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Prolog: Die Rebellen

„Willkommen.“

Die Deckenbeleuchtung wurde eingeschaltet und durchflutete den Hörsaal mit einem grell weißen Licht. „Unsere Erfahrung besagt, dass Sie mit einer Wahrscheinlichkeit von bis zu 65 Prozent nicht länger als eine Woche an dieser Ausbildung teilnehmen werden. Wahrscheinlich wünschen Sie sich in genau zwei Wochen Sie hätten ihre Bewerbungsunterlagen lieber an einen Tierschutzverband, ein Kloster oder an die Gärtnerei geschickt.“ Der Mann verstummte um seine Worte nachklingen zu lassen. „Falls Sie vergessen haben sollten, wo Sie sich gerade befinden... Das hier ist ein Hochsicherheitstrakt, ausgerufen mit der höchsten Sicherheitsstufe. Ausgerichtet für die gefährlichsten Verbrecher Europaweit. Ausgezeichnet dafür, dass hier kein Schwerverbrecher seinen Arsch rauskriegt. 1.475 Verbrecher fristen ihr Dasein hinter stählernen Eisenstangen und schwer verschlossenen Türen. Vergewaltiger. Mörder. Terroristen. Spione. Und die Jungs von der Drogenkriminalität. Sie wollen mit diesem Abschaum arbeiten? Legen Sie sich eine harte Schale zu.“ Wieder ließ der Mann eine Pause eintreten. „Mein heutiges Anliegen bezieht sich auf eine Ihnen bislang geheim gehaltene Untergrundorganisation, die schon früher und bis heute einer der größten Feinde unseres Staates ist und eine Bedrohung über unseren Kontinent hinaus darstellt. Man nennt sie lediglich Rebellen. Informationen und Hintergrundwissen über diese Organisation gibt es nur wenig. Was ich Ihnen sagen kann, ist, dass diese Männer vor keiner grausamen Tat zurückschrecken, nur um das zu erlangen, wonach sie streben. Seelenlose. Ihre Gesichter verdecken sie, bewegen sich für uns wie wandelnde Schatten, deren Schwärze so tief ist, dass kein menschliches Auge durch sie hindurch dringen kann. Mit anderen Worten, wir haben keine Namen, nur Synonyme unter der wir sie versuchen zu kategorisieren. Sie sind nicht die Mafia; für mich sind sie ein Mysterium“, sprach der Mann und fuhr sich über den weißen Stoppelbart. „Erzählungen nach bildete sich um das 16. Jahrhundert eine kleine Gruppe von Männern, die mit den damaligen Königsherrschaften im europäischen Raum unzufrieden waren und beschlossen gegen die führenden Hierarchien zu rebellieren – trotz einer länger bestehenden Friedensperiode. Doch wie eh und je in den Geschichten der Zeit, kam irgendwann nach dem Frieden der Krieg. Ein blutiger Bürgerkrieg trieb die Gräueltaten ins Unermessliche. Wie er ausgelöst wurde, ist nicht überliefert. Nachdem die Sonne hinterm Horizont untergegangen war und die Dunkelheit hereinbrach, so erzählte man, hätten die Länder in den darauffolgenden fünf Jahren in ewiger Finsternis verweilt. Nach und nach tauchten kapuzierte Männer auf, die sich in kleinen Gruppen zusammengeschlossen hatten. Sie griffen nur im Schutz der Dunkelheit an; dann wenn alles schlief. Die Nacht war ihr ewiger Begleiter. Jene brachten nur Verderben in die einzelnen Dörfer, bis sie auch nicht mehr scheuten, die Städte in eine einzige Feuerglut zu verwandeln. Der Verdacht fiel auf die entstandene Gruppe der Rebellen. Heute vermutet man andere Beweggründe als Auslöser des damals entstandenen Krieges und spekuliert daraufhin, dass die Rebellen den Krieg nur ausgenutzt hatten, um sich unauffällig zu vermehren und um sich schließlich ganz zu etablieren. Zu was, das weiß bis heute keiner so genau“, klang es echoend an den kahlen Steinwänden wider. Während der Erzählung war die Stimme des Mannes manchmal abgeflacht nur um sich im nächsten Moment beinahe aufgebracht zu erheben. Nachdem das Echo abgeklungen war, herrschte wieder völlige Stille im Hörsaal, in dem fünfzehn Personen auf Plastikbänken sitzend, den Schilderungen des älteren Mannes lauschten. Eine junge Frau, die nicht beabsichtigte ihre Belustigung auf ihrem Gesicht über die blühenden Schilderungen des Mannes zu verbergen, erhob sich und wandte sich diesem zu. „Sir, bei allem Respekt, wo genau sollen sich denn nun diese…“, sie musste ein Glucksen unterdrücken, „gefährlichen Männer befinden? Und Sir, denken Sie nicht, dass-"

                                                                                                                     

Der Mann ließ die schwarzhaarige Frau erst gar nicht weiter zu Wort kommen und setzte fort. „Überall. Sie haben sich ein eigenes Untergrundsystem geschaffen, das vermutlich mit anderen kriminellen Vereinigungen kooperiert. Die Fronten der Elite und der Rebellen geraten seit einiger Zeit aneinander. Was sich genau zwischen den beiden Streitmächten abspielt, bleibt uns natürlich vorweggenommen. Wenige von ihnen hat man bei speziellen Aufklärungseinheiten der Elite tot aufgefunden. Identifizierung? Erstellung einer Identität? Nein. Ihre Gesichter waren entstellt. Vergleichen Sie es mit einem blutverschmierten Fleischklops. Der Mund von der Nase nicht zu unterscheiden, die Gesichtsknochen zertrümmert. Das Einzige, was diesen Gesichtern in ihrer ursprünglichen Form erhalten geblieben war“, er zeigte mit dem Zeigefinger auf seine Augen, „ist das hier. Man sagt, wer je in die Augen der Toten blickte, sieht sie heute noch in den Gesichtern ihres Gegenübers. Sie schienen einen zu röntgen, in jede Zelle deines Körpers einzudringen, zu fesseln…Nackt und kahl seiest du ihnen ausgeliefert. Leute, die diese Erfahrung machten, befinden sich heute in der Gemeinschaft der weißen Jäckchen. Mittlerweile ist die Angst und Furcht vor diesen Personen so groß, dass man gefangenen Rebellen erlaubt, ihr Gesicht weiterhin verdeckt zu halten. Keiner wagt es, Angesicht zu Angesicht mit ihnen zu kommunizieren. Wenn die Augen der Toten, die Leute, die sie ansahen, schon in den Wahnsinn trieben, was richten dann die Augen der Lebenden an?“ Nach einigen Sekunden der Stille zog sich leises Gemurmel durch die Reihen der Anwesenden, welches sich allmählich zu einem aufgeregten Geplapper entwickelte. Vereinzelt hörte man leises Gelächter durch das Stimmengewirr dringen. Kopfschütteln und ungläubige Blicke wurden dem Mann entgegen gebracht, der die Gruppe an Leuten scharf musterte. Wieder erhob sich die schwarzhaarige Frau von ihrem Platz. „Sir, ich habe die Kernaussage dieses Schauermärchens noch immer nicht ganz verstanden… Und angenommen das, was sie uns soeben erzählt haben, stimmt vielleicht ansatzweise, wieso haben wir bisher nichts über diese „Rebellen“ erfahren? Die Mafia kennt doch auch jeder.“ Sie biss sich auf die Zunge um nicht zu grinsen. „Manchmal kann es durchaus von Vorteil sein, über manche Dinge nicht allzu viel zu wissen. Und da du, Lieyna, mir anscheinend keinen Glauben schenkst, wirst du dich in nächster Zeit höchst persönlich davon überzeugen können, ob an diesem Schauermärchen etwas dran ist… Denn, um es endlich auf den Punkt zu bringen.“ Der Mann sah jeden seiner Gegenübersitzenden eindringlich an. „Seit zwei Tagen befinden sich drei Mitglieder, bei denen es sich, von der Elite bestätigt, ausschließlich um Rebellen handelt, in diesem Hochsicherheitsgefängnis. Von ihrer Ankunft haben Sie deshalb nichts erfahren, weil sie in Ebene fünf untergebracht sind, einer für Sie derweil unzugänglichen Ebene. Und Lieyna“, ernst sah er auf die junge Frau hinab. „Du kannst dich gleich beweisen. Deine Aufgabe wird es sein, die Akte von einem dieser Männer zu füllen!“

1. Erste Bekanntschaft

„Nein…N-nein, bitte…Oh Gott, ich flehe dich an“, klang es winselnd. Die zittrigen Hände in Richtung Tisch ausgestreckt, versuchte Lieyna Halt zu finden. „N-ein… tu das nicht. Bitte. Oh Gott nein!“, schrie sie erschreckt und stieß dabei die Vase vom Tisch, die mit einem lauten Klirr auf den grauen Fliesen zersprang. Das zersplitterte Porzellan verteilte sich auf dem gesamten Boden.

