst antat. Dass er trank, weil er den Verlust nicht verkraftete.

Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn ich wurde vom Poltern in der Stube wach. Blinzelnd blickte ich mich um, es konnte noch nicht spät gewesen sein, denn es war noch dunkel, was wohl hieß, dass ich nur wenige Stunden geschlafen hatte. Müde und mit pochender Gesichtshälfte schwang ich die Füße über die Bettkante, wobei sich das hellbeige Nachthemd um meine Beine bauschte. Gedankenverloren kämmte ich mein dunkelbraunes Haar mit den Fingern durch, als ich zur Tür ging und diese öffnete.

Ich blickte um die Ecke. In der Stube war es  still, aber das Feuer brannte noch, oder schon wieder. Mit gerunzelter Stirn setzte ich die nackten Füße auf die Treppenstufen, darauf achtend, kein Geräusch zu machen, falls Vater dort unten saß und ich mich gleich wieder verkrümeln musste.

Aber, als ich auf der unteren Stufe stand und in die Stube blickte, saß bloß Miriam vor dem Kamin und starrte ins Feuer, eine Stickerei auf dem Schoß.

Sie hob den Kopf, als sie mich bemerkte. »Du solltest doch schlafen, Raven.«

»Ich habe Lärm gehört.«, verteidigte ich mich schwach. »Wo ist Kestral?«

Seufzend legte Miriam ihre Arbeit nieder. »Bei Wilmer... er ist vor zehn Minuten gestorben.«

Geschockt starrte ich sie an und legte die Hand über die Lippen. »Aber... er war doch gesund!«, flüsterte ich.

Miriam legte die Stickerei auf einen kleinen Eichenholztisch, der neben den Schemeln stand, die vor dem Kamin Platz fanden und, den ich nie leiden konnte, weil er immer im Weg stand. Dann streckte sie ihre Arme aus und ich ließ mich in diese fallen. »Marcus sagte, es sei ein Herzinfakt gewesen. Da konnte niemand etwas tun.«

Zitternd saß ich auf dem Boden vor ihren Füßen, klammerte mich an sie und bettete den Kopf in ihrem Schoß. Auch noch das... Aber woher nur, sollte das Dorf nun sein Fleisch nehmen? Wenn niemand jagen ging, würde das Dorf nicht durch den Winter kommen, der bald vor der Tür stand. Und niemand kannte sich so gut mit Spurenlesen und dem Verfolgen von Wild aus, wie Wilmer sich ausgekannt hatte. Was noch dazu kam, war, dass er keinen Sohn gehabt hatte, dem er sein Handwerk beigebracht hatte, was in unserem Dorf eigentlich Tradition war. Die Söhne erlernten den Beruf ihres Vaters. Der Holzfäller Ulme lehrte seinen Sohn Kjell, seit er laufen konnte, das Hacken von Holz und wie er mit den Kaltblütern umgehen musste, die die schweren Baumstämme ins Dorf transportierten. Kestrals Liebhaber, Robb, lernte ebenfalls von Kindesbeinen auf, wie er den Hammer schwang und Stahl bearbeitete. Alle Söhne lernten das von ihren Vätern, während die Töchter von ihren Müttern lernten, einen Haushalt zu führen, das Essen für die Familie einzuteilen, um sie durch den Winter zu bringen, damit sie, wenn sie verheiratet wurden, selbst einmal ihren Mann und ihre Kinder versorgten.

Aber so? Wilmer hatte keinen Erben gehabt, der sein Handwerk erlernt hatte.

»Wer wird das Wild schießen?«, fragte ich hilflos.

Miriam strich mir eine dunkelbraune Strähne aus der Stirn, die mir ins Gesicht gefallen war. »Ich weiß es nicht... die Dorfältesten werden Aushänge ans große Brett nageln müssen und an die Meilensteine westlich und östlich von hier, um einen anzuwerben. Aber bis sich jemand meldet, könnten Wochen vergehen.«

Ich blickte ins Feuer. »Der Winter steht vor der Tür.«

Miriam nickte nachdenklich. »Es wird alles gut. Ich bin mir sicher...«

»Hatte er Familie?«, unterbrach ich sie. Ich selbst hatte nie nach Wilmer gefragt, hatte mich nicht einmal sonderlich für diesen Mann interessiert, selbst, nachdem er mich vor einigen Jahren im Wald gefunden und wieder nach Hause gebracht hatte, nachdem meine Mutter starb. Nun bereute ich es, mich nie nach ihm erkundigt zu haben.

»Nein. Angeblich soll er vor vielen Jahrzehnten eine Frau geheiratet haben, aber sie starb wohl nur ein Jahr nach der Hochzeit im Kindsbett und nahm die gemeinsame Tochter mit sich. Ansonsten habe ich nichts von einer Familie mitbekommen.«, murmelte Miriam und strich mir über den Kopf. »Geh wieder ins Bett. Wir sprechen morgen weiter, du brauchst jetzt Ruhe, damit die Schnitte verheilen.«

Ich vermutete, dass sie selbst Zeit brauchte, um alles zu verdauen und mich deshalb mal wieder, wie ein kleines Kind behandelte, aber ich gehorchte ihr. Auch ich war fertig mit den Nerven, konnte es insgeheim nicht fassen, dass Wilmer tot war. Noch viel weniger konnte ich es fassen, dass Kestral mich am liebsten an einen Mann verheiraten wollte, nur, damit ich nicht länger unter Vaters Fuchtel stand.

Aber allein der Versuch, mich zu verheiraten, wäre ausweglos. Oder zumindest sehr schwierig. Schließlich würde der Mann zuerst bei meinem Vater um meine Hand anhalten müssen und ob der in der Stimmung war, eine Mitgift zu bezahlen, war fraglich. Deshalb war ich auch sehr ängstlich, wass Kestral und Robb betraf. Schließlich würde er ihr früher oder später auf jeden Fall einen Antrag machen.

Geschlagen nickte ich, verabschiedete mich mit einem Winken und ging zur Treppe hinüber, die hoch in die zweite Etage unserer Hütte führte. Als ich oben war, stand ich in dem kleinen Flur, der unsere drei Zimmer miteinander verband. Damals, als unsere Familie noch heil gewesen war, hatten Vater und Mutter in einem der drei Zimmer geschlafen, bis ich auf die Welt kam und Vater der Meinung war, dass jeder sein eigenes Zimmer bekommen sollte. Und so hatte er sich daran gemacht, das Schlafzimmer zu bauen. Dieses befand sich als kleiner Anbau direkt neben der Treppe. Monatelang hatte Vater Kjells Vater deshalb Raten bezahlt, um das Bauholz heran zu schaffen, mit dem er die Hütte ausbaute.

Und so waren Vater und Mutter nach meiner Geburt, ein Jahr später, in den Anbau gezogen.

Kopfschüttelnd über diese Gedanken ging ich zu meinem Zimmer, stemmte die Tür auf und schloss sie hinter mir wieder. Müde und fröstelnd, ob der Nachrichten, kroch ich in mein Bett, lehnte mich dann aber zum Nachttisch und holte Streichhölzer. Damit zündete ich die kleine, schwarze Öllampe an, die mir nachts manchmal Licht spendete, wenn ich nicht schlafen konnte.

Als das duselige Halblicht meine Kammer erfüllte, vergrub ich mich unter den vielen Decken und Fellen, die uns Bauern Nachts oft warm hielten, da es in den Dörfern der Rabenfelder immer an Feuerplätzen mangelte. Jedenfalls innerhalb der Hütten. Dort gab es immer in der Stube eine Feuerstelle, die einen wärmte, aber in den Zimmern war es oft kühl, wenn nicht, sogar schweinekalt.

Grübelnd dachte ich über Miriam und Kestral nach, die wohl der einzige Fels waren, gegen die die Brandung noch schlug. Vater kümmerte sich seit dem Tod meiner Mutter nicht mehr um uns, vernachlässigte die Felder, die ohnehin schon schwer zu bewirtschaften waren. Damals war meine Mutter nämlich noch die angesehene Tochter des Webers gewesen, der für alle Kleidungsstücke und Decken da war, die im Dorf produziert wurden. Bis herauskam, dass sie eine Affäre mit meinem Vater hatte und bereits mit Kestral schwanger war. Ihr Vater schmiss sie raus und sagte ihr, dass sie alleine klar kommen musste. Vater hatte sie sofort zu sich nach Hause geholt und, nachdem er sie heiratete, zogen sie in unsere Hütte, etwas abseits der anderen auf den Hügel. Allein durch die Höhe waren die Felder schwer zu bewirtschaften gewesen, aber nun, wo Vater sich eh nicht mehr darum kümmerte, konnten wir uns nur noch knapp über Wasser halten.

Kestral und Miriam bemühten sich sehr, damit ich keinen Hunger litt. Sie bauten Kräuter und Gemüse im kleinen Garten hinter der Hütte an, um sie zu verkaufen und wenigstens etwas an Nahrung auf den Tisch zu bringen. Manchmal, wenn es ein sehr mageres Abendessen war, gaben sie mir sogar etwas von ihren kläglichen Portionen ab.

Zwar glaubten sie so, durch ihren gespielten Optimismus, dass ich nicht merken würde, in welchen Schwierigkeiten wir steckten, aber ich merkte es. Vielleicht, so überlegte ich, wäre es besser, wenn ich doch heiraten würde? Es war Tradition, dass, wenn ein Mädchen heiratete, sie danach bei ihrem Ehemann leben würde und nichts mehr mit ihrer alten Familie zu tun hatte. Bis auf die Besuche und Hilfen, die man noch von seiner Familie bekam. Aber wäre das überhaupt möglich? Vater würde darauf bestimmt nicht eingehen und außerdem würde er eine Mitgift bezahlen müssen, in Form von Geld, Schmuck oder Kleider. All das hatten wir nicht.

Und wäre es wirklich so gut, wie ich glaubte?

Schon lange fühlte ich mich nicht mehr mit dem Dorf verbunden, hatte viel zu viel von meiner Mutter, die nie in ihrem Leben eine Bäuerin gewesen war, bis zu dem Tag, als ihr Vater sie verbannte. Ich und meine Schwestern waren genauso zierlich und schwach, wie sie gewesen war. Und nun einen Mann heiraten, die Schenkel spreizen und Kinder gebären? Dafür war ich nicht bereit, würde es nie sein. Jedenfalls glaubte ich das, dass ich niemals bereit dafür sein würde.

Erschöpft wälzte ich mich herum, drückte meine Arme eng an meine kleine Brust und kniff die Augen zusammen, aber egal, was ich tat, ich konnte nicht wieder einschlafen. Und so setzte ich mich auf und tat das, was ich immer tat, wenn ich nicht schlafen konnte. Ich holte mein Klöppelzeug aus der Schublade meines Nachttisches und setzte mich einmal mehr an das komplizierte Spitzenmuster, dass ich vor wenigen Monden begonnen hatte, zu klöppeln. Ich hatte mir gedacht, wenn Kestral und Miriam schon schufteten wie die Ackergäule, dann konnte ich meinen Teil auch dazu beitragen.

Schließlich war Spitze in der Stadt viel wert, sodass ich daraufhin arbeitete, dass Willy meine fertige Spitze irgendwann mit nach Cathalon nehmen würde. Willy war der Mann, der einmal pro Monat nach Cathalon reiste, um dort Waren aus dem Dorf zu verkaufen. Schließlich mangelte es nicht nur uns an Geld und Essen, sondern auch anderen Familien, die mit ihren Arbeiten Geld verdienen wollten. So zum Beispiel ließ Ulme sein überschüssiges Holz mitnehmen, um einen ordentlichen Betrag aus der Stadt zu erwerden, genauso auch der Schmied, Jore. Frauen verkauften Stoffe und Decken, die sie gewebt hatten, manchmal schickten sie auch ihre Kinder fort, damit sie in der Stadt eine Chance auf ein besseres Leben hatten. Ich für meinen Teil, wollte Spitze verkaufen.

Vielleicht würde meine Spitze irgendwann an einem hübschen Ballkleid oder Hochzeitskleid hängen?

Nun klang ich wirklich zu euphorisch.

Eine Weile, nachdem ich hübsche, aufwändige Blumenmuster und sogar Schmetterlinge in die Spitze eingearbeitet hatte, hörte ich Schritte vor der Hütte. Durch das unisolierte Haus und meinen guten Gehör, konnte ich sofort Robbs Gangart heraus hören.

Ich schob die Arbeit beiseite, stand auf und ging zu einem der Fenster hinüber. Draußen erkannte ich, wie Robb und Kestral den Pfad hinauf zur Hütte kamen. Sie schienen zu diskutieren, aber ich verstand in Kestrals wildem Schluchzen nur vereinzelte Wortfetzen, wie, dass sie nicht länger so weitermachen könnte und, dass doch sowieso alles ausweglos war.

Wollte sie sich etwa von Robb trennen?! Nein! Das durfte sie auf keinen Fall! Robb war ihre einzige Möglichkeit aus dieser Hölle mit Vater und der Hütte herauszukommen. Ein gutes Leben zu leben. Außerdem hatte Robb den Ring doch schon bald fertig, das durfte sie nicht machen!

Vor Erleichterung seufzte ich auf, als ich erkannte, wie Robb die Arme nach ihr ausstreckte und sie an seine breite Brust zog. Sie schmiegte sich weinend an ihn und schien seine Nähe zu genießen. Gefahr gebannt.

Als die Beiden zur Tür gingen, drehte ich mich um und ging zur Tür meiner Kammer. Ich öffnete sie einen Spalt und setzte mich daneben auf den Boden, um das Gespräch meiner Schwestern und Robb zu belauschen.

Die Tür unten öffnete sich.

»Kestral!«, zischte Miriam leise, sodass ich sie kaum verstand. »Und? Was ist mit Wilmer?«

Kestral seufzte laut. »Ein Herzinfakt... wie Marcus vermutet hat. Das halbe Dorf war bei seiner Hütte. Sie haben ihn weggetragen und die Hütte verschlossen, damit niemand einbricht. Morgen sollen Olaf und Waimer entscheiden, was wir tun.«

»Die Dorfältesten, wobei sie keine Ahnung von irgendwas haben.«, knurrte Robb gehässig und ich hätte schwören können, er würde die Arme vor der Brust verschränken.

Es war allgemein bekannt, dass Robb und sein Vater nicht gut auf die Dorfältesten zu sprechen waren. Als Robb sechzehn war, also vor sieben Jahren, verschwand seine Mutter spurlos im Wald, als sie Pilze sammeln wollte. Robbs Vater war außer sich gewesen, hatte die Dorfältesten angefleht, einen Suchtrupp loszuschicken, aber die beiden Männer hatten abgewinkt. Hatten gemeint, dass sie keine Männer in den Wald schicken wollten, wenn dort vielleicht ein Ungeheuer herum streifte. Olaf hatte hinterher geschoben, dass Robbs Mutter vielleicht mit einem Liebhaber über alle Berge war, wodurch er sich eine gebrochene Nase von Robb eingefangen hatte, der geknurrt hatte, dass er so nicht von seiner Mutter sprechen sollte.

Wenige Tage später hatte Ulme den Korb gefunden, mit dem Robbs Mutter unterwegs gewesen war. Zudem noch blutige Stofffetzen. Bis heute wusste keiner, was mit ihr geschehen war oder wo sie war. Ob sie den Angriff eventuell überlebt hatte.

Aber seitdem waren Robb und sein Vater strickt gegen die Dorfältesten und ihre Methoden. Und sie taten dies zu jeder Gelegenheit kund.

»Sie werden etwas machen müssen.«, erwiderte Miriam. »Schließlich ist es in drei Monaten Winter und wenn sie nicht verhungern wollen, werden sie Stellenangebote anschlagen müssen.«

»Genau das ist das Problem. Sie bewegen ihre fetten Ärsche nur, wenn es um ihr eigenes Wohl geht.« Robb war wütend.

»Robb, bitte. Hör auf, ich bin zu aufgewühlt, um jetzt wieder zu streiten.«, hörte ich Kestral flüstern. Sie musste sich auf einen Schemel gesetzt haben, denn einer davon knarzte kurz.

»Wieso? Hat dein Vater wieder irgendwas getan?« Nun klang seine Stimme besorgt.

Kestral antwortete nicht.

Dafür aber Miriam: »Raven hat den Wein fallen lassen. Vater hat sie geschlagen... ziemlich arg sogar.«

»Das kann doch nicht so weitergehen. Raven ist noch ein Kind, das sollte sie nicht erleben.«, raunte Robb und setzte sich wohl zu Kestral, denn ein weiterer Schemel knarzte. »Wir müssen irgendwas tun.«

»Ich habe mir überlegt... ob wir sie verheiraten können.«

»Verheiraten?« Robbs Stimme schoss in die Höhe. »Du weißt schon, was die Pflichten einer Ehefrau sind? Raven ist vierzehn.«

Nun klang Kestral verzweifelt. »Ich weiß es doch auch nicht!«

Ich schauderte leicht und rieb mir die nackten Oberarme. Eine Weile hörte ich ihnen noch zu, aber sie ließen das Thema über Heirat und Ehefrau so schnell wieder fallen, wie sie es begonnen hatten. Auf einmal hörte ich Schritte und bemerkte, dass Miriam auch zu Bett ging. Den Göttern sei Dank, bemerkte sie nicht, dass meine Tür nur angelehnt war und ich direkt daneben saß. Ich lauschte weiter.

»Soll ich heute Nacht hier bleiben?«, fragte Robb leise.

»Bitte... nicht.«, krächzte Kestral.

Was die da unten wohl taten? Ich konnte es mir lebhaft vorstellen.

»Ich kann mich heute nicht auf solche Dinge konzentrieren, Robb. Es ist alles kompliziert genug und du weißt, dass ich Angst habe, wenn wir es tun.«

Der Stuhl knarzte, sodass ich wusste, dass er sein Gewicht verlagerte. »Ich weiß. Wir sind ja schon vorsichtig und all das, aber ich will dich endlich ganz haben. Ohne die Angst um deine Schwestern, ohne, dass uns ein tyrannischer Vater im Weg ist. Ich will frei mit dir sein... ich habe dich schon einmal gefragt und ich tue es wieder. Was denkst du darüber, wenn wir heiraten würden.«

»Vater würde es nie erlauben.«

»Vergiss einmal deinen Vater und sag mir, was du fühlen würdest, würden wir es tun.«

Ich hörte Kestral bebend ausatmen. »Ich wäre sehr glücklich. Aber ich kann meine Schwestern nicht im Stich lassen, nur um ein glückliches, sorgenfreies Leben zu verbringen. Ich will sie in guten Händen wissen. Will, dass sie nicht länger unter Vater leiden müssen... besonders Raven nicht. Sie ist zu jung für all das.«

»Du willst sie also wirklich verheiraten?«

»Ich würde alles tun, um sie in Sicherheit zu wissen.«

Robb seufzte. »An wen?«

»Ich weiß es nicht. Aber bis dahin, werde ich sie vom Hof fernhalten. Sie soll unserem betrunkenen Vater nicht noch öfter über den Weg laufen.«

Ich hatte genug gehört, stand auf und schlurfte zu meinem Bett hinüber, kroch unter die Decken und Felle und kniff die Augen zusammen. Stumm weinte ich. Wieder einmal.

Zwei

 

Vater war bereits früh hinunter zur Schänke gegangen, um dort seinen restlichen Tag zu verbringen, zu trinken und sich eventuell auch zu prügeln. Also eigentlich nichts neues.

Und so stand ich am Morgen in der kleinen Küche, die neben der Stube, direkt gegenüber dem Schlafzimmeranbau meiner Eltern lag. Gedankenverloren schrubbte ich einige Töpfe und Pfannen, während ich Miriam draußen Schnauben hörte von der schweren Arbeit. Jeder von uns hatte seine festen Aufgaben. Da sich Kestral und Miriam im Garten den Rücken buckelig arbeiteten, kümmerte ich mich oftmals um den Haushalt. Das Wischen, Entstauben, Abwaschen und und und. Es gab immer genug zu tun, sodass ich mich nicht beklagen konnte.

Auf einmal öffnete sich die Hintertür der Küche und Kestral trat durchgefroren mit einem Korb unter dem Arm ins Haus ein. Sie trug heute das hellblaue Kleid mit einer weißen Leinenschürze und einem dicken Wolltuch um die Schultern. Ich hingegen trug ein fliederfarbenes Kleid und ein dunkelviolettes Tuch um die Schultern, um mich wenigstens etwas warm zu halten.

Kestral stellte den Korb auf den Tisch in der Mitte der Küche. »Verdammte Kanickel!«, fluchte sie lautstark und hob eine angeknabberte Möre in die Höhe. »Im Wald finden die doch genug, warum müssen die immer hier herum streunen?«

Ich zuckte die Achseln. »Weil sie schlau sind.«

»Inwiefern?«, fragte meine Schwester bissig und ging zum Teekessel hinüber, um sich etwas einzuschütten.

»Hier müssen sie nicht lange nach etwas suchen.«, erwiderte ich, nahm einen Becher aus dem Schrank und hielt ihn ihr hin.

Dankbar nickte sie und schenkte sich heißen Tee ein, den ich vor zehn Minuten heiß gemacht hatte. »Auch wieder wahr... davon abgesehen. Ich wollte gleich runter zum Haupthaus gehen und mit Olaf und Waimer sprechen, wegen den Aushängen für einen neuen Jäger.«

»Müsste sich nicht Vater um solche Dinge kümmern?«, fragte ich bitter, erwartete aber keine Antwort, sondern drehte mich zurück zu der großen Holzwanne auf dem Tresen, wo ich gerade noch Töpfe geschrubbt hatte und ergriff den Lappen, um weiterzumachen.

»Du weißt genau, weshalb er das nicht kann.«

Weil er sich den ganzen Tag betrinkt und im besten Fall auch noch zuschlägt, wenn ihm was nicht passt, dachte ich zynisch und griff nach dem harten Seifenstück auf der Fensterbank.

»Ich dachte mir, dass du vielleicht mitkommen möchtest.«, sagte Kestral zögerlich.

Ich hielt inne und blickte sie an. Zwar wusste ich durch das Gespräch, das sie gestern mit Robb geführt hatte, dass sie mich von der Hütte und all dem Grauen, das mit ihr verbunden war, fern halten wollte, aber ich tat wenigstens so, als würde ich mich freuen. »Ehrlich?«

Sie lächelte. »Klar.«

Ich grinste zurück und stellte den sauberen Topf auf den Tresen, damit er trocknen konnte, dann strich ich mein Kleid glatt und folgte ihr, als sie in die Stube trat und zur Tür. Draußen wehte mir ein kühler, beißender Wind entgegen und der Geruch von Frost lag in der Luft. Blätter tanzten in der Luft und die Bäume waren bereits rot und orange verfärbt. Bald würden sie alle ihre Blätter verlieren. Wir liefen den kleinen Pfad zwischen den Feldern hindurch bis hinunter zum Dorf, wo unsere Felder noch von einer niedrigen Steinmauer eingerahmt wurden, über das sich im Laufe der Winter bereits Efeu gerankt hatte. Oftmals saß darauf die Katze des Müllers, ein roter Kater mit weißer Brust und einer weißen Pfote. Heute aber war von ihm nichts zu sehen.

Im Dorf herrschte laues Treiben. Eine Bauersfrau, Imie, hängte gerade ihre Wäsche nach draußen und scheuchte ihren Jüngsten ins Haus, der nackig um sie herum getänzelt war. Der Junge sollte sich keine Grippe holen. Im Nebel, der heute Morgen über dem Land lag, sah ich in der Ferne Kjell und Ulme, die Holzbretter auf einen Karren luden.

Kestral blieb am Zaun ihrer Holzfällerhütte stehen. »Wofür sind die Bretter?«, fragte sie wie immer selbstbewusst und sicher.

Ulme rieb sich die Stirn und rückte dann seine Mütze gerade, bevor er sich auf einen der Pfosten des Zaunes stützte und seinen Sohn weiterarbeiten ließ. »Für die Jägerhütte. Olaf war der Ansicht, dass sie repariert werden muss, bevor sich dort jemand einnistet. Wilmer hat nicht viel Wert auf die Reperaturen seiner Hütte gelegt, der arme Schlucker war wahrscheinlich nur froh, wenn er seine Beute abliefern konnte und nachts ins Bett unter warme Decken kommt.«

Meine Schwester nickte nachdenklich. »Was sagt Olaf zu der Idee mit den Aushängen?«

»Findet er gut, solange er es nicht selbst machen muss. Da kennst du Olaf ja.«

Allerdings, dachte ich und rieb mir die Hände aneinander.

»Hm«, machte Kestral und strich sich eine ihrer schwarzen Strähnen aus dem Gesicht.

Kjell lehnte sich neben seinem Vater auf den Zaun. »Wie geht es denn Miriam so?«

Ulme stöhnte genervt, richtete sich auf und machte eine wegwerfende Handbewegung, bevor er sich ein weiteres Brett vom Haufen neben der Hütte schnappte.

Kestral lächelte ihn vielsagend an. »Sie ist oben in der Hütte... Vater unten in der Schänke. Frag sie doch selbst.«

Kjell, ein junger Mann um die zwanzig Jahre alt, mit einer muskulösen Figur, die er bei der Arbeit als Holzfäller auch brauchte, dunkelbraunem Haar und grünbraunen Augen, die immer etwas verschmitzt blitzten, hob überrascht die Augenbrauen. »Tatsächlich? Wenn das so ist, dann werde ich sie mal besuchen.« Er richtete sich auf, grinste uns noch an, dann begab er sich wieder zu seinem alten Herr und ergriff kinderleicht eines der dicken Holzbretter.

Kestral und ich gingen weiter an Hütten vorbei, ärmlichen Gestalten, die in den Morgenstunden ihre Arbeiten erledigten, bis zum Haupthaus. Es klang spektakulärer, als es war. In Wirklichkeit bestand das Haupthaus nur aus ein wenig Stein und Stroh. Es war schmal und lang, hatte einen einzigen Eingang und war ansonsten leer. Im Innern, am Ende des Hauses gab es einen großen Kamin, in dem Raum waren sonst Bänke verteilt. Wir benutzten das Haupthaus manchmal zum Feiern oder für die wöchentliche Messe, um zu den Göttern zu beten.

Wir traten durch den Eingang, wo uns eine seltsame Situation erwartete.

Die beiden Dorfältesten, Olaf - ein älterer Mann, der die hellgrauen Strähnen auf der Schädeldecke bereits abrasiert hatte und immer eine Robe trug, wie ein Heiliger - und Waimer - ein alter Mann, der mit dem wilden Bart und dem Rossschweif im Nacken immer etwas verwegen aussah und ein blindes Auge hatte, das er sich angeblich beim Kampf um eine Frau zugezogen hatte - standen mit verschränkten Armen vor der Feuerstelle. Vor ihnen ein fremder Mann mit goldblonden, kurzen Haaren in Lederkleidung. Auch, wenn ich ihn nur von der Seite sah, erkannte ich seine muskulöse Figur unter der Kleidung. Außerdem war er sehr groß, sogar für einen Mann. Bestimmt über ein Meter achtzig.

Als wir eintraten, hob er den Kopf und fixierte uns mit kristallblauen Augen. Zuerst musterte er meine Schwester kurz und abschätzig, als würde er sie scannen, sodass ich mich hinter ihrem Rücken hielt. Doch unvermittelt machte Kestral einen Schritt zur Seite und der eisblaue Blick traf mich. Seine Augenbrauen zuckten kurz verblüfft, bevor er seine Mimik wieder unter Kontrolle hatte und sich den Ältesten zuwandte.

»Was ist nun?«, fragte der Fremde genervt.

Ich beobachtete ihn, als er sprach. Die Lippen bewegten sich sogar bei einem so simplen Satz anmutig, wirkten sie doch ganz anders, als das ansonsten harte Gesicht und die kalten Augen, die bereits eine Menge Leid gesehen haben mussten. Und dabei schien er kaum älter als... zwanzig?

Olaf blickte unsicher zu Waimer herüber.

»Wollt Ihr mich nun als Jäger, ja oder nein? Es gibt noch mehr Dörfer in der Gegend und die würden mich mit Kusshand nehmen.«, fügte der Fremde mit harter Stimme hinzu.

Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe und mein Puls schien sich angesichts dieser angespannten Situation zu verschnellern.

Der Fremde warf mir einen kurzen Seitenblick zu, bevor er sich wieder an die Dorfältesten wandte.

Plötzlich dämmerte es mir, weshalb die beiden wohl noch zögerten. Woher wusste der Fremde überhaupt, dass wir einen Jäger suchten? Ob er auch von Wilmer wusste? Ich war verwirrt, denn Olaf und Waimer hatten die Aushänge ja sicher noch nicht ans Anschlagbrett nebem dem Haupthaus genagelt und bestimmt war auch noch niemand los gezogen, um die Meilensteine mit Informationen zu bestücken.

»Da wir zufälliger Weise«, setzte Olaf an. »gerade unseren Jäger verloren haben, wäre ein neuer natürlich sehr hilfreich.«

»Drückt Euch klarer aus.« Der Fremde verschränkte ungeduldig die Arme vor der Brust.

Waimer nickte genervt. »Wir nehmen Euch als Jäger auf... deine Hütte ist am Waldrand, außerhalb des Dorfes. Und wo die Damen bereits hier sind, könnt ihr ihm die Hütte zeigen.« Damit wandte sich Waimer ab und ging an uns vorbei.

Kestral blickte dem Alten fassungslos nach.

Ich konnte sie verstehen. Jetzt sollten wir auch noch ihre Arbeit erledigen? Das wurde ja immer besser! Wütend blickte ich zu Olaf, der mich aber dezent ignorierte und sich ebenfalls aus dem Staub machte.

»Nun?« Der Fremde hob eine Augenbraue.

Kestral schnaubte nur. »Folgt mir.« Als sie sich zu mir umdrehte, packte sie mein Handgelenk und zog mich mit, als wolle sie nicht, dass dieser Typ in meine Nähe kam. Sie schob mich vor sich her, dann ergriff sie meinen Arm und zog mich raschen Schrittes hinter sich her quer durchs Dorf.

Auch jetzt waren noch nicht viele Dörfler auf den Straßen, nur aus der Weite sah ich noch Ulme, der Bretter einlud. Kjell war fort und ich konnte mir denken, wo er war. Bei Miriam. Ich fragte mich nur, ob sie nicht irgendeine Dummheit begang mit ihm. Es war bekannt, dass Kjell nicht lange etwas anbrennen ließ, wenn er einmal Lunte gerochen hatte. Und meine Schwester war unsterblich in ihn verliebt. Er hätte leichtes Spiel mit ihr.

Unsicher blickte ich über die Schulter, wo uns der Fremde mit eleganten Schritten folgte. Er hob die Augenbrauen, als er merkte, dass ich ihn anstarrte, sodass ich wieder nach vorn zu meiner Schwester sah.

Nur wenige Minuten später erreichten wir Wilmers alte Jägerhütte, die nur aus zwei Räumen bestand. Einem Schlafzimmer und der Stube, an die gleich die Küche grenzte. Vor der Hütte waren Pfähle in den Boden gerammt, wo gerade noch ein Hirschfell hing, das erst vor kurzem geschossen worden war. Neben der Hauswand standen Kisten und Fässer mit Regenwasser, außerdem prangten Tierschädel über der Eingangstür.

Kestral ließ mich los und öffnete die Tür, die irgendjemand wohl aufgeschlossen haben musste. Sie trat ein und ich dicht hinter ihr. Sie blieb vor dem erloschenen Kamin stehen, als auch der Fremde eintrat.

»Die Hütte ist klein. Dort ist die Küche, da die Tür das Schlafzimmer. Wilmer hatte einmal eine Frau, deswegen ist es ein großes Bett, das den halben Raum einnimmt. Seine Waffen versteckte er in einer Klappe unter dem Boden, dort irgendwo.«, informierte Kestral ihn.

Der fremde Jäger blickte sich einmal um, als würde ihm die Hütte an sich egal sein, dann richtete er seinen kristallklaren Blick auf mich. Ich schluckte und sah unsicher zu Kestral, die ihn noch immer mit ihren Augen fixierte.

»Gemütlich.«, kommentierte er nur trocken.

»Das... freut mich zu hören.«, erwiderte Kestral. »Darf ich erfahren, wie Euer Name ist?«

Er ging an uns vorbei zu einem kleinen Tisch, auf dem eine dicke Kerze stand, daneben lagen Streichhölzer. »Adam.« Er nahm die Streichhölzer und zündete die Kerze an und als er sich zu uns umdrehte, glaubte ich einen Lichtreflex in seinen Augen zu sehen, wie bei wilden Tieren. Seltsamerweise musste ich in diesem Moment an die Nacht im Wald denken, als meine Mutter gestorben war. Schier hunderte gelbe Augenpaare hatten mich beobachtet. Es waren Wölfe gewesen.

Heftig blinzelte ich, aber der Reflex war nur kurz da gewesen und schon wieder verschwunden, sodass ich mir sicher war, dass ich mir das nur eingebildet hatte.

»Adam... und weiter?«, hakte Kestral nach.

Er hob eine Augenbraue. »Einfach nur Adam.«

Verdutzt blickte Kestral zu mir herunter. »In... Ordnung. Mein Name ist Kestral und das ist meine kleine Schwester Raven. Wir wohnen auf dem Hügel in dem Bauernhaus mit meiner anderen kleinen Schwester Miriam und unserem Vater, Thorwald.«

»Hat er sie geschlagen?«, fragte er unvermittelt.

Ich zuckte zusammen und meine Hand fuhr zu meinem Gesicht. Beschämt senkte ich den Blick.

»Woher wisst Ihr, dass es ein Schlag war?« Kestral verengte die Augen zu Schlitzen.

Adam blickte sie kurz an, dann wandte er sich ab. »Ich weiß, wenn ich eine Ohrfeige sehe.«

Heute Morgen noch hatte ich das Pochen gefühlt und hatte das Gesicht vor Schmerz verzogen, wenn ich meine rechte Gesichtshälfte berührt hatte. In dem kleinen Spiegel, den ich als einzigen Luxus in meiner Kammer hatte, hatte ich gesehen, dass meine Wange bis zu meiner Schläfe hinauf blau und violett angeschwollen war. Vater war schon immer stark gewesen, weshalb mich das Aussehen der Ohrfeige nicht weiter überrascht hatte. Nicht selten platzte meine Lippe dabei auf, wobei ich dieses Mal also echt Glück gehabt hatte.

Jeder im Dorf wusste von Vater und seiner Situation mit dem Trinken. Und jeder wusste darum, dass er uns nicht selten prügelte, wenn wir nicht spurten. Aber niemand sprach das aus, was er gerade ausgesprochen hatte. Niemand wagte es, uns danach zu fragen, ob es Vater war. Jeder wusste es nämlich und niemand hatte sich in unsere Familienangelegenheiten zu mischen. So war es in unserem Dorf. Man sprach nicht über die Dinge, sondern wartete bis sie von selbst verschwanden.

So kannte ich es von Geburt an.

Er war wahrlich nicht von hier.

Kestral sah zu mir, dann schob sie mich in Richtung Tür. »Geh nach Hause und bereite schon mal das Frühstück vor.«, lächelte sie erzwungen.

Ich warf Adam einen Blick zu, der abwartend da stand und uns musterte, als würde er auf irgendwas warten, dann nickte ich geschlagen und trat aus der Hütte aus, lehnte die Tür aber nur an und setzte mich auf die drei Holzstufen vor der Hütte hin, um zuhören zu können. Zwar war es eigentlich nicht meine Art, ständig irgendwelchen Leuten bei ihren Gesprächen zuzuhören, aber das, was der Fremde zu sagen hatte, interessierte mich doch ziemlich.

