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How much time remainds me



Prolog

„Wie lange noch?“ Fragend sah ich den Weißkittel vor mir an und fuhr mir über den kahlen Schädel, meine Hand stockte an der noch ziemlich frischen Narbe. Er schien abzuwiegen, vielleicht hatte ich noch einen Monat oder zweit. Mit ganz viel Glück und Gottes Gnade, so hoffte ich, ein halbes Jahr. Doch das Gesicht vor mir, sprach eine ganz andere Sprache.
Kurz räusperte er sich und sah mich prüfend an. Wahrscheinlich ob mich seine Aussage direkt ins Jenseits befördern würde. Zuversicht sah anders aus. Aber wie oft, hatte ich in zuversichtliche Gesichter geblickt, die mir vorgegaukelt hatten, dass alles gut werden würde. Damals war ich noch im Besitz meiner braunen dichten Haarpracht, Wimpern und Augenbrauen, von denen nichts mehr geblieben ist. Mein Kopf war so haarlos wie eine Bowlingkugel.

Mitleidig senkte er seinen Blick, eine Regung die mir neu war. Ich war es schon fast gewohnt, dass mir mit erschütternder Rücksichtslosigkeit, mitgeteilt wurde, dass meine Zeit immer knapper wurde und ein Ende absehbar sei. Wenn mich diese Reaktion überraschte, fühlte ich mich nicht besser, das Resultat wäre das Gleiche.
„Mrs. Air, was soll ich sagen.“ Na ja, da ich die Wahrheit kannte, fände ich es toll, wenn er mich zur Feier des Tages einfach mal anlügen würde und er mir prophezeite, dass ich hundert Jahre alt werden würde. Eine Lüge, zu schön um wahr zu sein, aber doch so verführerisch. Dann hätte ich genug Zeit, die Dinge nachzuholen, die ich immer schon tun wollte. Eigentlich würden mir fünf Jahre reichen, zwar ein begrenzter Zeitraum, doch bot er soviel mehr Spielraum, den ein oder anderen Traum zu verwirklichen.

Der wichtigste aller Träume war, heraus zu finden wer mein Eltern waren. Aufgewachsen im Kinderheim und sozusagen schwer vermittelbar, da ich immer zwischen Krankenhäusern und dem Heim hin und her gereicht wurde. Die letzten Jahre wurde ich dann nur noch von Klinik zu Klinik geschoben. Waren die Ärzte mit ihren Latein am Ende, ging es weiter, von einer Spezialklinik in die Nächste, einmal quer durchs Land. Nie konnte ich langfristige Freundschaften aufbauen, entweder weil ich verlegt wurde oder die wenigen Kinder die ich damlas kennenlernte, kurz drauf im Leichensack, in die Pathologie gekarrt wurden. Die ersten Male haben mich fürchterlich mitgenommen, aber man gewöhnte sich an alles, wenn man es nur oft genug mitgemacht hatte. Wie es das erste Mal passierte, würde ich aber nie vergessen.

Ich war sieben oder acht Jahre alt und hatte nicht viel Ahnung, warum ich immer wieder ins Krankenhaus musste. Dort lernte ich Jonah kennen. Er war in meinem Alter, groß, dürr und unsagbar lustig. So kahl wie mein Kopf heute war, war seiner damals. Seine dunklen Augen lagen tief in den Höhlen, gerahmt von roten Rändern. Er sah mehr tot als lebendig aus. Doch sobald ich das Zimmer betrat, strahlte er wie die aufgehende Sonne, an einem herrlichen Sommertag. Er war der Einzige, bei dem ich das Gefühl hatte, dass er mich mochte und ich ihm keine Last war. Wir spielten Mensch- ärgere- dich- nicht bis zum abwinken, auch wenn er dass gefühlte Hundertstemal verlor, so war er derjenige, der die Püppchen zur nächsten Runde aufstellte. Wenn es ein schlechter Tag war, die nächste Chemo ihn schwächte und er kaum eine Hand heben konnte, las ich ihm sämtliche Bücher vor, die das Krankenhaus hergab. Wir lagen in seinem Bett und ein leichtes Lächeln umspielte seinen Mund, so lang ich las. Ich hatte ihm zum sechsten Mal Gebrüder Löwenherz vorgelesen, als es ausgelesen war, sah ich ihn an. Das gewohnte Lächeln, auf seinem kleinen hageren Gesicht, meine Hand legte ich auf seine und bemerkte, dass sie eiskalt war. Ich fühlte seine Wangen, seinen Hals, Eiseskälte. Aber ich rief keine Schwester, ich legte mich wieder neben ihn, nahm seine Hand und summte ihm so lange etwas vor, bis die Schwester von allein kam, um nach uns zu sehen. Doch da war ich schon allein.

Würde ich gefragt werden, mit welchen Worten ich meine Leben beschreiben sollte, würde es dem ein oder anderen, Tränen in die Augen treiben. Die wichtigsten Worte, die in jedem Leben eine Hauptrolle spielen sollten, kamen im meinem Wortschatz überhaupt nicht vor. Wie Liebe, Zuneigung, Geborgenheit, Familie, Wärme, Freunde, Spaß.

Den einzigen Spaß den ich hatte, war das gehetzte Gesicht der Schwestern, wenn ich den Herzmonitor von mir abgekabelt hatte und sie wie die Furien in mein Zimmer jagten, manchmal hatten sie schon einen Arzt im Schlepptau. Jedes Mal wurde mir eine belehrende Ansprache gehalten, dass so was nicht witzig sei. Es wäre genau das Selbe, wenn man nach Hilfe rufen würde, ohne dass etwas geschehen wäre, würde man es zu oft missbrauchen, irgendwann käme niemand mehr, wenn es tatsächlich nötig wäre. Keiner von ihnen verstand, es war ein Hilfeschrei. Der Hilfeschrei einer kleinen einsamen Kinderseele.
Mittlerweile war ich fast neunzehn, abgeklärt, gefühlskalt, noch immer einsam und es würde nichts mehr auf dieser Erde geben, was mich noch enttäuschen könnte. Was das Leben betraf, hatte ich voll in die Scheiße gehauen.

„Sie wissen, dass wir den Tumor nicht ganz entfernen konnten. Er ist zu sehr mit dem umliegenden Gewebe verwachsen.“ Kurz sah er wieder auf und ich nickte. ´Na komm, sags endlich´, dachte ich und war von seinem Getue, es künstlich in die Länge zu ziehen, schrecklich genervt. „Es tut mir leid Mrs. Air, wir müssen jeden Tag damit rechnen.“ Er griff über seinen Schreibtisch und tätschelte meine Hand.

Okay, dass saß. Etwas mehr Zeit hatte ich mir schon erhofft. Der gewohnte Schwindel setzte ein und ließ die Welt kopfstehen. Es fühlte sich an, als wäre ich kurz vor dem Ertrinken, ich hatte den letzten Atemzug getan und das Wasser schwappte über mein Gesicht, keine zweite Chance, keine Möglichkeit die mir Aufschub gewährte, das Ende vor Augen.

„Ich rufe eine Schwester....“ Noch bevor er seine Drohung wahr machen konnte, stand ich wankend auf den Beinen. „Es geht schon.“ Flüsterte ich emotionslos und torkelte zur Tür, die ich offen stehen ließ und den endlosen Gang zu den Aufzügen, Stück für Stück hinter mich brachte.

Encounter


Chapter 1

Leise seufzend ließ ich mich aufs Bett sinken und sah zum Fenster hinaus. Das Wetter war passend, Weltuntergangsstimmung. Dunkelgraue Wolken jagten an dem kleinen Ausschnitt der Welt vorbei und Regen peitschte laut gegen die Scheibe. Für andere Menschen wäre das der Moment, die Dinge zu regeln, die noch zu regeln wären. Ein Testament aufzusetzen, die Liebsten zu informieren oder zu weinen. Was man halt so tat, wenn man wusste, dass es fünf vor zwölf war. Doch besaß ich nichts, was ich hätte vererben können. Die paar verschlissenen Jeans und Oberteile, ich besaß noch nicht mal eine funktionierende Uhr oder sonst irgendwelchen Schmuck. Auch hatte ich niemanden, dem ich es vermachen könnte und geweint hatte ich schon ewig nicht mehr, es war schon genau so lange her wie das letzte Mal, als ich gelacht hatte, nein, das war noch länger her. Fast war ich mir sicher, dass ich beides verlernt hatte.

Kurz sah ich rüber zu Jane, wir teilten uns diesen Schuhkarton von Zimmer, aber dass war auch schon alles, was uns verband. Ich mochte sie nicht leiden und sie mich noch viel weniger. Was meine letzten Tage hier nicht angenehmer gestalten würde. Sie hatte Leukämie, doch war sie auf dem Weg der Besserung, sie würde wieder gesund werden. In meinen Augen hatte sie es nicht verdient, sie war gehässig, von oben herab, hackte auf allem und jedem herum, behandelte alle, ob Krankenschwester, Pfleger, Ärzte, sogar ihre eigene Familie wie den letzten Dreck. Sie war ein böser, undankbarer Mensch.

Immer, wenn sie Besuch bekam und wieder nur herum nörgelte, wurde mir bewusst, wie sehr ich mich über Besucht gefreut hätte. Aber es gab niemanden, der zu mir hätte kommen können. So gut wie niemand wusste, dass es mich gab. Erst eine Nummer im Kinderheim, dann im Krankenhaus. Menschen waren lieber mit Menschen befreundet und nicht mit Nummern. „Was guckste so blöd?“ Raunte sie, als sie wach wurde. „Wollte mir deine hässliche Visage noch ma´einprägen, bevor ich abdanke.“ Leise knurrend sank ich auf das Bett und drehte ihr den Rücken zu. „Dann bin ich dich bald los?“ Diese Worte sang sie fast vor Freude, aber eine Antwort bekam sie nicht.

Jeden Tag könnte es soweit sein. Mein Leben bot wenig Schönes, wollte ich es auch so enden lassen? Hier in diesem sterilen Zimmer, umgeben von Menschen, die mich nicht leiden konnten oder denen ich mehr oder weniger, egal war. Ich hatte doch nichts mehr zu verlieren, jetzt konnte ich nur noch gewinnen. Nur einen Traum wollte ich mir erfüllen, einen kleinen, nichts über die Maßen, nur einen Herzenswunsch. Nie war ich im Urlaub, wer hätte mich auch mitnehmen sollen? Jetzt wünschte ich mir, nur einmal das Meer zusehen, diese endlose Weite, den Wind zu fühlen und mich von ihm davon tragen zulassen. Wenn ich sterben würde, wäre meine Seele frei und nicht wie die der vielen anderen Menschen, die ich sterben sah, deren Körper und Seelen, die in einen Leichensack eingezwängt wurden.

Wieder setzten die Kopfschmerzen ein, zeitweise so brutal, dass ich es in Betracht zog, meinen Schädel gegen eine Wand zu schlagen, damit es erträglich wurde.