„Klasse!", applaudierte jemand. „Jetzt ist die hübsche Vase hinüber. Findest du nicht dass du übertreibst?“, fragte eine große schlanke Frau, die gerade die 30 überschritten hatte und sich nun vollständig das Regencape vom Kopf und Körper zog. Kopfschüttelnd schmiss sie dieses über die Stuhllehne eines alten klapprigen Stuhls, der seine besten Tage schon längst hinter sich hatte und das damals helle Grün wie ausgelutscht wirkte. Sie drehte sich nochmals mit ungläubigen Gesichtsausdruck, der auch als genervt interpretiert werden konnte, zu der Frau um, die mit einem schäbigen Grinsen am Boden hockte, um die größeren Scherben einzusammeln. Mit einem kurzen Seufzer erhob sich diese vom Boden und griff nach einem Besen, um die restlichen Scherben zusammenzukehren. „Hey“, sie zwinkerte der Blonden zu, „ich hab mich doch nur schon mal auf den gefährlichen und furchteinflößenden Angriff eines mysteriösen Augenpaares vorbereitet“, säuselte Lieyna mit ironischen Unterton und konnte ein leises Kichern nicht unterdrücken. Als Antwort erhielt sie nicht mehr als ein Kopfschütteln. „Ach Liss, mach dich locker. Du glaubst doch nicht wirklich an die kleine Schauergeschichte von gestern Abend? Zugegeben mit 15 hätte mich das auch noch beeindruckt und Mr. Bench könnte sich als Geschichtenerzähler durchaus in der Grundschule bewerben, aber komm schon“, sie stoppte mitten im Zusammenkehren der Scherben, als sie noch immer keine Antwort von Liss erhielt und stellte den Besen schließlich wieder zurück in die Ecke. „Du glaubst ihm also wirklich“, stöhnte Lieyna.

„Jedenfalls stempel ich ihn nicht gleich als kompletten Spinner ab. Vielleicht solltest du aufhören dich darüber lustig zu machen, denn“, sie zog die Augenbrauen hoch, „ich wüsste keinen guten Grund, warum Mr. Bench sich einen Scherz mit uns erlauben sollte“, brachte Liss ihrer Freundin, von derer ewigen Aufmüpfigkeit leicht genervt, entgegen. „Mein Gott! Beruhige dich. Aber nur weil er unser Vorgesetzter ist, glaube ich ihm nicht gleich alles. Du weißt genau, dass er es mag zu übertreiben und er redet mit uns als seien wir alles Neulinge, nur weil wir jetzt teilweise mit Schwerverbrechern arbeiten dürfen und nicht mehr nur mit den Kleinkriminellen.“ „Er wird seine Gründe haben.“ „Gut, ich gebe ja zu, dass an der Geschichte mit der Untergrundorganisation etwas dran ist. Kleine Tochterkonzerne von Mutter Mafia gibt’s genug. Aber mal ganz im Ernst, woher sollen die denn bitteschön ihre "ultra-Laserpointer-guck-mir-in-die-Augen-Baby-und-du-wirst-einen-qualvollen-Tod-erleiden-Augen“ herhaben? Ebay?!“

„Was weiß ich?! Aus dem Otto-Katalog bestimmt nicht. Jedenfalls solltest du endlich aufhören...“

„Siehst du?! Da haben wir es doch schon. Wenn du mich fragst, dann hat Mr. Bench zu viel Zeit in seiner hauseigentümlichen Bibliothek verbracht und sich ein wenig zu sehr in irgendwelche Mythen und Legenden vertieft und schließlich eine "Medusa-Phobie" entwickelt.“

„Eine bitte was? Lieyna... Du..."

„Sag bloß du kennst die Medusa aus der griechischen Mythologie nicht? Eine ursprünglich hübsche Frau, die nachher das Abbild eines geflügelten Ungeheuers mit Schlangenhaaren und glühenden Augen darstellte, deren Blick jeden, insbesondere Feinde, zu Stein erstarren ließ. Passt doch etwas abgewandelt wie die Faust aufs Auge, oder nicht?“ Mit großen Augen sah Lieyna ihre Arbeitskollegin an. „Aha. Du und Mr. Bench würdet übrigens ein super Geschichtenerzähler-Duo abgeben.“ Liss verdrehte die Augen und lehnte sich an die Tischkante. „Und du glaubst allen Ernstes…“

„Dass der alte Sack, da er eh bald in Pension gehen wird, nichts besseres zu tun hat, als uns mit ein paar Gruselmärchen auf unsere letzte Standhaftigkeit und Unerschrockenheit testen zu wollen. Außerdem...“ „Ähm Lieyna…“, räusperte sich die Blonde und sah in Richtung Tür. „Guck ihn dir doch einfach mal an. Mit seinem grauen zerzausten Haar, der immer schief sitzenden Brille und dem schon seit bestimmt Jahren bestehendem Pflaum oberhalb der Oberlippe. Da hat ja mein 13-jähriger Cousin mehr Bart.“ „Lieyna!“, zischte Liss ihrer Freundin zu, die langsam ganz in ihrem Element aufzugehen schien und kein Ende fand. „Meiner Meinung nach ist er nun mal ein verwirrter, armer, alter Mann, ganz mitgenommen von den hier alltäglich stattfindenden Strapazen. Irgendwann muss einem dieses Umfeld auf den Kopf schlagen. Sowieso hat der nicht die geringste Ahnung von…“, plapperte Lieyna heftig gestikulierend weiter und drehte sich schließlich im fortwährenden Redeschwall auf die Blicke Liss´ hin um, und sah sich der Person gegenüber, die sie vor etwa einer Sekunde noch als „absterbende Gehirnzelle" bezeichnet hatte, die zu meinen glaubte, ihr Teich sei in Wirklichkeit ein getarnter Süßwassersee aus Schottland in dem der Urenkel von Nessie, dem Ungeheuer aus Loch Ness, zusammen mit Medusa, dem Ungeheuer aus der griechischen Mythologie, lebe und beide die Absicht verfolgen würden, die Weltherrschaft an sich zu reißen.

 

Wenig später schritt Lieyna abwechselnd mit knirschenden Zähnen und sich auf der Unterlippe rumkauend, dem mit lauten Schritten davon stapfenden Mr. Bench hinterher und folgte ihm in sein Büro, wo sie mit einer direkten Anweisung vor dessen Schreibtisch zum Stehen aufgefordert wurde. Sie hatte vorhin wirklich mit jeder Reaktion seinerseits gerechnet, doch er hatte rein gar nichts gesagt, kein Mucks. Nur sein Handzeichen hatte ihr gedeutet, ihm zu folgen. Dieses Schweigen ließ sie nur weiterhin das Schlimmste erahnen und in ihrem Kopf spielten sich alle erdenkbaren Strafen ab, die er ihr auftischen könnte. Dabei reichten ihre Vorstellungen von monatlichen Überstunden, Gehaltsstreichung, einer Zurückstufung als Praktikantin bis hin zum Rausschmiss. Ob sie bei der Entscheidung noch irgendein Mitspracherecht hatte? Immerhin sollte man nichts unversucht lassen. Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als ihr ohne weitere Worte eine schwarze Mappe zusammen mit einem Schlüsselbund und zweier Checkcards mit neuer Geheimnummer, die unter anderem als Zugang für die vier Türme gedacht waren, die die einzelnen Sicherheitstrakte der Gefangenen bildeten, sowie einen schon in die Jahre gekommenen Aktenordner in die Arme gedrückt wurden. Fragend blickte sie auf die Einzelteile nieder, wagte es aber nicht den Blick ihrem Gegenüber zuzuwenden, als sie auch schon dessen schroffe Stimme vernahm. „Und jetzt raus hier! In vier Stunden will ich Ergebnisse sehen! Wagen Sie es gar nicht, mir leere Dokumente vorzuzeigen!“ Mit noch immer gesenktem Kopf drehte Lieyna sich um und machte Anstalten zum Gehen. „Ach und Lieyna...“ Sie neigte ihren Kopf in seine Richtung und beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. „Ich glaube Ihrer Respektlosigkeit wird schon bald Einhalt geboten werden.“ Er wandte ihr den Rücken zu. Das Zeichen zum Gehen. Die Tür zog sie hinter sich zu und atmete erst langsam aus, nachdem sie das leise Einrasten der Tür im Schloss vernahm.

 

Uff, das war anscheinend noch mal gut gegangen. Fliegende Kanalratte!, fluchte sie im nächsten Moment. Noch einmal zwang sie sich tief ein und auszuatmen, um sich nicht zu weiteren Beschimpfungen hinreißen zu lassen. Als sie sich beruhigt hatte, setzte sie sich auch schon mit entschlossenem Gesichtsausdruck in Bewegung. Auch wenn sie es nicht zugeben wollte, je mehr sie an ihren bevorstehenden Arbeitsauftrag dachte, desto aufgeregter und unbehaglicher wurde es ihr. Eigentlich war sie nicht die Person, die sich schnell aus der Ruhe bringen ließ… Halt auch nur eigentlich… And the Oscar goes to… Mr. Bench.