Es war meine Schwester, die zuerst anfing weiterzureden. »Ich will, dass Ihr Euch von meiner Schwester fern haltet.«, zischte sie gebieterisch.

»Warum? Glaubt Ihr, dass ich sie genauso verprügeln könnte, wie ihr Vater? Glaubt mir, ich habe kein Interesse daran, kleine Mädchen zu schlagen.«

Kleine Mädchen? Sah ich wirklich wie ein Kind aus?!

Kestral schnaubte und trat einen Schritt auf ihn zu, was ich am Knarzen der Holzdielen hörte. »Ich sehe, wie Ihr sie anschaut.«

Er schien sein Gewicht zu verlagern, denn eine weitere Diele knarzte. »Ach ja? Wie schaue ich dieses Kind denn an?«

Ich zuckte zusammen und presste die Lippen aufeinander. Kind...

»Ihr seht sie an, wie ein Hengst, der seine Stute besteigen will!«, knurrte Kestral beinahe, als wäre sie meine Mutter. »Und ich rate Euch, lasst es bleiben. Sie ist nämlich schon jemandem versprochen.«

»Tatsächlich?«, sprach Adam das aus, was ich am liebsten geschrien hätte.

Tatsächlich? Wem denn? Davon wusste ich überhaupt nichts! Warum erfuhr ich eigentlich immer als Letzte etwas? Das war so unfair.

Ich bemerkte am Rande nur die weichen Knie, die ich von Kestrals erstem Satz bekommen hatte. Wie ein Hengst, der seine Stute besteigen will... Hatte er mich so angesehen? Ich konnte es selbst nicht einschätzen, da mich nie ein Mann wirklich angesehen hatte. Jedenfalls noch nie so, wie dieser Fremde, der gerade einmal zehn Minuten in unserem Dorf war, angesehen hatte.

»Das geht Euch nichts an. Haltet Euch einfach fern von ihr, kapiert?« Kestral war wie eine Bärenmutter, was sie gar nicht sein müsste. Ich würde auch gut alleine klar kommen.

»Ganz unter uns, Schätzchen, ich hätte Eure Schwester sowieso nicht angepackt. An ihr ist kaum mehr als Haut und Knochen, kaum etwas, zum anpacken dran, in Ordnung? Und da die Kleine eh vor der Haustür hockt und uns belauscht, müsst Ihr ihr nicht einmal sagen, dass sie nicht in meine Nähe kommen soll. Wenn ich bitten darf?« Adams Stimme war gleichbleibend neutral.

Es hatte mir einen Stich versetzt, als er so voller Abscheu gesagt hatte, dass er mich nicht anpacken würde. Weil an mir nur Haut und Knochen war. Ob ich jemals einen Mann finden würde, der mich gerne ansah? Ich bezweifelte es irgendwie und zuckte zusammen, als die Tür aufgeschlagen wurde und Kestral mich wütend anfunkelte. Sie griff nach meinem Handgelenk und zog mich auf die Beine. Dann schleifte sie mich regelrecht zurück hinunter ins Dorf und den Hang hinauf zu unserer Hütte.

Dort empfing uns leises Stöhnen und ich bekam eine Gänsehaut von der männlichen, stöhnenden Stimme. Kestral stockte ebenfalls, dann zog sie mich um die Hütte herum, wohl ohne es zu merken. Was ich dann sah, ließ die Spucke in meinem Hals hängen bleiben.

Miriam lehnte mit gespreizten Beinen an der Hauswand und Kjell stand mit halb herunter gelassener Hose dazwischen, das Gesicht an ihrem Hals vergraben.

»Bin ich eigentlich im Irrenhaus gelandet?!«, brüllte Kestral.

Kjell schreckte auf und starrte meine große Schwester an, bevor sein Blick zu Miriam glitt, die sich mit einem erschrockenen Keuchen ihr Wolltuch über den Oberkörper zog.

»Kestral?«, krächzte Miriam.

»Ja, verdammt! Dass sie hier oben alleine ist, hieß nicht, dass du sie bespringen musst, wie eine Bergziege, Kjell!« Kestral war außer sich vor Wut, wobei ich den Grund dafür noch immer nicht verstand.

Kjell lief puterrot an, und zuppelte rasch seine Hose hoch, bevor er an uns vorbei hechtete und im morgendlichen Nebel verschwand. Miriam zupfte selbst ihren Rock gerade und starrte Kestral ebenso wütend an, wie diese sie anstarrte. Die Luft schien elektrisch aufgeladen zu werden und beinahe hätte man es zwischen den beiden gefährlich knistern gehört, do angespannt war die Situation.

»Musste das sein? Echt?«, fragte Miriam wütend.

»Fragst du mich das im Ernst, Miriam? Dieser Kerl will doch nur eine schnelle Nummer mit dir und dann hast du dein Leben auch schon verschenkt. Was glaubst du, wäre passiert, nachdem er deine Beine gespreizt und in dich gespritzt hätte? Hm? Denkst du überhaupt einmal nach?«, entgegnete Kestral und umklammerte noch fester mein Handgelenk.

Im Moment wollte ich gar nicht hier sein. Das Gespräch des Fremden und meiner Schwester lag mir noch immer wie blei im Magen. Dass ich dürr war und er mich nicht hätte anfassen wollen, weil ich ein Kind war. So musste es doch jedem Mann im Dorf gehen, oder? Jedem Jungen in meinem Alter. Ich war kindlich und mager und dazu auch noch blau geschlagen. Und nun dämmerte es mir. Kestral musste das nur so gesagt haben. Niemals hatte sie bereits einen, dem ich versprochen war. Welcher Kerl würde mich mageres Ding schon zur Ehefrau nehmen? Ich konnte keine Kinder gebären, wenn ich so dünn war. In der Hochzeitsnacht würde er sich höchstens an meinen Rippen schneiden.

»Ja, Kestral. Ich denke nach! Ich habe daran gedacht, dass ich auch einmal mit einem Mann zusammensein will. Du weißt, dass ich Kjell liebe!«

»Und liebt er dich?«, fauchte Kestral zurück.

»Was spielt das für eine Rolle? Du wusstest doch auch nicht, ob Robb dich liebt, bevor du mit ihm ins Heu gesprungen bist.« Miriam schlang das Wolltuch enger um ihren Oberkörper, um ihren entblößten Busen zu verbergen.

Ich wollte einfach nur in mein Zimmer und Ruhe für den Rest des Tages haben, da ich selbst aufgewühlt genug war, aber um ehrlich zu sein, musste ich Kestral Recht geben. Oftmals spielte sie die überfürsorgliche Glucke, da sie nach dem Tod unserer Mutter gar keine andere Wahl gehabt hatte. Als Älteste von uns war es ihre Pflicht gewesen, den leeren Platz, den Mutter zurückgelassen hatte, zu füllen. Allein die Aktion mit dem neuen Jäger zeigte, dass sie uns am liebsten vor Allem beschützen wollen würde, aber es war manchmal nicht möglich. Und doch hatte sie Recht. Wenn Kjell es nicht ernst mit Miriam meinte, wäre sie nur eine entehrte Bauerstochter und es wäre sehr schwer für sie einen Ehemann zu finden. Und das war das oberste Gebot in unserem Dorf.

Die Gründung einer Familie.

»Das tut hier gar nichts zur Sache. Ich hätte meine Lektion gelernt, hätte Robb mich danach links liegen lassen, aber das hier ist etwas vollkommen anderes. Kjell ist im ganzen Dorf als Frauenschwarm verschrien. Was glaubst du, mit wievielen Mädchen er schon das Bett geteilt hat? Darf ich dich an Nira erinnern? An Suzie?«

Wütend presste Miriam die Lippen aufeinander. Ich sah, wie ihr Tränen in den Augen wackelten. Tränen der Erkenntnis?

Sie atmete bebend ein, dann stapfte sie an uns vorbei, ohne uns noch einmal anzusehen und umrundete die Hütte. Ich hörte die Haustür krachen, wenig später ihre Zimmertür. Kestral seufzte erschöpft, dann wandte sie sich mir zu und ließ mich los.

»Und jetzt zu dir«, sagte sie.

Na super.

»Warum hast du uns zugehört?«

Ich zuckte ratlos die Schultern. »Weil ich wissen wollte, was du mit ihm beredest.«

»Magst du ihn?«, fragte sie.

Ich riss verblüfft die Augen auf. »Ich kenne ihn gar nicht. Nein, ich mag ihn nicht.«, schnaubte ich, da ich keine Lust auf eine Moralpredigt hatte und folgte Miriam ins Haus, nur um meiner neugierigen Schwester zu entkommen. Ich flüchtete mich in die Küche und musste mich irgendwie ablenken, sodass ich nach dem Korb griff und eine neue Holzwanne hervor zog, um das Gemüse zu waschen.

Kestral war mir natürlich in die Hütte gefolgt. »Magst du ihn?«, bohrte sie erneut.

Ich hielt inne und runzelte die Stirn. Wie sollte ich jemanden mögen, den ich erst wenige Sekunden kannte? Das ging nicht, oder? Und dennoch fühlte ich irgendwas. Etwas, das ich nicht beschreiben konnte, geschweige denn wollte. Undbehagen in seiner Nähe, wie ein eiskalter Schauer, der mir über den Rücken fuhr und sich in wohliges, warmes Prickeln verwandelte. Eine seltsame Vorahnung, dass ich mich von ihm fern halten sollte und doch hatte ich das Gefühl, ich müsse in seiner Nähe sein. Mehr über ihn erfahren. Das war absurd.

Nachdenklich sah ich sie an. »Ich weiß es nicht.«, gab ich wahrheitsgemäß zu. »Ich weiß nicht, wie ich ihn einschätzen soll.«

Kestral hob die Brauen. »Also bin ich nicht die einzige, die ein seltsames Gefühl in seiner Nähe hatte.«

Ich nickte und nahm den Eimer Wasser, der immer neben der Tür stand, um schnell Wasser zu haben, wenn etwas war. Grübelnd schüttete ich es in die Wanne und tauchte eine Karotte hinein, um sie vom Sand sauber zu putzen.

Es war ein überaus seltsames Gefühl, das ich gehabt hatte, eines, das sie nur so beschreiben ließ: »Es war so, als wenn man als Hirsch, neben einem schlafenden Wolf stehen müsste und durch ein Meer aus zerschelltem Porzelan wartet.«

 

Der Tag verlief ansonsten still. Wir frühstückten etwas, wobei Miriam nicht aus ihrem Zimmer kommen wollte, dann setzte ich mich mit meiner Handarbeit vor den Kamin und auch Kestral setzte sich zu mir. Wir redeten, während wir jeweils an unseren Arbeiten saßen und mit geübten Fingergriffen Maschen stickten und klöppelten. Gegen Mittag kam auch noch Robb vorbei, der einen Korb mit frischem Brot brachte und einen Beutel mit neuen Werkzeugen, mit denen er am Nachmittag eine undichte Stelle im Dach reparierte. Danach folgte eine überschwängliche Knutscherei mit meiner Schwester, bei der ich mich mit dem Korb in die Küche zurück zog und das noch warme Brot auspackte, damit das verdunstende Wasser das Brot nicht zu schnell zum Schimmeln brachte.

»Hast du auch schon von dem neuen Jäger gehört?«, fragte Robb interessiert und setzte sich auf meinen Schemel, wobei er ganz vorsichtig meine Handarbeit auf den kleinen Tisch legte.

Ich betrachtete Robb und meine Schwester zusammen. Sie sahen aus, wie ein junges, glückliches Ehepaar, noch bevor sie überhaupt verheiratet waren. Robb war groß und sehr kräftig, schließlich brauchte er seine Muskeln bei der täglichen Arbeit in der Schmiede seines Vaters. Er hatte dunkelbraunes Haar, das er immer zu einer gesunden, gepflegten Länge von einem Zeigefinger lang, geschnitten hatte. Seine goldbraunen Augen hingegen wirkten sogar für einen Jorinsheimer sehr besonders und selten. Nur seine Mutter hatte früher dieselbe Augenfarbe gehabt. Irgendwie passten die beiden so gut zusammen, dass ich beinahe etwas neidisch wurde.

Es musste schön sein, jemanden zu haben, auf den man sich verlassen konnte. Abgesehen von der eigenen Familie.

»Allerdings. Der Kerl hat Raven angeschaut, als wolle er sie fressen.«, murmelte Kestral gedämpft, damit ich wohl nichts hörte.

Aber sogar durch das Plätschern der Wanne, da ich den Rest vom Gemüse putzte, hörte ich ihre melodische Stimme.

»Der kommt mir auch äußerst seltsam vor... ich hatte ein ganz komisches Gefühl, als ich mit meinem Vater da war, um Werkzeuge abzuliefern. - Aber mal, was anderes: was war eigentlich mit Kjell los? Der hat sich kaum getraut mich anzugucken.«

Kestral seufzte leise. »Beinahe hätte er mit Miriam, du weißt schon was gemacht.«, sagte sie.

Robb klang, als hätte er sich an seiner eigenen Spucke verschluckt. »Ach du heilige Scheiße. Was ist passiert?«

»Nun ja, wir sind von der Jägerhütte wieder gekommen und da lehnten die beiden an der Hauswand. Er mit heruntergelassener Hose und Miriam halb aus ihrem Kleid geschält. Es war... ich wusste gar nicht, was ich machen soll. Erst dieser komische Jäger, der Raven so ansieht und dann das mit Kjell und Miriam.« Nun klang Kestral so verzweifelt, dass ich beinahe schon zu ihr gehen wollte und sie in den Arm nehmen wollte.

»Süße, du kannst die beiden nicht ewig davor beschützen, ihre eigenen Erfahrungen mit Männern zu machen.«, flüsterte Robb sanft. »Sieh uns beide an. Uns hat niemand gesagt, was wir tun oder lassen sollten und aus uns ist doch auch etwas geworden. Und, wenn Miriam mit Kjell etwas anfängt und nicht auf dich hören will, dann muss sie mit den Konsequenzen klar kommen, wenn er sie, wie alle anderen, sitzen lässt. Und Raven... mein Gott, sie wäre eigentlich schon verheiratet und würde vielleicht ihr erstes Kind im Leib tragen, wäre euer Vater nicht so verwirrt. Und, wenn sie diesen Adam gut findet, dann lass sie.«

»Ich habe Angst um die beiden... sie sind doch meine kleinen Schwestern.«, hauchte Kestral gequält. »Und dieser... dieser Adam, der kommt mir nicht gut für sie vor. Und Kjell auch nicht für Miriam, bei den Göttern, was soll ich nur machen?«

»Kestral, beruhige dich. Du hast beide groß bekommen, nachdem eure Mutter starb. Und irgendwann gehen die Küken selbst auf Erkundungstour. Lass sie ihre Erfahrungen machen und lass sie wissen, dass du immer für sie da bist, wenn sie dich brauchen. Dann wird sich alles zum Guten wenden, das weiß ich. Komm her, mein Engel.«

Es knarzte leise, sodass ich wusste, dass die beiden sich in den Armen lagen.

»Außerdem ist das doch auch eine gute Übung für unsere eigenen Kinder, später.«, raunte er.

Leise trat ich zur Tür, die in die Stube führte und betrachtete die beiden, wie sie vor dem Kamin saßen und sich festhielten. Ich wusste, dass Kestral sich immer auf Robb würde verlassen können und diese Zweisamkeit der beiden machte mich selbst unheimlich glücklich. Dadurch wusste ich nämlich, dass sie versorgt war und es ihr in ihrer Ehe gut gehen würde.

 

Drei

 

Am Abend sagte ich Robb und Kestral gute Nacht und verzog mich in mein Zimmer, um Ruhe zu haben und Vater nicht über den Weg zu laufen, falls er den Weg hier hoch überhaupt noch schaffte. Und so schloss ich die Tür meines Zimmers und zündete die Öllampe an, bevor ich mich aus meinem Bauernkleid schälte. Nackt stand ich in meinem Zimmer und starrte dann in den Spiegel. Vielleicht war es dumm, dass ich mir so viel daraus machte, aber ich begann doch tatsächlich, mich zu bemängeln. Zu dünn da, kleiner Busen dort, schiefe Nase da. Also Letzteres stimmte natürlich nicht, aber ich hatte das Gefühl, alles an mir war nicht schön genug.

Leise und frustriert stöhnte ich auf, schüttelte den Kopf und nahm das Kleid vom Boden, ging zum Fenster, wo der Schemel stand, auf den ich ganz routiniert jeden Abend mein Kleid ablegte und mein Nachthemd nahm, um es anzuziehen. Regentropfen peitschten auf einmal gegen die Fensterscheibe und ich blickte aus, ging ans Fenster und sah hinaus. Bald würde nur noch solches Wetter herrschen und dann würde der Schnee kommen. Hoffentlich hatten wir genug für den Winter eingelagert.

Mein Blick huschte zum Dorf hinunter und ich zuckte zusammen, als ich dort eine Silhouette stehen sah. Es war ein Mann, da der Schatten für eine Frau zu groß und zu kräftig gebaut war... und zwei leuchtend gelbe Augenpaare blickten direkt zu mir hinauf.

Automatisch schlug ich die Arme vor meinen Brustkorb und mein Atem verschnellerte sich, genauso wie mein Herzschlag. Ich hörte das Pochen in meinen Ohren überlaut und starrte nur so in die Finsternis, in diese unheimlichen gelben Augen, die ich schon einmal gesehen hatte an diesem Tag.

Ob da tatsächlich Adam stand? Nein. Das war unmöglich, weshalb auch?

Ich blinzelte ein paar Mal heftig und rieb mir die Augen und als ich dann aus dem Fenster blickte, war der Mann verschwunden. Mit zitternden Atem, nahm ich das Nachthemd, zog es mir über den Kopf und blickte mich in meinem Zimmer um. Jeder Schatten kam mir wie jemand vor, der mir etwas grauenvolles antun wollte, sodass ich unter meine schützende Bettdecke schlüpfte. Zitternd presste ich meine Arme an meine Brust und starrte an die Decke. Eine Weile lag ich so da und versuchte mich zu beruhigen und es klappte irgendwann auch. Schläfrig blinzelte ich und drehte mich auf die Seite, schloss die Augen und dämmerte langsam weg.

Wenige Sekunden, nachdem ich fast eingeschlafen wäre, ertönte ein markerschütternder Schrei von draußen.

Wie von der Tarantel gestochen, fuhr ich hoch und blickte mich panisch um, die Decke fest an meine Brust gekrallt. Ein erneuter Schrei kam von draußen. Der Schrei einer Frau.

»Miriam... Kestral...«, hauchte ich in die Stille, sprang auf und hechtete zur Tür.

Mein Verstand war ausgeschaltet, meine Angst um meine Schwestern wuchs ins Unermessliche, sodass ich einfach los rannte. Meine Beine zitterten, als ich die Treppe hinunter eilte, dabei beinahe stolperte und die letzten Stufen fast herunter gefallen wäre. Dann stand ich in der Stube, spürte die kalten Windhauch, der immer dann um meinen Körper fuhr, wenn die Hintertür offen war. Aus Reflex ergriff ich in der Küche eines der Messer, die auf der Ablage lagen und schlich zur offenen Hintertür.

Als ich um die Ecke blickte, sah ich Miriam und Kestral, die einander umklammerten. Sie zitterten, schienen den Regen aber nicht zu bemerken und starrten an die Steinmauer vor ihnen.

»Kestral? Miriam?«, fragte ich durch den lauten Regen hindurch.

Erschrocken fuhren sie herum und blickten mich an... und gaben den Blick auf einen Leichnam frei. Es war Ulme, Kjells Vater.

Vor Schock ließ ich das Messer fallen, das neben mir in den Schlamm fiel, und schlug beide Hände vor den Mund, als ich sah, dass ihm die halbe Kehle weggerissen wurde. Frisches Blut sickerte in den Schlamm und die Augen waren ungläubig geöffnet.

Ich war so geschockt, dass ich in den Schlamm sank und einfach so dakniete. Mir liefen Tränen über die Wangen, hatte ich Ulme doch am Vormittag noch Bretter tragen sehen. Plötzlich und ganz unvermittelt durch diesen Gedanken, drehte sich mir der Magen um und ich beugte mich vor, erbrach mich würgend in den Schlamm.

Ich spürte noch, wie Kestral mein Haar zurück hielt und Miriam mir den Rücken rieb, bevor alles taub vor Entsetzen wurde.

 

Es war tief in der Nacht, als endlich alle gingen.

Miriam war taub und stumm ins Dorf hinunter gegangen und hatte die Ältesten geholt und beinahe das halbe Dorf hatte sich daraufhin bei uns versammelt. Imies Mann und seine beiden ältesten Söhne hatten Ulme fort getragen und nur am Rande der Gesellschaft hatte ich Kjell und seine Mutter Rose gesehen, die in den Armen ihres Sohnes gelegen und geweint hatte. Kjell selbst hatte ausgesehen wie eine Statue, unbeweglich und kaum wirklich anwesend. Auch bei ihm schien der Schock noch tief zu sitzen, denn er hatte auch nicht mit Miriam geredet, als diese ihm ihr Beileid hatte aussprechen wollen. Er hatte sie schlichtweg ignoriert, seine weinende Mutter am Rücken genommen und sie zum Gehen bewegt.

Danach hatten Olaf und Waimer alle fort in ihre Häuser geschickt und waren zu uns in die Hütte gegangen. Angeblich hatte Ulme sich für Kjells Verhalten bei Kestral entschuldigen wollen, da sich Kjell selbst nicht getraut hatte und das sagte mir auch, weshalb Kjell so unbeweglich gewesen war. Er gab sich die Schuld daran, seinen Vater noch einmal zu uns geschickt zu haben.

Kurz darauf war die Frage aufgetaucht, wer... oder was, das getan haben könnte.

»Ein Wolf vielleicht.«, sagte Harris, Robbs Vater.

Robb selbst stand direkt neben Kestral, die sich bereits gefangen zu haben schien und mit verschränkten Armen dastand. »Nein. Wölfe tun so etwas nicht. Besonders nicht in der Nähe von menschlichen Siedlungen.«

Olaf, der sich wegen seinen schmerzenden Knien auf einen unserer Schemel gesetzt hatte, rieb sich müde und ratlos die Augen. »Was deiner Meinung nach, war es dann?«

Robb sah ihn kurz an, dann blickte er seinen Vater an. »Ich weiß es nicht, aber diese ganze Sache kommt mir merkwürdig vor.«

Eine Weile schon saß ich auf der letzten Stufe der Treppe und hörte ihnen zu, während mir Miriam ab und zu schweigend einen Tee brachte, und selbst, als Robb in meiner Gegenwart nicht aussprach, was er dachte, wusste ich es doch. Er dachte an das Verschwinden seiner Mutter und daran, was ihr passiert sein könnte. Dass sie genauso zerfetzt im Wald gelegen hatte, wie Ulme vor unserer Haustür. Und, dass das, was Ulme getötet hatte, vermutlich auch Robbs Mutter vor sieben Jahren im Wald verschleppte.

»Allerdings.«, stimmte Waimer zu und fuhr sich durch den Bart. »Ich finde es sehr seltsam, dass ein Tag nach Wilmers Tod, ein völlig Fremder auftaucht und nach einer Anstellung als Jäger bittet. Und am selben Abend wird Ulme praktisch zerfetzt.«

Ich zitterte und plötzlich kam mir der Tee vor, als würde er nach Käsefüßen schmecken. Ich stellte den Becher beiseite.

»Merkwürdig, in der Tat.«, murmelte Olaf leise vor sich hin. »War noch jemand bei euch, bevor ihr Ulme gefunden habt? Oder hat jemand etwas gesehen?«

Miriam schüttelte wie in Trance den Kopf.

Kestral ebenfalls. »Nein, nichts. Raven, hast du was gesehen?«

Alle Aufmerksamkeit war auf mich gerichtet und ich blinzelte ein paar Mal. Ich hatte etwas gesehen... Bei den Göttern, ich hatte Adam gesehen. Den Neuen! Diese glühenden Augen, das war doch nicht normal, oder? Und, wenn er Ulme getötet hatte? Aber irgendwas sagte mir, dass er es nicht gewesen war. Niemals. Weshalb sollte er sich in einem Dorf als Jäger anstellen lassen und dann die Leute töten. Und nebenbei, wie sollte er es denn fertig gebracht haben, Ulme auf diese... Weise zu töten? Er konnte es nicht gewesen sein.

Und so schwieg ich. »Nein... gar nichts.«

Ob das die richtige Entscheidung war? Ich wusste es nicht, aber eines wusste ich. Morgenfrüh würde ich es herausfinden müssen. Denn, wenn tatsächlich ein Mörder in unser Dorf gezogen war, dann wollte ich es wissen. Dann wollte ich ihm gegenüber stehen und ihn fragen, warum. Allein um Kjells und seiner Mutter wegen.

Die anderen diskutierten noch, als Kestral zu mir kam und mir sanft über die Wange strich. »Komm, ich bringe dich ins Bett.«

Ich nickte nur abgehakt, da ich gar nicht im Stande war, ihr zu widersprechen. Ich wollte es in dem Moment auch gar nicht, da die Situation an sich so grauenvoll war. Einerseits hätte ich gerne noch gehört, was sie sagten, aber auf der anderen Seite, wollte ich Waimers harte Worte, wie Ulme zerfetzt auf dem Boden gelegen hatte, nicht weiter hören.

Und so stand ich auf und folgte Kestral an der Hand nach oben in meine Kammer. Dort entzündete sie die Öllampe neu, die wohl aus gegangen sein musste und half mir, mich zurück ins Bett zu legen, nachdem ich das schmutzige Nachthemd ausgezogen und durch ein anderes ersetzt hatte. Erschöpft und ausgelaugt lag ich schließlich in meinem kleinen Bett und blickte zu meiner Schwester hinauf, die das schmutzige Nachthemd gefaltet hatte und sich auf meine Bettkante setzte.

»Wie geht es dir?«

Ich zuckte ratlos die Schultern. »Es ist alles so schrecklich.«, flüsterte ich mit bebender Stimme.

Kestral nickte und zwang sich zu einem Lächeln. »Es wird alles gut. Ich verspreche es dir... ich mache mir nur Sorgen um Miriam. Kjell hat sich einfach ignoriert.«

»Er gibt sich die Schuld daran.«, murmelte ich kaum hörbar.

»Ich weiß...« Sie rieb sich die Augen. »Ich gebe mir auch die Schuld daran.«

»Weshalb?«

Als sie die Hand wegnahm, wackelten Tränen in ihren Augen. »Wenn ich heute Morgen nicht so reagiert hätte... dann hätte Kjell Ulme nie hier hoch geschickt und er wäre vielleicht noch am Leben gewesen.«

Heftig schüttelte ich den Kopf, sie sollte sich nicht schuldig fühlen, denn niemand konnte etwas dafür. Nur derjenige, der Ulme getötet hatte. »Niemand ist Schuld daran. Nicht du und nicht Kjell.«, sagte ich.

Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich gefangen hatte, dann nickte sie langsam. »Du bist so vernünftig. Ich bin froh, dass es wenigstens dir und Miriam gut geht. Den Umständen entsprechend.«

Ich lächelte vorsichtig, als sie sich runter beugte und mir einen Kuss auf die Stirn gab. Schließlich stand sie auf, nahm das Nachthemd und verließ mein Zimmer. Vor mich hin grübelnd wälzte ich mich von einer Seite auf die andere, runzelte immer wieder die Stirn und setzte mich letztendlich doch auf und blickte mich in meiner Kammer um. Erst jetzt, eine knappe halbe Stunde, nachdem diese Tragödie passiert war, pumpte sich das Adrenalin durch meinen Körper und machte mich hellwach, obwohl ich völlig übermüdet war. Allein der Gedanke, was man Ulme angetan hatte und die Tatsache, dass wir nicht einmal wussten, wer es war, beschäftigten mich und hielten mich wach. Die Schmerzen, die er erlitten hatte mussten grauenvoll gewesen sein.

Allein, wenn ich mir vorstellte, welche Höllenqualen ich beinahe jedes Mal erlitt, wenn ich meine Blutungen hatte, wie ich mich winselnd wie ein Wolfsjunges im Bett umher wälzte und die große Mutter anflehte, sie möge mir die Schmerzen im Unterleib nehmen. Ich war im Vergleich zu meinen Schwestern jedes Mal sehr übel dran, erbrach mich oft würgend, da mir die Schmerzen auf den Magen schlugen und das so sehr, dass ich nicht einmal mehr Wasser bei mir behalten konnte. Wie sehr meine Hüftknochen sogar wehtaten, sodass ich mich kaum aufrecht halten konnte und am liebsten nur weinend in der Ecke saß. Wie sehr musste es dann schmerzen, wenn einem der halbe Hals raus gerissen wurde?

Merkte man die Schmerzen im Augenblick des Todes überhaupt? Und wie war es nach dem Tod? Würde man tatsächlich ein grelles, weißes Licht sehen, wenn man ging? Würde man den Schmerz und das Leid vergessen, wenn man in die strahlenden Felder und lichtgetränkten Wälder Elysiums eintauchte?

Elysium war das Land, in das eine gute Seele ging, wenn der Tod einen ereilte. Dort trank man von den Honigflüssen der Götter, speiste die süßen Früchte der Bäume und Sträucher. Licht flutete diesen Ort, Leben war überall. Dort wartete man auf seine Liebsten, um mit ihnen gemeinsam dort zu leben bis in alle Ewigkeit.

Und dort sollte Ulme nun sein? So lange bis ihm seine Frau Marta und Kjell folgen würden und sie wieder zusammen waren? Es war schwer, sich so etwas vorzustellen, aber ich musste zugeben, dass es ein tröstlicher Gedanke war, dass er nun an einem besseren Ort war und ihm nicht mehr etwas anhaben konnte. Besser, als sich vorzustellen, dass seine Seele für immer verloren war.

Angetrieben von diesem Gedanken, dass es ihm gut ging, schlüpfte ich wieder unter die Decke und kniff die Augen fest zusammen. Die Müdigkeit übermannte mich so schnell, dass ich gar nicht gucken konnte, wie schnell ich eingeschlafen war. Und doch träumte ich von Blut, Tod und einer Bestie, die um sich mordete.

 

Nervös blickte ich mich um, als ich am nächsten Morgen vor der Hütte stand. Kestral und Miriam waren vor wenigen Minuten gegangen, um mit den Ältesten zu Kjell und seiner Mutter zu gehen, ihnen ihr Beileid auszusprechen und die Beerdigung zu planen. Ganz, wie es in Jorinsheim Brauch war. Kestral selbst hatte mir jedoch gesagt, dass ich da nicht mit musste und dafür war ich auch sehr froh gewesen, da ich eigene Pläne hatte. Vater war noch immer im Bett, um seinen Rausch auszuschlafen und hatte von dem Tumult gestern nichts mitbekommen. Und so hatte ich die Gelegenheit, den Tag für mich zu nutzen.

Kestral und Miriam würden eine ganze Weile im Dorf bleiben, sodass ich Zeit hatte, mir den neuen Jäger zu Brust zu nehmen. Denn ich hegte keinen Zweifel mehr, dass er es war, der gestern Nacht, kurz vor dem Angriff auf Ulme, vor der Hütte unter meinem Fenster gestanden hatte und mich beobachtet hatte. Die Tatsache, dass ich in dem Moment nackt gewesen war und er meinen Oberkörper gesehen hatte, ignorierte ich vorsätzlich.

Entschlossen schob ich das Messer, das ich zur Vorsicht mitgenommen hatte, in meinen Strumpf, der mir bis zu den Knien reichte und strich den Rock darüber glatt. Dann zog ich mein Wolltuch enger um mich und machte mich auf den Weg. Heute sah ich noch weniger Leute im Dorf, als gestern. Sie ließen ihre Kinder Zuhause, um sicher zu sein, dass ihnen nichts passierte.

Ich lächelte Imie erzwungen an, die wie jeden Morgen die Wäsche vor ihrer Hütte aufhängte. Jedoch saß an diesem Morgen ihr Ehemann in dem alten Schaukelstuhl, in dem sie sonst Abends immer saß, um ihre Kinder, wenn sie ein Neugeborenes gehabt hatte, zu stillen. Diesmal saß Orin darin, eine selbstgebaute Lanze in einer Hand und mit unruhigem Blick. Er grüßte mich ebenfalls und sagte mir, dass ich ja vorsichtig sein sollte, wenn ich im Dorf herum lief.

»Ich habe selbst ein Messer dabei«, beruhigte ich ihn.

Er nickte nur, dann wittmete er sich wieder seinem Wachdienst, während Imie so schnell wie nur irgendmöglich, ihre Wäsche auf die Leine brachte. Dabei fielen ihr vor Hektik ein paar ihrer mausblonden Strähnen aus dem strengen Knoten.

Ich lief weiter, sah noch mehr Männer mit selbstgebauten Waffen, die teilweise sogar aus umfunktionierten Werkzeugen bestanden, wie Sensen von der Feldarbeit oder sogar Hämmer, die ihre Frauen oder andere Familienmitglieder bewachten, während sie draußen irgendwas arbeiten mussten. Unruhig lief ich deshalb schneller, da ich nicht wollte, dass mich einer dieser Wachhunde aufhielt. Rasch erklomm ich den Hügel, der hinauf zum Wald und somit zur Jägerhütte führte.

Schon von einger Entfernung aus, erkannte ich Adam. Er stand hinter dem Tisch, der immer vor der Hütte gestanden hatte, damit Wilmer die erbeuteten Tiere ausnehmen konnte. Genau das tat Adam gerade mit einem nicht zu kleinen Hirschbock, der schon ein prächtiges Geweih hatte. Mit blutigen Händen und einem geraden Jagdmesser weidete er gerade das stattliche Tier aus, schmiss die Organe in eine hölzerne Kiste auf den Boden.

Mir wurde beinahe schlecht von diesem Anblick.

Als ich vor dem Tisch stehen blieb und ihn anstarrte, hob er gelangweilt den Kopf und blickte mich an. »Kann ich dir irgendwie weiterhelfen?«

Ich presste die Lippen aufeinander. Er tat so, als würde er gar nicht wissen, was gestern geschehen war. Dass er vor meinem Fenster gestanden und mich angestarrt hatte, während ich nackt durchs Zimmer lief. Als würde das das Normalste auf der Welt sein!

Entschlosen grub ich die Finger in mein Kleid, ich hatte ein Messer und ich würde es benutzen! Ich war unschlagbar! Das rief ich mir tief ins Gedächtnis, als ich anfing zu sprechen.

»Ihr standet gestern Abend vor meinem Fenster.«, sagte ich mit fester Stimme.

Adam richtete sich auf und warf einen Fleischklumpen, der verräterisch nach einem Herzen aussah, in die Abfallkiste. Seine Hände waren Blutverschmiert. »Tatsächlich?«

Ich stutzte. Das hatte ich nicht erwartet, auch, wenn ich gar nicht wusste, was ich überhaupt erwartet hatte. Tatsächlich? Was sollte ich darauf erwidern?

»Ja!«, war meine besonders ausgeklügelte Antwort.

»Und was soll ich deiner Meinung nach, dort getan haben?« Adam hob interessiert die Augenbraue, während er sich mit den Handflächen auf den Beinen des Hirsches abstützte.

Ich schluckte und eine Gänsehaut überlief mich. »Ihr habt mich beobachtet.« Dass ich dabei nackt gewesen war, ließ ich dezent unter den Tisch fallen. Schließlich wusste er es ja, er hatte mich ja beobachtet.