Leise klopfte es an der Tür, ohne Aufforderung wurde sie geöffnet. Eine der Schwestern trabte ins Zimmer, im Schlepptau Jane´s ganze Sippe. Mitleidig lächelten sie, grüßten mich mit einem Nicken, sie versammelten sich um das Bett der alten Gewitterhexe und schon ging das Genöle los. Das Essen schmeckte ihr nicht, das Bett wäre viel zu hart und das Personal sowas von unfreundlich. Ja, das waren Probleme. Luxusprobleme, die ich mir gewünscht hätte. Das Gesicht der Schwester schob sich in mein Blickfeld. „Dr. Murphy hat mit dir gesprochen?“ Ihr Gesicht war ganz dicht vor meinem und sie sprach so leise, dass es keiner der Anwesenden mitbekam, leicht nickte ich und wartete, ob es Veränderung brachte. „Später wird Mrs. Jones zu dir kommen, sie ist von einem Hospiz, dorthin sollst du verlegt werden.“ Wieder einmal hieß es, die wenigen Sachen die ich besaß, packen und ein letztes Mal umziehen.

Ihr blieb nicht verborgen, dass mein Schädel mich einmal mehr quälte. „Ich bring dir was, dann geht es gleich besser.“ Sanft strich sie mir über den Arm und verschwand. Am Rande bekam ich mit, wie Jane´s Mum mit Engelszungen auf sie einredete, dass sie bald wieder nach Hause könnte und sie eine riesige Party für sie schmeißen würden. Doch anstatt dass sie sich freute, stellte sie Bedingungen und erinnerte an völlig unsinnige Dinge, die ja nicht in Vergessenheit gerieten durften. Wie das Einladen derer, die sie nicht leiden konnte. Damit würden sie wahrscheinlich ganze Hallen füllen können. Diese Leute sollten nur eingeladen werden, damit sie sahen, dass Jane wieder am Start war, wohlauf und genesen. Gäbe es einen Himmel und eine Hölle, hätte sie es im Tod immer schön warm.

Die Schwester kehrte mit einem Döschen zurück, in dem sich eine Ansammlung an Pillen befand. Die ich mir wortlos, mit einem Schluck Wasser, durch den Hals würgte und hoffte, es würde gleich besser. Sie brachten nicht nur Linderung, sondern auch Müdigkeit, der ich mich nur zu gern ergab, damit ich mir nicht weiter dieses unnötige Gemaule anhören musste.

„Mrs. Air? Hallo? Hören Sie mich?“ Sanft wurde ich geschüttelt, leise ließ es mich knurren. Ich war hundemüde, wollte nur schlafen und von der Welt nichts hören. Doch alles Ignorieren half nichts, unermüdlich wurde an mir herumgerüttelt. Langsam, fast in Zeitlupe öffnete ich die Augen. Meine Lider waren schwer und wehrten sich, sie wollten nicht gehorchen. Einen Schlitz weit bekam ich sie auf und sah in ein mir unbekanntes Gesicht, das mich freundlich anlächelte. „Hallo. Mein Name ist Jones. Ich wollte mit Ihnen über die Verlegung sprechen.“ Ihr Gesicht war weich und hatte einen gütigen Ausdruck. So stellte ich mir einen Engel vor. Ihr volles blondes Haar fiel in weichen Locken über ihre Schultern, himmelblaue liebe Augen, die mich ansahen, als wollten sie mir sagen ´jetzt wird alles gut, wir gehen nach Hause´, es war so tröstlich, wie sie mich ansah.

Sie schob einen Stuhl vor mein Bett und rückte ganz nah heran. Leise begann sie zu erzählen, wo ich hin käme und wie und wann es los ginge. Immer wieder tätschelte sie meine Hand, sie strahlte Ruhe und Gelassenheit aus und dass, obwohl ihr Job sicherlich die Hölle war. War sie doch für die Menschen, die sie besuchte, so etwas wie der Todesengel, die letzte Station, bevor zu Ende ging, was mit so viel Leid begann.
Wieder und wieder fragte sie nach, ob ich verstanden hätte, was sie mir erklärte. Meine Stimme hatte ich noch nicht in der Gewalt, so nickte ich jedes mal. Aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich morgen nur noch die Hälfte von ihren Worten zusammen bekommen würde. Flüsternd verabschiedete sie sich und verließ auf leisen Sohlen das Zimmer. So wie die Tür sich schloss, gab ich der Müdigkeit erneut nach und glitt in einen traumlosen Schlaf.

Das Schwarz wich, durch meine Lider schimmerte ein warmes Orange. Für einen Moment horchte ich in mich. Es ging mir gut, weder schmerzte mein Kopf, noch fühlte ich den immer wiederkehrenden Schwindel oder die immer nagende Verzweiflung. Die mir aufzeigte, was ich im Leben alles versäumt hatte und mir auch nicht mehr die Möglichkeit gegeben würde, es nachzuholen. In diesem einen Moment war alles gut. Langsam öffnete ich meine Augen und sah zu dem bodentiefen Fenster. Die Sonne ging gerade auf. Ich hatte den restlichen gestrigen Tag und die Nacht durchgeschlafen, seit langem mal wieder. Eigentlich war es normal, das ich Nachts gefühlte fünfhundertmal wach wurde. Doch heute schien alles besser zu sein. Das schimmernde Orange der Morgensonne, tauchte das Zimmer in ein gemütliches und etwas wehmütiges Licht. Ich lag da und sah der Sonne bei ihren Siegeszug zu. Es war so friedlich und einfach wunderschön. Für diesen Augenblick, wünschte ich mich ganz weit weg, an fremde Orte, zu denen ich in diesem Leben nicht mehr finden würde, aber die ich in Gedanken hundertfach aufgesucht hatte und durch ihre Wälder geschlendert war, den erdigen Geruch eingeatmet und durch die dichten Baumkronen hinauf zur Sonne geblickt hatte. Das Gezwitscher der Vögel verschmolz zu einer unverwechselbaren Symphonie, so verführerisch wie der Gesang der Sirenen, die mich tiefer lockten, um ihnen zu folgen. In meinen Gedanken war ich frei, nichts hielt mich am Boden, frei wie ein Vogel flog ich dahin und an diesen Orten war ich glücklich. In meinem Kopf, der mir nicht nur Freiheit brachte, sondern auch mein Todesurteil bedeutete. Wenn mein Körper an diese Krankheit gefesselt war, waren die Gedanken frei. Niemand konnte sie einfangen oder gar einsperren. So waren es diese Träume, meine Phantasie der Grund, warum ich alles aushielt und nicht schon längst aufgegeben hatte. Ich setzte mich auf, schloss die Augen und hörte die leise melodische und wunderschöne Symphonie der Vögel, roch den wunderbaren Geruch von Mutter Erde. Fast fühlte ich den Wind, wie er mich fort trug. Einmal mehr machte ich mich auf in die Welt meiner Träume, um zu leben, so lange ich es noch konnte.

Kurz musste ich nochmal eingenickt sein, denn das Klopfen an der Tür ließ mich aufschrecken. „Guten Morgen, die Damen.“ Trällerte die Schwester und karrte das Frühstück herein. Dann begann die morgendliche Prozedur. Fieber- und Blutdruckmessen, nach dem Wohlbefinden erkundigen, die nächste Palette Tabletten und Betten machen. Doch war meine Menge an Tabletten arg geschrumpft und reichte nur für heute Morgen. Etwas irritiert sah ich auf, doch bevor ich Protest einwenden konnte, wurde ich aufgeklärt. „Das hat alles seine Richtigkeit, Mrs. Air. Sie werden doch nachher abgeholt.“ Mit den Worten der Schwester waberten die Erinnerungen von gestern in mir hoch, doch ganz bekam ich sie nicht mehr zusammen. Es reichte zu wissen, dass ich später abgeholt werden würde, alles andere würde sich ergeben, wenn ich denn angekommen wäre.

Jane knötterte wie gewohnt los und motzte mal wieder über das Essen. Mit verschränkten Armen saß sie im Bett und zog einen Flunsch, wie ein kleines bockiges Kind. Das einzig Gute an meinem letzten Umzug war, dass ich sie nicht länger ertragen musste. Genervt schnaufte ich über ihr unmögliches Benehmen, Worte wären Verschwendung, bei ihr bekam man ohnehin nie Recht. Ich klappte die Abdeckung des Tellers hoch, um zu inspizieren, was es heute gab. Es stimmte schon, das Essen war unter aller Kanone, aber was würde es bringen sich darüber zu beschweren. So reichte der Apfel, der neben dem Teller lag, um meine Giftmischung nicht auf leeren Magen runter zu würgen. Bevor die Schwester ging, erinnerte sie mich noch, meine Tasche zu packen, da ich in einer guten Stunde abgeholt werden würde.

Nachdem ich mein opulentes Mal beendet hatte und meine Tabletten intus waren, raffte ich mich auf, nahm Klamotten aus dem Schrank und schlich ins Bad. „Mach nicht so lange, ich muss da auch rein.“ Maulte Jane, noch bevor ich die Tür geschlossen hatte. Als Antwort hielt ich noch schnell den Stinkefinger aus der halb geöffneten Tür und an dem zischenden Geräusch, welches erklang, wusste ich, dass die Nachricht angekommen war.

Ich stieg aus der Dusche und begann, mich ab zu trocken. Einmal mehr fiel mir auf, wie durchscheinend meine Haut geworden war, fast sah man das Blut in den Adern pulsieren. Doch mit meinem Blut konnte man Menschen vergiften, so viele Medikamente wie ich einnehmen musste, damit ich nicht vor rasenden Kopfschmerzen durchdrehte und der Schwindel sich halbwegs in Grenzen hielt. Ich bestand fast nur noch aus Haut und Knochen. Der Spiegel, in den ich sah, zeigte mir schon seit Jahren nicht mehr das gewohnte Bild.

Mein Gesicht war eingefallen, so wirkten meine braunen Augen noch größer, als sie es ohnehin schon waren. Müde und fast glanzlos sahen sie mich an, wie ein stummer Vorwurf. Ein Vorwurf an das Schicksal, das mir mehr als übel mitgespielt hatte. Aber versuchte ich nicht in Selbstmitleid zu versinken, dazu war es zu spät und die Zeit, die ich noch hatte, wollte ich nicht mit Hass auf das Leben vergeuden. So versuchte ich in allem etwas Schönes zu sehen, wenn es für andere unscheinbar und nichtig wirkte, war es für mich ein gleißender Schimmer, der mir den Tag verschönerte, der vielleicht mein letzter sein konnte. Manchmal war es ein Lächeln, wenn auch nicht mir galt, auch wenn ich sah, dass Menschen sich umarmten, weil sie sich freuten einander wiederzusehen, fühlte es sich gut an, dabei nur zu zusehen. Oft hatte ich mir gewünscht, in den Arm genommen zu werden, aber mittlerweile reicht es mir, zu sehen wie andere es taten. In der Vergangenheit hatte ich das Leben phasenweise verachtet und gehasst, doch auch das änderte nichts an der Situation. Meine Verbitterung war zerstörerisch, bis ich endlich lernte, dass ich es mir so nur noch schwerer machte und alles seinen Sinn verlor, erst mit dieser Erkenntnis ging es nach und nach wieder bergauf. Wenn ich meinem jämmerlichen Spiegelbild nichts Schönes abringen konnte, hielt ich mich immer mit dem Gedanken aufrecht, `Jammer nicht, du könntest schon tot sein´und das klappte meistens ganz gut. Ich griff nach jedem Strohhalm, den ich mir selber reichte.