Er hatte mit seinem Gruselmärchen volle Arbeit geleistet. Auf dem Weg zu ihrem kleinen, äußerst schlicht eingerichtetem Räumchen, das als Büro fungierte, traf sie hin und wieder auf Gefängniswärter oder auf Personal aus der Verwaltung, denen sie ein flüchtiges Nicken zuwarf. Schnell schloss sie die Tür auf, schenkte der schon mehr dahinvegetierenden Blume, die sie letzte Woche von Liss zu ihrem 23. Geburtstag geschenkt bekommen hatte und ihrem angeblich tristen Räumchen ein wenig Farbe verleihen sollte, ein bemitleidendes Lächeln, ehe sie sich auch schon seufzend in ihrem bequemen Ledersessel wiederfand. Sie sollte ein Schild an ihre Tür hängen. „Leiste Grünzeug aktive Sterbehilfe“. Den Inhalt in ihren Armen ließ sie dabei vor sich auf den antiken Schreibtisch fallen. Ein Andenken an ihren verstorbenen Opa. „Okay, dann wollen wir doch mal sehen…“, murmelte Lieyna vor sich hin und griff rasch zu dem Aktenordner, in dem sie Informationen über ihren neuen Häftling finden würde. Einem Mann, der angeblich einer geheimen Untergrundorganisation angehörte, die man nur als die Rebellen bezeichnete. Sehr einfallsreich. Über ihre Herkunft und Absichten, sowie ihr gesamtes Dasein wurden also nur Spekulationen angestellt. Eindeutige Resultate gab es nicht. Und ihr galt nun die ehrenhafte Aufgabe, die Akte von einem dieser Männer mit wichtigen Informationen für die Justiz zu füllen. War sie die Quizshow? Wahrscheinlich sollte sie nur die anfängliche Drecksarbeit machen und sollte es sich herausstellen, dass diese Männer tatsächlich Großkriminelle waren, würde die Arbeit relativ schnell an die wichtigen Leute in Anzug und Krawatte gehen. Eigentlich war sie sehr verwundert darüber, dass man sie gleich mit so einer Art Kriminellen konfrontierte. Na ja, sollte sie tatsächlich etwas herausbekommen, wäre das keine schlechte Referenz auch wenn sie nur ihren Facharzt in Psychiatrie machen wollte. Lieyna nahm mehrere kleine Schlücke aus einer Wasserflasche, dabei noch immer auf den Aktenordner starrend. „Hmpf.“ Ein Grinsen huschte ihr übers Gesicht. Die grundlegenden Informationen, wie Alter, Körpergröße, Gewicht, besondere Merkmale oder auch Sprache wären schon in der Akte festgehalten worden, dem war sie sich sicher, und alles Weitere würde sie schon noch aus diesem mysteriösen Mann herausquetschen. So schwer konnte das doch nicht sein. Auch wenn sie erst seit gut einem Jahr, nach abgeschlossener vierjähriger Ausbildung in der Psychiatrie, hinter den betonschweren Mauern dieses Hochsicherheitsgefängnisses neben ihrem Praktikumsjahr in einer neurologischen Klinik, arbeitete, hatte sie es nicht nur mit leichten Fällen zu tun gehabt. Größtenteils wurden ihr, unter Beaufsichtigung eines leitenden Psychotherapeuten oder Kriminalpsychologen, die Art von Verbrecher zugeteilt, die sich aufgrund ihrer verrichteten Taten in eine andere Welt flüchteten. In eine, in der es durchaus rosiger zuging, als in dieser, in der ihnen die harte Realität täglich vor Augen geführt wurde. Sie waren kaum noch zurechnungsfähig, entwickelten Psychosen, wiesen affektive Störungsbilder auf und stellten letztendlich eine Gefahr für sich selbst und andere dar. Nur ein Teil der psychisch kranken Straftäter, die sich in diesen Mauern zusammenfanden und den größten Teil ihres Gefängnisaufenthaltes in speziellen Gummizellen verbrachten. Lieyna schüttelte für einen Moment leicht den Kopf und schlug schließlich die schwarze Mappe auf, um sich nun endlich ganz ihrem neuen Arbeitsauftrag zu widmen. Was war das? Eine mit Bleistift gezeichnete Skizze, auf der sich die Umrisse eines kapuzierten Mannes abbildeten. Dabei war alles nur schwach mattiert nachgezeichnet worden, nirgends ins Detail gegangen. Geschweige denn der Kopf, wo sich nur spärlich erkennen ließ, dass die nachgezeichnete Person eine Kapuze trug. Das Gesicht war wüst durchgestrichen, so als wolle man ja nicht den Anschein erwecken, man hätte es in Betracht gezogen, ein Phantombild des Gesichts zu entwickeln. Was natürlich nicht verwerflich gewesen wäre, denn eine vorerst spekulative Darstellung des Verborgenen oder bisher Nichtsichtbaren machte man häufig. Doch hier hatte jemand wohl kein Risiko eingehen wollen. Das einzig maschinell festgehaltene stellte eine im rechten, unteren Blattrand mit Computer eingescannter Identifizierungsnummer dar, die jedem neuen Häftling zugeteilt wurde. Lieyna runzelte ungläubig die Stirn. Was bitteschön, sollte das denn sein?! Wo waren die sonstigen Lichtbilder, die man von jedem Häftling machte? Stattdessen fand sie eine einfache und dazu noch ungenaue Skizze vor? Ihr klappte die Kinnlade runter. War in ihrer geistigen Abwesenheit irgendeine todbringende Digitalkamera-Epidemie aufgetreten? Oder sollte das dem Ganzen noch den letzten unheimlichen Touch verleihen? Mr. Bench musste sie schwer auf den Arm nehmen. Wer auch immer für diese Art von Scherz verantwortlich war, sie würde sich ihn eigenhändig vorknüpfen. Langsam aber sicher stank ihr die Arbeit jetzt schon. Mit einem herablassenden Schnauben legte sie die Skizzierung beiseite und wollte sich den üblich ersten Standardinformationen zuwenden, als es ihr fast die Sprache verschlag. Nichts! Ein schneeweißes, ungedrucktes Papier lag vor ihr. Außer der am unteren Blattrand eingedruckten Identifizierungsnummer fand sich nichts auf dem Blatt. Schnell schlug Lieyna die Seite um und dachte hier müsste einer die Anordnung der Blätter vertauscht haben, doch ebenso fand sie auch alle anderen ungedruckt vor. Man hatte sich noch nicht mal die Mühe gemacht das Einlieferungsdatum und den Grund einzutragen? „Tz, langsam wird mir das Ganze ein wenig zu doof“, sprach Lieyna leise als sie ein Klopfen an ihrer Tür vernahm. „Herein!“, forderte sie genervt. 

                                                                                       