Adam richtete sich auf, in seinem Mundwinkel zuckte ein Grinsen. »Du hast anscheinend viel Selbstvertrauen, dass du glaubst, dass ich dich beobachte... Und, wenn es so wäre?«

In mir brodelte es und mich überlief ein heißer Schauer von den Haarwurzeln bis zu den Zehenspitzen und meine Atmung verschnellerte sich, sowie mein Herzschlag. Ein kühler Windzug streichelte meinen nackten Hals und ich biss mir unbewusst auf die Unterlippe.

Das schien seine Aufmerksamkeit zu erregen, denn sein Blick aus eisblauen Augen richtete sich sofort auf meine Lippen. Er schluckte heftig, wodurch ich seinen Adamsapfel zittern sah. Nur am Rande konnte ich sehen, wie sich seine Fingerspitzen in das Fell des Hirsches gruben und er sich ein Stück vorbeugte.

»I-ich war nackt.« Warum sagte ich das?!

Seine Augen wurden ein Stück dunkler. »Allerdings.«

Meine Knie wurden weich und meine Finger gruben sich fester in meinen Rock.

Schließlich kniff er die Augen ein wenig zusammen und richtete sich wieder auf, ergriff das Messer, das er vorher in den Tisch gerammt hatte und stieß es ins Fleisch des Hirsches. »Dein Name ist Raven, nicht wahr?«

Verdutzt blickte ich ihn an, dann nickte ich langsam. »Raven Jorem.«, sagte ich unsicher.

Adam hob den Kopf. »Ich habe von dem Holzfäller bei eurer Hütte gehört. Wie geht es dir jetzt?«

Nicht gut, hätte ich am liebsten geantwortet, aber ich hielt den Mund und zuckte die Achseln. Ich wollte ihn fragen, ob er etwas damit zu tun hatte, aber irgendwas sagte mir, dass er es nicht gewesen war. Allein die Sache, wie er Ulme hätte umbringen sollen. Mit dem Jagdmesser? Das hätte wohl zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ulme hätte wohl zu laut geschrien. Und dennoch irritierte mich die Sache mit seinen Augen. Dieser Lichtreflex, der dort immer wieder auftauchte.

»Verstehe. Hier wurden also noch nicht viele Menschen von Tieren getötet, oder?«

Ich schluckte. »Nein... Nur vor sieben Jahren gab es einen Vorfall mit der Mutter des Verlobten meiner Schwester.«

Adam stieß sein Messer zurück in die Tischplatte und ergriff ein Tuch, tauchte es in ein Wasserfass neben dem Tisch und säuberte seine Hände. »Erzähl mir davon.«, verlangte er.

Ich schlang das Wolltuch enger um meine Schultern. »Vor sieben Jahren wollte Nísà draußen im Wald Pilze sammeln gehen, um Abends Pilzsuppe zu kochen. Robb und sein Vater blieben wie immer Zuhause und arbeiteten in ihrer Schmiede. Als es langsam Abend wurde, machten sie sich Sorgen und gingen gemeinsam in den Wald. Sie fanden sie nicht und baten die Dorfältesten um Hilfe, um einen Suchtrupp los zu schicken. Aber sie entschieden dagegen. Ein paar Tage nach ihrem Verschwinden fand man ihren Korb und Stofffetzen ihres Kleides. Beides war mit Blut verschmiert.«

Adam hatte aufmerksam zugehört, dann schüttelte er den Kopf. »Klingt nach einem Wolfsrudel oder so in der Nähe.«

»Aber Wölfe tun so etwas nicht.«, wiederholte ich Robbs Worte vom Vorabend.

»Und genau das macht mir Sorgen.«, murmelte er gedankenverloren.

Ich erschauderte. »Was meint Ihr?«

Er hob den Kopf und blickte mich an. »Nichts. Nur, dass niemand mehr Abends durchs Dorf wandern sollte. Und schließt Fenster und Türen.« Dann wandte er sich wortlos um, packte den Hirsch am Nackenfell und hievte ihn beinahe mühelos zu zwei Pfosten, wo er ihn mit den Beinen anband, damit er ausblutete. Schließlich stapfte er in seine Hütte und schlug die Tür zu.

Wie vom Donner gerührt stand ich da und starrte die verschlossene Tür an. Das war... alles? In dem Moment war ich glatt wütend auf mich selbst, da ich ihm so leicht nachgegeben hatte und nicht mehr nachgebohrt hatte, weshalb er vor meinem Fenster gestanden und mich beobachtet hatte. Dass ich ihn nicht nach seinen Augen gefragt hatte. Verdammt! Schnaubend raffte ich meinen Rock und stieg den steilen Pfad hinunter zurück zum Dorf.

Nur langsam lief ich den Trampelpfad hinauf zu unserer Hütte und setzte mich auf die Stufen vor der Tür, nur um drinnen nicht Vater begegnen zu müssen. Ratlos stützte ich das Kinn in meine Handflächen und starrte in den morgendlichen Nebel hinaus, runzelte immer wieder die Stirn.

Ich fragte mich, was das seltsame Verhalten dieses Mannes zu bedeuten hatte. Erst wirkte er beinahe anzüglich, als er davon gesprochen hatte, dass er vor meinem Fenster gestanden hatte, als ich nackt gewesen war, dann wurde er wieder ernst und abweisend. Wie sollte ich so jemanden einschätzen? Es verwirrte mich einfach nur.

Ratlos saß ich noch eine ganze Weile dort, bis meine Schwestern nach Hause kamen.

Miriam verschwand gleich wieder in ihrem Zimmer, während Kestral mich mit in den kleinen Garten nahm, um mich nicht alleine bei Vater zu lassen. Zusammen rupften wir Unkraut und das letzte Herbstgemüse aus dem Boden. Die ganze Zeit über konnte ich mich nicht konzentrieren und dachte nur immerzu an diese unheimlichen gelben Augen, die mich angestarrt hatten.

Vier

 

Der Tag verlief ansonsten eher still und ruhig und gen Abend verriegelten wir alle Fenster und Türen. Da Vater nur einmal heraus gekommen war, um sich eine Flasche zu holen und sich dann gleich wieder ins Bett geworfen hatte, musste Kestral nicht auch noch Angst haben, dass ihm etwas passierte.

Mein Vater... wenn ich ihn jetzt so ansah, wirkte er kaum noch, wie der Mann, der mich lachend früher auf den Arm genommen und mich am Bauch gekitzelt hatte. Der mich auf seinen Schultern hatte sitzen lassen, damit ich mir einmal größer als alle anderen vorkam. Der Mann, der mir mit fünf Jahren einen Bogen in die Hand drückte und mir gezeigt hatte, wie man einen Pfeil abschoss. Ich wusste noch, wie wütend Mutter gewesen war, als sie herausfand, dass er den Bogen, den er von Wilmer bekommen hatte, um die Kaninchen auf den Feldern zu schießen, genommen hatte, um mir genau das beizubringen.

»Sei nicht sauer, Hilde, das macht Muskeln!«, hatte er damals gesagt und mir die Nase gestupst.

Ich vermisste diese Zeiten. Die Zeiten, in denen er mir von Drachen und Sirenen erzählte, die Seemänner verführten, von Helden und Abenteuer. Niemand konnte sich vorstellen, wie sehr ich meinen Vater vermisste. Vor allen Dingen dann, wenn er zuschlug. Es war beinahe noch schlimmer, wenn er Kestral oder Miriam geschlagen hatte. Ich kam mit dem Schmerz klar. Das hatte ich sehr früh lernen müssen.

Blinzelnd blickte ich auf meine Handarbeit und seufzte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Kestral und legte ihre Arbeit beiseite.

Ich nickte nur, da ich ihr im Moment nicht anvertrauen wollte, dass ich über früher nachdachte. »Ich bin nur müde... ich glaube, ich werde zu Bett gehen.«, murmelte ich, stand auf und gab ihr einen Kuss auf die Wange, woraufhin sie verwirrt blinzelte, aber ich ignorierte das und stieg die Treppe hinauf.

Plötzlich machte sich eine seltsame Hoffnung in mir breit und ich schloss die Tür meiner Kammer und ging zum Fenster. Aber als ich auf den dunklen Pfad vor unserer Hütte starrte, war alles gespenstisch leer und ich ließ enttäuscht den Kopf hängen. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte, aber irgendwie hatte ich gehofft, dass Adam wieder dort stehen würde. Es war seltsam... Er hatte es nicht direkt zugegeben, aber geleugnet hatte er es auch nicht, weshalb ich die Hoffnung gehegt hatte, dass er vielleicht wieder dort stehen würde. Und jetzt, da ich es wusste, dass er es gewesen war, da hatte ich auch keine Angst mehr. Denn, wenn er mir etwas hätte tun wollen, hätte er heute Morgen, als alle sich um ihre Familien gekümmert hatten und wir alleine auf dem nebelverhangenen Hügel gestanden hatten, genug Gelegenheiten gehabt.

Müde und etwas enttäuscht löste ich das Korsett, das meine Brüste tagsüber etwas größer erscheinen ließ, als sie tatsächlich waren, und schälte es von meinem Körper. Dann noch den Bauernrock und die Unterröcke, dann schnappte ich mir auch schon das elfenbeinfarbene Nachthemd und stülpte es über meinen Kopf.

Mit bleischweren Gliedern schlüpfte ich schließlich unter die Bettdecke und zog sie mir bis über die Schultern. Mit geschlossenen Augen brummte ich zufrieden vor mich her, da ich mich das erste Mal seit gestern Nacht entspannen konnte.

Vielleicht war es taktlos von mir, mich entspannt und sogar sicher zu fühlen, nachdem Ulme gestern Nacht direkt vor unserer Hütte getötet wurde, aber ich wollte nicht länger daran denken. Wollte mich sicher fühlen und geborgen und das tat ich im Moment direkt hier unter dieser Bettdecke.

Nur wenige Sekunden nach diesen Gedanken schlief ich auch schon ein.

 

Leise stöhnte ich im Schlaf auf, da ich noch nicht aufwachen wollte. Aber eine federleichte Berührung an meiner Wange machte diesem Vorhaben ein Ende. Nur langsam tauchte ich aus einem schönen Traum auf, von dem ich gar nicht mehr sagen konnte, wovon er gehandelt hatte. Eine erneute Berührung ließ mich blinzelnd die Augen aufschlagen.

Über mir beugte sich eine männliche Silhouette mit leuchtend gelben Augen.

Mein Atem verschnellerte sich und mein Herz pumpte das Blut rauschend durch meinen Körper, sodass ich es in den Ohren hören konnte. Wie konnte das sein? Träumte ich etwa immer noch?! Ich blinzelte heftig, um zu sehen, ob es sich nicht vielleicht nur um eine Traumgestalt in der Form von Adam auf der Bettkante sitzend handelte, aber nein. Meine Sicht verwischte nicht und ich war hellwach. Das dort war Adam, der auf meiner Bettkante saß!

Meine Lippen wollten seinen Namen aussprechen, aber irgendwie traute ich mich nicht, da mir die Stille viel zu heilig vorkam, als dass ich sie einfach durchbrechen durfte.

Er saß nur da, völlig unbeweglich, nur das Aufglimmen und Erlöschen seiner gelb reflektierenden Augen, sagten mir, dass er blinzelte und somit keine Einbildung war. Aber wie zum Teufel war er hier rein gekommen? Es war mir ein Rätsel.

Dann hob er eine Hand und strich mein kastanienbraunes Haar nach hinten, sodass ich die kühle Luft an meinem Dekolleté fühlen konnte. Zart, als könne er mich zerbrechen, berührte er die freigelegte Stelle oberhalb meines Schlüsselbeins. Seine etwas rauen Fingerkuppen strichen über mein Schlüsselbein hinweg bis zum Rand meines spitzenbesetzten Nachthemdausschnitts, sodass ich erbebte unter dem Schauer, der mich überlief. Was machte er da nur mit mir? Und wieso fühlte es sich so gut an?

Bei den Göttern, wieso sah er mich überhaupt an? Schließlich war ich für ihn doch nur ein Kind... und er hatte gesagt, dass er mich niemals anpacken würde. Ich merkte, wie sehr er mich nicht anpackte!

Nun entwich mir sein Name doch und ich streckte die Hand nach ihm aus. »Adam...«

Plötzlich packte er mein Handgelenk und drückte es über meinem Kopf in mein Kissen. »Still«, befahl er mir.

Blinzelnd gehorchte ich ihm und starrte ihn weiterhin an. Wie ging das nur mit seinen Augen?

Langsam beugte er sich zu mir herunter und hielt ganz kurz vor meinem Gesicht inne. Seine Lippen berührten nur ganz sachte meine, was man aber noch nicht wirklich als Kuss bezeichnen konnte. Und wieso überhaupt Kuss?! Ich war doch erst vierzehn. Viel zu jung für ihn, oder? Er musste über zwanzig sein!

»Was tust du?«, hauchte ich benommen, da mir diese Nähe viel zu gut gefiel.

»Was glaubst du, tue ich hier?«, raunte er zurück.

Ich sog scharf die Luft ein und biss mir auf die Unterlippe.

»Mach das nicht.«

»Was?«, fragte ich verwirrt.

»Hör auf, dir auf die Unterlippe zu beißen... du weißt gar nicht, was das für eine Wirkung hat.«

Nur widerwillig ließ ich meine Unterlippe los und blickte in seine eisblauen Augen. Sie wurden dunkler und seine Lippen pressten sich völlig unvorbereitet auf meinen Mund. Ungeschickt öffnete ich den Mund und keuchte auf, da mir die Luft weg blieb. Aber ihn schien es anzustacheln, denn er bewegte den Mund an meinem und ich versuchte seinen Kuss irgendwie zu erwidern, indem ich diese Bewegungen nachahmte.

Ich versuchte meine Hand aus seinem Griff zu lösen, da ich sie am liebsten in seinem Haar vergraben hätte, aber er hielt mich fest, verschränkte jediglich unsere Finger miteinander. Keuchend klammerte ich mich mit der freien Hand an seinem Hemd fest, spürte wie er meine Lippen fordernd mit seiner Zunge teilte und sie tief in meinen Mund schob. Leise stöhnte ich auf.

War es dieses Gefühl, das Kestral immer beschrieb, wenn sie von Robb schwärmte? Das Gefühl, geborgen in seinen Armen zu liegen, beim Küssen zu schmelzen wie Butter im Kochtopf und sich zu wünschen, man könnte ihm noch näher sein? Wenn es das war, dann fühlte ich das Gleiche, als Adam mich soeben küsste. Es war einfach unfassbar schön.

Auf einmal ließ er ab von mir und küsste meine Wange entlang. Ich öffnete verwirrt die Augen und spürte ihn kurz darauf an meinem Hals saugen. Was...

Ein brennender Schmerz strahlte von meinem Hals in alle Glieder aus und ich zuckte zusammen. Wimmernd verkrampfte ich mich. Was tat er da?!

Der Schmerz ließ auch schon nach, als er sich von meinem Hals löste. Benommen führte ich eine Hand daran, bemerkte dabei kaum, wie er mich los ließ. Als ich meine Hand ansah, bemerkte ich Blut. Hatte er mich etwa... gebissen?! Ich runzelte die Stirn und befühlte die Wunde. Es waren runde Wunden, wie von Zähnen und als ich sie so weiter abtastete, bemerkte ich, dass es sich beinahe anfühlte, wie von einem Hund gebissen worden zu sein... oder einem Wolf.

Ich blickte auf, aber er war verschwunden.

Wie in Trance sank ich zurück in mein Bett und starrte an die Decke. Was war das denn bitteschön gewesen?! Hatte ich mir das vielleicht gerade nur einbildet? Zumahl, wie war er hier herein gekommen? Aber den Biss, das spürte ich überdeutlich. Das war doch absurd.

Stirnrunzelnd blinzelte ich vor mich her und schüttelte den Kopf.

Kurz darauf wälzte ich mich auf die Seite und kniff die Augen zu, schwor mir, ihn morgen definitiv noch einmal zu besuchen.

 

Blinzelnd erwachte ich von grässlichem Lärm draußen. Ich hörte jemanden weinen und fuhr automatisch hoch. Angst machte sich in meiner Magengrube breit und im Grunde wusste ich bereits, was passiert war. Man hatte den nächsten getötet...

Wie vom Blitz getroffen sprang ich auf und zerrte mir im Gehen das Nachthemd über den Kopf. Viel zu langsam konnte ich das Korsett über meinem Unterkleid schnüren und zerrte die Röcke nach oben, band sie unordentlich fest und schnappte mir das Wolltuch, das ich eng um meine Schultern zog. Meine Knie wurden weich, als ich die Treppe herunter eilte, mein Magen rebellierte und ich ignorierte das dumpfe Pochen an meinem Hals, durch das ich im Hinterkopf behielt, was gestern Nacht geschehen war.

Adam war bei mir gewesen. Irgendwie war er ins Haus gekommen und war zu mir in meine Kammer gelangt. Wie er dort, wie ein junger Gott, auf meiner Bettkante gesessen hatte und mir wohlige Schauer über den Rücken gejagt hatte, allein durch seine Anwesenheit. Seine Berührungen auf meinen Wangen und wie er mich geküsst hatte, ließ mich leider nur kurzzeitig vergessen, was wohl geschehen war.

Unter an der Treppe rempelte ich beinahe Vater an, der aus seinem Schlafzimmer kam. Er sah verschlafen aus, aber seine Augen wirkten heute erstaunlich klar.

»Was ist denn hier draußen los?«, fragte er.

Ich bekam Herzklopfen, wich nur zurück und murmelte: »Weiß nicht.« Dann lief ich auch schon an ihm vorbei zur Haustür.

Stolpernd blieb ich vor der Tür stehen und starrte den Hang hinunter zu den Steinmauern, die uns vom Dorf abgrenzten. Eine Menschenmenge umgab einen Teil der Mauer, alle redeten wild durcheinander, sodass ich kein einziges Wort verstand. Irgendwas schreckliches musste geschehen sein, denn nicht umsonst standen dort alle wie im Kreis und würden so aufgebracht diskutieren.

Hinter mir hörte ich Vater aus der Tür kommen und warf ihm einen Blick zu. Verwundert weiteten sich seine Augen.

Plötzlich hörte ich eine Frau schreien und rannte los.

Beim Rennen knickte ich einmal mit dem Fuß um, ignorierte aber das gemeine Pochen an meinem Knöchel und stolperte mehr den Trampelpfad hinunter, als dass ich lief. Keuchend, sogar von dem kleinen Stück, blieb ich stehen und drängte mich an den Männern und Frauen, deren entsetzte und teilweise tränennasse Gesichter starr auf die Mauer gerichtet waren. Ich ahnte nichts gutes.

Als ich in den inneren Ring vorgedrungen war, sah ich Kestral und Robb, die sich aneinander festhielten, daneben Miriam mit starrem Blick, der zur Mauer gerichtet war. Nur langsam sickerte das grauenvolle Bild in mein Unterbewusstsein...

An der Mauer gelehnt saß der zwölfjährige Soren. Ein hübscher Junge mit dem gleichen dunkelbraunem Haar, wie sein Vater, aber dem gleichen Temperament seiner Mutter. Er war Imies zweitjüngster gewesen. Und nun lehnte er dort an der Mauer mit aufgerissener Kehle, starren Augen, die ins Nichts blickten und blutbesudelter Kleidung. Und ausgerecht Imie kämpfte sich gerade durch die Menschenmassen, gefolgt von ihrem Mann.

»Imie«, flüsterte Kestral und hielt sie am Arm fest.

Die Mutter jedoch schlug ihre Hand fort und schritt mit zitternden Beinen auf den Leichnam ihres Sohnes zu. Vor ihm fiel sie auf die Knie und zerrte ihn zu sich heran, barg seinen Kopf an ihrer Brust. Dass Blut ihr Kleid beschmutzte, ignorierte sie. Ihre zitternden Finger strichen über seinen Hals und sie blickte das Blut an, öffnete vor Schock den Mund und schrie aus voller Kehle. Ihr liefen Sturzbäche an Tränen über die Wangen und sie schrie erneut vor Schmerz auf.

Ihr Mann stand daneben und starrte auf den Leichnam seines Sohnes, völlig unbeweglich. Aber ich sah, dass ihm ebenfalls Tränen über die Wangen in den dichten Bart liefen. Seine Art, seinen Schmerz zum Ausdruck zu bringen.

Zitternd stolperte ich zurück und stieß dabei gegen einen Männerkörper. Als ich mich umwandte stand Vater hinter mir und betrachtete ebenfalls geschockt die Szenerie, die sich ihm bot. Dann blickte er zu mir herunter und ich erwartete schon eine Ohrfeige, weil ich ihn angerempelt hatte. Was ich nicht erwartete, war, dass er eine Hand an mein Gesicht legte und mich mit der Kraft des anderen Armes an sich zog. Völlig verdattert starrte ich sein Leinenhemd an, ignorierte den beinahe penetranten Geruch, der von ihm ausging und schloss schluchzend die Augen. Was brachte ihn dazu, das zu tun? Ich war vollkommen verwirrt.

Beinahe zärtlich strich er mir über das Haar.

Imies Schrei ließ mich aufsehen. Ich sah noch, wie ihr Mann sie festhielt, während sie sich heftig wehrte, als zwei Männer den kleinen Soren wegtrugen. Sie kämpfte, kratzte und schlug um sich, traf dabei sogar ab und zu sogar ihren Mann Orin. Dann sackte sie weinend zusammen, klammerte sich an den einzigen Rettungsanker, den sie hatte. An ihren Mann.

Schließlich zerstreute sich die Menge irgendwann und die Menschen kehrten zu ihren Hütten zurück, wohl, um zu überprüfen, ob sich alle Kinder beisammen befanden. Kestral und Robb kamen zu uns, wobel der Gesichtsausdruck meiner Schwester genauso verwirrt aussah, wie ich war.

Wenig später standen wir alle in unserer Küche, schweigsam und vollkommen in uns gekehrt. Da mich Kestral und Miriam heute wahrscheinlich eh nicht mehr aus dem Haus lassen würden, würde ich keine Gelegenheit bekommen, mit Adam über gestern Nacht zu sprechen. Was mich jedoch trotzdem beschäftigte, war, dass Adam schon zweimal vor meiner Hütte gewesen war und daraufhin jemand mit zerfetzter Kehle in der Nähe unserer Hütte gefunden wurde. Das war alles merkwürdig.

Was beinahe noch merkwürdiger war, dass Vater bei uns in der Küche stand und einen Becher Tee in den Händen hielt. Tee!

»Könnte mir jetzt einer von euch erklären, was da eben passiert ist?«, begann er nach schier endlosen, unangenehmen Minuten, ein Gespräch.

Unsicher blickten sich Kestral und Miriam an.

»Nun ja...«, sagte Kestral schließlich. »Vorgestern Nacht ist Ulme gestorben... er lag vor unserer Hütte. Und jetzt auch Soren... Die Dorfältesten glauben, dass es ein Tier war.«

»Dasselbe Tier, das meine Mutter getötet hat.«, fügte Robb hinzu.

Vater nickte langsam und fuhr sich durch den dichten Bart. »Das ist grauenvoll.«

Miriam stellte den Becher krachend ab und stürmte an uns vorbei, die Treppe hinauf und wenig später krachte ihre Zimmertür. Ich war etwas überfordert mit der Situation, und runzelte die Stirn immer wieder.

Dann sprach Kestral das aus, was mich schon seit dem Vorfall an der Mauer beschäftigte. »Warum hast du Raven umarmt?«, fragte sie kühl und distanziert.

Vater blickte sie eine Weile stumm an, dann seufzte er. »Ich weiß, dass ich viel falsch gemacht habe, Kestral. Besonders bei Raven und Miriam... und ich verstehe, wenn ihr mich alle hasst. Ich habe es nicht besser verdient.«, erklärte er. »Eure Mutter war mir das teuerste auf der Welt. Ich habe sie geliebt, wie kaum einen Menschen vor ihr und ich hatte das Gefühl, mit ihr zu sterben. Jeden Tag sah ich, wie sie durch das Fieber schwächer und schwächer wurde, wie sie nichts mehr aß, des Nachts wimmerte vor Schmerz. Ich wollte ihr helfen, aber ich konnte es nicht. Und als ich an diesem einen Morgen wach wurde und sie wecken wollte... es war, als hätte sie meine Seele mit sich genommen.«

Kestral hatte angefangen zu weinen, riss sich aber stark zusammen.

Wie war all das möglich? Dieser neue Jäger wirkte seltsam auf das Dorf. Erst starb Wilmer, dann kam Adam völlig unvorbereitet ins Dorf, woraufhin zwei Menschen starben und nun kam Vater nach Jahren wieder zur Vernunft? Ich wusste nicht, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte.

»Aber warum jetzt?«, fragte sie verzweifelt.

Ich schloss die Augen, versuchte die Tränen zurückzudrängen, die in mir aufstiegen.

»Ich habe vor einem Monat aufgehört zu trinken.«, erwiderte er. »Als ich Raven vor zwei Tagen geschlagen habe... ich bin ausgerastet. Niemand kann sich vorstellen, wie es ist sich vom Alkohol abzugewöhnen. Ich war gereizt und ich weiß, dass ich das nicht hätte tun dürfen... Aber als ich Soren an der Mauer sah...« Er verstummte.

Ich stellte den Becher ab und trat direkt vor ihn, damit er mir in mein demoliertes Gesicht blicken musste. »Was war dann?!«, fragte ich.

Vater senkte beschämt den Blick. »Ich habe mir automatisch vorgestellt, dass du dort an der Mauer lehnst... und das hätte ich nicht ertragen.«

Mir flossen Tränen über die Wangen. »Aber uns zu schlagen und zu verprügeln, das erträgst du?«

Vater starrte auf den Boden. »Ich kann verstehen, wenn du mir nicht verzeist, Raven... du warst erst acht und hast nicht verstanden, warum ich das tue.«

Bitter presste ich die Lippen aufeinander. »Und jetzt bin ich vierzehn und verstehe es immer noch nicht... wir waren ein Team, wir waren... du warst mein größter Held und dann...«

»Raven-«

»Nein, Kestral!«, knurrte ich. »Halt dich einmal aus meinen Angelegenheiten raus!«

Sie verstummte augenblicklich und senkte den Blick.

Ich wandte mich wieder an meinen Vater. »Ich will, dass du es mir beweist.«, forderte ich. »Beweis mir, dass du nicht nur kurzzeitig aufhörst zu trinken. Dass du es ernst meinst und wieder unser... mein Papa sein willst.« Mir flossen die Tränen über die Wangen.

Nun hielt meinen Vater nichts mehr und er zog mich eng an sich. »Ich werde es wieder gut machen... und ich überlasse es euch, ob ihr mir eines Tages verzeiht, oder nicht. Ich werde die Felder pflügen, ich werde Steckrüben im Frühjahr anbauen...«

Ich schluchzte auf und klammerte mich an ihn. Ich hoffte wirklich, dass er seine Worte eines Tages wahr machen würde und ich ihm verzeihen konnte, was er uns jahrelang angetan hatte. Zwar hatte er nicht ständig zugeschlagen, aber er hatte es auch nicht selten getan. Alles, was ich im Moment wollte, war meine Familie zurück. Wenigstens einen Teil davon. Ich wollte den Mann wieder haben, der stolz auf mich gewesen war, wenn ich einen übergroßen Kieselstein vom Feld geräumt hatte, der mir beigebracht hatte, mit einem Bogen zu schießen. Die Zeit würde zeigen, ob er mein Vertrauen und meine Hoffnungen verdiente.

»Da du ja jetzt alles richtig machen willst, Thorwald«, setzte Robb an. »Ich weiß zwar, dass es taktlos erscheint in dieser Zeit danach zu fragen, aber...«

Vater hob den Kopf.

Als ich mich umdrehte holte Robb einen verzierten Eisenring aus seiner Hosentasche und schaute Kestral leicht lächelnd an. Diese weitete die tränenverschleierten Augen vor Überraschung und starrte das Schmuckstück an.

»Ich habe Monatelang daran gearbeitet, immer, wenn ich mal fünf Minuten Zeit hatte, habe ich weitere Details eingearbeitet... Raven hat mir manchmal geholfen und ihn anprobiert, als wir gemerkt haben, dass sie genauso zierliche Finger hat wie du.«, sagte er und lächelte vorsichtig, dann wandte er sich an Vater. »Ich will deine Tochter zur Frau nehmen. Ich hätte gerne deinen Segen, aber ich komme auch ohne aus.«

Angespannt blickte ich zu Vater hoch, der auf mich herunter blickte, dann sah er Kestral an, die ihn ebenfalls nervös musterte. »Ich hoffe, du machst meine Tochter glücklich.«

Kestral blinzelte verheult, dann sah sie Robb an und lächelte.

»Und natürlich musst du meinen Antrag annehmen, sonst bringt das nicht viel.«, grinste dieser.

»Du bist doof!«, lachte sie und sprang ihm in die Arme.

Ich löste mich von Vater und nahm meinen Tee wieder, um ihn zu trinken.

»Ich würde dich ja auch umarmen, Junge, aber ich glaube, dafür stinke ich zu sehr. Ich nehme erst einmal ein Bad, damit sich meine Töchter nicht noch mehr für ihren alten Herrn schämen müssen.«, lächelte Vater vorsichtig und verließ die Küche.

Ich blieb nachdenklich so stehen, ignorierte Kestrals und Robbs wildes Rumgeknutsche, da es mich nur wieder an letzte Nacht erinnerte. Beinahe spürte ich den festen Druck von Adams Lippen auf meinen, das Prickeln in meinem Innern. Unbewusst berührte ich meine Unterlippe, bevor ich diese zwischen meine Zähne nahm und daran kaute. Noch gut erinnerte ich mich, wie ich das auch gestern getan hatte und er mir gesagt hatte, ich solle es lassen. Seine rauen Finger hatten sich mit meinen verschränkt, sie sanft gedrückt bis er mich gebissen hatte... Das war seltsam gewesen.

Überhaupt wirkte er auf mich nicht wie die übrigen Dorfbewohner. Seine glühenden Augen, der Biss... irgendwas war anders an ihm.

»Raven?«

Ich blickte auf und lächelte meine Schwester leicht an. »Ich freue mich für euch.«

Sie grinste zurück. »Danke. Auch dafür, dass du den Ring anprobiert hast und alles. Er passt perfekt.«

Ich betrachtete sie und Robb zusammen und hoffte dabei, dass die beiden glücklich miteinander wurden und sie mir viele Neffen bescherten. Als die beiden Hand in Hand aus der Küche in die Stube traten, blieb ich noch eine Weile und zermarterte mir das Hirn über so manche Dinge. Über Vater, über Adam und vor allem über die Morde.

Das alles war sehr merkwürdig und machte mir in gewisser Weise auch Angst. Wie sollte ich mich in meiner kleinen Kammer, unter der dünnen Decke überhaupt noch sicher fühlen? Ich war restlos überfragt.

Fünf

 

Gegen Abend fieberte ich dem Moment entgegen, dass alle zu Bett gingen und ich Zeit hatte, schnell einen Abstecher zur Jagdhütte machen zu können, um Adam zur Rede zu stellen. In mir verlangte einfach alles danach, ihn zu fragen, was das alles zu bedeuten hatte. Weshalb er mich geküsst hatte, mich gebissen hatte und ob er irgendwas mit den Morden zu tun hatte. Und diesmal wollte ich eine Antwort von ihm. Ich würde nicht eher Ruhe geben, bis er mir erzählt hatte, was er wirklich in Jorinsheim wollte... und vor allem, was er von mir wollte.

Angespannt saß ich deshalb beim Abendbrot da, aber das war nicht der einzige Grund, weshalb ich nervös war. Miriam war trotz des Versprechens, das uns Vater gegeben hatte und von dem Kestral ihr erzählt hatte, nicht begeistert, ihn wieder in ihrem Leben zu haben. Sie würde ihn nicht akzeptieren, dessen war ich mir sicher.

Nachdem sich alle zurückgezogen hatten, ging ich in meine Kammer und schlang mir ein dickes Wolltuch um die Schultern, bewaffnete mich mit einem Messer und schlich so leise wie möglich die Treppe hinunter. Dabei versuchte ich so leise wie möglich zu sein, um weder meine Schwestern noch Vater zu wecken und mich ihren Fragen auszusetzen. Denn so, wie ich Kestral kannte, würde sie so lange nachhaken, bis ich ihr erzählen musste, weshalb ich des Nachts bei solch einer Gefahr, in den Wald wollte.

Leise schlich ich hinüber zur Tür und öffnete sie. Es knarrte, als ich sie öffnete und angespannt lauschte ich in der Stille der Nacht, da sich das Knarzen übernatürlich laut angehört hatte. Aber alles blieb absolut ruhig, was ich darauf schob, dass diese Geräusche in der Nacht wahrscheinlich vollkommen normal waren. Eine alte Hütte machte eben Geräusche.

Und so verließ ich den Schutz meines Heimes und trat in die Nacht hinaus. Stille umpfing Jorinsheim, eine seltsam trügerische Stille, als ob das Böse dort draußen nur auf den geeigneten Augenblick wartete, um zuzuschlagen. Beim Gehen fragte ich mich erstmals, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, im Dunkeln die Hütte zu verlassen. Zumahl Ulme und Soren dem, was dort draußen lauerte, bereits zum Opfer gefallen waren.

Meine Schritte wurden automatisch schneller.

Alles war still, unheimliche Schatten schienen nach mir greifen zu wollen und ich klammerte mich an das kleine Jagdmesser, das ich einst von meinem Vater geschenkt bekommen hatte. Den Göttern sei Dank war Adams Hütte auch nicht weit vom Dorf entfernt, sodass ich rasch den Hang hinauf lief und vor der Tür stehen blieb. Ich blickte mich wachsam um, aber in der Finsternis erkannte ich nichts als Schatten, bei denen ich oft genug das Gefühl hatte, dass etwas vorbei gehuscht wäre, es dann aber doch nur der Schatten eines Laubbaumes gewesen war, dessen Blätter im kühlen Wind umher wirbelten.

Da!

Ich zuckte zusammen und sah genauer hin. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte ich geglaubt am Waldrand eine Bewegung zu sehen. Eine seltsam gebückte Gestalt, die zwischen den Gebüschen umher schlich, dabei aber kein Geräusch verursachte.

Zitternd tastete ich mich rückwärts, versuchte die Tür mit den Fingern zu erreichen und klopfte dagegen. Vielleicht nicht die schlaueste Idee, aber es funktionierte. Licht flutete die Stube und leuchtete durch die Fenster und im nächsten Moment öffnete sich die Tür. Stolpernd hastete ich in Adams Hütte.

»Was zum Teufel...?!«, knurrte er.

»Mach die Tür zu!«, fiel ich ihm ins Wort.

Augenblicklich fiel die Tür ins Schloss und er schob einen dicken Holzriegel vor, dann drehte er sich zu mir um. Erst in dem Moment bemerkte ich, dass er nur eine dünne Stoffhose trug, sein Oberkörper und die Füße waren nackt und außerdem glänzte seine Haut nass, das Haar war feucht. Er musste gerade gebadet haben, wodurch sich mein Puls nur noch weiter verschnellerte.

»Dürfte ich den Grund erfahren, warum du mitten in der Nacht vor meiner Tür stehst?« Adam blickte mich aus kristallblauen Augen genervt an.

Für einen Moment war ich viel zu verdutzt, um ihm zu antworten. Ich verstand einfach nicht, was auf einmal sein Problem war, schließlich war er doch in meine Hütte eingebrochen, um mich mitten in der Nacht zu überfallen, zu küssen und zu beißen, wie ein rammelwütiger Köter. Die Wortwahl war zwar vielleicht nicht besonders angemessen, aber so war es doch. Und nun ferzte er mich an. In dem Moment verstand ich die Welt nicht mehr, konnte ihn nur anstarren. Sein hübsches Geischt, kalt und ausdruckslos, die Augen starr und seltsam leer. Ich verstand diesen Mann einfach nicht.