Als ich meine Zähne putzte, wurde ich auch dort immer wieder überrascht. Wenn man dem Rest von mir zusehen konnte, wie er mehr und mehr verfiel, so war ich noch immer im Besitz eines vollständigen Gebisses und zu meinem Stolz waren sie fast strahlend weiß, ja, der Lichtblick meines Tages. Mein Zeugs packte ich in eine Tüte, die als Kulturbeutel diente, nicht schick, aber sie erfüllte ihren Zweck.

Jane bollerte mit den Fäusten gegen die Tür. „Jetzt komm daraus, sonst pinkel' ich vor die Tür!“ Keifte es von der anderen Seite. „Mach' doch.“ Knurrte ich zurück und setzte mich auf den Toilettendeckel. Klar war ich fertig, doch nur um ihr ein letztes Mal einen rein zu würgen, blieb ich eine geschlagene Viertelstunde sitzen und hörte mir ihr Geschimpfe und ihre Flüche an. Erst als sie mir mit der Schwester drohte, konnte ich mich dazu hinreißen lassen, dieses Etablissement zu verlassen. „Kahlköpfiges Miststück!“ Fauchte sie, als sie hinter sich die Badtür zuwarf. „Hmmm, du mich auch.“ Gab ich zurück. Ging zum Schrank und holte den Rucksack hervor, in nicht mal fünf Minuten hatte ich eingepackt was meines war und nach weiteren zwei Minuten war auch der Nachttisch leer geräumt. Ich hatte mittlerweile wenig Probleme damit, mich mit meiner Glatze unter die Menschen zu wagen, doch um rücksichtslosen und engstirnigen Blicken aus dem Weg zugehen hatte ich ein Tuch, das ich mir so um den Kopf drapierte, dass es richtig gut aussah und erst der zweite Blick verriet, wie es um mich stand.

Jetzt hieß es auf den Limousinenservice warten, der mich zur Endstation fahren sollte und dort hieß es wieder warten, bis der Tod seinen dunklen Umhang um mich bettete und alles ein Ende fand. Früher hatte ich mich oft gefragt wie es wäre, wenn man nicht allein da stünde. Wenn es liebe Menschen gäbe, die für mich da wären, die sich kümmerten und mich besuchten. Aber wäre dann ein Abschied vielleicht unerträglich, mit dem Wissen, man ließe sie zurück, mit all ihrer Trauer und gebrochenen Herzen. Aber wäre ich tatsächlich so selbstlos, dass ich auf all dass freiwillig verzichtet hätte? Nur um andere, geliebte Menschen nicht leiden zusehen? Oder redete ich mir nur ein, dass es besser war, allein zu sterben. Da ich ohnehin keine Wahl hatte.

Früher hatte ich mir so oft gewünscht und ausgemalt, wie es wäre, wenn sich die Tür des Zimmers öffnen würde und meine Eltern hereinspaziert kämen, sie würden mich umarmen und küssen, sie würden mir sagen wie sehr sie mich vermisst hätten und sie mich über alles in der Welt liebten, nie wieder würden sie mich allein lassen. Aber vielleicht war es gut, dass sie mich weggaben, so blieb ihnen viel Leid erspart. Sie mussten nicht Stunden an meinem Krankenbett ausharren, hoffen und bangen, dass die Operationen gut verliefen. Sie mussten nicht ewig lange Strecken in Kauf nehmen, um mich zu besuchen. Da ich ursprünglich aus Virginia stammte, mein Tumor hatte mich ziemlich weit herum gebracht. Wir näherten uns unaufhaltsam der kanadischen Grenze, mittlerweile hatte ich es bis Tacoma geschafft. Wenn es auch nicht mehr wichtig war wo ich mein Leben lassen würde, so hätte ich schon gerne gewusst, ob ich wieder etwas näher an meine Geburtsstadt käme und somit vielleicht auch meinen Eltern ein Stück näher. Es war ein schöner Gedanke. Dunkel konnte ich mich an das schöne Wetter erinnern und der Duft, wenn im Sommer die Lavendelfelder in voller Blüte standen. Ich hatte keine Ahnung, ob es dort wirklich so schön war oder ob meine kümmerliche Erinnerung sich mit meiner Phantasie mischte, nur damit ich mir einreden konnte, es gab eine Zeit in meinem Leben, die nicht aus Krankenhauszimmern und Operationssälen bestand.

Ich hatte mich wieder aufs Bett gelegt und sah zum Fenster hinaus. Die Sonne war so weit gestiegen, dass ich sie nicht mehr sah. Jane rumorte immer noch im Bad, so blieb ihr, wie ich hoffte, nicht mehr viel Zeit auf mir herum zu hacken. Die Tabletten zeigten ihre Wirkung und ich wurde müde. So müde, dass der Schlaf wie jedesmal einer Erlösung gleich kam und mich mit sich riss.

„Taxi!“ Dieses Wort holte mich aus dem Dunkel zurück. „Welche der Ladies darf ich mitnehmen?“ Fragte die unbekannte Stimme, sie klang schön. Fast wie ein Lied, das man sich immer und immer wieder anhören konnte. „Sie!“ Hörte ich Jane verächtlich knurren. Es war soweit, meine Limousine war da, doch jetzt, da es losgehen sollte, fürchtete ich mich ein bisschen. Es war, als würde ich erst sterben, wenn ich in diesem Hospiz angekommen wäre, so verführte mich der Gedanke, wenn ich hier bliebe, müsste ich auch nicht sterben. Ich sponn mir einen kranken Scheiß zusammen, so war es das erste Mal, dass ich Angst vor dem Tod hatte. Kraftlos drehte ich mich auf den Rücken und sah zur Tür. Ein großgewachsener junger Mann stand da und sah mich an. Nur für die Länge eines Wimpernschlages nahm sein Gesicht einen entsetzten Ausdruck an, dann wieder lächelte er beruhigend und kam langsam näher. „Hey. Ich soll dich nach Hause holen.“ Sagte er leise und hielt mir helfend seine Hand entgegen. Ausdruckslos sah ich ihn an, seine sanften braunen Augen sahen auf mich hinab und seine wild gegelten Haare standen in alle Richtungen. Da ich keine Anstalten machte, seine Hilfe anzunehmen und aufzustehen, schob er einen Stuhl ans Bett und nahm Platz. Für einen Moment schien er nach den richtigen Worten zu suchen und wandte den Blick ab. „Alles okay?“ Flüsterte er und sah mich erneut an. Das erste Mal seit Jahren war mir zum Weinen zu mute, aber sollte ich es mir eingestehen, meine Zeit war um, sterben würde ich so oder so. Ob hier oder an welchem Ort auf der Welt auch immer. Es ist so unfair, wenn man nie eine Wahl hatte.

Wortlos schüttelte ich den Kopf. Nein es war nichts okay oder war es dass vielleicht doch. „Ich sollte mich erstmal vorstellen.“ Flüsterte er wieder und räusperte sich leise. „Ich bin Jake.“ Erneut hielt er mir die Hand hin und eine kurze Zeit sah ich sie an, dann ergriff ich sie zögernd. „Erin.“ Krächzte ich los. „Schön, dass ich dich kennenlernen darf, Erin.“ Sein Lächeln wurde breiter. „Darf ich dich mitnehmen?“ Noch immer hielt er meine Hand fest, als sollte es mir zeigen, dass ich ihm vertrauen könnte. Stockend zog ich die Luft ein und tatsächlich stahl sich eine Träne aus meinen Augen und hinterließ eine warme Spur, ehe sie auf das Kissen fiel. „Ich befürchte ja.“ Mit diesen Worten wandte ich meinen Blick ab und sah noch mal zum Fenster. Tief holte ich Luft, dann sah ich ihn wieder an. In seinem Blick lag etwas Gnädiges, als wäre es okay, Angst zu haben, mit sich und der Situation zu hadern. „Ich besorg´ dir einen Rollstuhl.“ Und schon stand er. Aber ich ließ ihn nicht gehen. „Nein, dass geht schon.“ Mit seiner Hilfe setzte ich mich auf, erst jetzt gab ich seine Hand frei. „Ist das alles?“ Er nickte zu meinem Rucksack. „Das ist alles.“ Gab ich leise zurück. Mit Schwung warf er ihn sich über die Schulter, langsam zog ich meine Schuhe an. Etwas wackelig machte ich die ersten Schritte, dann bot er mir seinen Arm. „Wenn schon keinen Rollstuhl, dann wenigstens den.“ Er stand in einer Pose, wie ein Gentleman aus längst vergessener Zeit. Gequält versuchte ich zu Lächeln, er erwiderte es, doch war sein Lächeln ehrlich. „Na endlich.“ Jane freute sich diebisch, dass sie mich los war. Zum Abschied hatte ich nicht mal ein gehässiges Wort für sie übrig, still verließ ich das Zimmer, welches die letzten Wochen mein zu Hause war.

Der Fahrstuhl verbreitete das typisch flaue Gefühl im Magen. Vor mich hin starrend und noch immer bei Jake eingehakt, hob ich etwas ängstlich den Blick, als die Türen sich öffneten. Alles fühlte sich so endgültig an, jeder Schritt, jeder Bewegung, jeder Blick, als wäre es mein Letzter. Von hier aus konnte ich den Wagen sehen, der genau vor den großen Glastüren parkte. Dezent stand in kleinen geschwungenen Buchstaben ´Heavens Gate´auf der Beifahrertür. Wäre mir nicht so elendig zu Mute, hätte ich diesen Schriftzug echt kitschig gefunden, doch war es mir in diesem Moment herzlich egal. Von mir aus hätte auch ´Joey´s Frittenranch´, drauf stehen können.

Jake tat einen Schritt und wartete, dass ich ihm folgte. Mit gesenktem Blick und hängenden Schultern kam ich seiner sanften Aufforderung nach und schlich neben ihm her. Er öffnete die Beifahrertür und half mir einzusteigen, schnell flitzte er um den Wagen, warf meinen Rucksack auf die Rückbank und sich auf den Fahrersitz. Leise schnurrte der Motor, als er ihn anließ. Kurz sah ich in an. „Dann wollen wir mal.“ Flüsterte er und arbeitete konzentriert den Rück- und die Seitenspiegel ab und fuhr los.

You won´t enter my world


Chapter 2

Es war noch ziemlich früher Morgen, als Jake aus der Krankenhauseinfahrt auf die Hauptstraße bog, der Berufsverkehr hatte sich beruhigt und war soweit abgeebbt, dass wir ganz gut voran kamen. Müde lehnte ich den Kopf gegen die Stütze, sah aus der Seitenscheibe und hing meinen Gedanken nach.

*** Jake***

Ich hatte schon einige, wie wir sie nannten, Endlist- Kandidaten abgeholt. Doch so eine Entfernung hatte ich auf Grund dessen noch nie zurücklegen müssen. Aber wie es schien, war das Heaven´s Gate die einzige Einrichtung in der weiteren Umgebung, die noch ein Zimmer frei hatte und da ich dort ein soziales Jahr absolvierte, war es meine Aufgabe, den Fahrer zu mimen. Es war schon hart zu wissen, dass die Menschen, die zu mir ins Auto stiegen, ihre letzte Reise antraten. Hauptsächlich handelte es sich um alte Menschen, die ihr Leben gelebt hatten, so war es das erste Mal, dass jemand neben mir saß, die ich noch jünger schätzte, als ich es wahr. Ich dachte, mich träfe der Schlag, als ich das Zimmer betrat und sie sah. Dürr, blass, hoffnungslos und mit so unglaublich traurigen und glanzlosen Augen. Das waren Momente, die man nicht vergessen würde, sie fraßen sich unaufhörlich ins Gedächtnis. Nie zweifelte ich an dem was ich tat, doch ob ich damit zurecht kommen würde, wusste ich nicht.