Die Tür öffnete sich und herein lugte ein breitköpfiger Wachmann mit rotem Haarschopf, der auch sofort zum Reden ansetzte. „Lieyna, ich soll dir Bescheid geben, dass du dich nun in Raum 407 begeben sollst. Der Gefangene 1.476 befindet sich schon dort.“ „Schon dort? Normalerweise sollen die Häftlinge in den Nebenraum und ebenso lege ich eigentlich die Termine fest, wann und wo ich wen erwarte. Schon mal was von Vorbereitungszeit gehört?“ Mit mürrischem Blick erhob sich Lieyna von ihrem Sessel und griff nach dem weißen Kittel. Es war einfach nicht ihr Tag. „Ich befolge nur Befehle. Keine Ahnung. Würdest du mir nun bitte folgen?“ Etwas ungeduldig tippte der Wachmann von einem Fuß auf den anderen und wirkte dabei wie ein kleines nervöses Kind. Mit einem Kopfnicken steckte Lieyna noch schnell den Schlüsselbund und die zwei neuen Karten ein und nahm die Mappe unter ihren Arm, ehe sie ihr Büro abschloss, wie sie ihren kleinen Raum nannte, und hinter dem ungeduldigen Wachmann auf den großen hell erleuchteten Gang trat. Sie gingen in den kleinsten Turm des Gefängnisses und fuhren dann mit einem Aufzug, den Lieyna bisher noch nie gesehen hatte, ganze fünf Minuten nach unten. Dann führte er sie durch etliche Gänge und irgendwelche Verzweigungen, sodass sie sich nachher wirklich nicht mehr sicher war, ob sie den Weg je alleine zurück finden würde. Hier war sie jedenfalls noch nie gewesen. Sie musterte den Mann vor sich etwas genauer. Erst jetzt fiel ihr auf, dass er schwer bewaffnet war und sämtlichen körperlichen Schutz trug, der ihn auch vor bewaffneten Angriffen schützte. Das hier wirkte alles ziemlich inoffiziell und Lieyna erinnerte sich an so genannte „Geheime Gefängnisse“, die sich an geheimen Standorten befanden und von denen die Öffentlichkeit oftmals nichts wusste, weil die Gefangenschaft der Personen nicht an die zuständige Justiz kommen sollte, da oft auch Folter bei Verhören angewandt wurde. Die Gefangenen hatten keine Chance auf einen ihn zustehenden Rechtsweg. „Sagen Sie...“, Lieyna versuchte mit dem Wachmann Schritt zu halten und auf eine Höhe zu kommen, „wo genau befinden wir uns eigentlich? Und... Wo genau führen Sie mich eigentlich hin?“ Der Mann warf einen flüchtigen Blick auf die zierliche Person links neben ihn, und fragte sich abermals insgeheim, wieso man gerade ihr dieses Monster aufgetragen hatte. Die Kleine hatte doch kaum eine Chance... Doch er wurde nicht dafür bezahlt Fragen zu stellen. „Wir befinden uns gerade zwanzig Meter unter dem Sicherheitsgefängnis in irgendeinem der hier insgesamt 43 verwinkelten Gänge, bei nur drei auffindbaren bzw. nutzbaren Räumen. Das Ganze soll die Fluchtmöglichkeiten verringern.“ „Hätte ich mir auch denken können“, nuschelte Lieyna über die unbefriedigende Antwort leise vor sich hin. Nach wenigen Minuten kamen sie vor einer großen Eisentür zum Stehen. Davor standen zwei bewaffnete Männer, die mit ihren Waffen den Weg zur Tür versperrten. Lieynas Begleitperson begrüßte die beiden Postierten mit einem Kopfnicken und erkundigte sich nach dem Verhalten des Häftlings. Sie erwiderten nur, dass er sich unerwartet ruhig abführen gelassen und bisher keine Anstalten zur Gegenwehr gemacht hätte. Doch dies sei nur die Ruhe vor dem Sturm, wie man annahm. Als der Wachmann einen Schritt zur Seite trat und die Sicht auf Lieyna freigab, tauschten alle drei Männer untereinander fassungslose Blicke aus. Ruhig, Lieyna, die Sache wird halb so wild sein, wie sie zu sein scheint. Es wird Zeit, dass ich mir wieder mehr Autorität verschaffe! , sprach sie sich mutig in Gedanken zu.

Ehe die Männer den Weg freigaben, wurde ihr eine Betäubungswaffe zugesteckt. „Falls wir einmal nicht rechtzeitig reagieren können, wirst du diese mit Sicherheit gebrauchen wollen.“ Bisher hatte sie so was noch nie nötig gehabt. Zum ersten Mal in ihrer Berufszeit hörte sie die mahnenden Worte ihrer Mutter, sich doch lieber einen anständigeren Beruf zu suchen und sich gegebenenfalls doch mal als Kindergärtnerin zu probieren. Sie habe Talent dazu. Nun ja… Freche Kinder in die Besenkammer sperren, konnte sie gut. Ihrem Cousin hatte das ein oder andere Babysitting mit ihr jedenfalls nicht geschadet. Immerhin schien sie so talentiert gewesen zu sein, dass sie kein zweites Mal gefragt wurde auf ihn aufzupassen...

Mit einem letzten tiefen Atemzug holte sie sich in die Realität zurück und betrat den Raum. Dabei handelte es sich schätzungsweise um einen Raum, der etwa in der Größe einer Turnhalle glich. Schwaches, grünliches Licht erfüllte diesen. Es gab keine Fenster und die Tür hinter ihr schien die Einzige zu sein. Der weiß verdreckte Putz an den Wänden bröckelte an einigen Stellen ab. Sie rümpfte die Nase. Es roch nach Moder und der schwarze Schimmel zeichnete sich an einigen Ecken ab. Was war das bitteschön für ein Ambiente? Als sie einen ersten Schritt nach vorne ging, gab der Boden unter ihr knirschend nach. Sie stoppte in ihrer Bewegung und bemerkte erst jetzt die Gestalt, die in der Mitte des Raumes in einem Schneidersitz saß. Der Rücken war ihr zugewandt. Den Kopf hatte die Gestalt leicht nach vorne gebeugt. Die Hände waren ihr auf dem Rücken mit Handschellen verschränkt, an denen sich eine längere Eisenkette befand, die im Boden mit Hilfe eines Rings verankert war. Ein Kreis mit einem Durchmesser von etwa zehn Metern zeichnete sich in schwarzer, nach Benzin riechender Farbe um die Gestalt ab. Was sollte das nur werden, wenn es fertig war? Außer ihrem eigenen Atem war in dem Raum nichts zu hören. Lieyna blickte etwas länger zu der Person hinüber, als sie wieder rasch weg sah. Hatte er seinen Kopf in ihre Richtung gedreht? Nein, das konnte unmöglich sein. Wieder sah sie hinüber. Die Person verweilte noch immer in der gleichen Haltung... mit abgewandtem Rücken und gesenktem Kopf. Es war keine Bewegung auszumachen. Keine Reaktion. Und dennoch meinte sie, den stechenden Blick eines Augenpaares auf sich zu spüren. Oh Mann, was war nur mit ihr los. Sie sollte die Finger von Horrorfilmen lassen. Und ein bisschen mehr Schlaf würde ihr auch gut tun. Ihr wurde kalt, zu kalt für eine Raumtemperatur von 25° Celsius. Langsam, fast zärtlich strich die Kälte an ihren Beinen hoch und versuchte ihren ganzen Körper einzunehmen. Sie rührte sich nicht. Ihre Finger begannen leicht zu zittern, das Atmen fiel ihr schwer. Noch immer sah sie wie erstarrt auf die im Schneidersitz hockende Person. Keine Bewegung. Nichts rührte sich. War da ein Windhauch hinter ihr? Sie wollte sich umdrehen, doch ihre Beine gehorchten nicht. Beinahe passiv stellte sie erschrocken fest, dass sich ihre Füße vorwärts bewegten. Geradewegs auf die Abgrenzung des Kreises zu. Nein... Nicht! Ihre Füße waren nicht mehr die ihren. Sie machten einen Schritt nach dem anderen, obwohl sie ihnen befahl, stehen zu bleiben. Sie wollte rufen. Rufen, nach den Wachmännern, die vor der einzigen Tür standen, die nach draußen führte. Vor der Tür, von der sie sich langsam aber sicher immer weiter entfernte. Hatten sie ihr nicht noch zugerufen, sie solle die Grenze des Kreises nicht übertreten? Sonst könnte es sich problematisch gestalten ihr zu helfen? Die Kälte breitete sich in ihrem Körper immer weiter aus. Das Zittern ihrer Hände war nicht mehr zu kontrollieren. Wie auf fremden Befehl stoppten ihre Füße einen Millimeter vor der Kreisgrenze. Aufatmend sah Lieyna hinunter auf ihre Füße und blickte ungewollt hoch, als sich ihr ein Finger unters Kinn legte.

2. Gefangen

Automatisch schloss sie die Augen. Noch immer spürte sie den kalten Finger unter ihrem Kinn, der leichten Druck ausübte. Schwärze erfüllte sie. Sekunden wurden zu Minuten. Minuten zu Stunden und nichts tat sich. Alles um sie herum schien nicht mehr existent zu sein. So schwer waren ihre Augenlider. Ließen sich nicht mehr öffnen, wollten nur ruhen. Am liebsten würde sie sich einem tiefen langen Schlaf hingeben… Einfach fallen lassen und ganz in die Schwärze eintauchen, die sie so sehr einnahm und nicht mehr loszulassen schien. Ja...das wollte sie. Sie nahm nicht einmal wahr, wie sie langsam auf die Knie sank und ihr Oberkörper nach hinten sackte, bis er schließlich den kalten Boden berührte. Alles war so schwer. Ihr Körper zu schwach um dem Gesetz der Schwerkraft stand zu halten. Sie ließ es einfach geschehen; zu schwer schien ihr nun das Denken. Sie gab dem Druck nach. Schlaf, ja, sie wollte für einen Moment schlafen. Es tat so gut die Augen geschlossen zu halten. Ihre Umwelt verschwand. Hier war es friedlich. Die Ruhe tat gut und die Schwärze schien nicht bedrohlich. Nur für eine Weile sich der Müdigkeit hingeben, einfach kurz innehalten. Irgendwo aus weiter Ferne vernahm sie dumpfe Töne. Sie kamen näher und wurden immer schneller. Schritte. Es musste sich um Schritte handeln. Zu laut. Sie wollte doch Ruhe. Aber noch waren sie weit weg, kaum hörbar. Sie seufzte, so schön war diese Stille. Langsam schlichen sich Erinnerungen von vergangenen Tagen in ihr Gedächtnis und vor ihrem inneren Augen sah sie sich, als sie vor einigen Wochen nach einem stressigen Arbeitstag nach Hause kehrte und ihre Grandma mit der Nachbarin erwischte, als diese wieder davon anfing über ihr Berufsumfeld zu meckern und um alles noch mehr zu dramatisieren, mit Schauergeschichten aus dem Gefängnis regelrecht um sich schlug... Was sollte die Nachbarschaft von ihr halten? Eigentlich sollte ihr das egal sein, aber es störte sie nun mal.