Blinzelnd kam ich zur Besinnung, als er das Gewicht ungeduldig auf ein Bein verlagerte und die muskulösen Arme verschränkte.

»Ich... Das könnte ich auch dich fragen.«, antwortete ich so mutig ich konnte. »Schließlich bist du gestern in meiner Hütte gewesen und warst in meinem Schlafzimmer.«

Er hob eine Augenbraue. »Interessant. Zwar weiß ich davon nichts, aber wie wäre es, wenn du mich erläuchtest? Was soll ich dort getan haben?«

Verwirrt starrte ich ihn an. »Aber... du warst da! Du hast auf meiner Bettkante gesessen und hast...«

»Ja? Was habe ich?« Seine Worte wurden harscher, härter.

Wütend runzelte ich die Stirn. Wie nur schaffte er es, mich in so kurzer Zeit wütend zu machen? Nur, weil er leugnete, bei mir gewesen zu sein? Ich war doch nicht verrückt! Ich hatte ihn gesehen, hatte seine Lippen auf meinen gefühlt. Und die Wunde an meiner Schulter zeigte mir doch, dass ich mir das alles nicht ausdachte! Oder? Er wirkte so überzeugend mit seinen Worten, dass ich selbst zweifelte, ob das stimmte, was ich hier behauptete.

»Du hast mich geküsst.«, brachte ich nun doch etwas unsicherer hervor.

Leise grunzte er, was irgendwie einer Ohrfeige gleich kam. »Du musst ziemlich viel Selbstvertrauen haben, dass du glaubst, dass ich dich küssen würde.«

Ehrlich? Er hätte mir gleich in den Magen schlagen können. Noch nie hatte sich ein Mann für mich interessiert, nie hatte mich einer wirklich angesehen. Ich hatte halt auch nichts besonderes an mir. Kestrals sauberes schwarzes Haar, hatte oft junge Männer angezogen, aber nur auf Robb hatte sie sich eingelassen und Miriam war von jeh her von Gleichaltrigen hinterher geschaut worden. Aber ich? Ich war die kleine Raven, das Kind, das niemand ansehen wollte. Nicht einmal, als ich vom Mädchen zur Frau geworden war. Als mein Körper sich begann zu verändern, da ich absolut durchschnittlich aussah mit meinem braunen Haar, dem leicht störrischen Rotstich in meiner Mähne und den graugrünen Augen... Ich war nichts Besonderes und das wusste ich. Aber es von einem Mann gesagt zu bekommen, der mich als Erster wirklich angesehen hatte... Es war vernichtend und zerstörte das winzige Fünkchen an Selbstvertrauen, das ich besessen hatte, nun vollständig. Und, dass er leugnete, mich geküsst zu haben, war mir nun ebenfalls klar. Wahrscheinlich war ich eine mieserable Küsserin und er wollte das alles nur vergessen, indem er meinte, er hätte mich nie geküsst.

Ich schluckte, wobei mein Kinn verräterisch zitterte und mir schoss eine unangenehme Gänsehaut über den Rücken. Dabei spürte ich, wie meine Kiefermuskeln sich zusammenzogen und meine Augen begannen zu brennen, wie jedes Mal, wenn ich kurz davor war, zu weinen.

Es war das erste Mal, dass mich ein Mann zurückwies und ich konnte nur sagen, dass es weh tat. Sehr sogar. Ich hatte ihn gemocht, vom ersten Augenblick an, als wir einander angesehen hatten, auch, wenn er nichts gesagt hatte. Ich hatte ihn einfach toll gefunden und nun wusste ich, dass es eine kurze und kindlich dumme Verliebtheit gewesen war, die mich angetrieben hatte, des Nachts zu seiner Hütte zu kommen.

Zwar kannte ich ihn erst wenige Tage und doch hatte ich geglaubt, mich bereits in ihn verliebt zu haben. Vielleicht hatte ich auch nur gehofft, eine so aufregende Lebensphase anzugehen wie meine beiden älteren Schwestern. Wie Kestral, die sich heimlich mit Robb getroffen hatte und den sie nun heiraten würde - und, dass sie bereits ihre Jungfräulichkeit an ihn verloren hatte. Oder, wie Miriam, welche unsterblich in Kjell verliebt war und der ihr offenbar auch sehr zugetan war, dass sie sich hinter dem Haus beinahe vereint hätten... Ich war so dumm und kindlich, dass ich das hier mit den Liebesaffären meiner Schwestern verwechselt hatte.

Aber obwohl mir das klar wurde, wollte ich nicht vor ihm weinen. Es war zu armselig und ich wollte nicht noch mehr, wie ein kleines, verliebtes Bauernmädchen wirken, sodass ich nickte und mich seitlich zur Tür wandte.

»Ich... verstehe.«, murmelte ich und kaute meine Unterlippe blutig. »Verzeiht mir die Störung des Abends. Ich wünsche Euch eine geruhsame Nacht.« Zum Ende meines Satzes brach meine Stimme und ich machte mich daran, aus der Tür zu kommen und nach Hause zu gehen. Ich war einfach nur erbärmlich.

Als meine Finger den Riegel streiften, packte mich eine starke Hand an der Schulter packte und mich herum wirbelte. Im nächsten Moment spürte ich einen muskulösen Körper an meiner Front und eine harte, hölzerne Tür im Rücken. Ein unnachgiebiger Mund presste sich auf meinen und vor Erstaunen und Entsetzen gleichermaßen öffnete ich keuchend den Mund. Wie automatisch kniff ich die Augen zusammen und krallte mich in das feuchte Haar seines Kopfes.

Mein Kopf war augenblicklich leer und die Wut von eben restlos verraucht. Die Gedanken daran, dass ich nur ein dummes kleines Mädchen war und er mich niemals freiwillig anrühren würde, waren wie weggefegt. Ich spürte nur das Kribbeln im Bauch, das ich auch gespürt hatte, als er mich Zuhause aufgesucht und dort zum ersten Mal geküsst hatte. Tief musste er sich zu mir herunter beugen, da er um Einiges größer war, als ich. Seine großen, starken Hände schlossen sich beinahe komplett um meine schlanke Taille, stützte mich und gaben mir ein Gefühl von Sicherheit. Etwas, das ich seit langer Zeit nicht mehr gespürt hatte. Dieses Gefühl, geborgen zu sein und sicher und sich auf etwas verlassen zu können.

Plötzlich ließ er von mir ab, ganz vorsichtig und sein Daumen berührte meine Unterlippe, als ich die Hände langsam auf seine Brust sinken ließ. Mir war etwas schwindelig geworden.

»Bei den Göttern, das alles ist so falsch...«, knurrte er und sein warmer Atem streifte beim Sprechen meine Wange.

Benebelt öffnete ich die Augen, tauchte allmählich wieder auf aus dem Strudel der glühenden Gefühle und blinzelte ihn an. »Was meinst du?«

Er ließ mich los, sodass ich den Kontakt zu seiner wundervoll weichen Haut verlor und starrte plötzlich auf einen vernarbten Oberkörper. Vorher hatte ich die Narben überhaupt nicht wahrgenommen, war ich doch viel zu verwirrt wegen seinem Verhalten gewesen. Aber nun sah ich die langen Schmarren auf seiner Brust und seinem Bauch... Wer hatte ihm das angetan?

»Du solltest nicht hier sein, Raven.«, sagte er schließlich und seine Stimme wurde wieder eine Spur härter. »Geh nach Hause.«

Nun fuhr ich zurück und starrte ihn an. Zusehens wurde der Zug um seinen Mund wieder kalt, der Ausdruck in seinen Augen unwillig. Was sollte das? Wollte er mit mir spielen? Er wusste doch um meine Gefühle, warum war er so gemein? Und weshalb küsste er mich, wenn ich ihm so zu wider war?!

»Warum tust du das? Warum beleidigst du mich und küsst mich dann, nur um mich anschließend fortzujagen?«, fragte ich und ich spürte, wie die ungeweinten Tränen von eben wieder in mir aufstiegen. Sie füllten meine Augen und ich vermochte kaum, sie zurückzudrängen.

Erst glaubte ich, den Ausdruck in seinen Augen als Mitgefühl zu deuten, aber auch dieser Hauch verschwand aus seinem Gesicht. Nun wirkte er umwerfend anziehend mit seinem beinahe nacktem Körper, dem feuchten, blonden Haar und den blauen Augen, aber er war mir fremd. Ein Mann, der in hunderte Facetten abtauchte und mich grob zurückstieß, ohne zu merken, wie sehr es mir wehtat, so behandelt zu werden. Vielleicht auch, interessierte es ihn gar nicht, welche Tritte er mir und meiner - nach Liebe suchenden - Seele damit gab. Jahre hatte ich von meinem Vater Tritte und Schläge erfahren, hatte kaum jemanden gehabt, den ich lieben konnte. Natürlich liebte ich meine Schwestern und auch mein Vater bedeutete mir auf eine seltsame Art und Weise etwas, aber es war nie die Art von Liebe gewesen, die ich glaubte, für Adam zu empfinden. Nach bereits drei Tagen, die er hier war.

Dieser Mann verwirrte mich einfach nur.

»Das alles war ein Fehler.«, antwortete er und fuhr sich durch das Haar, dann trat er einen weiteren Schritt zurück. »Pass auf, Raven. Du bist ein nettes Mädchen und so und ich habe dich geküsst, gut. Aber du bedeutest mir nichts. Nicht das Geringste. Du bist ein Kind, nicht die Art von Frau, die ich vorziehe. Kapiert? Bei den Göttern, du bist nicht einmal eine Frau, du bist zu jung für mich. Ich meine... da ist nichts an dir dran und so...«

Er sprach noch weiter, aber ab da hörte ich einfach nicht mehr zu. Wie betäubt stand ich vor ihm, hörte mir an, wie unglaublich kindlich ich war und, dass er als Mann mehr zum Anfassen bräuchte, als die drei Pölsterchen, die ich irgendwo versteckt haben könnte... und plötzlich kam ich mir unglaublich lächerlich vor. Wie...? Wie hatte ich nur glauben können, ein Mann von über zwanzig Jahren, könnte etwas an mir finden? Seine Worte hallten spöttisch in meinem Kopf wieder.

Du bist ein nettes Mädchen...

Aber du bedeutest mir nichts. Nicht das Geringste...

Du bist ein Kind...

Kapiert?

Und auf einmal brachen meine Mauern ein, die ich unbewusst versucht hatte, zu errichten. Tränen strömten mir ungehindert über die Wangen und meine Beine zitterten verräterisch. Verzweifelt schluckte ich mein Schluchzen hinunter, wandte mich ab und stürzte zur Tür. Ich wollte mich nicht noch lächerlicher machen, als ich mich eh schon gemacht hatte.

Ich hatte mich bis auf die Knochen blamiert!

Ich war selbst überrascht, wie schnell ich den Riegel lösen und aus der Tür rennen konnte. Blind vor Tränen und mit aufgewühlten Gedanken rannte ich in irgendeine Richtung. Hinter mir hörte ich Adam rufen, hörte aber nicht hin und rannte einfach so schnell ich konnte. In meinem Kopf hatte alles auf Flucht umgeschaltet, sodass ich rannte, als würde mein Leben davon abhängen.

Es war so... demütigend, das alles zu erfahren. Seine Worte waren das schlimmste gewesen. Vielleicht auch seine Taten, aber ich war mir sicher, dass seine Worte mehr in mir kaputt gemacht hatten, als das, was er getan hatte. Erst küsste er mich in meiner Kammer, dann leugnete er einfach, das getan zu haben und schickte mich fort. Dann küsste er mich wieder und das so verlangend und wild und ausgehungert, dass ich erst nicht glauben wollte, was er gesagt hatte. Aber dann sagte er es doch. Dass er mich nicht wollte. Es tat so weh.

Keuchend lehnte ich mich an einen Baum. Schluchzend stützte ich meine Arme auf den Oberschenkeln ab und sog hektisch die Luft in meine Lungen, die wie Drachenfeuer brannten. Wie lange war ich gelaufen? Ich wusste es nicht.

Und plötzlich fuhr ich hoch... und fand mich mitten im Wald wieder. Es war stockdunkel, ich sah kaum die Hand vor Augen und auch die Monde spendeten kaum Licht, das durch das Blätterdach drang. Ich bemerkte auf einmal die Kälte der Nacht und lehnte mich zitternd an den Baumstamm, während mir die heißen Tränen noch immer ungehindert über das Gesicht strömten.

Das Gefühl von Scham entfaltete nun seine ganze Wirkung, sodass ich mir eine Hand auf den Mund presste und erstickt hinein schluchzte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich nicht mehr schluchzte wie ein jämmerlicher Haufen und mich allmählich beruhigte.

Noch immer schämte ich mich ungeheuerlich, aber es war etwas besser.

Schließlich wurde ich etwas klarer im Kopf und blickte mich um. Ich war bei meiner überstürzten Flucht mitten in den Wald gerannt... und von wo genau kam ich jetzt?

Ich versuchte in der Dunkelheit etwas zu erkennen, aber mehr, als Gestrüpp und Bäume und Dunkelheit, vermochten meine Augen nicht zu sehen. Verdammter Mist! Wieder schnellte mein Puls in die Höhe, als ich erkannte, in welcher Lage ich mich befand. Ich war alleine, mitten im Wald, während ein mordendes Monster unser Dorf unsicher machte. Sofort waren alle Peinlichkeiten von eben vergessen. Ich spürte nur die Angst, dass dieses Etwas in der Nähe sein könnte.

Und dann... atmete etwas rechts hinter mir langsam aus.

 

Ich war wie erstarrt, in einer Art Schockstarre gefangen, die mich nicht los ließ. Es war, als wäre ich ein Kaninchen, welches vor dem Fuchs stand und wusste, dass dieser einem gleich die Zähne ins Fleisch rammen würde. Mein Atem kam stoßweise in kleinen Wölkchen, mein Puls raste, sodass ich ihn am Hals pochen fühlte und Schweiß brach mir durch alle Poren aus.

Zitternd wandte ich mich um und weitete vor Angst die Augen. Zwischen zwei großen Brombeersträuchern richtete sich ein gewaltiger Schatten auf die Hinterbeine auf. Glühende Augen fixierten mich, folgten meinen angstvollen Bewegungen.

Die Tränen, die eben noch vor Scham gelaufen waren, liefen nun vor Angst meine glühenden Wangen hinab. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass mein Leben viel zu kurz gewesen war. Dass ich nie die Liebe und die Leidenschaft eines Mannes erfahren hatte, meine Kinder nicht hatte aufwachsen sehen und nie gewusst hatte, wie schön ein Leben hätte sein können. Ich war nur immer die kleine, unscheinbare Raven gewesen, die eigentlich niemanden hatte. Das wurde mir jetzt, im Augenblick der Gefahr, deutlich bewusst.

Niemand würde lange um mich trauern, wenn dieses Monster mich tötete. Kestral hatte nun Robb, den sie in naher Zukunft würde heiraten und Miriam war schon immer die tapferste von uns gewesen. Sie würde darüber hinwegkommen und das vielleicht schneller, als ich ahnte. Tja, und mein Vater? Er würde sicherlich wieder Freundschaft mit dem Alkohol schließen, dessen war ich mir sicher.

Ich fröstelte noch mehr, als mir der nahende Winter seinen eisigen Atem ins Gesicht blies. Und auf einmal verlangte alles in meinem Körper nach Flucht. Zuerst hatte ich geglaubt, mich damit anfreunden zu können, nun zu sterben, aber mein Körper schien nicht der Meinung zu sein, dass es nun schon Zeit war, zu gehen. Ich wirbelte herum und rannte.

Zwar wusste ich nicht mehr, von wo ich gekommen war und wo genau Jorinsheim lag, aber das war unwichtig. Der Gedanke, was mir blühen würde, würde das Ungeheuer mich erwischen, ließ alle Gedanken verschwimmen. In diesem Moment voller Adrenalin, Panik und Todesangst, fühlte ich mich beinahe übernatürlich stark und schnell. Ich rannte, so schnell mich meine Füße trugen, zerrte den Rock hoch, um besser laufen zu können, was sich jedoch als schwierig herausstellte. Überall lag Gestrüpp und das Unterholz war dicht bewachsen, mit Wurzeln übersät und lud geradezu zum Stolpern ein.

Ich folgte dem Mondlicht, das in vereinzelten Flecken auf den Boden strahlte, doch je schneller ich lief, desto unerträglicher wurde das Seitenstechen. Vor mir ragten zwei Gebüsche auf, aber ich war zu schnell, um einen Haken zu schlagen, denn dann wäre ich in jedem Fall gestolpert und zu Boden gestürzt, das wusste ich. Und so versuchte ich mit den Armen mein Gesicht zu schützen, als ich mitten hindurch preschte. Der Rock meines Kleides verfing sich in den Dornen, die mich überall am Körper stachen und mir gemeine Furchen in die Wangen rissen. Ein Ratsch sagte mir, dass mein Rock irgendwo eingerissen sein musste.

Und dann stolperte ich aus den Büschen heraus, strauchelte und fiel. Wimmernd kroch ich einige Meter, bevor ich mich an einem anderen Dornenbesetzten Busch hinaufzog, mir dabei in die Hände schnitt. Aber ich spürte den Schmerz kaum, mehr noch, beflügelte er mich, weiter zu laufen. Dabei widerstand ich dem Drang, mich nach dem Ungeheuer umzusehen, das mich durch den Wald jagte. Das war auch so überhaupt nicht nötig, denn meine Ohren, durch das das Blut rauchte, hörten, dass mein Verfolger noch da war - und unbarmherzig zu mir aufschloss...

Das Trappeln großer, krallenbesetzter Vorderläufe wurde lauter, beinahe unerträglich laut in meinen Ohren. Das Seitenstechen wurde nun unerträglich, sodass ich beim Rennen eine Hand auf meine Hüfte presste. Doch der Schmerz, der sich bei jedem Schritt bis hinauf in meine Lungen bohrte und das Atmen zur Qual machte, wurde nicht besser. Mehr noch schwand meine Kraft mit jedem Schritt, die ich weiter durch das Unterholz tat. Da ich schon immer schwächlich, klein und dünn gewesen war, ließ meine Kraft schnell nach, obwohl ich bereits das Gefühl hatte, Kilometer gelaufen zu sein.

Alles, woran ich dabei denken konnte, war, dass ich leben wollte. Ich wollte mein kleines, bescheidenes Leben in der Bauernhütte meines Vaters leben, jeden Morgen abwaschen und im Garten das Gemüse ins Haus holen, Wäsche waschen und mich mit den langweiligen Dingen des Alltags beschäftigen. Denn egal, wie unspektakulär das Leben eines Bauernmädchen schon war, es war ein gutes Leben. Es war ein Leben. Und das Leben war besser als der Tod. Alles war besser als der Tod.

Erneut tauchte vor mir Gestrüpp auf und ich schoss zwischen den Zweigen hindurch, die an meinen Kleidern zerrten und mir kleine Kratzer zufügten. Wie ein Wirbelsturm brach ich aus dem Unterholz heraus auf eine einsame, mondbeschienene Lichtung.

Das Wesen, das mir dicht auf den Fersen war und noch gut zehn Schritte entfernt war, knurrte bellend auf, laut und unheimlich, dann schwoll das Knurren zu einem entsetzlichen Heulen an. Mir schoss eine Gänsehaut über den Körper, denn es hörte sich beinahe an, wie eine weinende Frau, die jemanden verfluchen wollte, der ihr etwas schlimmes angetan hatte. Es war entsetzlich und obwohl alles in mir danach schrie, es nicht zu tun, warf ich einen flüchtigen Blick über die Schulter.

Das Ungeheuer brach ebenfalls aus dem Gebüsch hervor und schoss wie ein weißer, unheimlicher Blitz über die Lichtung. Und gerade, als ich mich umwandte, um noch schneller weiterzulaufen, traf mich ein brutaler Hieb in die Seite. Lange Krallen rissen mir Furchen ins Fleisch und obwohl ich geglaubt hatte, alle Luft wäre fort, stieß ich einen erstickten Schrei in den Nachthimmel aus.

Im nächsten Moment wurde ich auf den Boden geschleudert und für den Bruchteil einer Sekunde wurde mir schwarz vor Augen. Als ich langsam wieder zu Sinnen kam, lag ich auf dem Bauch im kalten, feuchten Gras, das in einzelnen Halmen an meinen Wangen klebte. Dann erst spürte ich den Schmerz, das Brennen an meiner Seite und stützte mich keuchend auf die Ellenbogen, führte eine Hand an die Wunde und blickte sie an. Von der Dunkelheit schwarzes Blut tropfte an meinen Fingern herab ins Gras. Mein Kleid war bereits dunkelrot getränkt.

Ich kniff die Augen zusammen und drehte den Kopf suchend und wimmerte vor Angst auf, als es sich dunkel vor den Monden abhob. Das Wesen sah beinahe wie ein Mensch aus, dünn, bis auf die Knochen abgemagert, die mit einer blassen, weißen Haut überzogen war. Überall hing weißes Fell in Fetzen herunter, zeigte einige der Hautstellen. Doch das unheimlichste war der Kiefer. Der Unterkiefer stand merkwürdig hervor und zeigte eine Reihe nadelspitzer Zähne, das Fleisch hing in Fetzen vom Kopf des Ungeheuers und die Augen glühten rot. Auf seinem Kopf befand sich ein Geweih mit spitzen Enden. Es sah grotesk aus.

Und nun wurde mir bewusst, dass ich nie eine reale Chance gehabt hatte, hier lebend aus dieser Sache heraus zu kommen. Zwar hoffte man und glaubte, dass das noch nicht das Ende sein konnte, aber dann wurde einem schlagartig bewusst, dass man nun sterben würde. Es war unfair, dass ich so wenig Zeit zum Leben gehabt hatte und, dass ich niemanden vor der Bestie warnen konnte, die hier ihr Unwesen trieb. Ich hoffte nur, dass nicht mehr viele Menschen ihr zum Opfer fielen, bis man etwas gegen das Ungeheuer unternehmen konnte.

Schluchzend versuchte ich rückwärts zu kriechen, aber das Monster folgte mir mit stampfenden Schritten, dann holte es aus und hob den Arm.

Ergeben schloss ich die Augen und fühlte Frieden in mir.

Sechs

 

Ich sah es bereits vor mir.

Die blühenden Wiesen Elysiums, das Rauschen des Meeres irgendwo in diesem riesigen Land, in das alle Seelen hinein passten, die jemals existiert hatten und noch existieren würden und den sanften Wind, der mir warm und lau über die nackten Arme strich. Beinahe schmeckte ich die salzige Brise auf der Zunge. Von jeh her hatte mir Mutter von Elysium erzählt. Das Land, in das man eintrat, sobald man die Pforte des Todes überschritten hatte, die Götter einen richteten und man dorthin geschickt wurde. Besonders oft hatte sie mir davon erzählt, wenn ein Teil meiner Großeltern gestorben war und ich traurig gewesen war. Sie hatte mich getröstet, dass sie an einen besseren Ort gehen würden, wo sie auf uns warteten, bis unsere Zeit gekommen war.

Nun war meine gekommen und die leider früher, als ich gewollt hatte.

Kurz bevor ich mich damit abfinden konnte, nun meine Mutter und meine Großeltern wieder zu sehen, erklang hinter mir leises Knacken von Zweigen auf dem dichten Waldboden. Kaum war das bedrohliche Knurren zu hören, denn in meinen Ohren rauschte das Blut wie ein Wasserfall. Das Stapfen von großen Pfoten war laut und ein scharfer Geruch stieg mir in die Nase, übermächtig und beinahe betörend wohlriechend. Ein sehr erdiger, waldiger Geruch mit einer Spur von Baumharz. Es war seltsam, denn dieser Duft schien mich einzulullen in eine sanfte Woge der Sicherheit. Merkwürdig, dass ich ausgerechnet in solch einer Situation dieses Gefühl verspürte.

Tröstende Sicherheit im Angesicht des Todes.

Erst jetzt vermochte ich die Augen zu öffnen und blickte mich um.

Das weiße Ungeheuer, das mich soeben noch hatte töten wollen, hatte sich einige Schritte zurückgezogen, kauerte auf allen Vieren im Gras und starrte wie hypnotisiert in die Bäume hinter mir. Die Augen, dieses glühende Rot hatte sich bereits tief in mein Bewusstsein gebrannt wie Höllenfeuer, aber, wenn dieses Monster zurückwich vor dem, was dort am Waldrand hinter mir war, konnte der Tod durch die Klauen der weißen Bestie nur ein Geschenk sein.

Ächzend, da das aufgekeimte Adrenalin allmählich verblasste und die Schmerzen der fleischigen Wunde an meiner Seite mehr in den Vordergrund rückten, rollte ich mich ein wenig herum. Ein Blick genügte mir, um mich wieder in Panik zu versetzen. Die Erkenntnis, dass ich noch nicht tot war, obwohl ich es längst sein müsste, half nicht viel, denn am Waldrand stand ein riesiger schwarzer Schatten. Beinahe zweieinhalb Meter ragte das haarige Ungetüm in den Nachthimmel, hob sich schwarz und bedrohlich vor den beiden strahlenden Monden ab. Gedrungen stand es am Waldrand, schnaubend und schwer atmend, die langen Arme, an dessen Enden sich tellergroße Pfoden befanden, hängend und nur auf den muskulösen Hinterbeinen stehend.

Ein... großer Hund?

Als ich genauer hinsah, bemerkte ich die lange Schnauze, eine feuchte schwarze Nase und Fangzähne die aus den zurückgezogenen Lefzen ragten. Und dann legten sich die zwei großen dreieckigen Ohren eng an den Kopf an und die glühenden, gelben Augen fixierten mich. Kurz weitete sich die Augen und ich glaubte, gleich in dem Maul des gewaltigen, auf zwei Beinen laufenden, Wolfes zu landen. Doch der Blick huschte über mich hinweg zu der Bestie, die soeben tiefe Furchen in meine Haut gerissen hatte.

Der riesige Wolf stieß ein heftiges Knurren aus, welches noch in meinen Knochen vibrierte, als er sich schwerfällig auf alle Viere niederließ und aus dem Schatten heraustrat. Es war tatsächlich ein Wolf. Ein riesiger Wolf, der Schädel war sicher so groß wie eine ganze Waschschüssel bei mir Zuhause. Dennoch wirkte der Wolf seltsam, abgesehen von seiner bestialischen Größe. Etwas seltsam menschliches haftete an ihm. Die Art, wie er sich bewegte und die Proportionen der Gliedmaßen... der Brustkorb hatte etwas von einem menschlichen Mann.

Konnten die Geschichten wahr sein? Die Geschichten über Männer, die sich in animalische Wölfe verwandelten, allein dem Instinkt folgend?

Werwolf!, rief es in meinem Kopf.

Bei den Göttern! War er etwa da, weil er mich ebenso töten wollte? Würden sich diese beiden Ungeheuer um meine Eingeweide streiten, wie zwei Füchse um ein Huhn? Würden sie mich forttragen, sodass niemand meine Leiche fand, wie die von Robbs Mutter? Ich hatte solche Angst, Todesangst und doch akzeptierte ich es, dass ich sterben würde.

Vor Angst kauerte ich mich zusammen, keuchte aufgrund der Wunde und kniff die Augen zu. Nun könnte der Tod kommen, egal, von welcher Seite auch immer. Von vorn oder von hinten. Völlig egal.

Plötzlich jedoch kreischte das Hirschungeheuer ätzend auf, sodass es mir in den Ohren schmerzte. Wimmernd presste ich meine Hände auf meine Ohren und fuhr hoch, wie von der Tarantel gestochen, denn ich konnte noch immer nicht fassen, dass ich nicht tot war.

Der Werwolf war um mich herum geschlichen und wirkte in seiner kauernden Position immer noch ziemlich beeindruckend, wie er nun vor dem Hirschmonster stand und bedrohlich knurrte. Dieses schien verwirrt, dass es jemand bei der Jagd störte und so starrte es den Werwolf nur an, analysierte mit jedem Blick auf ihn, seine Bewegungen und, was er als nächstes tun könnte.

Schließlich schien das Hirschwesen ihn nicht als Bedrohung anzusehen, sodass es sich auf die Hinterbeine erhob, die Arme mit den langen Klauen spreizte und einen heulenden Laut ausstieß, welcher in einem markerschütternden Kreischen endete. Ein Kampfschrei, der mir zeigte, dass nicht nur ich in dieser Nacht sterben würde, sondern auch dieser Werwolf.

Er hatte keine Chance gegen dieses Ungeheuer!

Und doch trat der Wolf nicht den Rückzug an und überlies mich diesem Ding. Mehr noch, richtete sich er sich ebenfalls auf die Hinterbeine auf und brüllte dem Hirschmonster entgegen, dass mir die Knochen vibrierten. Und dann prallten zwei mächtige Ungeheuer gegeneinander. Es passierte alles so schnell, dass meine Augen den Bewegungen der beiden kaum folgen konnten.

Kurz nachdem das Hirschmonster von dem Werwolf angebrüllt wurde, holte es zum ersten Schlag mit seinen langen Klauen aus. Doch der Wolf war schneller und wich dem Hieb aus, rollte zur Seite und stieß sich vom Boden ab. Dabei glaubte ich tatsächlich die Taktik eines Menschen zu sehen, der dem Hieb eines wilden Monsters gekonnt ausweichen konnte. Es war unglaublich. Im nächsten Moment vergruben sich die Fangzähne bereits im Nacken des Hirschwesens und zerrten an der Haut dort. Blutige Risse bildeten sich unter der Beißkraft des Werwolfes, aber das Hirschmonster war nicht weniger gefährlich, denn er packte den Werwolf, der beinahe dieselbe Größe hatte, mühelos und schleuderte ihn rund zehn Meter weit fort.

Krachend landete er im Gras und rührte sich nicht.

Bei den Göttern, war der Kampf schon vorrüber? Und weshalb war ich Dussel nicht weggelaufen?!

Das Hirschmonster fuhr zu mir herum und die glühend roten Augen fixierten mich, sodass ich wusste, dass nun mein letztes Stündlein geschlagen hatte. Ich schrie, so glaubte ich jedenfalls. Das Adrenalin verdrängte einfach alles, alle Geräusche und Empfindungen. Beinahe vergaß ich sogar, wer ich war, im Angesicht der Angst und des Todes.

Zitternd blickte ich zu dem Monster auf, als es sich über mich beugte und die Arme spreizte, die tödlichen Klauen auf meinen Leib gerichtet. Meine Angst jedoch verrauchte in dem Augenblick, denn der Schmerz an meiner Wunde lenkte mich ab und ich fand mich damit ab, zu sterben.

Beinahe musste ich lächeln, wenn ich an die Zeit dachte, die ich gehabt hatte. Mit meinen Schwestern, meinem Vater und sogar mit meiner Mutter, auch, wenn es nicht viele Jahre mit ihnen gewesen waren. Ich dankte meinen Eltern dafür, dass ich sie hatte erleben dürfen.

Plötzlich schoss ein schwarzer Schatten über das Ungeheuer hinweg, packte es am Schädel und riss es von mir fort. Mehrere Meter flog das Wesen durch die Luft, bevor es hart auf den Boden auftrumpfte und dann richtete sich ein gewaltiger Werwolf vor mir auf. Der Rücken des mächtigen Tieres sah einem Männerkörper sehr ähnlich, jedoch zogen sich tiefe Narben durch das Fell, als hätte er bereits eine ganze Zeit hinter sich gelassen.

Knurrend baute sich der Werwolf vor mir auf, sodass ich keuchend zurückwich, um nicht zwischen die Fronten zu geraten. Es wunderte mich sowieso, dass er den Hieb des Hirschwesens überlebt hatte und, wenn ich geglaubt hatte, die Rangelei der beiden sei bereits ein Kampf gewesen, dann wurde ich nun eines besseren belehrt.

Denn, als der Hirsch sich wieder aufrappelte, preschte er sofort vorwärts und rammte den Werwolf. Zu einem knurrenden, kreischenden Kneul gekrallt, wälzten sie sich über die Lichtung. Immer wieder krachten Knochen, wenn sie Hiebe verteilten und Zähne verbissen sich in Fleisch, sowohl in das des Hirsches, als auch, des Wolfes. Immer wieder schnappte der Werwolf nach dem Geweih des anderen und als er es endlich zu fassen bekam, schleuderte er ihn mit der Kraft seines muskulösen Nackens im Kreis herum. Wild ruderte sein Gegner mit den Armen und versuchte ihn von sich zu lösen, indem er mit seinen scharfen Klauen ausholte, aber er erwischte ihn dennoch nicht.

Letztendlich drückte der Werwolf das Hirschmonster zu Boden und knurrte es laut und bedrohlich an.

Das Wesen kreischte zurück, wandt sich unter ihm hervor und preschte überraschenderweise über die Ebene in seinem Rücken und verschwand zwischen den dunklen Bäumen.

Der Kampf war vorrüber und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, denn das Verhalten des Werwolfes war merkwürdig. Es war beinahe so, als hatte er mich... beschützen wollen. Als das Hirschmonster vor mir gestanden hatte und zum Schlag ausgeholt hatte, welcher mich unter Garantie getötet hätte, war er praktisch in ihn hinein gesprungen. Das war so... seltsam.

Schwerfällig richtete ich mich auf, wobei mir fürchterlich schlecht wurde. Alles um mich herum drehte sich und mir war schwummerig, da das Adrenalin nun endgültig nachließ und den Schmerz und den Blutverlust allgegenwärtig machte. Leise winselte ich, wie ein Wolfsjunges auf, und blickte an mir herab. In der Dunkelheit wirkte das Blut schwarz, das meine gesamte Seite bedeckte und mein Kleid bis zum Knie dunkel färbte. Obwohl ich nicht tot war, hatte mich das Monster ziemlich arg erwischt.

Müde und erschöpft ließ ich den Blick über die Lichtung gleiten, wo der Werwolf noch immer dastand und angespannt lauschte. Erst nach einer Weile löste er sich aus der Erstarrung und richtete sich auf die Hinterläufe auf, hob den Kopf und fixierte mich mit gelb glühenden Augen, die im Mondlicht reflektierten. Langsam kam er auf mich zu, diesmal auf vier Beinen, bis er vor mir stand und sich erneut aufrichtete.

Ich hatte bereits Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten, als ich den Kopf schwach hob, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Ruhig stand er da, die langen Arme locker an den Seiten und die Augen beobachteten mich aufmerksam. Der Blick glitt sofort an meine Seite und leise knurrte er.

Dabei beobachtete ich ihn selbst, bemerkte einige vom Blut glänzende Schrammen an seiner Schulter. Doch ich war zu schwach, um mich noch weiter auf den Beinen zu halten. Augenblicklich sackte ich in mich zusammen, spürte fellbesetzte Arme um mich und sank an eine haarige Brust, die allmählich immer weicher und glatter wurde, bis ich Haut auf meinem Gesicht fühlte, da ich es so dicht an ihn presste. Zitternd atmete ich ein und aus, nahm den Duft von Baumharz und Wald nur noch leicht, jedoch noch immer sehr intensiv wahr.

»Danke«, flüsterte ich an der weichen, heißen Haut und sank in eine zähe Bewusstlosigkeit.

 

Behagliche Wärme umgab mich, als ich langsam wieder zu Sinnen kam. Es war, als würde ich in einem Lager aus weichem Fell aufwachen, gebettet im Schoße der Götter, behütet durch ihre Wachsamkeit, sodass ich leise seufzte. Eine leichte Benommenheit hatte sich in meinem Körper ausgebreitet, sodass es eine Weile dauerte, bis ich die schweren Augenlider heben konnte.