Normalerweise holte ich nur die Patienten ab, die keine Angehörigen hatten, die sie hätten bringen können, weshalb sich hier die Frage stellte, wie konnte es sein, dass sie, so jung wie sie war, niemanden hatte, der sie hätte begleiten können und bei ihr bliebe, bis sie den schwierigen Weg hinter sich gebracht hätte.

„Stört es dich, wenn ich das Radio anmache?“ Kurz sah ich zu ihr, den Kopf hatte sie nach hinten gelehnt und ihre Augen waren geschlossen. Doch so wie ich sie ansprach, sah sie mich an. Wieder dieser unglaublich traurige Blick. Niemand, den ich bis jetzt geholt hatte, haderte so mit seinem Schicksal, die meisten hatten sich damit abgefunden, sie hatten einen ziemlich langen Leidensweg hinter sich und der Tod käme einer Erlösung gleich. Aber sie machte den Eindruck, als wäre sie nicht bereit ihr Schicksal zu akzeptieren, es war eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. Natürlich war es das, in diesem zarten Alter. Aus Erzählungen meiner Arbeitskollegen wusste ich, dass es für Menschen, die sich gegen das Sterben wehrten, die am Leben versuchten festzuhalten, weitaus schwieriger und quälender war. Es tat mir leid, zu wissen , was auf sie zukäme. Doch selbst wenn ich wollte, könnte ich ihr nicht helfen und nie hatte ich es mehr verflucht als in diesem Augenblick

„Ne, mach nur.“ Ihre Stimme klang kraftlos, sie sah zum Fenster hinaus. Doch hatte ich das Gefühl, sie war gar nicht anwesend, ihr Blick ging ins Leere. Mir brannten einige Fragen auf der Seele, zu gern hätte ich gewusst, was ihr Schicksal war, warum sie, so wie es schien, allein war. Wo sie herkäme und was.... keine Ahnung, vielleicht ihre Lieblingsfarbe war. Noch während ich vor mich hinbrütete, räusperte sie sich leise, als verlangte sie nach meiner Aufmerksamkeit, die ich ihr nur zu gern schenkte.

„Wo ist ´zu Hause´?“ Etwas überrascht über ihre Frage, zog ich die Brauen hoch. „Du weißt nicht, wo wir hinfahren?“ Langsam schüttelte sie den Kopf. Ich konnte es kaum fassen, dass sie in so einer Situation ohne weitere Informationen losgeschickt wurde. „War Netty nicht bei dir? Ähh, ich meine, Mrs. Jones?“ Hakte ich nach, da ich es nicht glauben wollte. Sie schien kurz überlegen zu müssen. „Doch war sie, aber ich war so zugedröhnt, dass mir nur noch das Wenigste einfällt.“ Das war eine Erklärung, mit der ich leben konnte. „Sie sieht aus, wie ich mir einen Engel vorstelle.“ Sagte sie leise und hatte Recht. Netty war ein Engel auf Erden, es war nicht nur ein Job, den sie erledigte. Es war ihre Berufung, die sie mit Herz und Seele erfüllte. „Stimmt.“ Pflichtete ich ihr bei und versuchte sie mit meinem Lächeln etwas aufzumuntern, erfolglos. „Wir beiden Hübschen haben unser zu Hause in Lanvin“ Fragend sah sie mich an. „Das ist ein kleines Örtchen in der Nähe von Kerbow“ Wie es schien, kannte sie sich in dieser Gegend nicht ganz so gut aus.

„Wo kommst du ursprünglich her?“ Das war meine Gelegenheit, etwas über sie zu erfahren, ohne dass es zu neugierig wirkte. So wie es die Straße zuließ, sah ich sie an, Gott, sie tat mir so unglaublich leid. Für jeden Menschen, der diesen Weg gehen musste, empfand ich Mitgefühl, aber auf Grund ihres Alters machte es mich mehr als nur traurig. Tief holte sie Luft und schien in Gedanken genau dort zu sein. „Virginia.“ Flüsterte sie und ich dachte, ich hätte mich verhört. Das Krankenhaus, aus dem ich sie abgeholt hatte, war jetzt nicht die Klinik schlechthin und zwischen Virginia und Tacoma lagen nicht nur etliche Meilen, sondern auch zig bessere Kliniken. „Die Südstaaten, die haben herrliche Lavendelfelder.“ Irgendwas musste ich sagen und es das einzig Schöne, was mir zu ihrem Heimatort einfiel, vor Ewigkeiten hatte ich es mal im Fernsehen gesehen, HBO sei Dank. Entweder das oder die letzte Wahl des Oberbürgermeisters. Ihr Blick wurde wacher, wie es schien kannte sie die sagenumwobenen Felder. Es hatte den Anschein, ich könnte sie etwas aus ihrer Reserve locken. „Warst du schon mal dort?“ Mit großen, fast erwartungsfreudigen, Augen sah sie mich an. Kurz schüttelte ich den Kopf. „Nein, leider noch nie.“ So wie ihr Interesse geweckt wurde, verschwand es mit meinen Worten wieder und sie wandte ihren Blick ab.

„Dann hat deine Familie aber einen ganz schön weiten Weg vor sich.“ Ich versuchte, unsere kleine Unterhaltung nicht abreißen zu lassen. Ohne dass sie mich ansah, wurden meine Befürchtungen bestätigt und es jagte mir einen Schauer über den Rücken. „Ich habe keine Familie.“ Warum hatte ich nicht meine Klappe gehalten. Toll, dass ich sie an Dinge erinnerte, die sie nicht hatte und wie es schien, schmerzlich vermisste. Noch bevor ich mich für meine Aussage entschuldigen konnte, ergriff sie erneut das Wort. „Ich bin ´ne Waise.“ Betretenes Schweigen. Es hatte sie doppelt hart erwischt, abgesehen von der Krankheit, die sie das Leben kosten würde, war sie auch noch mutterseelenallein. „Aber sicher hast du einen Freund.“ Plapperte ich drauflos, ohne groß zu überlegen, was sonst nicht meine Art war. Als sie mich jetzt ansah, wechselte ihr Blick von traurig zu verständnislos und ich hätte mich einmal mehr für meine Worte selbst geißeln sollen. „Wie kommst du darauf? Weil ich so unglaublich schön bin?“ Mit offenem Mund sah ich sie an und sollte irgendwas sagen, am besten etwas Nettes, doch wollte ich nicht ins nächste Fettnäpfchen treten. Frauen Komplimente zu machen, war wie Topfschlagen auf einem Minenfeld. Sonst war ich eigentlich nicht so taktlos und um einiges sensibler. Aber gerade bei ihr redete ich mich um Kopf und Kragen. Mit jedem Wort machte ich es schlimmer, anstatt besser. Ihr fiel auf, dass ich etwas sprachlos war. „Wir müssen uns nicht unterhalten.“ Schnaufte sie leise und drehte mir etwas den Rücken zu, um nicht weiter meine Blicke ertragen zu müssen. Ich war so ein Idiot, sie sollte sich gut aufgehoben fühlen und wissen, dass sie gemocht wurde, aber ich versetzte ihr einen Schlag nach dem Nächsten unter die Gürtellinie. Gedanklich klopfte ich mir auf die Schulter, ´Toll gemacht, Jake´.

Mir fiel auf, es war egal was sie sagte, jedes Wort von ihr war so, emotionslos. An ihrer Stimme konnte man nicht erkennen, ob sie wütend, fröhlich oder genervt war, dafür sprachen ihre Blicke Bände und waren nicht Augen das Fenster zur Seele? Ein Blick genügte, um zu wissen wie es in ihr aussah. „Es tut mir leid.“ Stotterte ich vor mich hin, aber sie reagierte nicht auf das, was ich sagte und ich konnte es ihr nicht verübeln.

Vielleicht sollte ich mit meinen Fragen lieber in der Gegenwart bleiben, die Zukunft wäre nur ein weiterer Schlag ins Gesicht. Vielleicht sollte ich auch einfach meine Klappe halten. Wäre wahrscheinlich die beste Idee des heutigen Tages.

******

Die Eindrücke, die durch die Scheibe auf mich einprasselten verschwammen zu wirren Bildern und ich schloss die Augen, um mein Hirn nicht zu überstrapazieren. Anfänglich dachte ich, dass Jake ganz nett sei, aber wie es schien war er genau so ein unsensibler Bollerkopp, wie die meisten Menschen, die bis jetzt kennen gelernt hatte. Warum sollte gerade er anders sein? Es war ganz nett, dass er sich mit mir unterhalten wollte, aber wie hieß es so schön `Reden ist Silber, Schweigen ist Gold`. Eigentlich hatte ich ihm ein bisschen mehr zugetraut, da er tagtäglich mit Menschen meiner Art zu tun hatte. Na ja, wer weiß wie lange er schon dabei war, vielleicht war er noch ein blutiger Anfänger.

Nach fast zwei Stunden des Schweigens, fragte ich mich, wie lange wir noch unterwegs wären. Langsam aber sicher setzte das Hämmern meines Kopf wieder ein und ein paar Milligramm Morphium könnten Abhilfe schaffen. „Ist es noch weit?“ Presste ich durch die Zähne, lehnte mich nach vorn und drückte den Kopf auf meine Knie. „Noch gute zwei Stunden. Was ist mit dir?“ In seiner Stimme war die Sorge zuhören. „Kopfschmerzen.“ Stöhnte ich und drückte mit den Händen gegen meine Fontanelle. Ohne ein weiteres Wort fuhr er auf den Seitenstreifen. „Warum hast du nicht eher was gesagt?“ Murmelte er und griff in seine Jackentaschen, dann hinter meinen Sitz. In der einen Hand hielt er ein kleines Papiertütchen, in der anderen eine Flasche Wasser. „Die haben sie mir mitgegeben, für den Fall der Fälle.“ Etwas verlegen lächelte er, für diese Schmerzenskiller hätte ich ihn küssen können oder wenigstens seine unüberlegten Worte von vorhin verzeihen. Die Wasserflasche klemmte er zwischen seine Beine und friemelte das Tütchen auf. „Okay, ich bin weder eine Krankenschwester, noch ein Arzt, wie viele bekommst du sonst immer?“ Etwas hilflos sah er in das Tütchen und dann mich an. Schnell nahm ich es ihm aus der Hand, kippte ein paar der kleinen Pillen auf meine Handfläche, warf sie mir in den Mund und griff nach der Flasche.

„Ähh... waren dass jetzt nicht ein paar zu viel?“ Überlegte er laut, als ich das Wasser ansetzte und sie herunterspülte, mit großen Augen sah er mir dabei zu. Nachdem ich sie wieder abgesetzt hatte, sah ich ihn an. „Was soll passieren? Dass ich drauf gehe?“ Bitter lachte ich auf, drehte die Flasche zu und legte sie in den Fußraum, meinen Kopf bettete ich erneut auf meine Knie. Bis der Schmerz besser würde, war das eine Position, in der man es halbwegs aushielt. „Sollen wir weiter oder brauchste ein paar Minuten und ein bisschen frische Luft?“ In Jake schien doch eine fürsorgliche Seite zu schlummern. „Frische Luft wäre schön.“ Murmelte ich mit dem Kopf noch immer auf den Knien. „Dann ist der nächste Rastplatz unser.“ Flott legte er den ersten Gang ein und fuhr zurück auf den Highway.