 

***Nachdem die Nachbarin gegangen war, betrat Lieyna wieder den vom Kaminfeuer gewärmten Raum und ließ sich kopfschüttelnd auf einen mit blauen Mustern bestickten Sessel nieder. „Was soll das Gran?“ Die ältere Frau hob ihren Kopf in Richtung der Jüngeren. „Ich hielt es nur für äußerst wichtig, dass auch mal jemand anderes darüber Bescheid weiß, in was für einem Umfeld du arbeitest.“ Mit einem leisen Stöhnen erhob sich die Ältere, deren noch übrig gebliebenes, weißes Haar zu einem strengen Dutt nach oben gebunden war. Ihr Gesicht war vom Alter gezeichnet. Viele Falten zogen sich über das einst junge und von Schönheit gezeugte Gesicht, das noch heute eine ganz besondere Ausstrahlung besaß. „Lieyna, du weißt ganz genau in was für einem Arbeitsumfeld du dich befindest. Mir wäre es lieber gewesen du hättest meinen Rat angenommen und wärst tätig im Umgang mit kleinen unschuldigen Kindergartenkindern geworden.“ Ein Seufzer erfüllte den Raum. „Nein, stattdessen hast du dich für den Umgang mit Kriminellen entschieden und bist lediglich eine austauschbare Fachkraft, genötigt von der Regierung. Glaub mir, bald wird es nicht nur noch die Art von Kleinkriminellen sein, die kein Herz mehr besitzen, deren Identität und Vergangenheit du hinterher jagst. Nein, bald wirst du es mit den Monstern zu tun haben, die keine Seele mehr besitzen.“

Empört richtete sich die junge Frau auf. „Grandma! Ich habe zwar mittlerweile begriffen, dass dir meine Arbeit ganz und gar nicht passt, aber dennoch bin ich in meinem Beruf anerkannt und keine austauschbare "Fachkraft" der Regierung, wie du so schön sagst! Und deine Schauermärchen über diese Menschen… Bisher ist noch keiner in dem Hochsicherheitstrakt durch deren Hand oder durch die eines anderen umgekommen!“ Die Alte humpelte sich murmelnd an Lieyna vorbei. „Ich mache mir Tee…“ Lieyna atmete tief durch, während sie ihr nachsah. Ein ewiger Konflikt, der sich anscheinend nie zu Ende tragen wollte. ***

 

Etwas griff sie forsch an der Schulter und mit einem kräftigen Ruck wurde ihr Körper hoch gerissen. Sie gab den Bewegungen nach, wehrte sich nicht und ließ sich einfach mitreißen. Noch immer erfüllte sie Schwärze, doch allmählich stahlen sich flackernde Lichtstreifen hinein. Ein Tanz aus Schatten und Licht begann vor ihrem inneren Auge. Schwindel überkam sie und sie spürte wie eine andere kräftige Hand ihren linken Arm umgriff. Nicht… Man sollte sie liegen lassen. Sie wollte doch nur ein bisschen schlafen. Nur ein wenig... Kalt. Plötzlich war es so kalt. Nach einigen Sekunden der Besinnung konnte sie die Kälte an ihrem Rücken ausmachen. Jemand hatte sie gegen die kühle Steinwand gelehnt. Ihr Kopf dröhnte und noch immer überfiel sie intervallartiger Schwindel und Übelkeit, die kalten Schweiß auf ihrer Stirn verursachten. Langsam schlich sich Schwere über ihre Glieder und rief in ihr erneut das Verlangen nach Schlaf aus. Man sollte sie doch nur in Ruhe lassen... Plötzlich traf sie ein kräftiger Schlag ins Gesicht, der sie aus ihrem lethargischen Zustand entriss. Mit einem Mal öffnete Lieyna die Augen und kniff sie gleich daraufhin schmerzhaft zusammen. Das grelle Licht stach ihr unangenehm in die Augen. Stimmen. Oh Gott, wo kamen nur diese lauten Stimmen her? Sie nahmen an Lautstärke zu und prasselten wie ein Gewitter auf sie ein. Schützend nahm sie die Hände vor das Gesicht, um das Stimmengewirr und die Hektik, die von den Leuten ausging, die wie wild um sie her tanzten, abzuwehren. Ihr Kopf dröhnte. Stöhnend versuchte sie sich auf ihr Umfeld zu konzentrieren, als sie merkte wie sich ihr Frühstück den Weg nach oben bahnte. Sie bekam gerade noch mit wie sie sich übergab als ihr Kreislauf erneut kollabierte.

 

 

*****

 

„Verdammt Lieyna, was hast du dir nur bei der Aktion gedacht? Du hättest tot sein können!“ Empört sah Liss auf ihre Freundin hinunter, die noch immer leicht benommen in einem schwarzen Sessel ihres Büros hockte. Gedankenverloren nippte diese an ihrem Glas Wasser und versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Sie mussten sich die Leute fühlen, die gerade von einem Drogentrip runterkamen. Was war nur geschehen? Es war das erste Aufeinandertreffen mit dem Häftling in diesem kalten Raum. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich weit entfernt – am Rande der Wand, vor ihm stehen. Sie hatte ihn aus sicherer Entfernung beobachten wollen und dann… Ja, stand sie auf einmal vor ihm. Nah… Ganz nah… Zu nah! Ihr Herz pochte just in dem Moment als sie die Gefahr bemerkte, in der sie sich befunden hatte. Unwillkürlich packte sie sich ans Kinn. Eine Gänsehaut jagte ihr über den Rücken, als sie noch immer einen leichten, nun mehr sanft nachlassenden kühlen Fingerabdruck spürte. Das konnte doch alles nicht wirklich passiert sein? Sie pitschte sich in die Hand. Ich muss aufwachen! Als sie sich mit der Realität konfrontiert sah, stöhnte sie auf. „Verdammt.“ „Ja, verdammt!“, meldete sich Liss wieder zu Wort und setzte sich Lieyna seufzend gegenüber. „Sollte das eine ganz neue Heldenaktion werden? Vielleicht lässt du die Actionfilme zur Abwechslung mal weg. Oder handelt es sich um einen akuten Fall von spontaner Todessehnsucht? Mach Bungee Jumping, wenn du ’nen Kick suchst.“ Liss versuchte sich zu beruhigen und senkte ihre Stimme. „Tut mir Leid. Aber was hat dich dazu gebracht, direkt auf diesen unberechenbaren Mann zu zugehen? Du hast weder auf die Lautsprecheransage noch auf das Heulen der Sirenen reagiert.“

Liss und zwei weitere Kollegen hatten sich in einem abgetrennten Raum mit integrierter Glaswand, die von außen wie ein Spiegel aussah, befunden. „Lautsprecheransage? ...Sirene?“ Lieyna stand der Unglaube ins Gesicht geschrieben. „Einfach verrückt. Der Gefangene hat sich erhoben, dir zugedreht und dich mit einem Winken aufgefordert zu ihm zu kommen! Einem Winken! Und du? Respekt, Süße. Setzt dich einfach so in Bewegung! Mann, Lieyna, ich dachte erst du wolltest aufs Ganze gehen und 'ne kleine Psychoaktion abziehen, aber du konntest nicht bei Sinnen sein.“ Lieyna hielt sich den Kopf und schüttelte ihn immer wieder. Das musste ein schlechter Aprilscherz sein. Sie war sich immer und auch gerade im vollen Besitz ihrer geistigen Fähigkeiten gewesen. War das der Beginn einer Psychose? Quatsch! „Du hättest Hackfleisch sein können!“, fuhr Liss fort und klatschte ihre Hände betonend zusammen. „Mr. Bench wollte gerade noch den Befehl dazu geben, den Benzinkreis mit Flammen zu entfachen um zu verhindern, dass du in den Kreis eintrittst und er dies ausnützen würde, aber da standest du schon auf der Markierung!“ Wer zum Teufel kam eigentlich auf die Idee, einen Benzinkreis um einen Gefangenen zu errichten, der schon mit Handschellen an einem Stahlhaken, durch eine Schnur verbunden, gesichert war? Waren das ganz neue kranke Sicherheitsmaßnahmen? Irgendetwas stimmte hier doch nicht. Ach verdammt, sie wollte jetzt nicht denken. Lieyna erhob ihren Kopf und sah ernst zu Liss hinauf. Sie setzte ihr Glas ab, ehe sie mit zittriger Stimme zu sprechen begann, die sie selbst im ersten Moment erschreckte. „Was passierte dann?“ Der Nervenzusammenbruch klopfte höhnisch an ihren Schädel. „Oh. Ich kann dir sagen was passiert ist, meine Liebe. Obwohl du es eigentlich am besten wissen müsstest.“ „Ich sagte doch schon, dass ich mich an nichts erinnern kann!“ Lieyna entfuhr ein Fluchen, aufgebracht über diesen Kontrollverlust. Wie oft sollte sie sich noch rechtfertigen?