Flackernder Kerzenschein erleuchtete das kleine Zimmer, in dem ich lag und für einen Augenblick entsinnte ich mich, dass das nicht meine Kammer sein konnte. Das Bett war zu groß, größer als meines jedenfalls. Es war eines, das für ein Ehepaar bestimmt war, jedoch wirkte die andere Seite, als wäre sie seit Jahren unberührt.

Leise stöhnte ich, als ich mich aufsetzen wollte, denn mein Kopf dröhnte und pochte unangenehm, weshalb ich mir leicht die Schläfen massierte. Dabei bemerkte ich erstmals, dass meine Arme nackt waren.

Blinzelnd riss ich die Augen auf und blickte mich um, fasste das erste Mal einen klaren Gedanken. Suchend blickte ich mich um und bemerkte, dass ich in Wilmers Jägerhütte war. Der Hütte, die nun Adam gehörte. Hatte ich das ganze Drama im Wald etwa geträumt? Und, wenn ja, wie war ich dann hier in dieses Bett gekommen?! Ich blickte an mir herab und bemerkte ein dünnes, Spitzennachthemd mit dünnen Trägern, das mir bis zu den Knien reichte. Hatte ich etwa...? Nein, das war unmöglich.

Benommen tastete ich nach meiner Seite, wo das Monster mich erwischt haben musste und bemerkte einen dicken Mullverband. Seufzend ließ ich mich zurück in die Kissen fallen, die nach Baumharz und Wald dufteten, wobei ich leicht die Stirn runzelte. Diesen Duft hatte ich auf der Lichtung wahrgenommen, als mich das Hirschwesen gejagt hatte. Der Werwolf hatte regelrecht danach gestunken und der Geruch hatte mich fest in seiner Hand gehabt, als ich bewusstlos zusammengebrochen war.

Langsam drehte ich den Kopf zum Fenster, das dem Bett direkt gegenüber war. Draußen war es noch Nacht, was bedeutete, dass ich nicht lange geschlafen haben konnte. Und so wälzte ich mich allmählich hoch, da ich wissen wollte, warum ich in Adams Hütte war, nachdem mich dieses Ungeheuer angegriffen hatte. Vielleicht kannte er den Werwolf, der mich hier bei ihm abgeliefert haben musste.

Torkelnd stützte ich mich am Türrahmen ab, da meine Seite noch immer ziemlich schmerzte und das Laufen wirklich anstrengend war und wahrscheinlich Gift für meine Wunde. Aber ich musste einfach wissen, was los war. Und so durchquerte ich langsam die Stube und blieb im Rahmen zur Küche stehen.

Beinahe fasziniert betrachtete ich Adams muskulösen Rücken - er trug nur eine Stoffhose -, denn er stand an einem Tisch, vor ihm ein Bottich mit Wasser. Doch mein Blick wurde sofort auf die vielen dunkelrot befleckten Handtücher gelenkt, die um ihm herum auf dem Boden lagen.

Und auf einmal wurde mir klar, wer mich tatsächlich auf der Lichtung gerettet hatte...

»Oh, mein Gott«, krächzte ich und wich zurück.

Aufmerksam hob Adam den Kopf und fuhr zu mir herum.

Und da bestätigte sich nur, was ich schon vermutet hatte. Seine Schulter war verletzt, tiefe Klauenrisse hatten sich ins Fleisch gegraben, die Klauen des Hirschmonsters. Adam war der Werwolf, der gegen das Ungeheuer gekämpft hatte und mich vor diesem rettete. Und, obwohl ich ihm dankbar war für mein Leben, fürchtete ich mich vor ihm. Ich wusste nicht, weshalb, vielleicht war es auch noch die Panik, die ich vor wenigen Stunden empfunden hatte. Vielleicht die Todesangst, als ich fürchtete, meine Familie nie wieder zu sehen.

»Raven«, raunte Adam beruhigend und trat mit erhobenen Händen auf mich zu.

Als er nach mir greifen wollte, sprang ich mit einem Aufschrei zur Seite. »Was, zum Teufel, bist du?!«

Merklich zuckte er zusammen, blieb jedoch stehen und ließ die Hände sinken. »Beruhige dich, bitte.«, sagte er bestimmend. »Lass mich das alles erklären.«

Heftig atmend stand ich vor ihm, konnte nicht fassen, dass ich ihn auch noch geküsst hatte, bevor ich wie eine Geisteskranke in den Wald gestürmt war, getrieben von Scham und Pein. Dabei war ich dem Hirschmonster geradezu in die Arme gesprungen und das alles nur, wegen ihm! Und nun wollte er mir das alles erklären? Ich war nicht einmal sicher, ob ich es hören wollte, aber aus einem unerfindlichen Grund, beruhigte ich mich etwas. Denn die Tatsache, dass, wenn er mir etwas hätte antun wollen, er es schon längst hätte tun können, beruhigte mich etwas.

Zitterig atmete ich aus, wobei mir wieder etwas schwindelte. »Na gut. Erklär es mir.«

Adam deutete zum Schlafzimmer, sodass ich mich fügte und ihm durch die Tür folgte. Er setzte sich auf die Bettkante und ermutigte mich dazu, mich neben ihm zu setzen, was ich auf nach kurzem Zögern tat. Schweigend saßen wir nun so da, wobei ich mit meinen Fingern herum spielte, was ich oft tat, wenn ich nervös war. Auf meiner Unterlippe herum beißend starrte ich auf das Spitzennachthemd, das er mir angezogen haben musste, was bedeutete, dass er... mich nackt gesehen hatte.

»Ich höre beinahe, wie es in deinem Kopf rattert, Raven.«, sagte er leise, wobei er selbst an seinen Fingern rupfte.

Ich biss mir von Innen in die Wange. »Ich habe Fragen.«

»Stelle sie mir. Ich verspreche dir, sie alle zu beantworten.«, erwiderte er leise.

Wieder druckste ich herum, denn ich hatte keine Ahnung, wie ich anfangen sollte. Es waren einfach zu viele Fragen, die mich quälten. Warum hatte er mich letzte Nacht besucht und geküsst? Was bedeutete der Biss, den ich noch immer am Hals spürte? Was war das im Wald gewesen? War er oder dieses Hirschwesen für die Morde im Dorf verantwortlich? Ich war so verdammt verwirrt und wusste überhaupt nicht mit der Situation umzugehen.

»Raven«, riss er mich aus den Gedanken.

Ich hob den Kopf und blickte in eisblaue Augen, die mich besorgt musterten. Am liebsten hätte ich mich in diesem Augenblick in seine beschützende Umarmung geschmiegt, aber ich konnte mich kaum rühren, weil mir die Fragen das Hirn zermarterten.

»Wie lange... bist du schon so?«, fragte ich kaum hörbar.

Er wandte den Blick ab und starrte eine Weile schweigend gegen die Wand, bevor er antwortete. »Ich wurde so geboren.«, murmelte er. »Mein Vater war ein Urwesen, für das es keinen Namen gibt. Ein direkter Nachfahre vom Wolf, nur animalischer, blutrünstiger und intelligenter, als ein Wolf.«

Adam machte eine lange Pause, sodass ich irgendwann leise fragte: »Und deine Mutter?«

Leise seufzte er und fuhr sich durch das blonde Haar, welches ihm wirr vom Kopf abstand. »Sie war ein Mensch... Du musst dazu wissen, ich stamme aus Líz. Hast du von dieser Insel schon mal etwas gehört?«

Unwissend schüttelte ich den Kopf und krallte mich in das Nachthemd.

»Líz ist eine Forschungsinsel. Dort werden... unter qualvollen Bedingungen, Wesen erschaffen oder eingesperrt. Ich wurde dort in Gefangenschaft geboren, nachdem man meine Mutter, sowie hunderte andere junge Frauen zu diesen Urwesen gesperrt hat in der Nacht der Vollmonde. Es kommt selten vor, dass beide Monde vollständig am Himmel stehen, sodass man nur in dieser Nacht, Werwölfe reinen Blutes erschaffen kann. Diese Leute wussten jedoch nicht, wie ausgeprägt der Sexualtrieb dieser Monster ist.«, murmelte er wie in Trance. »Meine Mutter war das einzige von diesen Mädchen, das die Nacht überlebte.«

Plötzlich glaubte ich mich in einer von Olafs Gruselgeschichten, in denen grausame Ungeheuer und strahlende Helden aufeinander prallten und sich einen gnadenlosen Kampf lieferten.

»Was... bedeutet ›ein Werwolf reinen Blutes‹?«, fragte ich leise, da ich ihn plötzlich nicht drängen wollte, etwas zu sagen.

Adam drehte den Kopf zu mir und blickte mich eine Weile lang an. »Kennst du die Legenden, die über Werwölfe erzählt werden?«

Ich blickte meine Hände an. »Ein Werwolf ist halb Mann, halb Wolf. Er wird von einem Wolf gebissen und ist verflucht, sich bei Vollmond zu verwandeln, keine Kontrolle zu haben.«, flüsterte ich.

Oft genug hatte mir Mutter von Fabelwesen erzählt, von Feenküssen, Flüchen und dunklen Zaubern, damit ich mich nicht zu weit von unserer Hütte fort wagte. Und immer wieder hatte ich um die Geschichte gebeten, in der ein Werwolf vorkam. Jedoch hatte Mutter diese Geschichte immer so erzählt, dass ich mich nicht gegruselt hatte. Jetzt aber, glaubte ich mich in einem Alptraum.

»Ein gebissener Werwolf ist ein Halbblut, ein geborener ein Reinblut. Von uns gibt es sehr wenige, da kaum eine menschliche Frau den Geschlechtsakt mit einem Urwesen überlebt.«, erklärte er mir.

Ich spürte, wie sich eine Gänsehaut auf meinen Armen bildete, als er so über den Geschlechtsakt sprach. Diese Angelegenheit schien bei Werwölfen eine große Rolle zu spielen, so wie er davon redete. Mein Puls pochte automatisch etwas schneller und ich kaute auf meiner Unterlippe herum.

»Hast du noch mehr Fragen?«, raunte er plötzlich sehr nahe an meinem Ohr und, als ich mich herum drehte, schwebte sein Gesicht vor meinem. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut, warm und einlullend.

»Wie hast du mich dort im Wald gefunden?«, krächzte ich kaum hörbar, noch immer nicht fassend, dass ich gerade neben einem Werwolf saß.

Leicht fuhr er zurück, dann blickte er auf meine Hände, die ich im Schoß verkrampft hatte. »Es klingt vielleicht komisch, aber... ich habe dich gerochen.«

Ich blinzelte verwirrt.

»Durch die Markierung, kann ich dich in drei Kilometern Entfernung riechen, gegen den Wind.«

Markierung? Der Biss!

Wie automatisch fuhr meine Hand zu meinem Hals, wo ich die geschwollenen Bissspuren fühlen konnte. »Du hast mich gebissen...«, schlussfolgerte ich und sah ihn an.

»Ich hatte mich diese Nacht nicht unter Kontrolle und dann ist das passiert.« Er senkte den Blick auf meine Lippen, was mir eine Gänsehaut bescherte. Es war unheimlich, welche Anziehungskraft er ausstrahlte, aber in diesem Augenblick war mir das alles einfach zu viel.

»Bring mich nach Hause, bitte.«, flehte ich regelrecht, wie ein Kind.

Erstaunt hoben sich seine Brauen, dann nickte er jedoch wortlos und erhob sich. »Dein Kleid ist leider hinüber, aber ich gebe dir einen Umhang.«, murmelte er konzentriert, ging zu einem dicken Eichenholzschrank neben dem Fenster und holte einen schwarzen Fellmantel heraus. Dann trat er wieder auf mich zu und hüllte mich in den dicken Umhang, als wäre ich ein zerbrechliches Pflänzchen, das man umsorgen musste.

Nachdem er sich angezogen hatte, verließen wir wortlos seine Hütte. Es musste früher Morgen sein, denn am Horizont hatte sich bereits ein gelblicher Streifen gebildet und es war nicht mehr stockfinster. Dennoch fühlte ich mich furchtbar schlaff und müde von dieser schrecklichen Nacht. Auf der Hälfte des Weges legte Adam einen muskulösen Arm um mich und zog mich enger an sich, wobei ich spürte, wie angespannt er war. Er lauschte, die ganze Zeit über, als erwartete er, dass dieses Monster noch hier war. Und so ignorierte ich die widersprüchlichen Gefühle, die in mir tobten, auf Grund der Wahrheit, die er mir eben in seiner Hütte gesagt hatte, und drückte mich eng an ihn.

Den Göttern sei Dank, war meine Hütte nicht weit entfernt, sodass wir rasch dort waren. Beinahe lautlos stiegen wir den Hang hinauf und er öffnete die Tür. Leise traten wir ein, doch er ließ es sich nicht nehmen, mich bis in meine Kammer zu begleiten, wo er die Tür schloss.

»Was ist das dort draußen?«, fragte ich ängstlich, als er zum Fenster schritt und angespannt hinaus schaute.

Er hob den Kopf und blickte mich beruhigend an. »Es kann dir nichts mehr tun, Raven.«, flüsterte er, kam zu mir und streckte die Hand aus.

Ich ließ ihn, mein Gesicht berühren. »Aber es ist noch dort draußen... was war es?«

Leise seufzte er, dann blickte er mich an. »Es war ein Wendigo.«, sagte er und seine Stimme klang sehr ernst dabei.

Leise schluckte ich. »Was ist das?«

»Ein sehr altes, sehr mächtiges Wesen, Raven. Es soll in der Zeit enstanden sein, als die Menschen anfingen, Eós zu besiedeln. In der Zeit der großen Kriege, des Hungers. Im Krieg gab es wenig zu essen und da haben die Menschen das gegessen, das vorhanden war: andere Menschen.«

Ich erschauderte vor Grauen. »Bei den Göttern...«

»Genau die waren es, die diesen Fluch aussprachen, da es nicht nach ihren Gesetzen war, dass ein Mensch einen anderen Menschen aß. Jeder, der solch einen Weg wählte, sollte Kummer und Schmerz heimsuchen, das unbändige Verlangen nach Menschenfleisch. Es gibt nur wenige, die einen Wendigo jemals zu Gesicht bekommen haben und noch weniger, die das überlebten. Er ist schwer zu töten.«, erklärte er mir.

Hoffnungsvoll blickte ich zu ihm auf. »Aber du weißt, wie?«

Adam wandte den Blick ab. »Für gewöhnlich fürchten sie das Feuer und Tageslicht. Deshalb hat er auch nur nachts angegriffen. Deshalb habe ich den Abend auch vor dem Haus gestanden, ich habe Wache gehalten, weil ich wusste, dass hier etwas nicht stimmte.«

»Kannst du ihn töten?«, fragte ich ihn nun die entscheidene Frage.

»Das muss ich wohl, wenn ich will, dass du überlebst.«, raunte er, führte sanft seine Hand in meinen Nacken und drückte seine Lippen auf meine Stirn. »Ich will, dass du unbedingt im Haus bleibst. Verlasse es niemals, bevor der Tag nicht vollständig angebrochen ist und sorge dafür, dass auch deine Schwestern die Hütte nicht verlassen. Ab jetzt wache ich über euch, bis ich dieses Monster umgebracht habe.«

Und im nächsten Augenblick war er auch schon fort und ich stand alleine in meiner kleinen Kammer, in meinem Rücken fühlte ich die ersten warmen Sonnenstrahlen des Tages und mir wurde bewusst, dass ich die Erste meines Dorfes war, die eine Begegnung mit der Bestie überlebt hatte.

Sieben

 

Den ganzen Morgen über lag ich angespannt in meinem Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen und grübelnd über die schrecklichste Nacht meines Lebens. Meine Gedanken schwammen immer wieder davon, wenn ich mich versuchte, aufs Schlafen zu konzentrieren, sodass ich ihnen irgendwann freien Lauf ließ und mir das Hirn zermarterte. Noch immer wollte ich nicht ganz glauben, dass Adam, der neue Jäger unseres Dorfes, ein Werwolf war. Ein Mann, der im Stande war, sich jeden Augenblick, in einen riesigen, menschenähnlichen Wolf zu verwandeln. Dabei wurden mir auch einige Dinge klar, über die ich mich vorher gewundert hatte. Wie zum Beispiel, dass seine Augen geglüht hatten im Halbdunkel, wie die einer Katze oder eines Hundes; dass er mich bemerkte, als er mit Kestral in seiner Hütte gesprochen hatte; und, dass er wohl in mein Haus gekommen war, ohne Mühe. Schließlich war er ein Werwolf!

Je mehr ich über Adam nachdachte, desto mehr Fragen drängten sich mir auf. Wie war er entkommen? Warum war er hierher nach Jorinsheim gekommen? Weshalb hatte er mich geküsst...? So viele Fragen, die nach einer Antwort verlangten. Und doch scheute ich mich davor, sie ihm einfach zu stellen. Warum wusste ich nicht.

Und je mehr ich über Adam und sein Werwolfdasein nachdachte, desto öfter rückte der Wendigo in den Vordergrund. Schließlich gab ich den Widerstand auf und grübelte nun auch über dieses Wesen nach, vor dem mich Adam gerettet hatte. Diese toten Augenhöhlen, in denen ein unheimliches, rotes Licht geglüht hatte und die mich immer wieder fixiert hatten, wenn es mit seinen langen Klauen ausgeholt hatte.

Ich wälzte mich herum und setzte mich auf die Bettkante. Dabei rutschte mir der weiche Mantel von den Schultern, welcher nach Baumharz und Wald duftete. Es war unfassbar, wie vertraut mir Adams Geruch bereits war, sodass ich mich kaum aus dem Mantel lösen wollte, aber allmählich musste ich aufstehen, sonst würde Kestral Verdacht schöpfen.

Und so stand ich auf und schnappte mir ein Kleid aus der kleinen Kommode, zog es vorsichtig über, um meine verletzte Seite nicht zu beschädigen und zog mir ein weiches Wolltuch um die Schultern. Dabei bemerkte ich, dass ich mein anderes, was ich gestern Abend getragen hatte, im Wald bei der Flucht verloren haben musste.

Schließlich warf ich einen Blick in den kleinen Spiegel, schnappte mir eine Bürste, damit ich nicht ganz so zerrupft aussah und bürstete mein dunkelbraunes Haar bis es glänzte. Die wenigen Kratzer auf meinen Wangen, die ich bei meiner Flucht durch die Büsche davon getragen hatte, würde ich einfach erklären können, wenn mich jemand fragte. Aber die langen Risswunden an meiner Seite, das würde schwierig werden.

Als ich fertig war, verließ ich mein Zimmer und tapste erschöpft die Treppe hinunter.

Unten war es sehr ruhig, was ich nach dieser turbolenten Nacht unheimlich genoss. Still wie ein Mäuschen schlich ich in die Küche und machte mich daran, das Frühstück vorzubereiten. Ich öffnete diverse Schränkchen, holte Brot und Käse hervor und war froh über die Ablenkung. Insgeheim hatte ich nämlich eine furchtbare Angst, fühlte mich von tausend Augenpaaren beobachtet und befand die dünnen Wände unserer Hütte für lächerlich schwach, um gegen dieses Wendigomonster zu bestehen.

Das einzige, was mich etwas beruhigte, waren Adams Worte, dass der Wendigo am Tage nicht jagen würde. Ich hoffte, dass das stimmte.

»Raven? Bist du hier?«

Ich wandte mich um und rief meiner ältesten Schwester zu: »Ja, in der Küche!«

Kestral trat gemächlich in die Küche ein. Heute trug sie ihr schwarzes Haar zu einem lockeren Knoten gebunden und hatte das hellblaue Kleid übergezogen, das ich an ihr am hübschesten fand. Jedoch wirkte ihr Gesichtsausdruck ernst.

»Was ist los?«, fragte ich sofort besorgt.

Sie strich sich ein paar lose Haarsträhnen aus dem Gesicht und deutete hinter sich. »Der Jäger steht vor der Tür. Er will dich unbedingt sprechen.«, brummte sie. Sie klang nicht sehr erfreut darüber, schien jedoch mir die Wahl überlassen zu wollen, ob ich mit Adam sprechen wollte oder nicht.

Dabei fragte ich mich jedoch, was Adam mit mir besprechen wollte. Wir hatten letzte Nacht bereits alles gesagt, was es zu sagen gab... außer die Dinge, die zwischen uns passiert waren. Die Küsse, die mich beinahe willenlos gemacht hatten. Ich wusste nicht genau, wie ich jetzt für ihn empfinden sollte, aber ich bekam noch immer weiche Knie, wenn ich an seinen harten, muskulösen Körper denken musste, der sich an mich presste.

Ich errötete sofort und nickte dann. »Ich komme sofort.«, murmelte ich und putzte noch schnell die Karotte sauber, die ich in der Hand hatte, dann raffte ich meinen Rock und schlüpfte an Kestral vorbei. Diese blickte mir nur verwundert hinterher, aber das ignorierte ich und stürmte beinahe hinaus.

Zunächst konnte ich Adam nirgends sehen, doch dann, als ich um das Haus ging, entdeckte ich ihn seitlich an einer niedrigen Steinmauer, die eines unserer Felder umrahmte. Er stand dort und blickte sich aufmerksam um, bis er mich entdeckte. Kurz erhellte sich seine Miene, bevor sie wieder ernst wurde.

Nervös blieb ich vor ihm stehen. »Du wolltest mich sprechen?«, fragte ich kaum hörbar.

Seine eisblauen Augen fixierten mich und schienen plötzlich in meine Seele blicken zu können. »Ich wollte nur sicher sein, dass es dir gut geht nach dieser Nacht... du bist so jung und solche Dinge hättest du nicht sehen dürfen.«

Ich senkte den Blick. »Ich bin kein Kind mehr, Adam. Außerdem hast du letzte Nacht selbst dafür gesorgt, dass es mir gut geht.«, murmelte ich.

Leise grunzte er, was ich noch nie von ihm gehört hatte. »Allerdings. Ein Kind bist du nicht.« Seine Stimme hörte sich beinahe schwer an, leicht rau und kehlig. Ob er auch an die Küsse dachte?

Bei den Göttern. Vor wenigen Tagen noch war ich ein kleines Bauernmädchen gewesen, das oft genug über den Sinn des Lebens nachgedacht hatte. Und nun, wo er da war, dachte ich nur daran, wie es sein könnte, in seinen Armen zu liegen. Und doch beschäftigte mich die Angst vor dem Wendigo sehr. Ich selbst hatte das alles von letzter Nacht verdrängt, um nicht der Wahrheit ins Gesicht zu sehen: dass ich in einem Dorf lebte, wo bereits zwei Menschen von dem Ungeheuer getötet wurden und ich oder jemand, den ich liebte, der nächste sein könnte.

Blinzelnd tauchte ich aus meinen Grübeleien auf, als Adam seine Hand an meinen Hals legte und mein Kinn mit dem Daumen anhob.

»Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du das nicht machen sollst.«

Verwirrt starrte ich ihn an, da ich zunächst nicht begriff, was er meinte. Bis er den Daumen an meine Unterlippe legte und diese aus meinen Zähnen befreite. Kaum hörbar schluckte ich.

»Verdammt... ich sollte das echt nicht fühlen.«, knurrte er beinahe gequält und durchbohrte mich mit seinem eisblauen Blick.

Mein Puls verschnellerte sich in dem Augenblick, als sich seine Pupillen weiteten. Und auf einmal hatte ich die Hauswand im Rücken, während sich ein muskulöser Körper an meinen kleinen, zierlichen presste. Warme, weiche Lippen drückten sich in vollendeter Harmonie auf meinen Mund. Wieso küsste er mich wieder? In der Hütte hatte er doch behauptet, dass ich ihm zu kindlich war! Zu klein, zu wenig!

Doch, als er begann, seine Lippen in einem langsamen Rhythmus zu bewegen, der mir den Atem raubte, schmolz ich in seiner festen Umarmung dahin. Ich streckte mich wie ein Pferd, das an einen Apfel heran wollte, grub meine Fingerspitzen tief in sein gemustertes Hemd und versuchte ihn enger an mich zu ziehen. Er kam mir entgegen, presste den gesamten Körper an mich und drückte mich somit fest an die Häuserwand. Keuchend löste er sich von mir, um Luft zu bekommen, wobei ich erst merkte, dass ich ebenfalls mal wieder nach Luft schnappen sollte.

»Wieso tust du das?«, krächzte ich kaum hörbar, spürte, wie ich seine Lippen beim Sprechen mit meinen streifte. »Du sagstest doch, dass ich viel zu kindlich bin für dich.«

Leise stöhnte er gequält auf, was mir eine Gänsehaut bescherte. »Ich wollte, dass du mich hasst, deswegen habe ich das gesagt. Ich dachte, ich könnte dich so leichter von mir fern halten.«

Ich hob den Kopf und blickte in sein ernstes Gesicht. »Warum?«

»Weil ich dich mit einem Hieb töten könnte, Raven. Ich bin gefährlich und obgleich ich dich auf der Lichtung dort draußen beschützt habe, habe ich dennoch nicht die volle Kontrolle über mich, wenn ich... so bin.« Langsam ließ Adam seine Stirn an meine sinken.

Unsicher legte ich meine Hände auf seine Brust. »Aber... warum sagst du mir das nicht einfach? Anstatt mir solche Dinge an den Kopf zu schmeißen. Ich dachte, ich wäre... abstoßend.« Beschämt senkte ich den Blick.

Nun lachte Adam leise. Lachte er mich etwa aus? »Du bist alles andere, als abstoßend, Raven. Ganz im Gegenteil, du bist so unschuldig, dass du mich, wilde Bestie, völlig verrückt machst... das Erste, was ich wollte, als ich dich das erste Mal sah, war, dir diesen Rock runter zu reißen, deine Schenkel zu spreizen und dich zu besteigen bis du meinen Namen vor Wolllust schreist.«

Ich sog scharf die Luft ein, da ich kaum glauben konnte, was ich da hörte. Ich... ich machte ihn verrückt? Das war doch verrückt! Das konnte doch gar nicht sein! Ich war... ich war vierzehn und beinahe noch ein Kind. Er war über zwanzig, wie sollte ich ihn da verrückt machen?

»Aber ich habe doch gar nichts gemacht.«, hauchte ich kaum hörbar.

»Das ist es gerade. Du merkst nicht einmal, was du machst, um einem Mann den Kopf zu verdrehen. Allein deine Lippenkauerei verleitet mich zu unanständigen Gedanken.«, brummte er und berührte wie zur Bestätigung meine Unterlippe.

Sehnsüchtig blickte ich ihn an, auch, wenn ich durch Kestral und Miriam eines Besseren belehrt sein müsste. Kestral hatte ihre Jungfräulichkeit schon vor langer Zeit aufgegeben, indem sie sich mit Robb, dem Schmiedesohn, im Heu gewälzt hatte und damit eigentlich entehrt war. Und Miriam hätte es ihr beinahe gleich getan, als sie mit Kjell versucht hatte, ein Schäferstündchen zu verbringen, als meine älteste Schwester und ich bei Adam in der Jägerhütte gewesen waren.

Und doch konnte ich Miriam nun verstehen. Dieses Gefühl, einem Mann nahe zu sein und Vertrauen aufzubauen, überwältigte einen vollkommen und unausweichlich. Es gab einfach nichts daran, was schlecht sein konnte. Nichts! Es fühlte sich zu gut, zu natürlich an, seine Hände an meinen Wangen zu spüren, seine Lippen auf den meinen. Ein Teil davon rührte sicherlich auch daher, dass er mich in der letzten Nacht gerettet hatte und mir solches Vertrauen schenkte, dass er mir von seiner zweiten Hälfte erzählt hatte und sich dabei sicher war, dass ich nichts weitererzählte. Und das würde ich auch nicht.

»Sag mir, woran du denkst.«, verlangte er leise raunend.

Ich hob den Kopf und sah ihn an. »Ich-«

In diesem Augenblick schoss Kestral wie von der Tarantel gestochen um die Häuserecke und blieb einige Sekunden starr dort stehen. Sie blickte uns ungläubig an, bevor sie sich vernehmlich räusperte und ihr feines Kleid glatt strich.

»Wir müssen zur Messe, Raven. Verabschiede dich - rasch.« Ihr erboster Blick ließ keine Widerworte zu.

Ich wusste, weshalb sie wütend war. Sie hatte mir ausdrücklich gesagt, dass ich mich von Adam fern halten sollte und ich hatte es nicht getan. Allerdings konnte ich nicht sagen, dass ich diese Entscheidung bereute.

 Bedauernd blickte ich Adam an, denn eigentlich gab es so vieles zu klären zwischen uns, dass ich eigentlich nicht gehen wollte. Aber sein Blick war verständnisvoll und er deutete mit einem Nicken in Kestrals Richtung, was mir bedeutete, dass ich gehen sollte, bevor ich Ärger bekam.

»Ein wenig Beten kann in diesen Zeiten nicht schaden... wir treffen uns zur Mittagsstunde an der alten Mühle auf dem Hügel.«, flüsterte er und küsste mich sanft auf die Stirn, bevor er an mir vorbei ging und Kestral im Vorbeigehen grüßte. »Einen schönen Tag die Damen.«

Erbost blickte sie ihm hinterher, dann stapfte sie auf mich zu und hakte sich bei mir unter. »Ich möchte, dass du dich von ihm fernhälst, Raven.«

Ich sah zu ihr hoch, da sie ein Stück größer war, als ich. »Aber, warum denn?«, fragte ich verwirrt.

Sie führte mich um das Haus herum und den Hang hinunter, wobei ihre Schritte eilig und gehetzt wirkten. »Ich habe ein schlechtes Gefühl bei diesem Kerl. Er schaut dich an, als ob er dich fressen wollen würde... halt dich fern von ihm. Er hat nichts gutes im Sinne.«, schnaubte sie.

Ja... wenn ich ihr erzählen würde, dass Adam ein Werwolf war, würde sie erst recht im Dreieck springen.

»Außerdem will ich nicht, dass du so endest, wie ich oder Miriam. Wir, die sich die Köpfe von irgendwelchen Männern verdrehen lassen und letztendlich keine Wahl mehr haben. Das soll dir nicht passieren, Raven. Du sollst einen guten Mann bekommen, heiraten und ein gutes Leben haben. Das wünsche ich mir für dich.«, fuhr sie leise fort und seufzte.

Ich blieb stehen und blickte sie an. Zwar wusste ich, dass sie sich nur Sorgen um mich machte, aber das, was sie sagte, war noch nie das gewesen, was ich gewollt hatte. Ich wollte keinen Mann, der arbeitete und schuftete und ich musste Zuhause sitzen, plärrende Kinder versorgen, das Haus in Ordnung halten und meinem Mann Abends eine Schüssel Eintopf hinsetzen, nur, weil ich eine Frau war. Und ihm im besten Fall auch noch zu Willen sein, wenn er mich wollte. Das war noch nie das, was ich in meiner Zukunft gesehen hatte, wobei ich nicht viel gesehen hatte. Aber jetzt, wo Adam da war und diese seltsamen Gefühle in mir weckte - Angst, Neugierde, Sehnsucht - war diese Option für mein Leben noch viel weniger das, was ich gewollt hatte.

In diesem Moment wollte ich Kestral jedoch keine weiteren Sorgen bereiten. Sie hatte genug um die Ohren; die bevorstehende Hochzeit mit Robb; die Gedanken an den Wendigo, die wir alle irgendwie im Hinterkopf hatten; die Sache mit Vater und die Schwierigkeiten, die ihr Miriam bereitete, welche sich immer mehr von uns zurückzog und kaum noch etwas mit uns zu tun haben wollte.

Aus diesem Grund sagte ich: »Mach dir keine Sorgen. Er wollte nur nett sein und mich fragen, ob es mir gut geht... wegen Soren und das alles. Er meinte, ein Kind, wie ich, hätte so etwas nicht sehen sollen... Adam hat mir angeboten, darüber zu sprechen, weil ich sowas nicht in mich hinein fressen sollte.«

Zwar gefiel es mir nicht, sie anzulügen, aber es erzielte den gewünschten Effekt. Ihre Miene hellte sich merklich auf und sie lächelte.

»Oh... das ist... sehr nett von ihm. Das hätte ich jetzt nicht von ihm gedacht, naja. Aber du weißt, dass du auch mit mir reden kannst, oder?« Plötzlich sah sie unsicher aus.

Rasch nickte ich, um ihr diese Unsicherheit auszuschlagen. »Natürlich weiß ich das, Kestral... lass uns schnell zum Haupthaus gehen, bevor die Messe noch ohne uns anfängt.«

Das schien sie zufriedenzustellen, sodass wir ineinander gehakt den Weg zum Haupthaus antraten. Uns kamen noch mehr Dorfbewohner entgegen, die ebenfalls zur Messe des siebten Tages der Woche wollten. In einer kleinen Gruppe gingen wir schließlich zum Haupthaus, dessen Inneres sich bereits mit Menschen füllte, die in dieser Zeit zu den Göttern beten wollten, dass die Bestie schnell wieder verschwand oder man sie stellen und töten konnte.

Kestral und ich blieben in einigem Abstand zur Tür stehen, um auf Miriam und Vater zu warten, der nach Jahren wieder die Messe besuchen wollte, wie Kestral mir sagte.

Nach mehreren Minuten entdeckte ich jedoch jemand anderen, der meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Es war Imie und Orin, die den kleinen Hang hinauf kamen, hinter ihnen der Rest ihrer Kinder, fünf Söhne von ursprünglich sechs. An der Hand hielt die trauernde Mutter den kleinen Nireu fest umklammert, als wolle sie nicht noch eines ihrer Kinder verlieren.

Mit einem traurigen Blick starrte sie auf den Weg, schien uns gar nicht zu bemerken, als sie an uns vorrüber zog und Kestral sie vorsichtig grüßte. Als der älteste Sohn von Imie, Falk, an uns heran trat, machte er nur einen Fingerwink, dass wir sie in Ruhe lassen sollten. Sie schien sehr zu trauern, was ich verstehen konnte. Leicht nickte ich und er zog ebenfalls an uns vorrüber in das Haupthaus.

Schließlich kam auch Miriam und letztendlich auch Vater, von dem mir Kestral leise zuflüsterte, dass er den ganzen Morgen auf den oberen Ackern verbracht hatte, um sie umzupflügen. Insgeheim freute ich mich unheimlich, dass er sein Wort zu halten schien und etwas machen wollte. Allerdings konnte ich Miriam ansehen, dass sie unseren Vater noch immer verabscheute. Auch sonst war sie sehr ruhig und in sich gekehrt heute Morgen, weshalb ich sie lieber in Ruhe ließ und den anderen ins Haupthaus folgte.

Wir setzten uns auf eine der hintersten Bänke und warteten auf den Priester. Cyotric, ein mittelalter, schwarzhaariger Mann mit dunklen Augen und einem gepflegten Dreitagebart, trat leise summend in das Haupthaus ein und schloss die Türen schließlich. Seit Jahren war er bereits Priester in Jorinsheim, so, wie sein Vater vor ihm Priester war. Er sagte immer, dass es Tradition in seiner Familie war, sich eine Frau zu nehmen, was nicht alle Priester durften, einen Sohn zu zeugen - einen einzigen, wohl bemerkt - und ihn zum Priester auszubilden. Angeblich hatte Cyotric auch schon eine Frau, die allerdings niemals vor die Tür durfte und niemand sie wirklich zu Gesicht bekommen durfte. Warum wussten wohl nur die Götter.

Die gesamte nächste Stunde sprach der Priester über die Mächte der Götter, huldigte den Toten, darunter auch denen, die von der Bestie getötet wurden und wir beteten gemeinsam, dass die Götter dieses Ungeheuer bald vertreiben würden.