„Hmm, schön ist was anderes.“ Sprach er leise zu sich selbst, als er den tristen Rastplatz nach einer Stelle absuchte, an der wir parken konnten. Es standen kaum andere Autos hier, doch die Wahl des richtigen Parkplatzes wurde durch wilde Müllkippen drastisch eingeschränkt und so wie es schien, wollte er auch nicht neben dem ziemlich schmuddeligen Toilettenhäuschen stehen. Als wir schon fast am Ende angekommen waren, fand sich doch noch ein einigermaßen annehmbares Plätzchen. Der Motor verstummte. „Wird es schon besser?“ Erkundigte er sich und legte seine Hand auf mein Schulterblatt. Mit dem Kopf noch immer auf den Knien, drehte ich ihn und sah ihn an. Wie kam er auf die Idee, mich einfach anzufassen? Mein Blick wanderte weiter, von seinem besorgten Gesicht zu seinem Arm, der immer noch auf meinem Rücken lag. Wie ich es tat, schien er zu kapieren, dass es mir nicht geheuer war und er zog ihn etwas hektisch zurück. Wahrscheinlich hatte er Angst, ich würde ihn abbeißen. Die Wärme seiner Hand hallte nach und machte mir bewusst, wie schön es sich anfühlte, von anderen Händen berührt zu werden. Unsicher sah er mich noch immer an, griff in seine Hosentasche und hielt ein Handy in der Hand. „Ich ruf kurz an, dass es später wird.“ Er wartete auf eine Reaktion, doch weiter sah ich ihn nur an. Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich es je geschafft hatte, jemanden zu verunsichern. Da ich den meisten sowie so egal war, gaben sie nichts darauf. Sollte ich mich täuschen oder schien Jake anders zu sein? Obwohl ich ihm auch egal sein konnte, er würde mich an meinen Bestimmungsort bringen und die Sache wäre für ihn erledigt. So war ich doch nur ein weiterer Auftrag, den er ausgeführte, wie so oft, nur eine Nummer.

Er lief ein Stück den Rastplatz entlang, der von hohen Bäumen gesäumt war, leise hörte ich ihn in einiger Entfernung reden. Die Motorengeräusche, der vorbei rasenden Autos und Trucks waren nervtötend. So stieg ich auch aus und sah mich um, vielleicht gab es hier irgendwo einen Platz, der nicht so hektisch und laut war.
Mein Blick blieb an den Bäumen hängen, die von der Straße wegführten. Sie waren hoch gewachsen, hinter ihnen erstreckte sich ein Waldstück, dicht stand Baum an Baum und ihre vollen Kronen verschluckten einen Großteil des Sonnenlichts. Wenn es auf den ersten Blick düster und wenig einladend wirkte, weckte es, aus mir unbegreiflichen Gründen, meine Neugier. Vorsichtig tat ich Schritt für Schritt, nach den ersten Metern drehte ich um und sah zurück zum Parkplatz. Grau, trist und laut, da zog ich die Dunkelheit des Waldes vor. Ich hatte keine Ahnung, ob das Morphium endlich wirkte oder ob es an der wunderbaren Ruhe des Waldes lag, aber mit jedem Schritt, den ich tat, ging es meinem Kopf etwas besser und ich verschwendete keinen Gedanken mehr an das, was mir bevor stand.
Die frische abgekühlte Luft ließ mich angenehm schauern, mit großen Schritten stieg ich über den wilden Farn, um ihn nicht platt zu trampeln. Als ich mich noch mal umdrehte, hatten die breiten Baumstämme die Sicht auf das Alltagsgrau verdeckt und der Wald lockte mich tiefer. Der Lärm wurde durch leises Gezwitscher ersetzt und ich atmete tief durch. Wie konnte sich, so dicht an diesem grauenhaften Highway, ein so schönes Fleckchen Erde befinden. Meine Beine gingen unaufhaltsam, ich brauchte sie nicht antreiben, sie liefen wie von allein. Aufmerksam sah ich mich immer wieder um, bewunderte die verschiedenen Grüntöne, versuchte die einzelnen Stimmen der Vögel zu sortieren, um ihnen genau zuzuhören. Auch die unterschiedlichen Gerüche waren eine abwechslungsreiche Wohltat, im Vergleich zu dem beißenden Desinfektionsmitteln der Klinik. Alles um mich herum war lebendig.

Keinen Gedanken verschwendete ich daran, dass Jake sich eventuell sorgte oder mich suchen würde. Ich war wie in einer anderen Welt, wie in meiner Welt, in die ich mich unzählige Male geträumt hatte. Niemandem wollte ich Eintritt gewähren, damit nicht zerstört wurde, was mich immer wieder auffing und auf ein Neues daran erinnerte, dass ich lebte. Der dichte Baumbestand wurde weitläufiger und gab den Blick auf eine grenzenlos scheinende Wiese frei, bewachsen mit wilden Blumen. Es sah so unwirklich aus, dass ich mich sicherlich in meinem Kopf befand und alles was mich um gab, nur ein Hirngespinst sein konnte. Doch bot meine Phantasie nie so eine Fülle an intensiven Farben.

Nachdem ich all die Schönheit, ausgiebig bewundert hatte, schlenderte ich weiter. Es irritierte mich, dass ich nicht unterscheiden konnte, ob es real oder fiktiv war. Doch sollte es mir egal sein, ich war hier und hier wollte ich bleiben, ob Wirklichkeit oder Traum. Mit jedem Schritt strich sanft das Gras, im Wechsel mit den Blumen, meine Beine entlang. Der Boden war mit Moosen überwuchert und gab unter meinen Füßen nach, als würde ich über Wolken schreiten. Vor mir breitete sich eine kleine Fläche aus, wie für mich gemacht, um nur einen Moment auszuruhen und in dieser Schönheit zu verweilen. Leise seufzend setzte ich mich und fuhr mit der Hand über das Moos, das kühl, aber nicht feucht war. Die Arme schlang ich um meine Beine und legte den Kopf auf die Knie. Mit geschlossenen Augen inhalierte ich die warme Luft mit all ihren Düften. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Falls ich nicht schon tot war, wäre dies ein Ort um zu sterben, friedlich und einfach perfekt. Langsam glitt ich zurück und streckt mich lang aus. Kein Krankenhausbett war so weich und bequem, wie dieses einfache Bett aus Moos. Die Zeit stand still, in Gedanken dankte ich Jake tausendfach, dass er mich hier hergebracht hatte.

„ERIN!“ Laut wurde mein Name gerufen, aber ich überhörte es geflissentlich. „Oh nein, bitte nicht.“ Vernahm ich Jakes entsetzte Stimme, die jetzt um einiges näher war. „Keine Sorge, ich lebe noch.“ Flüsterte ich mit geschlossenen Augen und wartete auf einen Hagel aus Vorwürfen und Beschwerden. Ich konnte hören, wie erleichtert er ausatmete und näher kam, einen Spalt öffnete ich die Augen und sah, wie er sich neben mich setzte. „Was macht dein Kopf?“ Seine Stimme war weder aufgebracht noch zornig, sie war weich, fast liebevoll. „Was machst du in meinem Kopf?“ Konterte ich mit einer Gegenfrage. Er machte ein nicht zu deutendes Geräusch und ich sah ihn an. Etwas irritiert erwiderte er es, als wartete er auf die Lösung des Rätsels. „Es ist so unwirklich schön hier, es kann nur ein Hirngespinst sein oder ein Traum oder ich bin doch schon tot und hab dich mit genommen.“ Meine Aussage ließ ihn lächeln.

„Fühlst du das?“ Vorsichtig strich seine Hand über meine und verbreitete erneut dieses warme und weiche Gefühl. Langsam nickte ich. „Du bist weder tot, noch träumst du.“ Seinen Blick ließ er schweifen, doch seine Hand blieb und strich unermüdlich über meine. Nein, es war nicht echt, es konnte nicht echt sein, es musste eine der anderen vorhandenen Alternativen sein. Warum sollte ich gerade jetzt einen Menschen treffen, der sich um mich bemühte? Oder war es gerade das´Jetzt´, dass ihn dazu veranlasste, mir die letzte Zeit so nett und einfach wie möglich zu machen. Wahrscheinlich beinhaltete sein Job diese netten Aufmerksamkeiten, schriftlich im Arbeitsvertrag festgehalten. Garantiert war es eine Vorschrift, die ihn so handeln ließ und weniger, dass er mich mochte. Warum sollte er mich auch mögen? Ich war weder nett anzusehen, noch reich, geschweige denn beliebt. So vereinte ich eigentlich die besten Eigenschaften, um übersehen zu werden, so wie sonst auch. Eine kleine graue haarlose Maus, die nichts zu bieten hatte, außer dass was keiner wollte, sich selbst.

„Du musst das nicht tun.“ Nickend zeigte ich auf seine Hand. Etwas zog er die Brauen zusammen und sah wieder zu mir. „Ist es dir unangenehm?“ Seine Frage verwirrte mich. „Ist es dir nicht unangenehm?“ Wiederholte ich seine Worte. „Wenn es so wäre, würde ich es nicht tun.“ Erwiderte er, ohne nachzudenken. „Du bist es nicht gewohnt, dass jemand nett zu dir ist, kann das sein?“ Der Kandidat bekommt hundert Punkte. „Es ist.... etwas ungewohnt.“ Untertrieb ich mit zögernder Stimme, denn so etwas war für mich totales Neuland. Fremdes Terrain, auf dem ich wahrscheinlich die einzige Achtzehnjährige war. „Zu ungewohnt, um sich vielleicht doch dran zu gewöhnen?“ Er stellte Fragen, auf die ich keine Antworten parat hatte. Kurz zuckte ich mit den Schultern, es wäre falsch, sich an etwas zu gewöhnen, das nur von kurzer, zu kurzer Dauer wäre. „Erin.“ Sagte er leise meinen Namen und holte mich aus meinen Spekulationen. „Ich kannte noch nie jemanden, mit diesem Namen. Etwas was dich einzigartig und somit zu etwas Besonderem macht.“ Etwas verständnislos sah ihn an. Wollte er mich verarschen? Denn genau so kam es mir vor. Doch wie er meinen Blick erwiderte und lächelte, hatte es den Anschein, dass er es tatsächlich ernst meinte. Es war nicht nur ungewohnt, dass jemand nett war, es war mir auch auf ein höchstes Maß unangenehm, da ich nicht damit umzugehen wusste. Mit Jakes Anwesenheit, mit seinen Worten, tat er dass, was ich immer versuchte außen vorzuhalten. Er zerstörte meine geliebte und gewohnte Welt mit netten, gut gemeinten Worten. Die Blumen verloren ihre schillernden Farben, der Wind wurde kalt, der Boden hart und der Himmel verdunkelte sich. Eine unsichtbare, fremde, unerwünschte Kraft, verbreitete ein hohles Gefühl in meinem Kopf und machte alles zunichte, doch wollte ich es nicht zu lassen. Ich wollte meine letzte Zuflucht nicht hergeben.