„Nun ja. Du befandest dich nun auf der Markierung. Und, keine Ahnung, er ging auf dich zu, streifte deinen Körper so, dass du dich vollends zu ihm in den Kreis bewegt hast. Herr Gott Lieyna! Wo warst du nur in deinem Kopf anwesend?“ Liss schnaubte. Sie selbst schien perplex und doch funkelten ihre Augen aufgeregt und beinahe neugierig. „Er setze seinen Gang fort, schlich langsam um dich herum, während er “, sie zuckte mit den Schultern, „während er mit dir sprach. Wir haben kein Wort von dem verstanden, was er zu dir gesagt hat. Aber halt dich fest.“ Lieyna wäre der Aufforderung gern nachgekommen. „Du“, Liss zeigte ungläubig auf Lieyna, „hast irgendwas geantwortet. Du warst so auf ihn fixiert. Du hättest dich sehen sollen. Dennoch war dein Blick gesenkt.“ Die blonde Frau kniff die Augen zusammen. „Komm schon, das war inszeniert, oder? Sonst sollten wir dich vielleicht einmal durchchecken lassen.“ Voller Unglauben lauschte Lieyna den Worten ihrer Freundin und konnte ihre Erinnerungen einfach nicht mit dem Erzählten zusammenfügen. Es passte vorne und hinten nicht und irgendwie konnte sie sich überhaupt nicht mit Liss'  Story identifizieren und die Tatsache, dass sie der Realität in dem Moment abhanden gekommen war oder diese angebliche Illusion nicht als solche bemerkt hatte, machte ihr Angst. Ohne Vorwarnung sprang Lieyna von ihrem Sessel auf: „Ich will das aufgezeichnete Material von den Überwachungskameras sehen!“ Etwas erschrocken von Lieynas plötzlicher Aktivität nickte Liss schließlich zustimmend. „Anscheinend wird das das Beste sein.“ Sie hielt der Frau die Hand, da sie befürchtete, Lieyna könnte jeden Moment wieder umfallen. „Bevor ich es vergesse, du hast dem fetten Ruven auf die Füße gekotzt. Gab’s Spaghetti zum Mittag?“ Auch wenn der Witz momentan nicht passte, musste Lieyna schwach lächeln.

 

Zwanzig Minuten später hatte sich Lieyna an die fünf Mal die Aufzeichnungen der Videoüberwachung angesehen und jedes Mal mit einem Stöhnen und entsetztem Kopfschütteln ihre Ungläubigkeit kommentiert. Das konnte doch einfach nicht sein, denn so wie Liss ihr das Vorgefallene erzählt hatte, zeigte es sich auch wirklich auf der Videoaufnahme. Beängstigend fand sie auch ihren Gesichtsausdruck bei näherem ranzoomen. Als sie sich dem Kreis genähert hatte, nahm sie die Anspannung in ihrem Gesicht wahr, die sie auch gespürt hatte. Sobald sie jedoch im Kreis war und mit diesem Kerl angefangen hatte zu sprechen, strahlte ihr Gesicht zunehmend Ruhe und Entspannung aus. So absurd es auch zu sein schien, von den Bildern her, sah es so aus, als hätte sie sich mit ihm in voller Ruhe und ohne Besorgnis unterhalten. Wie zwei, die sich kannten... War der Kerl Hypnotiseur? Ihr Kopf schmerzte als sie versuchte sich an irgendein Gespräch zu erinnern, aber nein. Die Frau, die sich ihr auf dem Videoband zeigte, konnte sie selbst einfach nicht sein. Am Ende war sie wirklich in sich zusammengesackt, aber erst nachdem er von vorne einen Schritt auf sie zugekommen war und ihr die Hand leicht in den Nacken gelegt hatte, woraufhin er sie stützend auf der Markierung ablegte. Danach hatte er sich abgewandt und mit einem schlichten Kopfnicken in die Richtung der Wand, hinter der sich weiteres Personal befand, von dessen Aufenthaltsort er eigentlich nichts gewusst haben konnte, angedeutet, dass die „Sitzung“ für ihn erledigt war und gehen wollte. Lieyna strich sich nervös durchs Haar. Scheiße aber auch! So was durfte nie wieder passieren! Rasch stoppte sie das Video. Als sie noch immer die besorgten und an ihr deutlich zweifelnden Gesichtsausdrücke der anderen Anwesenden wahrnahm, die Liss, die zwei Wärter von vorhin und ihren Vorgesetzten darstellten – welcher jedoch eher zornig als besorgt wirkte – erhob sich Lieyna mit nun ernsterem Gesicht. „So ein Fehler wird mir nicht mehr unterlaufen. Die Videokassette nehme ich für Analysezwecke an mich. Wenn man mich nun entschuldigt, ich werde in meinem Büro anzutreffen sein.“ Bevor sie ging, drehte sie sich noch einmal zu den zwei Wärtern um. „Und Ihnen sollte so ein Fehler auch nicht mehr passieren. Sie waren für meinen Schutz verantwortlich!“ Obwohl sie darauf bedacht war ihren Worten Entschlossenheit zu verleihen, vernahm sie zu ihren Ungunsten ein leichtes Zittern in ihrer Stimme. Schnell wollte sie aus dem Raum und vor dieser bedrückenden Atmosphäre fliehen, als Mr.Bench sie an der Schulter festhielt und ihr mit eisernem Blick deutlich machte, dass ein Versagen ihrerseits nicht akzeptabel wäre. „Ich glaube das Beste wird sein, wenn Sie für heute Schluss machen und nach dem Wochenende noch mal neu beginnen. Es wäre äußerst zu empfehlen Sie am Montag ausgeschlafen und mit einem klaren Verstand anzutreffen, wenn Sie verstehen, was ich meine…“ Lieyna biss sich auf die Unterlippe und sah gequält auf, verkniff sich einen abfälligen Kommentar. „Natürlich…, Sir.“ Jemand berührte sie an der Schulter. Liss. Sie trat neben sie und entschied mehr als dass sie anbot Lieyna nach Hause zu begleiten, da sie fast den gleichen Weg hatten.

Mittlerweile war es Sonntagabend und schon wieder war Lieyna mit ihrer Grandma aneinander geraten. Diese und ähnliche Diskussionen waren jetzt schon häufiger zur Debatte getragen worden und seitdem auf unerklärliche Weise vor zwei Tagen durch die Zeitungen bekannt geworden war, dass drei Männer einer mächtigen und kriminellen Untergrundorganisation von der Elite geschnappt und in das wohl sichersten Gefängnisses gebracht wurden- in dem sie glücklicherweise arbeitete- standen während des Wochenendes stündlich Streitigkeiten an der Tagesordnung. Natürlich setzte die Regierung alles daran, das Ganze für ein daher gezogenes Spektakel irgendwelcher Presseleute aussehen zu lassen, damit die Gesellschaft sich wieder in gewohnter Ruhe, Sicherheit und Zufriedenheit schwelgen konnte. Irgendwo hatte Lieyna Verständnis für die Sorge ihrer Grandma, denn schließlich wusste sie, dass es sich eben nicht um ein Gerücht hielt. Anscheinend sah Grandma die Wahrheit in ihren Augen. Lieyna wusste, sie musste endlich daran trainieren, nicht länger transparent für einige Leute zu sein, denn ansonsten würde sie das irgendwann ihren Kopf kosten, vor allem während der bevorstehenden Arbeit mit diesem Mann, der stark einem verkörperten Rätsel mit mörderischer Vergangenheit glich. Das ganze Training ihrer Ausbildung schien mit einem Mal dahin. Sie musste sich zusammenreißen. So durfte sie nicht denken, auch wenn sie sich insgeheim fragte, worauf sie sich da nur eingelassen hatte. Sie konnte nur daran wachsen. Resignierend stellte sie für sich fest, dass ihre Augen undurchsichtig zu werden galten, vorausgesetzt sie wollte an der nächsten Herausforderung bestehen, welche ihr schon in wenigen Stunden bevorstehen sollte: Ein erstes Gespräch. Nur Sie und Er. Und eins stand fest, er begann ein trügerisches Spiel mit ihr zu spielen. Lieyna nahm einen kräftigen Schluck aus ihrem Rotweinglas. „Wir werden schon sehen, wer von uns beiden Schachmatt geht.“