Ich selbst bemerkte jedoch, wie viele Männer vor Wut die Zähne zusammenbissen, da sie die Bestie wohl lieber gejagt hätten. Irgendwann würden sich diese Männer nicht mehr mit Gebeten zufriedengeben. Das wusste ich. Und ich wusste auch, dass die Bestie nicht aufhören würde, zu morden. Ich hatte es in Adams Stimme gehört und hatte es in der Spannung seiner Muskeln gefühlt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Männer sich zusammenrufen würden, um das Monster zu jagen.

Als Cyotric die Messe für beendet erklärte und die Massen sich einen Weg zum Ausgang bahnten, blieb ich dicht bei meinen Schwestern und meinem Vater, bis wir ins Freie kamen. Dort entdeckten wir Robb und seinen Vater Kuma, die sich mit Kjells Mutter unterhielten.

Irma hieß sie. Sie war schon immer eine sehr zierliche und dünne Frau gewesen, aber nun sah sie noch dünner aus, als sonst. Das Kleid schlackerte ihr um den Oberkörper und nicht einmal das dicke, braune Wolltuch, das sie sich fest um den Rücken gezogen hatte, schienen das zu verbergen.

Kestral trat auf das Grüppchen zu, während Vater sich mit einigen Männern unterhielt, die sich lauthals darüber aufregten, wie Priester Cyotric versuchte, die Tatsachen durch seine Gebete und göttlichen Sprüche zu verdrängen. Ich für meinen Teil folgte Kestral.

Meine Schwester grüßte ihren Verlobten mit einer sanften Umarmung. Robb küsste sie auf die Stirn, wobei sich mir der Magen zusammenzog, wenn ich daran dachte, wie Adam mich festgehalten und geküsst hatte. Ich erschauderte vor Wonne.

»Ich habe Kjell bei der Messe gar nicht gesehen, Irma.«, sagte Kuma und verschränkte die dicken, muskulösen Oberarme vor der Brust.

Irma rieb sich die Oberarme, als wäre ihr kalt. »Dem Jungen geht es nicht gut.«, flüsterte sie mit kratziger Stimme, sie musste viel geweint haben. »Er fühlt sich nun für die Holzfällerhütte und mich verantwortlich, schuftet Tag und Nacht... er steht sehr unter Stress.«

Besorgt blickte Kestral zu Robb hoch, der auch die Stirn runzelte.

»Schläft er?«, fragte Robb.

Irma schüttelte traurig den Kopf.

»Vielleicht sollte ich mal mit ihm reden... er ist ja wie ein Bruder für mich.«, murmelte Robb dann nachdenklich, woraufhin meine Schwester nickte.

Ich blickte mich aufmerksam nach Miriam um und entdeckte sie bereits auf dem Hauptweg nach Hause, jedoch bog sie im letzten Moment um eine Ecke. Das war der Weg, der zur Holzfällerhütte führte. Stirnrunzelnd blickte ich mich um, aber niemand achtete auf mich, sodass ich beschloss, Miriam zu folgen. Ich wollte nicht, dass sie alleine umher lief, da ich noch immer misstrauisch war und meine Familie gerne an einem Ort wissen wollte. Beinahe kam ich mir schon vor, wie ein Hütehund, der seine Schäfchen zusammentrieb.

Als ich auf dem einsamen Pfad war, der ungefähr zweihundert Schritt außerhalb des Dorfes zum Waldrand führte, wo Kjell und seine Familie lebte und das Holz schlug, um es dann in das Lagerhaus im Dorf zu befördern, wo ich Ulme das letzte Mal vor seinem Tod gesehen hatte, zog ich das Wolltuch enger um mich. Schließlich kam ich an der Holzfällerhütte an und suchte den kleinen Hof mit den Augen ab.

»Lass es einfach, Miriam!«, hörte ich Kjells gereizte und wütende Stimme.

Wie automatisch fuhr ich zurück und presste mich an die Wand des kleinen Baumstammlagers, lugte um die Ecke und folgte den beiden mit den Augen.

»Aber -«

»Nichts, aber. Glaubst du wirklich, das Gefummel hinterm Haus hätte mir was bedeutet? Dann bist du echt dümmer, als du aussiehst!«, fuhr Kjell meine Schwester an, während er mit einer Axt in der Hand zu den Bäumen hinüber ging.

Miriam stockte und blieb stehen. »Was... was meinst du damit?«

Kjell blieb stehen, verdrehte genervt die Augen und fuhr zu ihr herum. »Wir haben uns geküsst, ein bisschen herum gemacht, aber ganz ehrlich? So toll war es mit dir nun wirklich nicht... du warst so einfach herum zu kriegen, Miri, du hast dich zur Hure gemacht, genau wie deine Schwester. Wie armselig bist du? Hast du es so nötig, meinen Schwanz in dir zu haben, dass du dich mir praktisch an den Hals wirfst?«

Ich war entsetzt, wie Kjell mit meiner Schwester umging. Schon immer war Miriam wie ich, das Mauerblümchen gewesen. Unscheinbar und kaum zu registrieren. Sie hatte sehr früh erwachsen werden müssen, um Kestral zu unterstützen, damit ich noch ein bisschen Kindheit genießen durfte. Dabei hatte sie nie wirklich ihre Kindheit ausleben können, um dann erwachsen zu werden. So etwas hatte sie nicht verdient.

Ich hörte Miriam leise schluchzen, was Kjell mit einem genervten Stöhnen kommentierte, dann wandte er sich um und ging ein paar Schritte. Er kam jedoch nicht weit, da Miriam ihn am Arm festhielt. »Bitte, Kjell... Das kannst du doch nicht ernst meinen... bitte...«

Grob riss er sich von ihr los. »Kapier es endlich, Mädchen. Ich will nichts mehr von dir, wirf dich einem anderen Kerl an den Hals.«

Das reichte mir nun. Ich kam aus meinem Versteck und stapfte auf die beiden zu. Miriam war viel zu aufgelöst, als dass sie wütend oder überrascht reagieren konnte. Sie sank bloß in meine Arme, als ich sie an mich zog und weinte mein Kleid nass, wobei ich ihr sanft über das rotbraune Haar strich, um sie zu beruhigen.

Kjell starrte mich nur an und ich blickte ihm verächtlich entgegen. Was er gesagt hatte, ging definitiv zu weit. Nicht nur, dass er Miriam als Hure beschimpfte, er nannte auch Kestral eine solche, was ich nicht zulassen wollte. Vielleicht war es die Tatsache, dass ich einen Wendigo überlebt hatte, die mich mit Mut erfüllte, einem Mann entgegen zu treten. Vielleicht war es auch der Beschützerinstinkt, der wach wurde, sobald jemand meine Familie versuchte in den Dreck zu ziehen. Aber, was auch immer es war, es gab mir Kraft, mit dem Grauen umzugehen, das dort draußen in den Wäldern lauerte.

 

Miriams Tränen waren allmählich versiegt, dennoch bebte sie ab und zu noch von trockenen Schluchzern. Nachdem ich Kjell mit einem strafenden Blick bedacht hatte und Miriam dann nach Hause gebracht hatte, saßen wir nun in ihrer Kammer auf dem Bett, während sie den Kopf auf meine Schulter gelegt hatte und das alles sacken ließ. Nun wusste sie, was Kjell ihr gegenüber empfand und, dass er es schlichtweg nicht wert war, weiter in ihn verliebt zu sein. Das alles hatte Miriam schlichtweg nicht verdient. Und dennoch hatte sie das erleben müssen.

»Liebe ist grausam«, flüsterte Miriam tränenschwer.

Ich schwieg nur, versuchte ihr eine Stütze zu sein, weil ich wusste, dass sie sehr in Kjell verliebt gewesen war. Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte sie für ihn geschwärmt... dass das alles solch ein Ende nehmen musste, hatte niemand erwartet.

»Sie verlangt einem das meiste ab... wer du bist und wer du sein willst und man bekommt... noch einen Arschtritt hinterher.«, murmelte sie kaum hörbar und wie in einer Art Trance gefangen.

»Miriam? Sag mir nur eines... hast du mit ihm geschlafen?«, fragte ich ruhig.

Eine Weile sagte sie gar nichts, dann fing sie wieder an, zu schluchzen. Sie vergrub das Gesicht an meinem Hals und zwischen den Schluchzern, die ihren Körper schüttelten, spürte ich ein abgehaktes Nicken. Miriam hatte bei Kjell gelegen, obwohl sie es besser hätte wissen müssen. Und doch konnte ich ihr keinen Vorwurf machen, da ich selbst spürte, wie es sein konnte, verliebt zu sein. Ich für meinen Teil wusste jedenfalls, dass mir Adam viel bedeutete.

»Komm. Leg dich hin.«, sagte ich sanft, stand auf und half ihr, sich unter die Decke zu legen.

Sie vergrub das Gesicht in ihrem Federkissen und kniff die Augen zu, als ich ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Im Augenblick fühlte ich mich älter, als ich war.

Leise verließ ich das Zimmer, schloss die Tür und tapste die Treppe hinunter, wo gerade Kestral, Robb und Vater durch die Tür kamen.

»Wir haben dich gesucht.«, sagte Kestral besorgt. »Wo ist Miriam?«

Ich bedeutete ihr, leiser zu sprechen. »Sie ist oben und schläft. Wir sollten sie in Ruhe lassen...«

Kestral runzelte die Stirn. »Was ist los?«

Kurz blickte ich zu Vater, der aufmerksam zuhörte, dann zu Robb, dem ich bedeutete zu gehen. Als er die Hütte verlassen hatte, erklärte ich ihnen in Ruhe, was los war. Wir entschieden, behutsam mit Miriam umzugehen und sie fürs Erste in Frieden zu lassen.

Nach den Ereignissen der letzten Tage konnten wir alle, etwas Ruhe gebrauchen.

Acht

 

Eine Stunde später verabschiedete sich Vater, um weiter auf den oberen Ackern zu arbeiten, was für mich die perfekte Chance war, um mein Frühstück einzunehmen und mich dann auf den Weg zur Mühle zu machen. Kestral blieb daheim, da sie nähen wollte und einfach hier sein wollte, falls Miriam aufwachte. Dabei ließ sie es sich jedoch nicht nehmen, mir einzubläuen, dass ich bei der Dämmerung wieder im Haus sein sollte. Um sie zu beruhigen, versprach ich ihr, da zu sein.

Und so brach ich zur Mittagsstunde zur Mühle auf, lief zwischen den teils verlassenen Pfaden entlang, grüßte Dorfbewohner, vor allem Männer, und folgte dann dem kleinen Pfad, der zwischen einigen, verwilderten Feldern entlang führte. Es dauerte nicht lang, bis das Dorf rund fünfhundert Meter hinter mir lag und ich den Hügel hinauf ging, der die Grenze zu Jorinsheim markierte. Noch nie war ich über diesen Weg hinaus gelaufen. Als Kind hatte ich oft auf diesem Hügel, an der alten Mühle, die seit Jahren nicht mehr benutzt wurde, gespielt. Hatte mir vorgestellt, wie es war, diesen Pfad weiter zu gehen und hatte die Hügel in der Ferne betrachtet, bis der Horizont das Land verschluckte.

So stand ich auch heute da, betrachtete die Sonne, die sich durch die Wolken gekämpft hatte und sich bereits auf das Land herab senkte. Bald würden sie die Spitze der Berge küssen und meine Heimat in ein Spiel aus Rosé- und Orangetönen färben. Es war kaum zu fassen, dass in dieser Idylle ein totbringendes Ungeheuer wütete und Menschenleben forderte.

Eine ganze Weile stand ich so da, die Arme vor der Brust verschränkt und die Finger in den Stoff meines Wolltuches gekrallt und auf das Land, fern von Jorinsheim starrend. Ich dachte darüber nach, was dem armen Soren und Ulme passiert war. Hatten sie gesehen, was ihnen aufgelauert hatte? Waren sie gerannt? Geflohen? Hatten sie versucht, jemanden zu warnen?

Mir den Kopf zermarternd runzelte ich die Stirn.

»Denkst du immer noch daran?«

Obwohl ich Adams Stimme sofort erkannte, zuckte ich zusammen und blinzelte heftig. Dann wandte ich mich um und schluckte schwer.

»Wie soll man nicht jede Sekunde daran denken?«, fragte ich.

Adam kam gerade den Pfad hinauf auf mich zu und blieb vor mir stehen, ergriff meine Hand und wärmte sie mit seiner. Er wirkte auf einmal sehr besorgt. »Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.«, raunte er und zog mich eng an seine Brust, sodass ich seine beruhigende Wärme spüren konnte.

Zitternd schmiegte ich mich fest an ihn, vergrub das Gesicht an seiner Brust und bebte vor Angst. »Ich habe solche Angst...«, wisperte ich.

Seine große Hand lag auf meinem Hinterkopf. »Niemand wird dir auch nur ein Haar krümmen... das verspreche ich dir.«

Ich hob den Kopf und blickte ihm direkt in Augen. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«

Plötzlich wirkte sein Gesicht sehr weich und zärtlich, was ich bei ihm noch nie gesehen hatte. »Weil ich endlich mein Weibchen gefunden habe... und ein Wolf gibt sein Weibchen nicht einfach wieder her.«

Mit offenem Mund starrte ich ihn an, ehe er seine Hand an mein Gesicht legte und mit dem Daumen meine Unterlippe berührte. Ich seufzte, da es sich so schön anfühlte und ich eine Sekunde nicht an das Grauen denken musste, dass dort in den Wäldern lauerte. Es tat gut, sich an jemanden schmiegen zu können, der in gewisser Weise eine Ahnung hatte, was zu tun war.

»Sagt man bei Euch Werwölfen zu einer Frau ›Weibchen‹?«, fragte ich leise.

Adam nickte. »Ein Werwolfmännchen kann sich in seinem Leben nur an ein einziges Weibchen binden... Emotional gesehen. Er kann hunderte Weibchen besteigen, aber es gibt nur ein einziges, an das er seine Seele binden kann.«, erklärte er mir.

»Was ist mit Weibchen?«

»Weibchen haben es etwas einfacher. Werwolfweibchen können sich an mehrere Männchen binden, können aber nur von ihrem Auserwählten ein Kind empfangen. Ansonsten sind sie unfruchtbar.«

Ich runzelte die Stirn. »Also... könnte ich von keinem anderen ein Kind bekommen? Außer... naja, von dir?« Ich wurde knallrot.

Das schien er zu bemerken, denn er strich mir über die glühenden Wangen und er begann spitzbübisch zu grinsen. »Interessante Frage, dass du gleich von Kindern anfängst. Müsste ich dich dazu nicht erst einmal... entjungfern?«

Ich erschauderte unwillkürlich, als er seine Nase an meinem Hals vergrub und sein Atem meine empfindliche Haut streichelte.

»Nein.«, sagte er anschließend.

Blinzelnd hielt ich inne und hob den Kopf, um ihn ansehen zu können. »Was?«

»Nein«, wiederholte er. »Du könntest von jedem ein Kind bekommen, weil meine Regeln nicht für dich gelten. Du bist ein Mensch, kein Werwolf. Das ist der Unterschied. Wenn du dich für einen anderen Mann entscheiden würdest, könnte ich als Werwolf nicht viel dagegen unternehmen... jedoch würde das Leben für meinen Wolf keinen Sinn mehr ergeben.«

Leicht erschrocken blickte ich ihn an. »Wie das?«, fragte ich kaum hörbar.

»Weil ein Wolf sich nur an eine einzige Seele bindet. Nur einen Seelenverwandten hat, an den er sich binden kann. Ein Wolf kann bei hunderten Frauen liegen, es sich selbst besorgen oder sonst was tun, niemals könnte er die sexuelle Befriedigung finden, die er mit seinem Weibchen finden würde. Niemals jemandem so sehr vertrauen, wie ihr... genauso wäre es, wenn ein Weibchen stirbt und sein Männchen zurücklässt. Alles verliert an Bedeutung.«

Ich fühlte mich seltsam beklommen. Was wäre, wenn ich Adam zurückweisen würde? Wäre er dann... nicht mehr in der Lage, etwas zu fühlen? Würde ich ihm damit sämtliche Liebe nehmen, die er empfinden kann? Würde ich ihn damit in den Tod schicken?

Unsicher legte ich meine Hände auf seine muskulöse Brust. »Was... was passiert, wenn ich dich zurückweisen würde?«

Sanft ergriff er meine Oberarme, gab mir damit Halt. »Du würdest mir alles nehmen, was Sinn in meinem Leben ergibt und dennoch würde ich dich lieben und begehren. Nur, weil du mich zurückweist, würde mein Beschützerinstinkt nicht nach lassen... ich würde dich aus der Ferne beschützen, dir ein Anker sein.«

Hatte er gerade ›liebe‹ gesagt? Mich? Ich war... ein Kind? Wie konnte er so ein dummes Kind wie mich begehren?! Das war doch... völlig verrückt!

»Aber wir kennen uns doch kaum.«, flüsterte ich und drückte mich noch enger an ihn.

Er schüttelte den Kopf und lächelte mich an. »Falsch. Ich habe das Gefühl, dich bereits mein ganzes Leben lang zu kennen. Und ich habe versucht, dich vor mir zu beschützen, indem ich dich beleidige und dich fortjage. Damit habe ich dich beinahe in den Tod getrieben. Das will ich nicht noch einmal riskieren, Raven.«

Das alles war so verwirrend! Nicht nur, dass dort draußen ein Wendigo herum lief, nun sagte mir Adam auch noch, wie sehr er mich begehrte, was für mich einfach keinen Sinn ergab. Ich war nicht begehrenswert und doch empfand er es. Es war so... seltsam, dass ich jetzt jemanden hatte, dem ich vertrauen konnte, abgesehen von meiner Familie. Es gab mir Halt und ich wusste, dass ich ihn niemals fortschicken könnte. Und dennoch fragte ich mich, ob es fair war, wegen der jüngsten Ereignisse. Ich fragte mich, ob ich es verdient hatte, glücklich zu sein, obwohl andere Menschen so sehr litten.

Miriam, die wegen Kjell völlig am Boden war, alles für ihn aufgegeben hätte, um mit ihm zusammen zu sein. Ihre Familie, ihre Jungfräulichkeit, ihre Ehre. Und er so ein gemeines Spiel mit ihr getrieben hatte. Und Ulme, der eine Frau und einen total verstörten Kjell zurückgelassen hatte. Soren, dessen Familie am Boden zerstört war.

Ich fragte mich, hatte ich dieses Glück mit Adam verdient?

Hatte sich Kestral diese Frage in den letzten Tagen auch gestellt? Ob sie verdiente, mit Robb glücklich zu sein und bald zu heiraten? Eine Familie zu gründen?

Meine Gedanken überschlugen sich, sodass ich aufhörte, mir den Kopf zu zerbrechen.

»Hälst du mich fest?«, fragte ich kleinlaut.

Er presste mich an sich. »Das tue ich... immer.«

 

Eine Weile später saßen wir auf der Windmühle, die eine hölzerne Balustrade kurz vor dem kleinen Dach besaß, und starrten in die Ferne. Unsere Füße ruhten auf einem der vier Mühlenflügeln, der der Balustrade sehr nahe war und wir hingen unseren eigenen Gedanken nach. Seine konnte ich wie eh und jeh nicht erraten, da sein Gesicht eine verschlossene Maske war, doch meine beschäftigten mich sehr viel mehr. Ich dachte daran, was all das nun zu bedeuten hatte, dass er mich augenscheinlich genauso mochte, wie ich ihn und ich in gewisser Hinsicht für ihn bestimmt war. Sein Wolfsgeist schien jedenfalls zu wissen, dass ich die Richtige für ihn war.

Insgeheim wollte ich auch die Richtige sein, aber ich haderte noch immer damit, dass ich vielleicht nicht gut genug für ihn war. Ich war noch so jung, konnte ihm doch kaum das geben, was er von einer erfahreneren Frau bekommen könnte. Die meiste Zeit, in der ich mit ihm zusammen war, wusste ich nicht einmal, was ich sagen, geschweige denn tun sollte.

»Woran denkst du?«, fragte mich Adam nach einer Weile.

Ich drehte den Kopf zu ihm und bemerkte, dass er mich die ganze Zeit angesehen haben musste. Rasch blickte ich wieder in die Ferne, zu den wilden Wiesen, Hügeln und dem Horizont. »Ich denke daran, wie das Leben weit weg von hier sein könnte... Ich habe oft darüber nachgedacht, wie es gewesen wäre, in der Stadt zu leben. In Cathalon oder Isinior.«

Adam folgte meinem Blick. »Die Menschen in der Stadt sind oft eingebildet, Raven. Sie interessieren sich für Geld, Schmuck und ihren Ruf, denken nicht oft an die Dinge, die wirklich schief laufen in der Welt. Armut, Hunger, Krankheiten. Das alles interessiert diese Leute nicht, sie sehen nur ihr Geld und ihren Reichtum.«, murmelte er bitter vor Galle.

Ich blickte ihn nachdenklich an. »Ich glaube nicht, dass alle Menschen aus der Stadt so sind.«

Er richtete sich auf und betrachtete eine Weile seine Finger. »Nicht alle, aber die meisten.«

Seine Stimme war noch immer bitter und ich wusste im Innern, dass ich eigentlich nicht wissen wollte, weshalb er so von anderen Menschen dachte. Einmal mehr jedoch fragte ich mich, was man ihm auf Líz angetan hatte und wie sein Leben in Gefangenschaft ausgesehen hatte. Aber vor allem, was fühlte er, als er auf einmal frei war und tun und lassen konnte, was er gewollt hatte?

»Du redest von Menschen, als seien sie Monster.«, flüsterte ich und blickte ihn traurig an.

Ruckartig wandte er den Kopf zu mir, dann ergriff er meine Hand. »Wenn du das erlebt hättest, was ich erlebt habe, dann würdest du auch so denken, wie ich. Natürlich sind nicht alle Menschen schlecht und grausam und eingebildet... aber viele vergessen, was im Leben wichtig ist und, was Bedeutung hat.«

Als er mich vorsichtig an sich zog, schmiegte ich mich dicht an seinen Oberkörper und kuschelte mich in sein Hemd. »Liebe?«

Er nickte und strich mir über das Haar. »Freundschaft und Familie. Das ist wichtig und das vergessen die meisten. Und, wenn man das vergisst, dann bringt einem das Leben nicht mehr viel.«, flüsterte er mir ins Haar.

Während er mich so an sich drückte, berührte ich seine Schulter, die er in der letzten Nacht verletzt hatte, als er mich vor dem Wendigo beschützt hatte. Ich bemerkte, wie er kurz zusammen zuckte, dann berührte er meine Hand mit seinen Fingern, verflocht meine mit seinen und spielte sachte damit. Entschlossen schob ich meine Hand unter den Stoff seines Leinenhemdes und erstarrte kurzzeitig.

Ich zog den Kragen zurück und betrachtete den Streifen frisch verheilter, rosiger Haut. Eine dünne Narbe erinnerte nur noch an die klaffende Wunde von letzter Nacht.

»Wie ist das möglich?«

»Das ist das Werwolfblut... Wunden heilen bei mir unglaublich schnell.«, erklärte mir Adam.

Ich blieb still. Vermutlich war es eine sehr nützliche Fähigkeit, denn so musste man keine Angst vor Wundbrand und Blutvergiftungen haben.

Eine Weile noch saßen wir so da, aneinander gekuschelt und regungslos dabei zusehend, wie die Sonne immer weiter sank. Bis zu dem Zeitpunkt, wo Adam entschied, mich nach Hause zu bringen, da es allmählich dunkelte. Er wollte mich nicht unnötig in Gefahr bringen, sodass er mich den ganzen Weg zurück zum Dorf und den Hang hinauf zu meiner Hütte begleitete. Schon unten am Hang kam mir ein würziger Duft entgegen, welcher meinen Magen knurren ließ.

Vor der Hütte blieben wir stehen, wobei ich Adam einen Moment lang musterte. Sein markantes Gesicht und die erfahrenen blauen Augen zeigten im Äußerlichen seine Lebenserfahrung an, die er bereits hatte. Er wusste mehr über die Welt und wie sie funktionierte, als ich.

Wie auch könnte ich mehr wissen, als ein Mann, der bereits gereist war und so vieles gesehen hatte? Ich war nie weiter als bis zur Mühle auf dem Hügel gekommen, hinter dem die Weiten der Rabenfelder lagen. Meine Familie hatte hier schon seit Jahren gelebt. Mein Vater und sein Vater vor ihm, sowie dessen Vater. Alleine die Vorfahren meiner Mutter waren einst aus der Stadt gekommen, so erzählte man es sich jedenfalls. Sie hatte nie darüber gesprochen und ich bereute, sie nie danach gefragt zu haben.

»Was ist?«, fragte Adam unvermittelt.

Schüchtern wandte ich mich ab, da mir die Röte in die Wangen kroch. »Ich habe mir nur gedacht... ob du... vielleicht... zum Essen bleiben möchtest?«

Seine Brauen schossen vor Überraschung in die Höhe, dann blickte er zur Tür meiner Hütte und runzelte die Stirn. »Ich würde wirklich gerne bleiben, Raven, aber ich glaube nicht, dass deine Schwester mich gerne dabei haben würde. Außerdem weißt du, dass ich viel zu tun habe.«

Ich wusste, dass er auf den Wendigo anspielte und nickte leicht betrübt. »Ich verstehe... du hast viel zutun. Sehen wir uns vielleicht morgen?«

Auf einmal kam er näher, sodass mir wieder ganz warm wurde, meine Wangen glühten und mir das Herz bis zum Hals schlug. Mein Bauch kribbelte wohlig, als er direkt vor mir stand und mir tief in die Augen blickte. Unglaublich zart berührte seine Hand meine Wange und strich zu meinem Hals hinunter, bevor er sich hinunter beugte und seine Lippen auf meinen Mund drückte.

Willig beugte ich mich zu ihm hinauf, drückte mich ihm entgegen und schloss die Augen.

Leider ließ er mich viel zu schnell wieder los. »Ich wünsche ein gutes Mahl.«, sagte er leise und küsste meine Wange. »Ich komme heute Nacht zu dir.«

Ich blickte ihm noch nach, als den Hang wieder hinunter ging, dann seufzte ich und ging zur Tür. Im Innern erwartete mich wundervoller Duft.

 

Am Abend holte mich die Angst vor dem unbekannten Wesen dort draußen jedoch ganz schnell wieder ein. Nachdem wir gegessen hatten und sich sowohl meine Schwestern, wobei Miriam nicht einmal aus ihrem Zimmer gekommen war, und mein Vater zurückgezogen hatten, streunte ich unruhig durchs Haus. Überall verschloss ich die Fenster, kontrollierte die abgeschlossenen Türen und verpackte die Lebensmittel, damit man sie nicht riechen konnte. Denn ich wusste, wenn Adam sie roch, würde dieses Ding sie auch wittern können.

Schließlich, nachdem ich an jeder Zimmertür im Haus gehorcht hatte, betrat ich meine eigene Kammer und ließ mich dort auf mein Bett sinken. Ich war mehr als unruhig und an Schlaf war überhaupt nicht zu denken. Zwar hatte Adam mir gesagt, er würde heute Nacht vorbei kommen, aber die Tatsache, dass er noch nicht hier war, verunsicherte mich und machte mir eine heiden Angst.

Was, wenn er doch nicht stark genug war, mit diesem Monster fertig zu werden? Ich hatte Angst, mehr als das.

Unruhig blieb ich noch einige Minuten auf meinem Bett sitzen, ehe ich aufstand und zum Fenster ging. Ich zog die groben Vorhänge beiseite und blickte nach draußen in die Dunkelheit. Allein der erste Mond leuchtete gelb und voll auf Jorimsheim hinab. Er beleuchtete Häuserdächer, die Straßen zwischen den verteilten Häusern und die kleinen Feldern, von denen wir lebten.

Plötzlich huschte ein großer Schatten an der Mauer an der Hütte vorbei. Mein Herz blieb für wenige Sekunden stehen, als sich rot glühende Augen in meine Seele zu bohren schienen. Ungewollt krallten sich meine Fingernägel in die schmale Fensterbank und mein Atem kam stoßweise.

»Raven?«

Ich reagierte nicht auf Adams Stimme am anderen Ende der Kammer.

Ich konnte nur in diese toten, seelenlosen Augen blicken, in die ich schon auf der Lichtung letzte Nacht geblickt hatte. Es war, als würde dieses Wesen jemanden hypnotisieren mit seinem kalten Blick. Eines wurde mir in diesem Augenblick unwiderruflich klar.

Meine Familie und ich waren niemals sicher vor diesem Wesen, ehe es tot war. Denn es hatte Blut geleckt, es wollte mich und es würde mich bekommen, wenn es vorher nicht getötet wurde. Vor Angst zitternd krallte ich mich nur noch fester in das Holz. Ich war nirgends sicher...

»Raven? Was ist los, Raven?!«

Ich hörte Adams Schritte, dann spürte ich seine Hände, die sich um meine Oberarme schlossen und mich zwanghaft zu sich herum drehten.

»Du zitterst, was ist passiert?«, fragte mich Adam eindringlich und legte seine großen Hände an mein Gesicht.

Erst da wachte ich langsam aus der Starre auf und blinzelte zu ihm hoch. »I-ich hab es gesehen... da draußen. Es ist da draußen und will mich holen...«, hauchte ich kaum hörbar.

Erst sah mich Adam verständnislos an, dann wurde sein Gesicht ernst. »Da muss es erst einmal an mir vorbei. Ich versprach, dass dir und deiner Familie nichts geschieht, Raven. Und das meine ich noch immer so. Komm her.«

Nur zu gerne schmiegte ich mich an seine muskulöse, breite Brust und versuchte meinen bebenden Atem und meine Furcht hinunter zu schlucken. Jedoch ging das sehr schlecht. Die Bedrohung war nun einmal da und ich konnte sie nicht ignorieren, nur, weil Adam mir sagte, dass er das nicht zulassen würde. Er würde nicht immer da sein, um mich zu beschützen und genau das war es, was mir solche Sorgen bereitete. Ich war bereits jetzt, nach wenigen Tagen, abhängig von seinem Schutz. Ob ich das wollte, wusste ich noch nicht genau.

»Komm, Raven. Du bist erschöpft. Du solltest dich hinlegen und etwas schlafen.«, raunte er in mein Haar.

Sofort zuckte ich zusammen. »Bleibst du bei mir?«

Er löste sich vorsichtig von mir, sodass ich seine beruhigende Wärme sofort vermisste. »Wenn du das willst, dann ja. Dann bleibe ich bei dir.«

Ich nickte leicht und war froh, dass er blieb. Alleine in meiner dunklen Kammer würde ich diese Nacht wohl kein Auge zu machen können. Zumahl es nicht viel war, was den Wendigo und mich voneinander trennte. Ein paar Türen und Wände wären kein Problem für dieses Ungeheuer.

Müde wandte ich mich zum Bett um und meine Wangen glühten auf einmal. Ich wollte nicht mit meinem ganzen Kleid ins Bett steigen, aber mich auch nicht vor Adam entkleiden und mein Nachthemd anziehen. Das war mir dann doch etwas peinlich.

»Was ist los?«, fragte er hinter mir.

Peinlich berührt drehte ich mich zu ihm um und schluckte leise. »Ich... ich muss mich noch umziehen.«

»Ja?«

Ich runzelte die Stirn und biss mir auf der Unterlippe herum. »Kannst du dich umdrehen?«

Er schien überrascht, denn seine Augen weiteten sich ein Stück, dann begann er zu lächeln und blickte mich sanft an. »Wenn du es so willst.« Mit diesen Worten drehte er sich herum und rührte sich nicht.

Einen Moment noch starrte ich seinen Hinterkopf an, dann machte ich mich rasch daran, mein Korsett zu lockern, abzustreifen und auf den kleinen Schemel neben meinem Bett zu legen. Auch den Rock und das Unterkleid legte ich ab. Als ich dann nackt dastand und mein Nachthemd in die Hand nahm, drehte ich kurz den Kopf über die Schulter und stellte erleichtert fest, dass er sich noch immer der gegenüberliegenden Tür zugewandt hatte.

Rasch zog ich das Nachthemd über meinen Kopf und angelte nach den dünnen Schlaufen, die es im Nacken zusammen halten würden, sobald ich sie zugebunden hatte. Ansonsten würde es mir sofort wieder vom Körper rutschen. Diese Bänder hatte Kestral angenäht, da mir kein einziges Nachthemd gepasst hatte, das sie genäht hatte. Ich war halt zu dürr für beinahe jedes Kleidungsstück.

Plötzlich fühlte ich warme, etwas raue Hände an meinen Oberarmen und erschauderte unwillkürlich. »Du wolltest dich doch umdrehen.«, murmelte ich.

»Das habe ich doch... ich habe nichts gesehen, außer das, was du mich sehen lässt.«, raunte er in meinem Haar und seine Finger strichen über meine Schultern zu meinem schlanken Nacken. Sanft strich er meine kastanienbraune Mähne auf eine Schulter, ehe er die Bänder nahm und sie zu einer Schleife verknotete.

Ich seufzte leise und biss mir auf die Unterlippe, als er mit einem Finger meinen Hals hinauf strich und meine Ohrmuschel streichelte.

»Wir sollten zu Bett gehen, sonst komme ich noch auf unanständige Gedanken.«, murmelte er gepresst an meinem Hals, dann zog er sich zurück und ich vermisste die Hitze sofort, die er ausgestrahlt hatte.

Adam trat zum Bett und hob die Bettdecke an, was mir unmissverständlich zu verstehen gab, dass jetzt geschlafen wurde. Ich war etwas wie vor den Kopf gestoßen, aber ich verstand sofort, weshalb er das tat. Er hatte mir schon mehrmals gesagt, dass er stärker war, als er selbst erahnen konnte. Er könnte mich töten und dessen wurde ich mir jetzt erst richtig bewusst.

Ich tat ihm dieses Mal den Gefallen und fügte mich seiner Anweisung.

Als ich auf das Bett krabbelte und er die Decke über mich legte, bemerkte ich erstmals wie erschöpft ich wirklich war. Es fiel mir schwer, die Augen offen zu halten, aber ich wollte noch nicht schlafen. Ich wollte ihn noch so vieles fragen.

Leise seufzte ich, als er sich hinter mich legte und einen Arm um meine Taille schlang, mich dicht an sich zog und seine Nase in meinem Haar vergrub.

In seiner Umarmung drehte ich mich herum, um ihn ansehen zu können.

Eine Weile blickten wir uns nur gegenseitig an, als könnten wir vom Anblick des anderen nicht genug bekommen.

»Kann ich dich was fragen?«

Adam lächelte leicht, was beinahe ein Grinsen war. »Werde ich dich daran hindern können, mir eine Frage zu stellen?«

Entschieden schüttelte ich den Kopf. »Nein.«

Er seufzte leise. »Dann schieß mal los.«

Ich biss mir unsicher auf die Unterlippe. »Was ist, wenn du es nicht schaffst, den Wendigo zu töten?«

Eine Weile herrschte drückende Stille, dann berührte er sanft mein Gesicht. »Dir wird nichts geschehen, Raven. Das schwöre ich dir... Wenn dir etwas passiert, könnte ich mir das mein Leben lang nicht verzeihen.«

Ich merkte sofort, dass er meiner Frage auswich. Was es für ihn bedeutete, wusste ich nicht. Ich war mir über seine Gefühle für mich nicht im Klaren, geschweige denn über meine für ihn. Aber ich wusste, was es für mich bedeutete, wenn er es nicht schaffte.

Es bedeutete einen qualvollen Tod.