Mit Schwung setzte ich mich auf, entzog ihm meine Hand, um erneut meine Beine zu umfassen. Ihm blieb nicht verborgen, wie unbehaglich die Situation wurde. Und nicht nur das, mir wurde schwindelig, die sich verändernde Welt begann unaufhörlich, sich zudrehen. Kurz schloss ich die Augen, da es das ein oder andere Mal half. Aber nicht dieses Mal, die Veränderung war zu drastisch, zu umfassend, zu zerstörerisch. Langsam versuchte ich aufzustehen, das typische Fluchtverhalten. „Erin?“ Seine Stimme klang mechanisch verzerrt und nicht länger wie eine schöne Melodie. Meine Hände waren gefühllos, als wären es nicht länger meine. Ein Kribbeln, das von den Füßen hochstieg, bis es meine Brust erreichte und umklammerte, dass das Atmen mir schwer fiel. Jake war auf den Beinen und sah mich mit erschrockenen Augen an. „Es ist alles gut.“ Versuchte er mich zu beruhigen. Doch wie sollte man jemanden beruhigen, der das Gefühl hatte, bei lebendigen Leibe zu ertrinken. Ich wankte vor und zurück, meine Füße traten ins Leere und wollten mir keinen Halt geben. Er umfasste meine Seite, um mich zu stützen, doch war die von ihm ausgehende Wärme nicht mehr angenehm, sie brannte und bereitete mir unsagbare Schmerzen. Hätte ich meine Arme unter Kontrolle gehabt, hätte ich ihn versucht, wegzustoßen, aber sie bewegten sich nur noch kraftlos in Zeitlupe. „Mach keinen Scheiß. Ich möchte dich gerne noch ein bisschen besser kennenlernen.“ Presste er durch die Zähne. Etwas unverständlich gurgelte ich seinen Namen, er sollte aufhören Dinge zu sagen, die es nur noch schlimmer machten. Seine andere Hand griff unter meine Knie und er hob mich hoch. Schnellen Schrittes verließen wir den sich verdunkelnden Ort, der noch vor Minuten das Paradies war.

Tear down walls


Chapter 3

„Hey hey, sieh mich an..... Erin, na komm schon, du packst das!“ Etwas drückte rhythmisch, schwer und immer wiederkehrend auf meinen Brustkorb, dann wurde meine Wange getätschelt. „Hörst du mich?“ Jakes Gesicht hing dicht über meinem, als ich die Augen aufschlug. Erschrocken zog ich die Luft ein, als würde ich meinen ersten Atemzug tun. „Gott sei Dank.“ Flüsterte er fast atemlos. Kurz versuchte ich mich zu orientieren. Ich lag auf dem zurückgelassenen Beifahrersitz des Wagens und Jake saß über mich gebeugt. „Was war?“ Meine Stimme klang kratzig, fast heiser. „Du....., dein Herz.... stand still.“ Er machte einen ziemlich mitgenommenen Eindruck und sah völlig abgekämpft aus. „Und du......“ . Ich brauchte meinen Satz nicht beenden, er begann wissend zu nicken. „Herzmassage, Beatmung, wie aus dem Lehrbuch. Erfolgreich.“ Etwas lehnte er sich zurück und fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. „Passiert dir das öfters?“ Klar, immer wenn mich die Langeweile packte oder Menschen, die ich kaum kannte, mir viel zu schnell, viel zu nah kamen, jedes Mal dachte ich mir dann, ´Na komm wir machen uns einen Spaß und du hörst einfach mal auf zu schlagen´, der kam auf Ideen.

„Mund zu Mund Beatmung?“ Fragte ich vorsichtig und wusste nicht so recht wie das finden sollte? Ja, tot, aber doch die Contenance bewahren. Er schnaufte, dann nickte er lächelnd. Uahh, super, gut das ich bewusstseinstechnsich nicht anwesend war. „Danke.“ Brav tat ich, was sicherlich von mir erwartet wurde. „Nicht dafür, Full- Service!“ Lächelte er erneut und erhob sich endlich von mir. „Wie lange?“ Fragte ich knapp und meine Blicke folgten ihm. „Hmm?“ Machte er und rutschte auf den Fahrersitz. „Wie lange.... stand es still?“ Es war ein komischer Gedanke, dass mein Herz seine Arbeit eingestellt haben sollte. Noch mal holte er tief Luft und sah auf seine Uhr. „Ähh, puh, vielleicht ein oder zwei Minuten.“ Ich versuchte mich an irgendwas zu erinnern. Schon oft hatte ich etwas über Nahtoderfahrungen gelesen, aber erinnern konnte ich mich nicht an die vergangenen Minuten. Was mich dann doch viel mehr überraschte war, dass es in keinster Weise beängstigend oder verstörend war. Im Gegenteil, vielleicht hatte Jake mich so um einen Tod gebracht, den andere sich wünschten. Unerwartet, schnell, kampflos. Warum hatte er mich zurückgeholt? Ihm musste doch klar sein, dass es darauf hinaus laufen würde. Früher oder später. Vielleicht sollte ich ihm weniger dafür danken und ihm viel mehr vorwerfen, dass er es getan hatte.

„Okay, ich will ehrlich sein.“ Mit ernstem Gesicht sah er mich an und ich befürchtete, er würde mich in die nächste Klinik, die auf unserem Weg liegen würde, abschieben. Da es ihm zu heikel war, mit mir weiter zu fahren. „Ich habe weder einen Herzmonitor im Kofferraum, noch ein EKG- Gerät.“ Er machte eine kurze Pause und ich wartete nur darauf, dass ich mein Ende doch in einem grauenhaft sterilen Zimmer, in einer weiteren Klinik finden würde. „Ich hab keine Ahnung warum dass passiert ist oder ob es nochmal passieren wird.“ Resigniert wandte ich mein Gesicht ab und sah zur offenen Tür hinaus, nur um ihn nicht ansehen zu müssen. So wie es schien, war ich auch für ihn nur eine Last, ein schwer zu transportierendes Problem, womit er sich nicht weiter abmühen wollte. Verständlich.

„Erin, sieh' mich an.“ Bat er leise, seufzend kam ich seinem Wunsch nach. „Du musst meine Hand halten, damit ich weiß, dass es dir gut geht.“ Verwirrung machte sich bei mir breit und ich zog die Stirn in Falten. „Kein Krankenhaus?“ Fragte ich überrascht und sah ihn mit fassungslosem Blick an. „Nein.“ Sanft lächelte er und schüttelte leicht den Kopf. „Bis jetzt habe ich jeden nach Hause gebracht. Und dich bringe ich auch nach Hause.“ Selbstsicher griff er meine Hand und drückte sie leicht. Es erleichterte mich unsagbar, dass er nicht sofort aufgab und das Handtuch warf, sondern nach Lösungen suchte, die mir so viel bedeuteten. Für diese Seite an ihm, dass er so anders war, blieb mir nichts übrig, als ich ihm zu verzeihen, dass er mich zurück ins Leben geholt hatte. Alles was er tat und in meinen Augen nicht okay war, machte er mit darauf folgenden Taten wieder gut. Ich war mir sicher, dass nicht Netty Jones der Engel auf Erden war, sondern …...er. Vielleicht waren Engel weder blond, noch blauäugig, vielleicht hatten sie braune Augen und wild gegelte Haare.

Was wäre es schon für ein Opfer seine Hand zuhalten, wenn er der mir einzig bekannte Mensch war, der sich über mich den Kopf zerbrach. Sicher war es noch immer ungewohnt und es war nichts, nachdem ich lechzte, aber sollte ich ihm nicht allein die ganze Arbeit aufbürden, sondern meinen Teil, so gut es ginge, dazu bei tragen. Ich konnte nichts von ihm erwarten, wenn ich selber die Hände nur in den Schoss legte und er das Unmögliche vollbringen sollte. Kurz wollte ich ihm meine Hand entziehen, damit er den Wagen anlassen konnte, doch das ließ er nicht zu. „Das geht schon.“ Er verbog sich den anderen Arm, um an den Zündschlüssel zu kommen, zum Glück war es ein Automatikgetriebe, sonst hätte es interessant werden können. Etwas richtete ich mich auf, stellte den Sitz höher und zog die Tür zu. „Wenn irgendwas ist, egal was und wenn es nur ein Schluckauf ist, lass es mich bitte wissen.“ Seine Worte klangen nicht wie Bedingungen oder Regeln, nach denen ich mich zu richten hatte. Viel mehr bat er mich darum, wenn es sich nicht sogar etwas flehend anhörte. Kurz und für meine Verhältnisse fast energisch, nickte ich. „Okay, ab nach Hause.“

Nachdem wir eine weitere Stunde, ohne nennenswerte Zwischenfälle, hinter uns gebracht hatten, hatte ich mich schon einigermaßen daran gewöhnt und es war mir nicht mehr so unangenehm, ihn zu berühren. Er wurde auch nur einmal etwas panisch, als ich wegdöste und meine Hand schlapp in seiner hing. Doch als er in Stadionlautstärke meinen Namen gebölkt hatte, war ich wieder voll da und griff anständig zu. Diese Fahrt hatte er sich sicherlich auch anders vorgestellt. Wenn wir angekommen wären, würde er garantiert den Beruf wechseln und zum Bau gehen oder Rosen züchten. Früher oder später, schlug ich sie alle in die Flucht, ohne es zu wollen. „Ich bin so müde.“ Warnte ich ihn vor, dass er mich nicht wieder wach brüllte, falls ich erneut einschlief. „Unterhalten wir uns, wer redet kann, nicht schlafen.“ Versuchte er mich zu ermuntern, aber die Zeit im Auto forderte ihren Tribut. „Erzähl mir was von dir.“ Schlug er vor und ich schnaufte abwehrend. „Über mich gibt es nichts zu erzählen, eigentlich gibt es mich gar nicht.“ Die Verzweiflung trat ihren immer wiederkehrenden Siegeszug an. „Hmmm, wessen Hand halte ich dann?“ Seine Stimme klang so weich und er war mir wohl gesonnen. ´Die einer Toten´, lag es mir auf der Zunge, aber warum so gehässig, ich kam mir fast vor wie Jane, eine abschreckende Vorstellung. Da ich ihm die Antwort schuldig blieb, startete er ein kleines Fragespiel. „Was bist du für ein Sternzeichen?“ Das wurde ich tatsächlich noch nie gefragt. „Widder.“ Er kicherte. „Ein Dickkopf.“ Das kam schon ganz gut hin. „Und du?“ Er sah mich an. „Steinbock.“ Ich hatte keine Ahnung, was da die guten oder schlechten Eigenschaften waren. „Auch was mit Hörnern.“ Stellte ich fest und er nickte lachend. „Hmmm, deine Lieblingsfarbe.“ Setzte er zur nächsten Runde an. Ich schnaufte, waren dass Dinge, die ihn tatsächlich interessierten oder wollte er mich so nur von dem einschlafen abhalten. „Ähhh, dunkelrot, glaub ich.“ Er begann zu nicken. „Meine auch.“ Ich wusste nicht was ich ihn von mir aus hätte fragen sollen, da war ich etwas einfallslos. „Schuhgröße?“ War mehr oder weniger das Einzige, was mir einfiel. „Willst du das echt wissen?“ Lachte er und es steckte mich an. Seit einer gefühlten Ewigkeit lachte ich mal wieder und es war okay, es tat gut zu lachen. „Nein nicht wirklich.“ Gab ich glucksend zurück. Mit dem Daumen begann er meine Hand zu streicheln und gelegentlich erwiderte ich es.