3. Schweigen

 Die Tür zum Aufenthaltsraum ging auf und herein kam eine junge Frau, eingehüllt in ein provisorisches Regencape, bestehend aus zwei aufgeschnittenen Müllsäcken. Schnaufend wurden diese auch gleich in die Ecke geschmissen. Lieyna sah übermüdet aus. Tiefe Augenringe zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab und trugen nicht gerade für einen erholsam aussehenden Zustand bei. Kritisch beäugte Liss ihre Freundin, wie sie murrend versuchte, sich ihrer nassen Jacke zu entledigen, aus deren Ärmel sie irgendwie nicht raus zu kommen schien. „Hmm…“, brummte Liss belustigt und sah sich das Schauspiel an. Mit einem wütenden Aufschrei pfefferte Lieyna schließlich die Jacke in die gleiche Ecke zu den Müllsäcken. „Ich hasse Regen!“, zischte sie. „Und Schlaf anscheinend auch“, fügte Liss grinsend hinzu. „Sonst hättest du dir bestimmt welchen gegönnt.“ „Ich hab geschlafen!“, versuchte Lieyna sich zu verteidigen und griff nach der Kaffeekanne. „Natürlich.“ Mit einem leisen Kichern erhob sich Liss von ihrem Stuhl und nahm der verzweifelten Lieyna die Kaffeekanne ab, in der nämlich nichts drin war, Lieyna jedoch versucht hatte, sich und der Kaffeekanne zu beweisen, dass da was drin sein musste. „Ich will dir ja nicht zu nahe treten…“, setze Liss an, „aber du siehst verdammt scheiße aus.“ Ein Murren kam Liss entgegen. Diese drehte sich daraufhin noch immer belustigt um und zog eine Augenbraue hoch. „Okay. Was ist los? Du hattest das ganze Wochenende lang frei und heute musstest du auch erst am frühen Abend für deinen Dienst erscheinen.“ Mit einem Seufzen nahm Lieyna dankend den frischen Kaffee von ihrer Arbeitskollegin entgegen. Sie trank einen Schluck, setzte die Tasse aber gleich mit verzerrtem Gesicht ab. Heiß. „Es gab mal wieder nur Stress Zuhause“, antwortet Lieyna. „Mit deiner Oma?“, erriet Liss. „Richtig. Sie steigert sich geradezu hinein was für eine dumme Arbeit ich mir doch da ausgesucht habe.“ Wieder verdrehte Lieyna demonstrativ die Augen ehe sie erneut zum Reden ansetzte. „Nicht als ob das schon genug wäre. Nein, sie fängt an ihre Horrormärchen in der gesamten Nachbarschaft herumzuerzählen. Da hockte doch tatsächlich vor ein paar Tagen unsere Nachbarin auf der Couch. Und mittlerweile krieg ich die Adult-Version um die Ohren gehauen.“ „Wirklich?“, erkundigte sich Liss neugierig. „Lass mal hören!“ Ein ermahnender Blick traf Liss. „Okay, okay. Schon gut.“ Sie hob abwehrend die Hände. „Sieh das doch locker. Deine Grandma ist nur besorgt um dich.“ „Die Sorge kann ich mir sparen.“ Lieyna schüttete sich jetzt schon zum dritten Mal neuen Kaffee ein. „Gleich musst du wieder alle fünf Minuten auf Toilette“, stellte Liss mitleidig fest, während sie langsam ihre Sachen zusammen kramte. Wieder erklang nur ein Schnauben. Schlürfend nahm Lieyna einen Schluck. Wenige Sekunden später kam die Kaffeetasse unsanft auf dem Tisch auf. „Und kannst du mir mal vielleicht erklären seit wann ich Abenddienst habe? Ich habe auch noch einen anderen Job.“ „Gute Frage.“ Liss zuckte mit den Schultern. „Ich hatte noch nie Abenddienst. Welcher therapeutische Kollege hat hier schon abends Dienst?“ Empört richtete sich Lieyna auf und sah ihre Freundin fordernd auf eine schlüssige Antwort hin an. „Frag Mr. Bench, oder seine liebreizende Sekretärin. Einer von beiden wird doch sicherlich den Plan erstellt haben.“ „Diese alte Giftgurke?“ „Wie auch immer. Nun ja…“ Liss drehte sich fies grinsend mit ihrer gepackten Tasche um. „Ich habe jetzt Feierabend und werde schön nach Hause gehen. Ich denk an dich Schätzchen, wenn ich die Füße hochlege.“ Mürrische Blicke trafen Liss und diese konnte Lieyna insgeheim nur zu gut verstehen. Um sie etwas zu besänftigen, setzte sich Liss noch mal zu ihr an den Tisch und sah sie etwas ernster an, obwohl sie sich ein schadenfrohes Grinsen noch immer nicht ersparen konnte. „Schon ne Idee wie du heute den Häftling aus der Reserve locken wirst?“ „Natürlich!“, versicherte Lieyna mit leichtem Spott in der Stimme. Liss zog eine Augenbraue hoch. „Sag bloß…und wie?“ „Ich werde ihn so lange mit meinem Elektroschocker quälen, bis er mir sagt, was ich hören will. Und wenn das nicht reicht, zeige ich ihm einfach Nacktfotos von dir. Glaub mir, der wird aus seinem Redeschwall gar nicht mehr rauskommen.“ Als Reaktion auf ihren Plan bekam Lieyna scherzhaft von Liss eins mit ihrem Schal übergezogen. „Das werden wir ja sehen. Ich werde dich morgen darüber ausquetschen.“ „Tu das.“ Liss drehte sich noch einmal um, bevor sie die Tür öffnete. „Und tu nichts Unüberlegtes…“ Liss sah Lieyna eindringlich an, woraufhin diese nur die Augen verdrehte und sich eine Antwort darauf sparte. Selbst ihre Freundin kaufte ihr nicht ganz ab, dass sie irgendwie unter Beeinflussung oder Hypnose gestanden haben musste, als sie sich zu diesem Kerl fortbewegt hatte. So wie sie es tausendmal beteuert hatte. „Ja...ja... Schon gut. Jetzt sieh zu, dass du verschwindest“, erwiderte Lieyna schließlich genervt, als Liss keinen Anstand zum Gehen machte. Diese winkte noch einmal und verlies daraufhin den Aufenthaltsraum.

„Oh mein Gott“, murmelte Lieyna und klatschte ihre Hand gegen die Stirn. „Ich hab verdammt noch mal keine Ahnung. Ich bin doch keine Verhörspezialistin.“ Nun klatschte auch resignierend die andere Hand gegen ihre Stirn. „Aber die Genugtuung will ich dem alten Bench nicht geben. Ich muss das schaffen.“ Sie atmete einmal tief ein und aus. „Was ich brauche ist Alkohol…“, murmelte sie immer noch zu sich selbst. Von einem Moment auf den anderen hob sie ruckartig ihren Kopf und ihre Augen blitzten hinterlistig auf. „Okay…Hier irgendwo haben wir doch ´n Schlückchen Sekt für spezielle Anlässe…“ Sie war keine Alkoholikerin, um Himmelswillen nein! Aber in letzter Zeit hatte sie sich angewöhnt, sich bei stressigen Situationen ein bisschen Mut anzutrinken. Zwei Schlücke konnten ja nicht schaden. Sie erhob sich und fing rasch an die Schränke zu durchstöbern, bevor sie noch jemand erwischte. Wie immer wenn sie dabei war etwas Verbotenes zu tun, biss sie sich auf die Unterlippe. Mit einem letzten Blick zur Tür öffnete sie den unteren Schrank vor ihr und erblickte ihr ganz spezielles Etwas für spezielle Anlässe. „Bingo!“ Schnell nahm sie die Flasche heraus und trank nach und nach ein paar Schlückchen. Im Hals kribbelnd lief ihr die Flüssigkeit die Kehle hinunter.  Sie schloss die Augen für einen kurzen Moment und genoss das Gefühl der Erfrischung. Plötzlich hörte sie wie die Türklinke hinunter gedrückt wurde. Sie schaffte es gerade noch aufzustehen und die Sektflasche hinter ihrem Rücken zu verstecken, als sie auch schon in ein ihr allzu bekanntes Gesicht blickte. „Mr. Bench.“ Sie grinste fast panisch. „Wie schön Sie zu sehen.“ „Sie haben sich noch nie gefreut mich zu sehen“, bemerkte er skeptisch. „Nein?“ Sie lächelte leicht und tat als würde sie schwer nachdenken. „Na….“ Lieyna sah an die Decke als ob sie etwas suchte. „Heute ist einfach so ein schöner Tag und da dachte ich mir…“ „Es ist Abend und es regnet“, kam es prompt von Mr. Bench, der mit misstrauischer Miene auf sie hinab blickte. Verflixt, sie war so ein Tollpatsch. „Ich weiß zwar nicht was Sie mal wieder geritten hat, doch ich wäre sehr erfreut, wenn Sie sich nun endlich an die Arbeit begeben würden.“ Mit dem letzten Wort hatte er sich abgewandt und die Tür hinter sich zu geknallt.“ Lieyna stöhnte. Das ist noch mal gut gegangen. Sie wischte sich den leichten Schweiß von der Stirn. „Nun gut, eine Frau muss tun, was eine Frau tun muss!“, sprach sie sich zu und zog ihren Arbeitskittel über, nicht bevor sie noch einen Schluck der ermutigenden Flüssigkeit zu sich nahm.