Neun

 

Als ich am Morgen langsam wach wurde, bemerkte ich, dass die andere Hälfte meiner Pritsche kalt und leer war. Adam musste vor Stunden gegangen sein, vielleicht sogar schon, nachdem ich am Abend eingeschlafen war. Er hatte bei mir gelegen, bis ich endlich zur Ruhe gekommen war, was ebenfalls sehr lange gedauert hatte. Meine Frage, was sein würde, wenn er den Wendigo nicht töten konnte, hatte mir neue Angst eingeflößt. Und ich glaubte, sie hatte nicht nur mir, sondern auch ihm Angst gemacht.

Es war seltsam, dass ich diesem Mann schon so sehr vertraute, so war er doch erst eine gute Woche hier in Jorimsheim.

Und schon war seit seiner Ankunft schon so vieles geschehen. Der Tod mehrerer Menschen, die ich gut gekannt hatte, war nur eines der Übel, die dieses Dorf heimgesucht hatten. Neben dem Wendigo und seiner Bedrohung für dieses Dorf, war mir auch noch meine Schwester Miriam sehr wichtig. Sie hatte vieles durchgemacht, was sie einfach nicht hätte erleben müssen.

Ich setzte mich erschöpft auf und rieb mir den Schlaf aus den Augen. Schon bevor ich es selbst genau wusste, beschloss ich, Adam in seiner Jägerhütte zu besuchen und noch einmal mit ihm über den Wendigo zu reden. Zwar wusste ich, dass er von dem Thema nicht begeistert sein würde, aber er war nun einmal der Einzige, der gegen dieses Biest etwas ausrichten konnte. Schon bei der Messe hatte ich die Wut gespürt, die unter den Männern meines Dorfes herrschte. Sie wollten Rache für die getöteten Menschen und würden wenn nötig auch selbst auf die Jagd gehen. Und Adam und ich wussten beide, dass es der Tod dieser Männer sein würde. Das wollte ich nicht zulassen.

Als ich mich streckte, knackten meine Gelenke unangenehm und ich sah mich müde um. Obwohl ich diese Nacht durchgeschlafen hatte und besser als sonst geschlafen hatte, fühlte ich mich unendlich erschöpft. Zwar nicht körperlich, aber dafür geistig.

Innerlich trat ich mir in den Hintern und erhob mich, streifte das Nachthemd ab und zog mir ein frisches Kleid über, ehe ich die Treppen hinunter stieg und in die Stube trat. Schon durch eines der Fenster sah ich, dass Vater draußen Holz schlug und war für einen kurzen Moment erfreut, so etwas alltägliches zu sehen. Er gab sich wirklich alle Mühe.

In der Küche stand Kestral und verstaute das letzte Gemüse aus unseren Beeten hinter dem Haus in unserer Vorratskammer. Der Winter war wahrhaftig angebrochen.

»Ist Miriam schon auf?«, fragte ich kaum hörbar.

Meine Schwester drehte sich zu mir herum und sah mich traurig an. »Ich weiß es nicht. Sie öffnet die Tür nicht.«, murmelte sie. »Sie redet nicht mit mir... hab ich irgendwas falsch gemacht?«

Mit großen Augen sah ich sie an. »Nein! Kestral, nein! Das ist ihre eigene Entscheidung gewesen, du konntest sie doch nur warnen.«

Kestral wandte sich zu mir um und ergriff meine Oberarme. »Versprich mir, dass du nicht wie sie endest. Wie wir, Raven. Versprich es mir. Auch nicht für diesen Jäger, bitte. Männer denken nur an eines und es ist nicht garantiert, dass alle Männer wie Robb sind, der ein kleines entehrtes Bauernmädchen zur Frau nehmen will.«

Nun fing sie wieder damit an! Allmählich nervte sie mich mit diesem Thema, aber um nicht gleich einen Streit vom Zaun zu brechen, nickte ich nur und versprach ihr, nicht überstürzt und liebestoll zu handeln.

Nachdem ich sie in der Küche zurückgelassen hatte, wollte ich am liebsten zu Miriam nach oben gehen, aber Adam zu besuchen und mit ihm ein ernstes Gespräch zu führen, war wichtiger, als Ersteres. Und so verließ ich leise die Hütte, achtete beim Abstieg des Hanges darauf, dass Vater mich nicht sah und lief dann zügigen Schrittes durch das Dorf.

Auch heute war es so gut wie ausgestorben. Kaum jemand war draußen und wenn, dann nur, um das Nötigste zu erledigen und dann wieder in seine Hütte einzukehren. Draußen hing keine Wäsche, das Holz vor den Hütten war unangetastet und die Fenster waren verriegelt. Die Menschen fürchteten sich. In einem Dorf nichts ungewöhnliches, denn sie fürchteten meist auch Fremde und das, was ihnen die Priester einzureden versuchten, das sie zu fürchten hatten.

Ich folgte dem Pfad zur etwas entlegenen Jägerhütte und blieb vor der Tür stehen. Vor der Hütte war alles zusammen geräumt. Der Tisch, auf dem Adam die Tiere ausnahm und die Abfälle, aus denen er Würste herstellte, verarbeitete, waren in dem kleinen Schuppen neben dem Haus verstaut. Das Holz, was zum Heizen benutzt wurde, war nicht angerührt.

Verwirrt runzelte ich die Stirn und klopfte an der Tür.

Keine Reaktion.

Ich blickte mich um und klopfte unruhig erneut an der Tür der Jägerhütte, aber auch diesmal öffnete niemand. Das machte mich mehr als unruhig, sodass ich um die Hütte herum lief. Aber ich fand Adam nicht. Wo zum Teufel war er hin?!

»Adam?!«, rief ich, als ich erneut vor der Tür stehen blieb.

»Suchst du den jungen Jäger?«

Ich wandte mich um und sah einen Mann, der im Dorf immer die Karren belud, um sie in der Stadt zu verkaufen.

»Ja. Wisst Ihr, wo er hin ist?«

Der Mann, der auf dem Bock seines Karrens saß, vor sich einen Ochsen gespannt, deutete mit einem Nicken in Richtung Wald. »Er brach heute Morgen sehr früh auf, meinte, er würde noch eine große Tour starten, bevor der Winter anbricht, um so viel Fleisch wie möglich zu beschaffen.«, erklärte er mir. »Was wolltest du von ihm?«

Ich runzelte kurz die Stirn und blickte die Hütte an. Adam war einfach in den Wald los gezogen? Sicher war er nicht auf der Suche nach Fleisch für den Winter... er suchte den Wendigo. Ich hatte ihn mit meiner Fragerei dazu gebracht, auf die Jagd nach diesem Ungeheuer zu gehen. Hatte ihn fort getrieben.

»Nichts wichtiges... ich wollte ihn nur nach Fleisch fürs Abendessen fragen.«, murmelte ich und ging den Pfad mit hängendem Kopf zurück.

In meinem Bauch hatte sich ein schlechtes Gefühl eingenistet. War Adam dieser Aufgabe bereits gewachsen? Oder hätte er sich noch besser vorbereiten sollen? Ich hatte unwiderruflich Angst um ihn und meine Gedanken hingen den ganzen restlichen Tag an ihm.

 

Am Nachmittag, dieser Tag war sehr langsam verlaufen, saß ich hinter unserer Hütte auf einer kleinen Bank und beschäftigte mich mit einer Stickerei, die ich vor langer Zeit angefangen, aber nie beendet hatte. Doch so sehr ich versuchte, mich darauf zu konzentrieren, desto katastrophaler wurde meine Arbeit, sodass ich sie mit einem genervten Seufzen beiseite legte.

Meine Gedanken schwirrten noch immer um Adam und seinem vor schnellem Entschluss, in den Wald zu gehen und den Wendigo zu jagen. Noch immer fühlte ich den Schmerz an meiner Seite, der mir jedes Mal aufs Neue zeigte, wie gefährlich diese Kreatur wirklich war. Sie hatte bereits zwei Menschen in meinem Dorf getötet. Und beide recht nahe an meiner Hütte. Es wäre ein Leichtes für den Wendigo in die Hütte einzudringen und uns abzuschlachten.

Es war mir immer noch ein Rätsel, wie ich diese Nacht ein Auge zutun sollte.

Ich seufzte müde und rieb mir die Schläfen. Das ganze Nachdenken bereitete mir Kopfschmerzen.

Auf einmal hörte ich Schritte und blickte zur offenen Tür, als Miriam im Rahmen stehen blieb. Sie hatte ein dickes Wolltuch um die Schultern gelegt und sah absolut grauenvoll aus. Ihr Gesicht war bleich, ihre Wangen waren eingefallen und unter den Augen hatten sich dicke, blaue Ringe gebildet. Das Haar hing ihr strähnig und beinahe gräulich von Kopf herab und hatte nichts mehr mit dem dunklen Kastanienbraun gemeinsam, das sie sonst immer gehabt hatte.

»Wo sind denn alle hin?«, fragte sie leise krächzig.

Ich hatte mich leicht zu ihr gedreht. »Ist Kestral nicht im Haus?«

Miriam schüttelte den Kopf.

Dann erinnerte ich mich wieder daran, was sie gesagt hatte. Sie wollte zu Robb und dann auf den Markplatz, um etwas Fleisch zu besorgen. Zumahl welches da war.

»Sie sagte, sie geht zu Robb und dann zum Markt... Alles in Ordnung?«

Sie seufzte schwer und nickte leicht. »Ich kann zumindest nicht mehr weinen. Das ist doch schon mal was, nicht?«

»Du wirst einen anderen Mann finden. Einen, der gut zu dir ist, Miriam. Gütig und liebevoll.«, versuchte ich sie aufzumuntern.

Als sie sich neben mich setzte, faltete sie ihre Hände im Schoß und ich war beinahe erschrocken wie alt ihre Finger aussahen. Sie waren trocken und rissig, hatten tiefe Falten und wirkten im Allgemeinen nicht besonders gesund. Ich starrte sie an und merkte, wie sie beinahe verloren in die Ferne blickte.

»Werde ich nicht.«, murmelte sie kaum hörbar.

»Was redest du denn da? Natürlich wirst du-«

»Nein«, unterbrach sie mich so ruhig, wie ich sie noch nie erlebt hatte. »Kjell war alles für mich. Er war der Mann, mit dem ich alt werden wollte, mit dem ich Kinder haben wollte und Enkelkinder. Ich wollte sein Weib sein bis wir sterben würden und unsere Kinder die Holzfällerhütte übernehmen würden. Er sagte mir, er würde mich heiraten... das erste Mal, als wir miteinander schliefen.«

Es war merkwürdig, dass mir diese Frage in den Sinn kam, aber ich konnte nicht anders als ihre Hand zu ergreifen und zu fragen: »Wie oft habt ihr es getan?«

Sie blickte mich mit verschleiertem Blick an und lächelte traurig. »Ich kann die Male gar nicht mehr zählen. Immer, wenn wir Zeit hatten und alleine waren. Er war so sanft, dass ich niemals geglaubt hätte, dass das gespielt war... Er war alles für mich, ich wäre für ihn gestorben. Leider war es umgekehrt nicht so.«

Ich hörte sie angestrengt schlucken, als würde sie verhindern wollen, zu weinen. Sie wollte die starke Frau spielen, die sie sonst war, aber das war sie nicht mehr. Zum ersten Mal sah ich, wie gebrochen meine Schwester war. Und das tat mir mehr weh, als alles andere im Moment.

»Komm, Miri. Wir gehen rein und ich mach dir etwas zu Essen. Du wirst immer dünner.«, sagte ich und kam mir beinahe vor, als wäre ich Kestral, die sich sonst immer um uns gekümmert hatte.

Heftig schüttelte sie den Kopf. »Ich kann nichts essen.«

»Wenigstens ein Stück Brot und Käse. Bitte, das ist nicht gut für dich.«

Einen Moment schien sie mit sich zu hadern, dann nickte sie geschlagen, seufzte und stand mit mir zusammen auf. Ich half ihr in die Küche, da ich Sorge hatte, dass sie gleich zusammen brechen würde und setzte sie auf einen Schemel am Tisch. Geschäftig ging ich an die Vorratskammer, holte ein Stück Brot und Käse hervor und schnitt jeweils eine kleine Portion davon ab, drapierte alles auf einem Holzteller und stellte ihn vor ihr auf den Tisch. Dann holte ich noch ein Messer und das kleine Töpfchen Butter, das wir nur selten benutzten, damit wir nicht zu viel von dem wertvollen Fett aßen und stellte es zu ihr. Danach setzte ich einen Tee für uns auf.

Als ich mich ihr gegenüber an den Tisch setzte, bemerkte ich ihren widerwilligen Gesichtsausdruck.

»Mir ist wirklich nicht nach Essen zu Mute.«, wisperte sie so leise, dass ich es beinahe nicht verstand.

»Versuch wenigstens einen Bissen. Du hast seit fast drei Tagen nichts angerührt.«

Sie streckte ihre zitternde Hand nach dem Brot aus und führte es an den Mund. Nur langsam biss sie davon ab und kaute das Brot langsam, als würde sie etwas ungenießbares im Mund haben. Dann entspannten sich ihre Züge langsam und die aß das Brot langsam weiter.

Zufrieden sah ich zu, wie sie auch den Käse und die Butter dazu nahm, sodass ich mich umwandte und den Tee vom Ofenfeuer nahm und in zwei Becher goss. Ich stellte ihr den größeren Becher hin, den sie auch gleich ergriff und trank.

Ich jedoch hielt mich eine Weile schweigend an meinem Becher fest, bis ich bemerkte, wie Miriam mich beobachtete.

»Ich... danke dir. Aber du siehst auch nicht gerade entspannt aus.«, sagte sie leise.

Leicht schüttelte ich den Kopf. »Bin ich auch nicht... ich bin etwas nervös, wegen diesem Ding, das die Dorfbewohner getötet hat. Aber das ist ja nicht wichtig, möchtest du noch etwas?«

Beschämt starrte sie auf den Teller vor ihr. Nicht einmal die Krümel hatte sie übrig gelassen.

Ich lächelte sie an. »Das werte ich mal als ein ›Ja‹.«, grinste ich, stand auf und nahm ihren Teller. Erneut holte ich Brot hervor und etwas Käse und platzierte beides auf dem Teller, jedoch legte ich diesmal noch ein paar dunkle Trauben dazu und stellte den Teller zurück auf den Tisch.

Miriam machte sich gierig darüber her, versuchte nicht ganz so hungrig und ausgemergelt zu wirken, aber sie schaffte es schlichtweg nicht. Innerhalb weniger Minuten hatte sie das Brot, den Käse und die Trauben weggeputzt. Nun nippte sie an dem neuen Tee, den ich ihr eingegossen hatte.

»Ich nehme an, Kestral und Robb werden bald heiraten?«, fragte Miriam.

Nickend schloss ich meine Finger um den Becher heißen Tees. »Er hat ihr offiziell einen Antrag gemacht. Sie hat sich sehr über den Ring gefreut.«

»Sie hat es gut getroffen mit ihm. Er hat eine gute Position im Dorf, ein Schmied hat mehr Geld als ein Bauer beispielsweise. Sie wird bestimmt glücklich mit ihm.«, nuschelte sie und blickte aus dem Fenster.

Ich wusste sofort, dass sie an Kjell dachte. Natürlich wünschte sie Kestral und Robb alles gute, dass sie glücklich wurden und gesunde Kinder bekommen würden, aber ich merkte auch, dass sie eine Spur eifersüchtig war. Konnte man es Eifersucht nennen? Miriam war tot unglücklich. Ich wusste, sie wünschte sich das gleiche Leben wie Kestral es führte, nur mit Kjell an ihrer Seite. Verdenken konnte ich es ihr nicht. Wenn ich mir wünschen konnte, was ich wollte, wäre meine erste Wahl auch, Adam zu heiraten und ein gutes Heim zu haben.

Bei mir und Adam war es aber nicht einfach. Jedenfalls nicht so wie bei meinen Schwestern. Im Gegensatz zu den Männern meiner Schwestern, war Adam nicht im weitesten Sinne ein Mann, geschweige denn ein Mensch. Er war ein Werwolf und somit eigentlich eine Gefahr für mich.

Doch das trübte meine Gefühle dennoch nicht für ihn.

Ich mochte ihn. Von Liebe wollte ich noch nicht sprechen, denn dafür kannte ich ihn zu wenig. Aber es ging in diese Richtung.

»Du wirst auch den Richtigen finden.«, sagte ich, um ihr das Gefühl zu geben, dass ich ihr zuhörte.

Aber Miriam ergriff nur ihren Becher und stand auf. »Nein. Liebe ist grausam und das will ich mir nicht noch einmal antun.«, erklärte sie mir, drehte sich um und verließ die Küche, um wieder in ihre Kammer zu gehen.

Ich blieb sitzen und blickte ihr eine Weile nachdenklich hinterher. War das wirklich ihr Ernst? Hatte Kjell sie so sehr gebrochen, dass sie nie wieder lieben wollte? Plötzlich wurde ich unglaublich wütend auf Kjell. Ich hatte nicht gewusst, dass er ihr gesagt hatte, dass er sie heiraten wollte und nun ließ er sie sitzen? Nachdem er seinen Spaß mit ihr gehabt hatte? Dieser Mann musste ein Herz aus Eis haben, um so widerlich meiner Schwester gegenüber zu sein. Ich fragte mich, ob er es von Anfang an so vorgehabt hatte, oder, ob er eventuell wirklich etwas für Miriam empfunden hatte.

Aber ich glaubte nicht wirklich daran, dass Kjell etwas für sie empfand. Er hatte die gleiche Nummer schon mit mehreren Mädchen im Dorf durch gemacht. Wieso hätte es bei Miriam anders sein sollen?

Das Einzige, was mir unendlich Leid tat, war, dass Miriam dafür bezahlen musste und es Kjell kein bisschen Leid tat.

Erschöpft blickte ich auf meinen Tee, der mittlerweile kalt geworden war und runzelte die Stirn. Meine Gedanken schweiften unwiderruflich zu Adam und die letzte Nacht, als er bei mir geschlafen hatte. Die Wärme seines Körpers hatte mich beruhigt und nur dadurch hatte ich einschlafen können, was ich bezweifelte, diese Nacht zu können. Ich träumte eine Weile vor mich hin und von seinen Berührungen, die er mir jedes Mal schenkte, wenn wir zusammen waren, aber diese Gedanken wurden jedes Mal unterbrochen, da ich die Augen des Wendigo vor mir sah.

Ich erschauderte und trank meinen Tee aus, stellte den Becher in die Schale voll Abwaschwasser und ging dann in die Stube, um etwas Ordnung zu machen, bevor Kestral Heim kam.

Leider ging das auch viel zu schnell, sodass ich schon nach wenigen Minuten damit fertig war und mir dann einen Lappen holte, um den Kaminsims abzuwischen, der eigentlich nie abgewischt wurde. Dementsprechend viel Staub flog in Flocken durch die Luft.

Nachdem ich aufgeräumt hatte und so ziemlich alles getan hatte, was man machen konnte, setzte ich mich zurück auf die Bank hinter der Hütte und grübelte über Adam nach. Er hatte mir bereits vieles erzählt, jedoch auch nicht alles. Er hatte mir erzählt, dass er von einer Insel namens Líz stammte, aber mehr auch nicht. Nicht, wie er die Jahre über dort verbracht hatte, nichts.

 Plötzlich erschöpften mich die Gedanken an Adam und den Wendigo so sehr, dass mir die Augen zu fielen und ich mich auf der Bank noch enger zusammenrollte. Mein Schlaf war nicht tief und wurde auch immer wieder unterbrochen von wirren Traumbildern. Ich sah jedoch nicht immer nur Adam, von dem ich am liebsten nur geträumt hätte. Nein. Ich sah auch den Wendigo, sah wie er Adam tötete, jedes Mal aufs Neue. Sah, wie er seine Kehle durchbiss und dann die blutigen Klauen nach mir ausstreckte.

Wimmernd versuchte ich das Ungeheuer abzuwehren, aber es zerfleischte mit mit denselben Zähnen, mit denen es auch Adam getötet hatte.

 

Erschrocken fuhr ich hoch, als ich eine Berührung an meinen Armen fühlte. Blinzelnd starrte ich in die Dunkelheit und erschrak abermals. Es war bereits stockfinster hier draußen. Ich musste eingenickt sein, denn vor mir kniete Kestral und versuchte mich wach zu bekommen. Blinzelnd rieb ich mir den Schlaf aus den Augen.

»Wach auf, Raven. Es ist dunkel, wir sollten rein gehen.«, flüsterte sie besorgt.

Schwach nickte ich und schlang mein dünnes Wolltuch um meine Schultern. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich bis auf die Knochen fror. Wie lange hatte ich hier draußen nur gelegen? Das spielte jetzt auch keine Rolle mehr, sodass ich meiner Schwester ins Haus folgte.

Kestral schloss hinter mir die Tür und schob die Riegel vor.

»Also bin nicht nur ich nervös.«, murmelte ich und setzte mich erschöpft an den Tisch, wobei ich versuchte zu verbergen, wie sehr mir die Seite schmerzte.

Sie starrte noch einen Moment durch das kleine runde Fester in der Tür nach draußen, ehe sie sich mir zuwandte und zwei Becher vor uns auf den Tisch stellte. Dann holte sie die kleine Kanne, in der sie immer den Tee kochte und goss uns etwas davon in die Becher.

Anschließend setzte auch sie sich mir gegenüber auf einen Schemel. »In diesen Zeiten kann man nicht nervös genug sein... es macht mir Sorgen, dass, was immer es da draußen ist, so nahe an unserer Hütte tötete. Ich will euch alle hier wissen.«

»Wie ein Hütehund, der seine Schäfchen zusammentreibt.«, lächelte ich schwach und legte meine Hände an den Becher, ehe ich einen Schluck Tee nahm.

»Besser solch ein Hütehund, als einer, der seine Schäfchen verliert und sie vom Wolf gerissen werden.«, erwiderte sie.

Bei dem Wort ›Wolf‹ zuckte ich unwillkürlich zusammen. Warum die Menschen immer annehmen mussten, dass die Wölfe Schafe rissen. Immer wurde der Wolf angeprangert. Ich wusste nicht weshalb, aber ich fühlte mich beinahe persönlich angegriffen, wenn jemand so etwas sagte. Wahrscheinlich lag es daran, dass Adam zum Teil Wolf war.

Ich schwieg und starrte in meinen Tee. Meine Augenlider waren schwer und ich fühlte mich schwindelig, sodass ich sicher war, dass ich nicht mehr lange auf bleiben würde. Vielleicht war es nicht so gut gewesen, auf der Bank draußen einzuschlafen, denn ich fühlte bereits, dass ich anfing zu fiebern.

»Du siehst nicht gut aus, alles in Ordnung?«, fragte Kestral plötzlich besorgt und umrundete sofort den Tisch, kniete sich vor mich auf den Boden und fing an, meine Stirn zu befühlen. »Du glühst, Raven!«

Ich schüttelte den Kopf. »Nur eine Erkältung, nichts weiter.«, krächzte ich mit trockenem Hals, versuchte dabei ihre Hände fort zu drücken.

Doch Kestral war hartnäckig und untersuchte mein Gesicht aufmerksam. Ich war nur froh, als sie nach ein paar Minuten damit aufhörte und somit die Wunde an meiner Seite nicht bemerkte. Wie hätte ich das erklären sollen? Ich hätte keine gute Ausrede gefunden, so viel war schon einmal sicher.

»Das sieht nicht nach einer einfachen Erkältung aus, Raven. Das ist eine ausgewachsene Grippe. Komm, ich bringe dich in deine Kammer.«, flüsterte sie und wollte mir schon auf helfen.

Aber ich drückte ihre Hände fort. »Ich kann alleine in meine Kammer gehen. Du solltest dich lieber um Miriam kümmern.«, versuchte ich sie abzuwimmeln.

Sie hielt inne, dann sah sie mich verzweifelt an. »Sie will mich doch gar nicht sehen... sie hasst mich dafür, dass ich Recht gehabt habe.«

»Sie fühlt sich von dir im Stich gelassen. Heute Mittag war sie hier in der Küche und hat endlich etwas gegessen. Sie beneidet dich und Robb, dass ihr heiratet und glücklich seid. Alles, was sie sich wünscht, ist ein bisschen Verständnis.«

Voller Verzweiflung schluchzte sie auf. »Sie ist so dumm gewesen... ich meine, sie hätte es doch besser wissen müssen, oder nicht? Sie hätte doch sehen müssen, wie es bei mir und Robb war.«

»Miriam hat gehofft, dass es bei Kjell und ihr genauso ist, wie bei euch. Niemand hätte ahnen können, was Kjell geplant hatte.«, nahm ich meine ältere Schwester in Schutz.

»Da hast du wohl Recht... dennoch bin ich so wütend auf sie. Und dann tut sie mir wieder leid, ich weiß überhaupt nicht was ich fühlen soll.« Kestral seufzte und berührte meine Finger, die klamm und kalt waren. »Ich bin froh, dass du noch nicht in solch einem Gefühlschaos stecken musst. Es wäre furchtbar, wenn ich mir deinetwegen auch solche Sorgen machen müsste, wie um Miriam.«

Und auf einmal fühlte ich mich schlecht. Die ganze Zeit über, wo sie mir immer wieder gesagt hatte, ich solle mich von Adam fern halten und ich sollte mich nicht zu nahe an ihn heran trauen, hatte sie mich mit ihren Worten genervt. Manchmal hatte ich ihr schon gar nicht mehr zugehört. Doch ich begriff, dass sie sich nur Sorgen um uns machte und nicht wollte, dass wir so verletzt wurden, wie Miriam von Kjell verletzt worden war. Seinetwegen sprach sie nun davon, dass sie nie wieder lieben wollte und keinen Mann haben wollte. Nur, weil er ihr das Herz gebrochen hatte.

Ich lächelte sie vorsichtig an. »Mach dir um mich keine Gedanken.«, sagte ich beruhigend.

Kestral nickte und lächelte schwach, dann berührte sie meine Wange noch einmal und ließ mich anschließend aufstehen.

Müde und mit schweren Schritten, stieg ich die Treppe zu meiner Kammer hinauf. In dem dunklen Raum wirkte es auf einmal überhaupt nicht mehr bedrohlich, so wie am Vorabend. Vielleicht lag es daran, dass ich Fieber hatte und es mir im Allgemeinen nicht besonders gut ging, dass mir die dunklen Schatten an den Wänden plötzlich vollkommen egal waren. Vielleicht lag es auch daran, dass sich hinter meinem inneren Auge Traumbilder abspielten, von denen meine älteste Schwester ganz und gar nicht begeistert gewesen wäre.

Aber vielleicht lag es auch daran, dass ich die Hoffnung hatte, dass der Wendigo bereits tot war und Adam auf dem Weg nach Hause.

Zehn

 

Die Tage, in denen Adam fort war, vergingen langsam und zäh wie Honig.

Die meiste Zeit verbrachte ich in meiner Kammer im Bett, da mich das Fieber geradezu übermannt hatte.

Meine Seite pochte heftig, da wo mich der Wendigo erwischt hatte. Das Fleisch um die tiefen Schnitte herum war rot und entzündet und war heiß. Immer wieder suppte eine gelbliche Flüssigkeit durch die Verbände durch, selbst, wenn ich sie gewechselt hatte. Es war ein Wunder, dass Kestral oder Vater noch nicht gemerkt hatten, dass mein Fieber von der entzündeten Wunde her rührte und nicht von einer Grippe. Und sie sollten es auch gar nicht wissen, sodass ich mich immer wieder tief unter den Decken verkroch, wenn sie meine Kammer betraten, um mir ein Tablett mit Suppe oder Wasser brachten.

Die Tage über hatte ich viel Zeit über das vergangene nachzudenken, vor allem über Adam und mich. Immer wieder sah ich ihn in den wirren Fieberträumen, die mich plagten. Immer wieder fühlte ich seine warmen, großen Hände auf meinem Körper, spürte sein festes Fleisch unter meinen Fingern und wimmerte, wenn seine Traumgestalt meinen Nacken küsste, während er seine Hüfte gegen meinen Hintern drückte.

Schweißgebadet wachte ich jedes Mal auf und stellte beinahe erleichtert fest, dass das alles ein Traum gewesen war. Doch egal, wie froh ich innerlich war, desto enttäuschter war ich in Wirklichkeit. Meine Haut kribbelte jedes Mal nach diesen wirren Traumbildern und mein Schoß pochte wütend. Es glich einem Wunder, dass ich trotz meines Fiebers und der Wunde dennoch solche Träume haben konnte.

Dass ich überhaupt an ihn denken konnte, glich einem Wunder!

An diesem Morgen, Adam war bereits acht Tage lang fort, sodass man sich bereits ausmalen konnte, welche Sorgen ich mir um ihn machte, erhob ich mich gezwungener Maßen, da heute die wöchentliche Messe stattfand. Mit großer Anstrengung, die mich jegliche Kraft kostete, die ich aufzubringen vermochte, schlurfte ich zu dem Bottich hinüber und nahm mir das Tuch vom Rand. Ich tauchte es in das eiskalte Wasser, was mich nur durch diese winzige Berührung frösteln ließ und wischte mir das schweißnasse Gesicht ab.

Danach schälte ich mich aus dem Nachthemd und begann den Verband zu lösen.

Leise wimmerte ich, da das letzte Stückchen an meiner Wunde kleben blieb und ich es nur mit Mühe abziehen konnte. Kraftlos sank ich auf dem kleinen Hocker zusammen, der neben dem Bottich stand, als ich das beinahe weinrote Fleisch sah. Darauf befand sich eine Schicht klebrigem, faulig riechenden Eiters und die Adern zeichneten sich schwarz schimmernd unter meiner Haut ab.

Blutvergiftung.

Was um Himmels Willen sollte ich tun?

Ich wusste sehr wohl, dass eine Blutvergiftung tödlich war. Aber ich konnte nicht zu meinen Schwestern und meinem Vater gehen. Ihre erste Frage wäre, woher ich solch eine Wunde hatte. Und Kestral war ohnehin nicht gut auf Adam zu sprechen, sie würde denken, dass er mir das angetan hatte. Und genau deswegen vielleicht nicht daheim war.

Verzweifelt blickte ich mich um und ergriff ein neues Verband, das ich unter meinem Bett versteckt hatte und wickelte mich mühselig damit ein. Ich würde nach der Messe eine Lösung dafür finden müssen. Jetzt hatte ich keine Zeit, denn ich wollte nicht, dass Kestral eventuell in mein Zimmer kommen würde und das hier sah.

Und so schnappte ich mir rasch mein Sonntagskleid vom Stuhl und zog es mir über, band mein verschwitztes Haar zu einem Knoten zusammen und zog mir ein Wolltuch um die Schultern, ehe ich nach draußen trat.

Von unten hörte ich bereits das aufgeregte Schnattern meiner ältesten Schwester, als direkt gegenüber von mir, die Zimmertür aufging. Miriam trat mit einem bleichen Gespenstergesicht auf den Gang und hob erst den Kopf, als sie mich beinahe anstieß.

Auch sie trug ihr Sonntagskleid, das ihr allerdings am Körper herunter hing wie ein Kartoffelsack. Sie hatte bereits arg an Gewicht verloren, was mir allmählich zu schaffen machte.

Ich sagte nichts weiter zu ihr und ging nur vor ihr die Treppe hinunter und in die Stube, wo auch schon Kestral, Vater und Robb warteten.

Sofort, als ich die vorletzte Stufe beinahe übersah, war Kestral neben mir und hielt mich, bevor ich herunter fallen konnte. »Raven, bist du sicher, dass du zur Messe gehen willst? Du kannst kaum laufen!«, sagte sie fürsorglich und strich mir das verschwitzte Haar aus der Stirn.

»Es geht schon«, murmelte ich und sah sie eindringlich an.

Ihr besorgter Blick huschte sofort zu ihrem Verlobten hinüber, der mich ebenfalls mit einem besorgten Blinzeln musterte und dann die Schultern zuckte. Diese Sprache zwischen Liebenden würde ich wohl nie verstehen. Zu sprechen, ohne zu sprechen, war sicherlich eine Kunst.

»Es geht mir wirklich besser. Ich möchte an der Messe teilnehmen, bitte.«, flehte ich die beiden an.

Kestral wandte sich an Vater, als suche sie Unterstützung, damit sie mir befehlen konnte, daheim zu bleiben, aber er schüttelte bloß den Kopf und zuckte die mageren Schultern. »Lass sie. Wenn es ihr schlechter geht, bringe ich sie heim.«

Meine älteste Schwester seufzte und nickte geschlagen. »Aber wehe, du übernimmst dich.«, knurrte sie und wedelte vor meinem Gesicht mit ihrem Zeigefinger.

Der Weg zum Haupthaus des Dorfes, wo die Messe stattfand, war lang und so uneben, wie ich es noch nie bemerkt hatte. Neben mir lief Kestral, die mich stützte, vorne weg gingen Vater und Robb nebeneinander und unterhielten sich und hinter uns schlurfte Miriam den unebenen Pfad entlang über den schlammigen Boden. Es hatte geregnet und die Luft wurde kühler, was mir deutlich sagte, dass der Winter bald da war.

Am Haupthaus wurden wir von aufgebrachten Stimmen begrüßt.

Es war schon lange kein friedliches Leben mehr, vor allem, da jeder Mann Angst um seine Familie haben musste, solange wir das Ungeheuer noch nicht erlegt hatten. Sie waren wütend und wollten Rache für die verlorenen Leben. Doch dieses Mal war es anderer Lärm, wütender, schriller.

Ein Mädchen von vielleicht zwölf Jahren kam uns entgegen gelaufen und blieb schwer atmend vor uns stehen. Ich erkannte sie, es war die kleine Marie, die Tochter des Müllers.

»Der Pater hat die Türen zur Messe verschlossen«, keuchte sie. »Er weigert sich, den wütenden Männern gegenüberzutreten und zu den Göttern um Gnade zu beten.«

Kestral machte sich von meinem Arm los, sodass ich leicht schwankte. »Warum das?«

»Letzte Nacht holte das Monster drei Bauern von den Feldern... Ein Mann hat es beobachtet. Es war ein weißer Blitz, riesig und schnell und gnadenlos. Von den Männern ist nicht viel übrig geblieben.«, sagte Maries Mutter, als sie die Kleine zu ihrem Vater geschickt hatte, der am Rand der Menge stand.

Mir gefror das Blut in den Adern.

Das Monster war am Leben? Es tötete drei Bauern in der Nacht?

Was war mit Adam?

»Wir können nur hoffen, dass unser Jäger noch lebt. Ansonsten wird es ein schlimmer Winter.«, flüsterte Maries Mutter besorgt.

Kestral rieb ihr den Oberarm und seufzte. »Ich denke, wir sollten versuchen mit dem Pater zu reden.«

Die ältere Frau seufzte leise und deutete auf die Menge. »Versuche dein Glück, Kestral. Es ist hoffnungslos... wir sind verloren.«

»Wir sind erst verloren, wenn wir die Hoffnung aufgeben. Und das sollte man nicht tun.« Meine älteste Schwester stapfte zielstrebig auf die Menge zu.

Währenddessen blieb ich stehen und beobachtete Robb und Vater, die meiner Schwester folgten. Ich warf einen Blick auf Miriam, die am Wegesrand stand und die Arme vor der Brust verschränkt hatte, die Menge anstarrte und dann zusammen zuckte, als Kjell zwischen den aufgebrachten, lauten Männern hindurch gestapft kam, an seiner Seite Milla, ein junges Mädchen, das in ihren siebzehn Jahren bereits einen beträchtlichen Ruf im Dorf hatte.