Es war Mittag als wir ankamen, er hielt vor einem nicht ganz so großen Wohnkomplex, rot geklinkert, es sah noch ziemlich neu aus. Es war eingerahmt von unzähligen Blumenbeeten, die in voller Pracht standen, weitläufige Grünfläche mit großen schattenspendenden Bäumen. Vereinzelt betraten Menschen das Gebäude. Ich fragte mich ob sie auch wieder heraus kämen, ober ob mit Überschreiten der Schwelle sie sofort der Schlag träfe. Dieser Ort war mitten in der Pampa, ruhig und grün. Auch wenn wir unseren Bestimmungsort erreicht hatten und die Gefahr, dass ich den nächsten Abflug hinlegte, hier professionell hätte verhindert werden können, lag meine Hand immer noch in Jakes. Ich beugte mich etwas vor, um aus der Frontscheibe zusehen. Ein ungutes Gefühl beschlich mich, es war erdrückend, es machte mir Angst. Um Jake von seiner Verantwortung zu entbinden, versuchte ich meine Hand aus seiner zu nehmen, doch auch dieses Mal hielt er sie fest und wandte sein Gesicht zu mir. „Es war aufregend mit dir.“ Etwas betreten nickte ich und sah zu Boden. Er war doch so sensibel, dass ihm auffiel, wie unwohl es mir war. „Na komm, ich bring dich rein.“ Erst jetzt, als er seine Tür öffnete, ließ er meine Hand los. So ungewohnt es war, dass er sie hielt, war es jetzt fast ungewohnt, als er es nicht mehr tat. Hätte ich Einfluss darauf, wäre ich gerne tot aus dem Auto gefallen. So hätte ich wenigstens die letzten Stunden mit jemandem verbracht, der sich, wenn auch nur kurz, für mich interessierte. Was mich jetzt erwartete wusste ich nicht und mir fehlte die Vorstellungskraft, es mir auszumalen.

Mit meinem Rucksack über der Schulter marschierte Jake geradewegs auf den Empfang zu. Wie ich hinter ihm her ging, hatte ich das Gefühl immer kleiner zu werden. Die Dame hinter dem Tresen lächelte und grüßte Jake, der leise mit ihr sprach. „Erin und weiter?“ Fragte sie ihn, als ich neben ihm aufschlug. Fragend sah er mich an. „Wie ist dein Nachname?“ Unsicher sah ich zwischen den beiden hin und her. „Air.“ Gab ich kleinlaut zurück. „Das hat Sound. Erin Air.“ Bewunderte er meinen kompletten Namen. Ängstlich erwiderte ich seinen Blick. „Trish, Erin ist meine VIP Freundin, also das Beste ist gerade gut genug.“ Sagte er mit brummend tiefer Stimme und zog eindringlich eine Braue hoch. „Sehr wohl, Mr. Black.“ Lächelte Trish und kniff ihm ein Auge zu, im selben Atemzug überreichte sie ihm einen Zettel, wahrscheinlich war es die nächste Tour, die er erledigen musste. “Bye.“ War alles was Jake sagte. Kurz fuhr er über meinen Oberarm, stellte den Rucksack neben meine Füße, drehte sich um und verschwand. Etwas wehmütig sah ich ihm nach. Auftrag erfüllt und weg war er.

„Hallo Mrs. Air, ich bin Trish.“ Jetzt kam die offizielle Begrüßung. „Die Klinik hat uns soweit alle Unterlagen zukommen lassen.“ Lächelnd kam sie hinter dem Tresen hervor, schüttelte meine Hand und nahm meinen Rucksack. „Ich würde Ihnen gerne Ihr Zimmer zeigen, damit Sie sich ein bisschen ausruhen können.“ Hilfsbereit bot sie mir ihren Arm an, den ich dankend ablehnte. Während ich hinter ihr her ging, sah ich mich etwas genauer um. Es sah hier nicht aus wie ein Ort, an dem gestorben wurde, alles war im hellen Landhausstil eingerichtet, fast wie in einem Hotel in den Hamptons. Doch wie sahen Orte aus, an denen man starb. Wenn es soweit war, hatte man noch die Zeit zu wählen, wo es einem recht wäre? Inständig hoffte ich, dass es so wäre.

Es ging durch eine weitere Glastür, hinaus in einen kleinen, nett angelegten Garten. Immer wieder drehte sie sich um und lächelte. „Gefällt es ihnen?“ Kurz nickte ich, unser Weg führte uns weiter, in ein kleines Nebengebäude. Vor einer übergroßen, massiven, dunklen Holztür, die mit eingeschnitzten Intarsien verziert war, machte sie halt. Langsam drückte sie die schmiedeeiserne Klinke hinunter, unerwartet leicht und einfach öffnete sich, man konnte schon fast sagen, das Tor. „Ihr Zimmer.“ Strahlte sie und trat ein. Etwas skeptisch ging ich langsam näher und sah um den Rahmen ins Innere. Es sah aus, als hätten sie dieses Zimmer aus dem Louvre mitgehen lassen und hier wieder aufgebaut. Hölzerne Wandverzierungen aus Mooreiche, die Deckenhöhe schätzte ich locker auf drei oder vier Meter und wurde durch den verschnörkelten Stuck zum wahren Highlight. Dunkelrote Samtvorhänge hingen schwer neben den riesigen, bodentiefen Fenster. Überrascht von dieser Pracht ging ich hinein. Ein Himmelbett, riesengroß, stand auf einer kleinen Anhöhe. Weiter wurde dieses Zimmer von kleinen geschwungenen Kommoden geziert, einzeln wunderschön und filigran, im Detail zu bestaunende Lampen, standen auf ihnen. Doch der Ausblick toppte das Zimmer um Längen. Keine zweihundert Meter entfernt lag spiegelglatt ein See, von einer Seite umringt von unglaublich großen Trauerweiden. An der anderen Seite, reichte er in ein kleines Waldstück. Ich stand wie erstarrt und bewunderte diese Schönheit, die das Erste wäre, was man sah, wenn man morgens die Augen aufschlagen würde.

„Möchten Sie im Speisesaal essen oder lieber auf Ihrem Zimmer?“ Versuchte Trish mich aus meinen Gedanken zu reißen. „Hier.“ Flüsterte ich, es dauerte nur Sekunden, ehe ich erneut versank.

Die lange Fahrt hatte ihre Spuren hinterlassen, ein paar Schritte tat ich zurück, setzte mich auf das überdimensionale Bett und konnte überhaupt nicht fassen, an welch wunderschönen Ort, Jake mich einmal mehr gebracht hatte. Leise seufzte ich und hörte wie die Tür geschlossen wurde, ich war allein. Warum konnte mein Leben nicht so anfangen, wie es augenscheinlich endete. Vielleicht wäre es nicht verkehrt, wenn manches Leben rückwärts gelebt würde. So würden die positiven Erinnerungen überwiegen und einen sanft durch die schlechten Zeiten tragen. Langsam sank ich zur Seite, nur ein paar Minuten wollte ich ausruhen, um zu Kräften zu kommen und schlief ein.

In der Dämmerung schreckte ich hoch. Ein bedrückendes Gefühl, das meine Brust umklammert hielt, ließ mich tief die Luft einziehen. Meine Brust brannte, als hätte jemand ein Feuer in ihr entfacht, mein Herz schlug mir bis zum Hals und pochte laut in meinen Ohren. Mit der Hand fuhr ich mir durchs Gesicht. „Nur ein Gefühl.“ Versuchte ich mich mit meinen Worten zu beruhigen. Es dauerte einige Minuten, bis es besser wurde, mein Herz sich langsam beruhigte und das Brennen abebbte. Etwas wackelig stand ich auf und griff nach dem Schalter der Nachttischlampe. Das Zimmer wurde in gemütliches, beruhigendes Licht getaucht. Ich sah zur großen Standuhr, die leise vor sich hin tickte. Tick tack, tick tack, sie ließ mich hören, wie die Zeit erbarmungslos ablief. Es war halb fünf, aber wie konnte es um diese Uhrzeit so dunkel sein, es war Sommer. Bis mir klar wurde, es war nicht halb fünf am Nachmittag, es war halb fünf am Morgen. Wieder sollte ich so lang geschlafen haben, es verwunderte mich. Normalerweise müsste ich vor Kopfschmerzen durchdrehen, da ich meine täglichen Morphin Dosen verschlafen hatte. Wie es schien, war auch niemand hier gewesen um nach mir zusehen, es war nicht das Schlechteste, wie ich fand, so hatte ich meine Ruhe und konnte für mich sein. Seit ich hier war, verspürte ich weder Hunger, noch Durst, noch Schmerz.

Ich ging ums Bett, nahm meinen Rucksack, öffnete ihn und kippte den Inhalt aufs Bett, damit ich es in den riesigen sechstürigen Kleiderschrank räumen konnte. Wahrscheinlich würde ein Regal für meine wenigen Sachen ausreichen. Sicher ein jämmerliches Bild. Ich begann alles neu zu falten und war schnell damit fertig. Dann stand ich auf und öffnete die erste Tür. Fast hätte ich fallen gelassen, was ich in Händen hielt. Der Schrank war mit allem erdenklichen gefüllt. Ungläubig öffnete ich eine Tür nach der anderen und jedes Regal, jede Kleiderstange war gut bestückt. Konnte es sein, das es noch die Überreste meines Vorgängers waren? Meine Sachen legte ich auf den Boden und zog vorsichtig ein Oberteil aus dem Schrank. Es musste eine Vorgängerin gewesen sein, es waren definitiv weibliche Sachen, auch waren sie modern. Sie musste ziemlich jung gestorben sein. Ihre Größe stimmte zu meiner Verwunderung mit der meinen überein. Ich faltete es wieder zusammen und legte es zurück, meine spärlichen Sachen legte ich auf die gepolsterte Bank vor dem Bett, nahm meinen Tüten-Kulturbeutel und ging ins Bad. Im Gegensatz zu dem Zimmer war es modern und in einem schlichten Weiß gehalten. Doch bot sich hier das selbe verwirrende Bild, wie grade in dem Schrank. Das Bad war komplett mit sämtlichen Hygiene- Artikeln ausgestattet. Kleine gläserne Tiegel standen fein aufgereiht nebeneinander, gefolgt von den verschiedensten Parfumsorten und soweit ich es sehen konnte, schienen sie unbenutzt. Was ich auch aufdrehte, es war neu und der Inhalt unberührt. Entweder hatten sie sich vertan und mich in ein falsches Zimmer gebracht oder sie hielten mich fälschlicherweise für jemanden, der ich nicht war. Ich kramte meine Zahnbürste aus der Tüte und putzte mein Zähne, wusch mich, dann zog ich mich um. Nicht eines der schon vorhandenen Dinge benutze ich, es war mir nicht geheuer, es machte den Anschein, als wäre ich in ein Zimmer gebracht worden, dass schon jemand bewohnte. Die es augenscheinlich besser und luxuriöser im Leben hatte, aber doch mein Schicksal teilte.