 

Wenig später befand sie sich in einem kleinen Raum und beobachtete ihn durch die für ihn nicht sichtbare Glasscheibe, welche als Wand getarnt war. Lieyna ging näher auf die Glasscheibe zu, bis ihre Nasenspitze nur noch wenige Millimeter von dieser entfernt war. Fast zärtlich berührten ihre Fingerspitzen das kalte Glas. Er saß auf einem speziellen Stuhl, der ihn an einem möglichen Fluchtversuch oder Kontrollverlust hindern sollte. Seine Unterarme lagen auf der Stuhllehne, an der jeweils drei Metallringe befestigt waren, die seine Arme bewegungsunfähig machten. Die gleichen Vorrichtungen gab es auch für die Beine, wobei es sich um sechs größere Metallringe handelte. Lieyna ließ erneut ihren Blick über den Häftling schweifen. Er trug die üblich schwarze Sträflingskleidung, wobei an seinem Oberteil eine Kapuze angenäht worden war, welche er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Lächerlich. Des Weiteren zeigten sich auf der Höhe seiner Bizepses jeweils zwei Symbole, die auf seinen Gefährlichkeitsgrad hinwiesen. Lieyna stach das leuchtende Rot der Symbole ins Auge. Ihr Blick folgte langsam den roten Linien und wandte sich erst wieder ab, als sie die Fünf, die in der Mitte aus dem Symbol herausstach, nachgegangen war. Ebene Fünf. Einer, so wie Mr. Bench erwähnt hatte, ihr bisher unzugänglichen Ebene. Sie ließ die Augenlider sinken und rief sich das Bild des Häftlings erneut vor Augen. Er schien recht groß zu sein und aufgrund seiner breiten Schultern und der Muskeln, die sich leicht unter dem Schwarz seiner Kleidung abzeichneten, entschied Lieyna gleich für sich, dass sie sich vorerst nicht auf einen Nahkampf mit ihm einlassen wollte. Ihre Finger fuhren das kalte Glas hinunter, während sie ihre Augen wieder öffnete und entschlossen in seine Richtung sah. Sie schnaubte verächtlich, als ihr Blick auf seine Kapuze fiel. Das war doch wirklich albern. Jeder Pädagoge würde sich die Haare raufen. Wie wollte man sich Respekt verschaffen und den Mann auf seine gegenwärtige Situation aufmerksam machen, wenn man ihm diese ganzen Extrawünsche einräumte? Das Märchen um die Killeraugen war doch kompletter Müll. Sie wollte es zwar nicht drauf anlegen, aber auch dahinter würde sie noch Licht bringen. Sie grinste entschlossen. Anscheinend gab ihr das Schlückchen Alkohol ihren Mut zurück und heizte ihren Willen an, diesen Kerl von seiner Anonymität zu befreien. Gekonnt verdrängte sie weiterhin die Erinnerungen an ihr erstes Aufeinandertreffen mit ihm. Eine Tür ging hinter ihr auf. Schritte und ein leises Räuspern waren zu vernehmen ehe auch schon eine männliche Stimme zum Sprechen ansetzte: „Wir wären dann soweit.“ Lieyna drehte sich um und ging an den zwei Männern vorbei, die während ihrer Arbeit in diesem Raum bleiben würden, um das Geschehen zu beobachten, damit sie im Notfall eingreifen konnten. Lieyna verdrehte die Augen. Im Klartext hieß diese Überwachung: Wir sind hier, damit die Kleine nicht schon wieder auf so eine glorreiche Idee kommt, wie in etwa den Häftling von den Fesseln zu befreien, um gleich mit ihm lustige Fesselspielchen zu spielen. Pah! Was glaubten diese Hornochsen eigentlich?! Letztes Mal hatte nicht nur sie versagt. Nun gut, es war kein Geheimnis, dass so ziemlich keiner daran glaubte, sie würde mit dem Kerl fertig werden. Man hatte ihr ja noch nicht mal die Story vom letzten Mal abgenommen, dass sie sich nicht freiwillig zu ihm hinbewegt hatte und sie keinerlei Ahnung hatte, was genau geschehen war, da sie für sich nur wusste, dass sie schon recht früh das Bewusstsein verloren hatte. Nun ja… Außer einem. Ihr Vorgesetzter, Mr. Bench, der ihr die ganze Nummer eingebrockt hatte. Vielleicht suchte er auch nur nach einem Vorwand, um ihr frühzeitig zu kündigen und da traf sich ein Arbeitsumfall, oder besser gesagt „Totschlag durch Häftling aufgrund naiver Fachkraft“ doch blendend. Mit einem Kopfschütteln versuchte sie ihren pessimistischen Gedankengang zu beenden. Die würden sich noch nach ihr umschauen! Auf dem Friedhof, wenn ihr Sarg an den Trauernden vorbeigetragen wurde.

Sie wollte gerade aus der Tür treten, als sich ihr ein paar Füße in den Weg schoben. Sie sah hinauf zu dem Störenfried und blickte in das schelmisch grinsende Gesicht von Ruven, der kein geringerer war, als ein stinkender und egoistischer Fleischklops, wie sie ihn so liebevoll bezeichnete. Oder auch der Arbeitskollege, auf dem sie noch vor ein paar Tagen ihr Mittagessen entleert hatte. Mit einem zuckersüßen Lächeln trat sie an ihm vorbei. Oh, wie sie diesen Kerl noch nie hatte leiden können. Der war noch nicht mal in der Lage sein Haar mindestens dreimal in der Woche zu waschen. Es schüttelte sie, als sie an die fettigen rötlichen Strähnen dachte, die ihm immer in das klobige Gesicht fielen. Widerlich. Falls Herbel Essences eine neue Testperson für eine neue Produktreihe brauchte, würde sie ihn sicherlich sofort weiterempfehlen. Dem konnte es ja so oder so nicht schaden. Sie lächelte. „Ich bin einfach zu gutmütig und denke zu sehr an das Wohlergehen meiner Mitmenschen“, stellte sie überzeugt und mit einem Schmunzeln auf den Lippen fest. Sollten sie ihn doch ins Labor zu den Ratten stecken!

Die Realität holte sie unverzüglich zurück, als sie vor der Tür stand, die die letzte, sichere Barrikade darstellte. Die, die sie noch von diesem Kerl trennte. Ihre Hand ruhte auf der Türklinke. Sie zog noch einmal scharf die Luft ein, ehe sie auch schon die Türklinke hinunter gedrückt hatte und in den Raum trat. Leise fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Prompt kamen die Erinnerungen zurück, gegen die sie so lange angekämpft hatte, um sie zu vergessen. Der Kreis. Benzingeruch. Dunkelheit. Ihre Füße, die ihr nicht hatten gehorchen wollen. Die Wachen vor der Tür. Keiner der ihr half. Hilfe! Alleine. Sie. Wehrlos. Alleine - mit. Ihm! Sie biss sich auf die Zunge. Reiß dich zusammen! Sie setzte sich rasch in Bewegung und steuerte zielstrebig auf den Schreibtisch zu, hinter den sie sich auf einem Sessel niederließ. Sie spürte das kalte Leder unter sich. Es tat gut. Im nächsten Moment schlug sie die vorliegende Akte auf. Das ihr vertraute und dazu auch noch leere Dokument trat hervor. Innerlich stöhnte sie auf. Sie nahm ihre Kaffeetasse, die ihr frisch gefüllt hingestellt worden war, trank ein paar Schlückchen und tat so als würde sie mit hochkonzentriertem Blick ein paar Zeilen überfliegen. Mit einem Seufzer und einem kommentiertem Nicken, als hätte sie beiläufig noch eine wichtige Information aus dem Dokument entnommen, sah sie noch immer auf das leere Blatt hinab. Oh Gott Lieyna, du fängst an dich lächerlich zu machen. Noch nie war sie so gehemmt gewesen. Sie ärgerte sich schwarz und der momentane Verlauf der Dinge gefiel ihr nicht. Sie schloss die Augen, lehnte sich zurück und legte die Hände ineinander. Von außen sah sie ziemlich ruhig und gelassen aus, sich in ihren Absichten ziemlich bewusst und dementsprechend auch entschlossen. Sie hatte lange gebraucht um die Maske zu tragen. Ihr Gefühlschaos drang nicht nach außen, so hoffte sie vehement. Okay, Lieyna. Du wolltest

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: by Ava Juliens
Bildmaterialien: by Linda Woods
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2009
ISBN: 978-3-7368-8797-8

Alle Rechte vorbehalten

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Für Dich

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