Obwohl sie die jüngste Tochter des Schweinebauern war, der seine Hütte und Pferche am Rand des Dorfes hatte und sie nie oft gepflegt oder zumindest sauber war, lagen ihr die Männer zu Füßen. Oder eher umgekehrt, sie lag den Männern zu Füßen. Sie machte sich an jeden Mann heran, hatte es sogar einmal bei Robb versucht, war hierbei allerdings gescheitert. Dass sie bei einigen älteren Männern ein und aus ging, musste ich nicht näher erläutern.

Mein Blick huschte sofort zu Miriam, die kreidebleich im Gesicht geworden war.

Die Blicke der beiden trafen sich und Kjell blieb unvermittelt stehen, als er seine vergangene Flamme entdeckte. Für einen winzigen Augenblick geschah etwas, das niemand anderes verstehen würde, außer die beiden. Dann schloss Miriam ergeben die Augen, presste die Lippen aufeinander und raffte ihren Rock. Sie wandte sich ab und ging den schlammigen Weg zurück in die Richtung unserer Hütte.

Ich sah wieder zu Kjell hinüber und schenkte ihm den besten ›Ich hasse dich‹-Blick zu, den ich zu Stande brachte.

Er wandte sich ab, als hätte er mich nicht bemerkt und zog Milla mit sich.

Dieser ehrenlose Bastard.

Ich wollte mich gerade abwenden und Miriam nach Hause zurück folgen, da die morgendliche Messe scheinbar ausfiel, da blieb ich wie versteinert stehen und starrte den hochgewachsenen Mann an, der den Pfad entlang direkt auf mich zukam.

»Adam?«, krächzte ich und lief ihm entgegen.

Er lächelte zaghaft und beschleunigte seinen Schritt, umfasste meine Taille. Ich zuckte vor Schmerz zusammen.

Augenblicklich wurde seine Miene ernst. »Raven? Was ist los?«

»Es geht mir gut.«, flüsterte ich schwach und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Brust.

Er runzelte die Stirn. »Hör auf, mich anzulügen, ich rieche, dass etwas nicht stimmt.« Adams große Hand schob den Saum meines Oberteils hoch und, als seine Finger den Verband streiften, kniff ich schmerzerfüllt die Augen zusammen.

 Ich schüttelte nur den Kopf, wollte den Saum des Oberteils wieder herunter ziehen, aber Adam ließ mich nicht. In seinem Gesicht stand die Sorge.

»Ist es noch immer die Verletzung?«, wollte er wissen.

»Es ist gar nicht mehr so schlimm. Es wird sogar besser...«

Er hob skeptisch eine Augenbraue. »Das glaube ich dir nicht und weißt du wieso?«

Ich schüttelte schwach den Kopf, hörte ihm schon beinahe nicht mehr zu.

»Weil du eine mieserable Lügnerin bist. Weil du kochst, wie ein Dampfkessel und nach Blut riechst. Du kommst sofort mit und lässt mich deine Wunde ansehen.« Er nahm meine Hand in seine und zog mich knapp zwei Meter mit sich, als mir plötzlich die Beine wegknickten und er mich auffangen musste.

Adam hob mich geistesgegenwärtig auf seine starken Oberarme und bettete meinen Kopf an seiner muskulösen Brust. Sofort, als mich die geballte Hitze seines Körpers traf, merkte ich, wie kalt mir eigentlich war. Zitternd presste ich mich an ihn, atmete schwer an seiner Haut.

»Bei den Göttern, dein Herz rast«, raunte er in mein Haar.

Ich konnte nicht antworten, drückte mich nur an ihn und war froh, als er mich den Pfad zu seiner Hütte entlang trug. Geübt öffnete er die Tür und kickte sie hinter sich mit dem Fuß zu, sodass uns Dunkelheit umgab. Die geschlossenen Fensterläden ließen keinerlei Licht hinein, Finsternis lag vor mir, aber ich spürte Adam. Sein Herz schlug kraftvoll unter meinem Ohr und plötzlich tat die Wunde kaum noch weh. Ich spürte nur seine Hitze, die auf mich über ging.

Adam setzte mich auf seinem Tisch ab und verließ mich für einen winzigen Augenblick, nur, um auf der anderen Seite des Raumes eine Kerze zu entzünden und sie anschließend neben mir auf den Tisch zu stellen. Beinahe routiniert, schob er den Saum des Hemdes an meinem Körper hoch und öffnete den Verband. Zum Vorschein kamen tiefe Risswunden, die mir der Wendigo vor wenigen Tagen zugefügt hatte. Das Fleisch war dunkelrot geschwollen und schwer atmend registrierte ich, dass sich die Adern unter meiner Haut schon schwarz verfärbt hatten.

Adam atmete tief ein und berührte meine Rippen, unter dessen Haut die dunklen Adern entlang liefen.

»Wundbrand...«, flüsterte ich und seufzte.

»Eine Blutvergiftung«, murmelte Adam.

Ich legte den Kopf schief und blickte ihn fragend an.

»So nannte man es in Líz. Viele Wölfe haben es nach ihrem ersten Biss bekommen... man stirbt innerhalb weniger Stunden.«, flüsterte er.

Benommen blinzelte ich und starrte auf seine Brust. »Also... kannst du nichts tun?« Mein Herz schlug noch schneller, als zuvor. Wundbrand war schon nicht besonders gut, aber eine Blutvergiftung, an der man augenscheinlich starb? An der... ich starb?

»Ich... kenne nur eine Möglichkeit.«

»Was für eine?« Mir wurde auf einmal ganz schummerig.

Adam biss sich selbst auf die Unterlippe, trat einen kleinen Schritt zurück und blickte auf mich herunter. »Ich weiß nicht, ob es dir gefällt.«

»Wenn es mich rettet? Was muss ich tun?« Egal, ob ich Froschschenkel, Pferdedung oder Matsch essen müsste, ich würde es tun, um nicht zu sterben.

»Du musst gar nichts tun.«, erwiderte er mit rauer Stimme, strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und packte mein Gesicht dann mit beiden Händen.

So schnell wie seine Lippen auf meine gepresst waren, konnte ich kaum reagieren. Mein Herz begann zu rasen, mein Blut schien zu kochen, sodass mir in seinen Armen schwindelig wurde. Ich öffnete den Mund, stöhnte leise, als seine Zunge der Aufforderung folgte und sich in meine Mundhöhle schob. Aus den tiefen seiner Brust drang ein dunkles Knurren, das kaum menschlich klang.

Ich hätte vielleicht Angst haben sollen, hätte minimal beunruhigt sein sollen, aber das war ich nicht. Alles, was ich spürte, war ein unbändiges Vertrauen zu ihm. Er würde mir nicht wehtun.

Adam packte meine Taille, seine Hand presste sich auf die Wunde und ich quietschte vor Schmerz, als er mich auf seine Hüfte hob. Augenblicklich ließ er die Stelle los, ich spürte, wie warmes Blut in meine Kleidung sickerte und er tief einatmete, den Duft in sich aufsog. Meine Finger hatten sich in seinem blonden Haar vergraben und ich hatte ihm auf die Unterlippe gebissen, so stark, dass ich selbst Blut schmeckte.

Er knurrte leise, trug mich scheinbar blind durch seine dunkle Hütte, stieß die Tür zu seinem Schlafzimmer auf und legte mich auf dem Bett ab. Ich spürte kratziges Bettzeug unter meinen Fingerspitzen, roch den herben Duft der Laken.

Kurzzeitig ließ er von mir ab, sodass ich erschöpft in den spärlich beleuchteten Raum blinzelte. Fahles Tageslicht schien durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden. Er kniete zwischen meinen Beinen, über mich gebeugt und strich mir sanft über meine Stirn.

»Bist du sicher, dass du das willst, Raven? Danach gibt es kein Zurück mehr. Wir werden aneinander gebunden sein, durchs Blut.«, flüsterte er mir sacht zu.

»Du wirst dich mit mir vereinigen, oder?«

Er nickte und seine Augen funkelten mich nachdenklich an. »Du kannst jederzeit Nein sagen. Ich zwinge dich dazu nicht.«

»Was bleibt mir anderes übrig?«, flüsterte ich. »Ich will es... bitte.«

Einen Moment lang blickte Adam mich noch an, dann beugte er sich über mich und presste seinen Mund wieder auf meinen. Seine eine Hand legte sich an meinen Hals, ganz zart zuerst, dann leidenschaftlicher. Ich bemühte mich sehr, wach zu bleiben und mich ihm hinzugeben, ihm zu zeigen, dass ich es auch wollte, dass ich ebenfalls Lust empfand. Aber es war schwer, je mehr er mich küsste, als seine Lippen meinen Hals streiften, meine Kehle bearbeiteten und ich ihm vollkommen ausgeliefert war.

Es war seltsam, auf einmal in solch einer Situation zu sein, wo ich heute Morgen noch geglaubt hatte, ihn noch lange nicht wiederzusehen. Nun war er hier, über mich gebeugt und küsste mich, wie ich es mir vom ersten Moment an gewünscht hatte.

Ich spürte benommen, wie er mir die lockere Bluse über den Kopf streifte und, wenn ich nicht schon beinahe abgedriftet wäre, wäre ich vermutlich errötet, da er der erste war, der mich nackt sah. Entfernt spürte ich, wie er meine Brüste berührte, wie sein Daumen über meine Brustwarzen fuhr und diese sich vor Erregung aufstellten.

Adams Mund wanderte über meine entblößte Kehle bis hin in meine Halsbeuge.

Meine Finger strichen über seine Brust, wollten die Knöpfe seines Hemdes öffnen, aber auf einmal fühlten sich meine Hände entsetzlich schwach an. Nicht einmal den ersten Knopf konnte ich öffnen.

Und plötzlich schoss ein entsetzlicher, alles betäubender Schmerz durch meinen Körper. Mit geballter Kraft drückte Adam meinen Körper in die Matratze, begrub mich, erstickte mich beinahe. Verzweifelt versuchte ich mich aufzubäumen, drückte gegen seine Brust, kratzte über seinen Nacken. Angst flutete mich, denn der Schmerz, der durch meinen Hals bis in die Spitzen meiner Zehen strahlte, war entsetzlich. Seine Zähne gruben sich in meine Halsbeuge, durchschnitten Fleisch, Sehnen, Muskeln und Haut. Ich wollte schreien, aber ich besaß in diesem Moment keine Stimme.

Dann verlor sich mein Bewusstsein in einem dunklen, wabernden Nichts.

 

Langsam öffnete ich die Augen.

Meine Finger tasteten den Untergrund neben meinem Kopf ab. Feine Haare kitzelten meine empfindsame Haut und blinzelnd blickte ich an die mir gegenüberliegende Wand. Mein Kopf schwirrte leicht und meine Sicht verschwamm, weshalb ich die Augen schloss und tief durchatmete.

Auf einmal fiel mir alles wieder ein...

Ich riss die Augen auf und fuhr hoch. Benommen blickte ich mich um. Ich lag in dem breiten Doppelbett von Adams Hütte, bedeckt mit einer der dünnen Wolldecken, die herum lagen. Mein Oberkörper war nackt, das spürte ich sofort, als sich meine Brustspitzen gegen den rauen Stoff drückten.

Was war passiert?

Ich erinnerte mich noch an einen alles verzehrenden Schmerz und dann an gähnende Dunkelheit.

Hatte Adam...? Hatten wir?

Mit einer Hand hielt ich die Decke fest, mit der anderen griff ich unter die Decke, unter den Rock, atmete hörbar ein, als ich meine Finger in meinen Schoß legte.

Nichts.

Ich runzelte die Stirn, ehe ich den Nacken dehnte. Dort wo er mich gebissen hatte, war nichts mehr zu fühlen, genauso wie bei der Wunde. Sie war komplett verschwunden, spürte ich dort nur noch einen Streifen rosiger, frischer Haut. Wie er es auch immer angestellt hatte, ich war geheilt.

Als ich meine Bluse am Bettfosten entdeckte, griff ich danach, stülpte sie mir über den Kopf und band das Mieder darüber, das mir Adam abgenommen hatte. Danach schwang ich die Beine vorsichtig über die Bettkante und zog mich an dem Bettpfosten hoch. Leicht schwankend, da ich noch immer schwach war, ging ich zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit.

Warmes Licht flutete den Spalt, den ich geöffnet hatte und das Knistern von Kaminfeuer sagte mir, dass Adam hier sein musste.

Ich öffnete die Tür weiter und da saß er. Mit nacktem Oberkörper, bloß mit einer Hose bekleidet und starrte in die Flammen. Sein Gesicht war eine eiserne Maske.

Die Stirn gerunzelt trat ich aus der Tür, rieb mir über die Oberarme. »Wir haben... es nicht getan, oder?«

Zuerst reagierte er nicht, sodass ich glaubte, er hätte mich nicht gehört, doch dann fuhr er sich mit einer Hand durch das dichte dunkelblonde Haar. »Ich konnte es nicht.«

Ich wusste nicht, woran es lag, aber seine Worte versetzten mir einen Stich. Konnte er es nicht, weil er es nicht wollte? Weil er in mir ein kleines, beschützenwertes Mädchen sah und keine Frau? Oder, was ich noch eher vermutete, glaubte er mich dabei zu verletzen?

»Wieso konntest du es nicht?«

Seine starken, sehnigen Hände rieben aneinander, das Licht der Flammen tanzte über seine Haut. »Ich konnte es einfach nicht, reicht dir das nicht als Grund?«

»Nein.«, erwiderte ich, war müde ob dieser Gespräche. »Was verschweigst du mir?«

Wieder rieben seine Hände übereinander und sein Bein fing an zu zucken, was mir zeigte, dass er nervös wurde. Irgendwas stimmte nicht und ich konnte es spüren, beinahe mit den Händen greifen.

Ich kam auf ihn zu, wollte ihn berühren, aber er fuhr zurück und schüttelte den Kopf. »Hör auf damit, Raven.«

Ich runzelte die Stirn. »Womit?«

»Hör auf, so zu tun, als wäre ich einer von den Guten. Das bin ich nicht und du solltest dich von mir fern halten.«

»Ich dachte, wir hätten das Thema bereits durch... Du kannst mir nicht wehtun.«

Er sprang auf, war mir ganz nahe. »Ach ja?! Und was ist das?« Seine Finger packten grob den Stoff meiner Bluse und zerrten sie ein Stück herunter, sodass meine Schultern frei waren. Adams Kiefermuskeln standen hervor, so sehr presste er die Zähne aufeinander und seine Augen waren stahlhart auf die frische, rosige Haut an meiner Halsbeuge gerichtet. Dort würde immer eine Narbe bleiben...

Verzweifelt legte ich meine Finger auf seine nackte Brust, aber er zuckte zurück, als wären sie mit ätzender Säure benetzt. »Was willst du mir damit sagen?«

»Ich bin gefährlich, Raven. Nur meinetwegen ist das alles passiert, das mit deiner Wunde. Für wenige Augenblicke, nachdem ich dich gebissen habe, dachte ich, du wärst...«

»Du hast mich gerettet«, widersprach ich ihm und berührte sein Gesicht, als die Sehnsucht mich packte. »Du weißt es doch längst.«

Er wollte mich nicht ansehen, schien es nicht zu können. »Du solltest mich nicht lieben... du kennst mich nicht, weißt nicht, was mein wahres Ich ist.«

Ruhig blickte ich ihn an, sah in seine eisblauen Augen. »Ich kenne dein wahres Ich... und ich weiß, dass du mir niemals etwas antun würdest.«

»Bitte, Raven... nicht...«, presste er hervor, als ich meine Finger an den harten Ledergürtel legte, der um seine Hüfte geschlungen war.

Ich lehnte die Stirn an seine Brust, spürte die Hitze, die von seiner Haut ausging, spürte die Gänsehaut, die über seinen Körper fuhr, als ich die Lippen auf seine Brust presste. Meine Finger öffneten den Gürtel, dann öffneten sie die Knöpfe, die seine Hose oben hielten. Ich spürte Haarflaum, atmete tief ein. Fühlte es sich so unglaublich an, weil ich noch vollkommen benommen war von seinem Biss? Oder war es immer so, wenn man mit einem Mann zusammen war?

Adams Hände hielten mich an den Oberarmen fest und für einen Moment standen sie unter Druck, sodass ich glaubte, er würde mich fortstoßen.

Doch so war es nicht.

Er vergrub die Nase in meinem offenen Haar, küsste die empfindsame Stelle unterhalb meines Ohres. Ich biss mir auf die Unterlippe, als sein warmer, süßer Atem meine Haut streifte.

»Ich könnte dich töten...«, raunte er. »Ich könnte dich auf der Stelle zerfetzen noch bevor du merkst, was geschehen ist.«

»Das würdest du nicht tun«, flüsterte ich zurück und hob den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen.

Dunkel funkelten sie mich an, bevor er sich zu mir herunter beugte und seinen Mund hart und unnachgiebig auf meine Lippen presste.

Elf

 

Adams Finger waren geschickt. Geschickter, als ich es jemals erwartet hätte und, als er das Mieder öffnete, die Bluse über meinen Kopf zog und meine Haut dabei in Flammen setzte, fragte ich mich, ob er auf Líz schon einmal mit einer Frau zusammen gewesen war. Ob er daher wusste, wie willenlos mich seine Berührungen machten, wie sehr ich mich nach seinen Küssen sehnte, die er auf meinem Hals, meinen Schultern, sogar auf meinen Armen verteilte. So etwas hatte ich noch nie gefühlt. Ich wollte nur noch bei ihm sein, seine straffe, weiche Haut auf meiner fühlen, seine harten Muskeln unter den Fingern spüren und seine starke Umarmung.

Als ich seine Hose herunter schob, löste er sich von mir und zog sie sich von den Beinen.

Mein Bauch krampfte sich seltsam quälend zusammen, als ich einen Blick auf sein Geschlecht erhaschen konnte. Tief einatmend starrte ich ihn an... er war riesig. Ich schluckte.

Doch Adam stand sogleich wieder dicht vor mir und küsste mich, sodass ich keinen Gedanken mehr daran verschwendete, ob er überhaupt in mich hinein passte, oder nicht. Meine Finger legten sich an seinen Hals, spürten die feinen Bartstoppeln. Wenn meine Schwester mich so sehen würde, sie wäre entsetzt, dass ich mich so einfach einem Mann hingab. Einem beinahe Fremden.

Aber für mich war Adam nicht fremd.

Es war, als würde ich ihn bereits ein Leben lang kennen.

Ich keuchte an seinen Lippen, als er meine kleinen Brüste mit seiner großen Hand berührte, mit dem Daumen über meine Brustwarzen rieb, bis sie wund und hart waren. Mein Atem war laut, aber es schien ihn nicht zu stören, mehr noch, schien es ihn anzustacheln.

Seine freie Hand zerrte meinen Rock herunter. Als dieser nicht von selbst herunter rutschte, ließ er von mir ab, blickte mir einmal tief in die Augen. Ich glaubte, die stumme Bitte zu sehen, das alles abzubrechen. Ich wollte nicht aufhören, legte meine Hand an seinen Hals, fuhr in sein Haar. Nun sandte ich ihm eine stumme Bitte zu, er möge weitermachen.

Noch einmal küsste er mich, ehe er sich vor mir hin kniete.

Ich schloss die Augen, biss mir auf die Unterlippe.

Seine Lippen pressten sich auf meinen Oberschenkel, sodass ich tief Luft holen musste. Dann wanderte sein Mund zu meinem Knie, wo der Rock noch hing. Er zog ihn hinunter, streifte nacheinander die kniehohen Strümpfe herunter und wanderte höher.

Meine Hand legte sich auf seine Schulter, als er an meiner Hüfte entlang zu meinem Bauch gelangte, immer diesen einen besonderen Punkt auslassend. Ich bebte, so hatte ich das Gefühl.

Plötzlich packten seine Hände meine Oberschenkel und er vergrub das Gesicht in meinem Schoß. Ich stöhnte erstickt auf, völlig überrascht von seiner Attacke und grub die Finger in sein Haar. Mein Mund war geöffnet, ich atmete laut ein und aus, als ich seine warme Zunge in meiner Ritze spürte.

Meine Sinne schienen zu explodieren, denn so etwas hatte ich zuvor noch nie im Leben gespürt. Meine Finger in seinem Haar verkrampften sich jedes Mal, wenn seine Zunge eine neuerliche Bewegung vollführte, die in den Tiefen meiner Mitte wiederhallte, mich elektrisierte bis zu meinem Haaransatz. Ich wimmerte immer wieder, meine Zehen verkrampften sich und ich hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Nun konnte ich Kestral und Miriam verstehen. Es fühlte sich zu gut an, zu natürlich, um Sünde zu sein. Es war unfassbar gut und ich wollte darauf nicht verzichten.

Irgendwann, ich wusste nicht, wie lange er meine Mitte bereits mit seiner Zunge bearbeitet hatte, pochte mein ganzer Unterleib vor ungestillter Lust. So schnell, wie Adam mich gepackt hatte, um seine Zunge zu gebrauchen, ließ er mich los, stand auf, wobei sich seine Muskeln in den Beinen dehnten.

Dann stand er wieder vor mir, seine Augen glühten vor Verlangen, wobei ich vollkommen erstaunt war, dass ich der Grund dafür sein sollte. Er beugte sich vor und presste seinen Mund auf meinen. Ich schmeckte meine eigene Lust und keuchte auf, als er eine Hand zwischen meine Beine schob und die Arbeit seiner Zunge mit seinen Fingern fortsetzte. Ich hatte jeglich meine Finger auf seine Brust gepresst und keuchte, sobald seine Hand eine besonders erregende Bewegung vollzog.

Ich öffnete den Mund an seinem, blickte ihm in die Augen, die voller Konzentration, voller Leidenschaft auf mein Gesicht gerichtet waren.

Schließlich zog er die Hand zwischen meinen Beinen hervor und hielt sie zwischen uns hoch. Sein Zeige- und Mittelfinger glänzten feucht von meiner Erregung. Zuerst sah er seine Finger an, dann mir in die Augen und legte seine Finger an meine Lippen. Willig öffnete ich den Mund und kostete von meiner eigenen Leidenschaft.

Dann packte Adam meine Taille und drückte mich sanft, aber bestimmend nieder. Ich setzte mich auf den unbequemen Holzboden und rutschte auf das Bärenfell vor dem Kamin, als er den Schemel beiseite schob. Sehnsüchtig erwartete ich ihn, wartete, bis er auf mich zukam. Wie ein Raubtier bewegte er sich geschmeidig auf mich zu, beugte sich über mich und küsste mich erneut.

Wimmernd erwiderte ich seine Küsse, schlang die Arme um seinen Hals und spreizte willig die Schenkel. Sofort presste er die Hüfte gegen meine Mitte, rieb mit seinem Geschlecht an meinem und brachte mich dabei beinahe um den Verstand. Keuchend hielt ich mich an seinen starken Schultern fest.

Plötzlich verharrte er, sodass ich die Augen öffnete und ihn anstarrte. Seine Augen glühten gelb in dem schwummerigen Licht des Kaminfeuers und auf einmal drückte sich sein Glied tief in mich. Ich schnappte nach Luft, als mich ein reißender Schmerz erfasste. Glühende Lava schien meinen Körper zu versengen, meine Fingernägel krallten sich in seinen Rücken. Stöhnend vor Schmerz presste ich das Gesicht an seine Schulter, meine Beine krampften sich um seine Hüften fest, als er meine Hüfte mit seiner großen Hand packte und mich ihm entgegen drückte.

Dann traf sein Unterleib auf meinen und ich erschauderte, als der Schmerz allmählich weniger wurde. Meine Finger berührten sein verzerrtes Gesicht, das sich langsam entspannte.

Tief und kehlig atmend blickten wir einander an und ich lächelte.

Er grinste leicht, strich mir sanft über die Stirn, küsste meine Fingerspitzen an seinem Kinn. Seine freie Hand packte meinen Oberschenkel, zogen mich enger an ihn und ich keuchte erneut durch geöffnete Lippen, als er sich langsam aus mir heraus zog und erneut in mich schob.

Ein Quentchen Schmerz mischte sich noch in seinen Stoß, doch ich stöhnte nur, da sich ein neues, besseres Gefühl mit hinein mischte. Meine Finger umfassten seinen Nacken, fuhren ihm durch das dichte, dunkelblonde Haar und ich keuchte jedes Mal, wenn er einen weiteren Stoß tat, wenn seine Hände über meinen Körper fuhren, meine Haut versengten, mich zittern ließen.

Seine Lippen suchten die meinen, verschmolzen mit ihnen, während er das Tempo seiner Stöße anzog, schneller wurde und den Raum mit obzönen Geräuschen füllte. Feuchtes Schmatzen ließ mich erschaudern, ließ mich zittern, beben, wimmern.

Ich drückte meine Finger in seine Haut, versuchte ihn ebenfalls zu verwöhnen, küsste ihn unter dem Ohr, erkundete ihn, wie es mir in meiner unterwürfigen Position möglich war.

Auf einmal griff er nach meiner einen Hand und drückte sie über meinem Kopf in das Fell und ich legte meine noch freie Hand an sein Gesicht, wollte, dass er mir in die Augen sah. Ein alles verzehrender Krampf entbrannte in meinem Unterleib, ein quälendes Ziehen, ein verschlingendes Feuer, das mich aufschreien ließ. Sein Glied presste sich zwischen meine Schenkel, bearbeitete mein Innerstes wie ein Hammer den Amboss und verstärkte dieses unglaubliche Gefühl nur noch.

Dann stöhnte er kehlig auf, presste das Gesicht an meine Schulter, begrub mich mit seinem Körpergewicht und ich klammerte mich um seinen Hals fest, wimmerte, als er seinen Samen heiß und ruckartig in mich pumpte.

Meine zitternden Muskeln erschlafften und ich kicherte leise, als Adam mir ein paar wirre Strähnen aus dem Gesicht strich und mich lächelnd auf den Mund küsste. In diesem Moment war alles perfekt. Und in diesem Moment dachte ich weder an meine Familie, noch an das Monster dort draußen in den Wäldern.

Nein.

Alle meine Gedanken waren bei dem Mann, in den ich mich doch schon auf den ersten Blick verliebt hatte.

 

Wie benommen blinzelte ich in das dämmrige Halbdunkel, beobachtete das Farbenspiel der Flammen auf Adams nackter, muskulöser Brust. Mein Blick fuhr zu unseren Fingern, die sanft und zart miteinander spielten, als könnten und wollten wir uns weder körperlich noch geistig je wieder trennen. Ich seufzte leise, schmiegte das Gesicht fester an seine Seite und erschauderte, als Adam seinen Arm noch fester um meinen Rücken schlang, um mich an sich zu pressen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er leise in mein Haar.

Ich leckte mir einmal über die Lippen und begann zu lächeln. Dann drehte ich den Kopf zu ihm hoch und drückte seine Finger. »Rate doch mal«, raunte ich.

Er lachte leise und sein Lachen hörte sich wunderbar in meinen Ohren an. »Du hast mir schon ordentlich den Kopf verdreht.«

»Das ist doch gut, oder nicht?«

»Wunderbar!«, lachte er, aber sein Blick verdunkelte sich, als er mich noch enger an sich zog und seinen Mund auf meinen presste.

Ich seufzte zitterig und stöhnte kurz leise für ihn, in dem Augenblick, wo er mir in die Unterlippe biss. Nicht grob oder schmerzvoll, sondern leidenschaftlich. Doch so gerne ich noch länger geblieben wäre, ich musste allmählich heim. Meine Familie machte sich bestimmt schon unfassbare Sorgen und es wäre schwierig zu erklären, was ich so lange draußen getrieben hatte, dass die Sonne bereits untergegangen war. Ich wusste nicht einmal, wie spät es war.

Nur widerwillig löste ich mich von ihm. »So gerne ich weiterhin hier bei dir liegen würde... ich muss langsam nach Hause. Meine Schwester fragt sich bestimmt, wo ich bin.«

Adam schnaubte und ließ sich auf das Fell zurückfallen, fuhr sich mit der Hand durch das dunkelblonde Haar. »Deine Schwester würde dich vermutlich am liebsten in ein Kloster stecken.«

Ich schlug ihm spielerisch auf die Brust. »Wenn sie hiervon wüsste, würde sie mich mein ganzes Leben beten lassen, dass man mir meine Sünden vergeben möge. Sie wäre außer sich...«

»Sünden?« Adam fuhr mit seiner linken Hand neckisch über meine Hüfte und griff in meine linke Pobacke. »Auch beten wird dich nicht von dem reinwaschen, was ich in Zukunft mit dir vorhabe.«

Mein Inneres sang leise bei dieser Verheißung. Ich stemmte mich hoch und legte meine Hände zu beiden Seiten seines Kopfes in das Fell, blickte ihn grinsend an. »Ach tatsächlich, Wolf? Was willst du einem armen, kleinen Bauernmädchen denn abverlangen? Das klingt aber unheilvoll!«

Adams dunkler Blick traf mich unvermittelt, meine Mitte zog sich süß und qualvoll zusammen und an meinem einen Bein spürte ich sein hartes Geschlecht.

»Deine Schwester kann noch fünf Minuten länger warten«, sagte er atemlos, packte meine Hüfte und zog mich rasch auf seinen Schoß. Seine Hände drückten mich auf sein Glied nieder und ich atmete einmal scharf ein, als er wie durch Butter in mich hinein glitt.

Meine Hände stützten sich auf seinem Bauch ab, während ich mir auf die Unterlippe biss, ihm in die Augen sah, die sich im Fackelschein gelblich wiederspiegelten. Er war ein Wolf, tatsächlich! Seine Kraft, die nicht menschlich zu sein schien, war enorm. Ich sah, wie die Adern an seinen Armen, seinem Hals hervortraten, wie er sich unter Kontrolle hielt. Erst jetzt, wo der Schmerz meiner Entjungferung nicht mehr vorhanden war, sah ich, welche Mühe es ihn kostete, mich nicht härter zu nehmen. Wie würde er wohl mit einem Mädchen schlafen, das ihm von der Kraft her ebenbürdig war?

Wäre er ungehemmter?

Bemüht sanft drückte er meine Hüfte mit den Händen auf sein Becken nieder, derigierte meine Bewegungen, die noch abgehagt und ungeübt wirkten, als ich versuchte, seine Stöße von vorhin zu imitieren. Meine Finger gruben sich in seine Haut an den Armen, mein Atem kam schnell und stoßweise.

Bis er sich plötzlich aufsetzte und unsere Brustkörbe aneinander gepresst waren. Ich drückte meinen Mund auf seinen und er erwiderte den Kuss, hielt seine Hände jedoch starr auf meiner Hüfte, um meine Bewegungen weiterhin zu unterstützen. Wimmernd genoss ich seine heiße, pulsierende Härte in mir.

Und dann ergoss er sich hart, heiß und flüssig in mir und ich quietschte wie ein Ferkel, als es mich ebenfalls mit sich riss. Zitternd, japsend klammerte ich mich an Adam und fiel mit ihm zurück auf das Fell. Meine Muskeln zitterten vor Anstrengung und die Müdigkeit kehrte in meine Glieder zurück. Am liebsten wäre ich eingeschlafen, aber mich beschäftigte eine Frage und die Tatsache, dass ich nach Hause musste.

»Du hast dich zurückgehalten, oder?«, flüsterte ich, als ich so auf seiner Brust lag.

Eine ganze Weile schwieg Adam, sodass ich schon dachte, er schliefe. Aber dann strich er mir zart über das Haar. »Ich bin immer noch ein Werwolf, Raven. Ich halte mich deshalb zurück, weil ich dir ansonsten wohl alle Knochen brechen würde. Es ist besser so.«

Nun schwieg ich. Nach diesen wundervollen Erlebnis wollte ich keinen Streit mit ihm provozieren, indem ich irgendwas dummes sagte, das ihn wütend machen könnte. Ich drückte bloß meine Wange fester an seinen Hals.

»Ich werde morgen wieder in die Wälder ziehen, um das Monster zu jagen.«, murmelte Adam in Gedanken versunken und fügte hinzu, als ich mich protestierend aufsetzte: »Es ist wichtig, dass der Wendigo stirbt, Raven. Du und alle anderen Dorfbewohner seid nicht sicher, wenn er durch die Wälder streift. Außerdem vertreibt er das Wild, tötet wahllos.«

Ich zog die Beine an und blickte ihn ernst an. Der Zauber unserer Vereinigung war wie weggeblasen.

»Er tötet wahllos?«, flüsterte ich ängstlich.

Adam nickte niedergeschlagen, wohl traurig, dieses Thema überhaupt angeschnitten zu haben und setzte sich ebenfalls auf. »Als ich fort war, streifte ich durch die Wälder. Ich nächtigte auf einer Lichtung, dessen umstehende Bäume ich zuvor mit meinem Geruch markiert habe, um den Wendigo fern zu halten. Er kennt nun meinen und deinen Geruch und weiß, dass ich ihn vertrieben habe. Er wird sich hüten, dich anzugreifen, wenn du meinen Duft trägst. Morgens wurde ich von einem bestialischen Schrei wach. Ich folgte dem Geräusch und sah, wie er in nur wenigen Sekunden eine ganze Damhirschherde abgeschlachtet hatte.«

Ich erschauderte. »Wäre es nicht besser, die Dorfältesten zu Rate zu ziehen? Vielleicht wissen sie, wie man ihn töten kann?«

Adam schüttelte den Kopf. »Die Dorfältesten vertrauen auf die Götter und Gebete, nicht auf Taten. Sie würden niemals jemanden in den Wald schicken, um das Ungeheuer zu töten.«

Einen Moment schwieg ich, senkte den Blick auf meine Finger und runzelte die Stirn. Am liebsten hätte ich meine neu erworbenen Fähigkeiten eingesetzt, um Adam von diesem Thema abzulenken, einfach, um selbst nicht weiter darüber nachdenken zu müssen. Aber mir fehlte die Zeit. Ich musste heim, bevor meine Schwester Lunte riechen und wohlmöglich hier noch auftauchen würde. Sie würde rasend vor Wut sein, wenn sie uns so erwischen würde. Es war schon schwer genug, dass sie Miriam beinahe auf frischer Tat ertappt hatte und nun ihren Liebeskummer ertragen musste, weil ihr Liebhaber es nicht so gut mit ihr gemeint hatte, wie Robb es mit Kestral gemeint hatte.

»Alles in Ordnung?«

Ich sah auf und begegnete Adams besorgten Blick, sodass ich rasch den Kopf schüttelte. »Ich muss heim. Es wird schon schwer genug sein, zu erklären, weshalb ich so lange fort war.«

Adam nickte kurz und ließ mich gewähren.

Ich stand auf und ging zu dem Haufen an Kleidern. Als ich den braunen Rock empor hob, spürte ich Adams Blicke in meinem Rücken und am liebsten hätte ich mich umgedreht, wäre zu ihm zurück auf das Fell gekrochen und hätte die ganze Nacht mit dem verbracht, was wir vor nur wenigen Minuten getan hatten. Aber ich gab mir einen Ruck und streifte zuerst mein Unterkleid über, dann den Rock über meine Hüften und nahm mir dann das Mieder. Da hörte ich Rascheln und, wie Adam aufstand. Seine Schritte waren kaum zu hören, ich spürte nur, wie er mein Haar ergriff und es über meine rechte Schulter schob. Seine Nase strich mir über den freien Nacken und ich seufzte atemlos, als er mein Mieder wieder zuschnürte.

»Ich kann es kaum erwarten, es dir wieder aufzuschnüren.«, raunte er warm an meiner Haut. »Nicht einmal deine Schwester wird mich daran hindern können.«

Leicht biss ich mir auf die Unterlippe, genoss das Gefühl seines Körpers an meinem.

Impressum

Texte: Peawyn Hunter
Bildmaterialien: Büsra Yalaman alias sunshineandbirds (erstellt); Peawyn Hunter
Tag der Veröffentlichung: 15.09.2015

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