Nachdem ich das Tuch um meinen Kopf gewickelte hatte, stand ich erneut vor den großen Fenstern und sah zum See hinaus. Nicht eine Minute länger hielt es mich hier, vorsichtig öffnete ich die Tür, die hinaus zur Terrasse führte. Es war ungewohnt, dass ich hingehen konnte, wohin ich wollte. Keine weißen Krankenhausmauern, die mich davon abhielten. Als ich hinaus trat, wehte der Wind, ungewohnt warm, dafür dass dichte Wolken, den heller werdenden Himmel in ein mittleres Grau tauchten. In der Mitte der großen Terrasse, die von einem breiten steinernen Geländer umzäunt war, führte eine eben so breite steinerne Treppe hinunter zur Wiese. Ohne auch nur einmal zurück zu blicken, ging ich sie hinunter. Ungewohnte Stille, nur das Rauschen der hohen Trauerweiden brachte Abwechslung. Wieder liefen meine Beine wie von selbst, es war weder anstrengend noch mühselig. Sie gingen als hätten sie nie etwas anders getan.

Kurz vor dem Ufer blieb ich stehen und ließ meinen Blick schweifen. Wenn das Wasser auch den grauen Himmel spiegelte, fühlte ich mich wider Erwarten gut. Ich fühlte mich das erste Mal in meinem Leben angekommen, konnte tun und lassen was ich wollte und wann ich es wollte. Nicht länger war ich fremdbestimmt. Wenn es sich nur so anfühlte und wahrscheinlich nicht der Wirklichkeit entsprach, so war ich doch ein Stück freier. Nur kurz schweiften meine Gedanken zurück in dieses grauenhafte Zimmer, dass ich mir mit Jane teilen musste. Nie hätte ich gedacht, dass ich es jemals wieder verlassen würde. Doch jetzt saß ich hier an diesem wunderschönen Ort. Wenn ich auch immer noch allein war, war es doch so tröstlich hier zu sein. Ein Ort so schön und unwirklich, dass ich nie gewagt hätte zu denken, das es so etwas tatsächlich für mich gäbe.

„Hier bist du.“ Erschrocken fuhr ich herum. Jake kam im Laufschritt näher. „Hast du gut geschlafen?“ Ich war überrascht, ihn wieder zusehen, felsenfest hatte ich damit gerechnet, dass er sich nicht wieder blicken lassen würde. Einmal mehr veränderte er das Bild, dass ich von den Menschen hatte und ganz besonders von....ihm. „Was macht dein Kopf? Und wie geht es dir überhaupt so?“ Eine Frage folgte der Nächsten, mir blieb kaum Zeit, die Erste zu beantworten. Er strotzte nur so vor Energie und Tatendrang. „So weit so gut.“ Versuchte ich alle seine Frage auf einmal unter einen Hut zu bekommen. „Sollen wir los?“ Verwirrt ruhte mein Blick auf ihm und ich wartete auf ein paar klärende Worte. Doch ohne die Situation aufzuklären, streckte er mir seine Hand entgegen. Wieder sah ich sie zögerlich an, aus Gewohnheit haderte ich. Wenn ich ihm schon das Äußerste an Vertrauen entgegen brachte, so dominierte noch immer mein Misstrauen. Wie sollte man gewohnte Verhaltensweisen in kürzester Zeit ablegen? Das gebrannte Kind scheute das Feuer. „Ich würde dir gerne etwas zeigen.“ Von seiner Hand sah ich auf, er strahlte etwas aus, dass nur schwer zu benennen war, fast als würde ihn Wärme umgeben. Da er sich die Mühe gemacht hatte mich aufzusuchen, war ich es ihm fast schuldig, mitzugehen. Ich ergriff sie, er lächelte beruhigend, warm weich und bekannt, umschloss seine Hand die meine. Langsam lief ich neben ihm her. Immer wieder sah ich zu ihm auf und musterte sein Gesicht. Die markanten Züge, seine braune Haut, das leichte Lächeln, seine Augen, glänzend, lebendig, in denen ich mich mich selber sah.

Wir liefen um das Gebäude, zu einen Parkplatz. Vor einem, etwas in die Jahre gekommenen, roten Golf blieben wir stehen. Er schloss die Beifahrertür auf und wollte mir beim Einsteigen helfen. Etwas wich ich zurück. „Ich kann doch nicht einfach abhauen!“ Tadelte ich seinen Versuch mit mitzunehmen, ließ seine Hand los und sah ihn entsetzt an. „Es ist in Ordnung, das hier ist kein Gefängnis, du kannst gehen wohin du möchtest. Alles ist möglich.“ Wie er es aussprach, kam ich mir vor wie Alice im Wunderland. Alles ist möglich, du musst nur fest genug daran glauben. „Vertrau' mir.“ Wie er diese Worte sagte und mich dabei ansah, geschah etwas tief in meinem Inneren. Zu gerne hätte ich genau das getan, ohne Vorurteile, ohne Misstrauen, ohne Angst, einfach nur blindes, grenzenloses Vertrauen. Mit der Gewissheit, dass er richtig für mich entscheiden würde, das er wüsste, was gut für mich wäre. Kurz wandte ich den Blick ab und sah hinter mich. Es war kein anderer Mensch zusehen, vielleicht lag es daran, dass es noch ziemlich früh war. Ich überlegte hin und her, wog das Für und Wieder ab.

Hier war er, der eine Mensch auf dieser Gott verdammten Erde, der sich bemühte, sich Gedanken machte und wie es schien, mich, aus mir unverständlichen Gründen, mochte. In der kurzen Zeit hatte er mir so oft die Hand gereicht, wenn auch nur um den Weg ein Stück gemeinsam mit mir zu gehen. Er war da, er wandte sich nicht ab als er es gekonnt hätte. Er kam zurück, um mich mitzunehmen.

Eine Wand, meterhoch, gespickt mit scharfen Dornen und einer Stacheldrahtkrone, unüberwindbar, aus Angst und Misstrauen. Wie sollte ich es schaffen und das tun, was er jeden Moment tat, den er bei mir war. Die Hand reichen und ihn das sein lassen, was er augenscheinlich versuchte anzustreben. Ein Freund. Warum sonst würde er sich diese Mühe machen?
Warum? Nie war ich es wert geachtet oder sogar geliebt zu werden, für das, was ich war. Aus welchem Blickwinkel sah er mich, dass ich für ihn etwas barg, dass ihm die Aufopferung wert war. Ich verstand sein Handeln nicht, es war mir nicht nur unbegreiflich, es war mir gänzlich unbekannt.
Wollte er mir gerade jetzt eine neue Sicht auf Welt eröffnen, unbekannt und doch so verlockend. Nur leider fast zu spät. Würde ich ihm dankbar sein oder ihn verfluchen? Fragen, auf die ich nur eine Antwort bekäme, wenn ich es wagen würde und den Mut aufbrachte, mit ihm zu gehen.

„Erin?“ Wie er mich rief, sah ich ihn an. „Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin doch bei dir.“ So unbedarft, fast kindlich naiv sprach er es aus und hatte so verdammt recht. Er war doch bei mir. Seine Worte hallten in meinen Ohren, in meinem Innern, wie ein heller Ton, der Glas zerspringen ließ, der Grenzen einriss und Mauern zu Fall brachte.

„Es wird dir gefallen.“ Versuchte er mich weiter zu überzeugen, doch war es nicht mehr nötig. Leise seufzte ich, tat die letzten Schritte und setzte mich seinen Wagen.

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Chapter 4

Etwas nervös und unruhig rutschte ich auf dem Sitz hin und her, während Jake uns sicher über die ewig langen Straßen dem Ziel näher brachte.
„Wo fahren wir hin?“ Immer wieder ging mein Blick suchend zu den Fenstern hinaus. In der Hoffnung, dass ich einen Hinweis fand. Er grinste geheimnisvoll, verriet aber nicht, wo die Straßen uns hinführten. „Wenn man Überraschungen verrät, wo bleibt dann die Überraschung?“ Breiter wurde sein Grinsen, doch mein Missmut wuchs. War es doch die falsche Entscheidung, mit ihm zu gehen? Machte er mir nur was vor, um mich dumm dastehen zu lassen, mit dem Finger auf mich zu zeigen, zu lachen, wie leichtgläubig, dumm und naiv ich wäre. Da war sie wieder, die Mauer aus Misstrauen, die sich Stein für Stein, stetig, fast unaufhaltbar, neu errichtete. In den meisten Fällen war eine Überraschung etwas, dem man freudig entgegen fieberte. Doch konnte ich dem Ganzen nichts Gutes oder Spannendes abgewinnen. Auch konnte ich die Mühe. die er sich machte, kaum wertschätzen. Die Menschen, die ich kennen gelernt hatte, taten nichts aus Nächstenliebe, sie waren berechnend und alles Tun, was auf den ersten Blick nach Aufopferung aussah, tarnte nur das Fordern einer Gegenleistung.

Von der Straße bog er auf einen schmalen Schotterweg, der in einen Wald führte. Jetzt schlug meine Schizophrenie wahre tsunamiartige Wellen. Was wäre, wenn er ein kranker Perverser war, der Gefallen daran fand andere zu quälen oder gar abzumurksen. Ich wäre ein so einfaches Opfer, nach dem niemand suchen würde und seine Tat bliebe auf ewig ungestraft.

Der Weg endete abrupt mitten im Wald. „Da wären wir.“ Noch bevor ich Einwände einlegen konnte, dass ich lieber wieder zurück wollte, war er ausgestiegen und reckte sich lautstark. Er ging ums Auto um mir die Tür zu öffnen, doch drückte ich den Kopf herunter. Verwunderte sah er ins Wageninnere. „Ist alles okay bei dir?“ Mit großen verängstigten Augen sah ich an und schüttelte den Kopf. Schnell reckte ich mich zur Fahrertür und verriegelte auch die. Überrascht und etwas hilflos, da der Schlüssel noch immer im Zündschloss steckte, hockte er sich neben meine Tür, verschränkte die Arme und lehnte sich dagegen. Starr sah ich geradeaus und traute mich nicht, ihn anzusehen.

Doch was sollte all das bringen? Ich konnte ja noch nicht mal mit diesem Vehikel umgehen. „Erin....“ Versuchte er sich mit ruhiger, geduldiger Stimmer Gehör zu verschaffen. Langsam kurbelte ich das Fenster ein Stück hinunter, wahrscheinlich weil ich meine zusammen gesponnene Schauergeschichte selber nicht glauben wollte, doch nur soweit, dass keine Hand hindurch passte. „Wie kann ich dich überzeugen, was muss ich tun, dass du mir dein Vertrauen schenkst?“ Hektisch jagte mein gesenkter Blick durch den dunklen Fußraum, auch in meinem Kopf jagten die Gedanken, die Wörter, wild durcheinander und vermischten sich zu entstellten Bilder, die abstrakt und sinnfrei waren. „Was haben sie dir getan, dass jeder Mensch in deinen Augen nur Argwohn verdient?“ Er wusste nichts von meinem vorherigen Leben, weshalb seine Frage durchaus gerechtfertigt war. Unruhig friemelte ich am Reißverschluss meiner Jacke. „Nichts haben sie getan.“ Flüsterte ich, aber ansehen konnte ich ihn noch immer nicht. Genau das war es, was die Menschen um mich taten, nichts und das war schlimmer, als wenn sie etwas falsches getan hätten. Wenn Nichts, zu noch mehr Nichts wurde, was bliebe dann?

„Ich würde gerne etwas für dich tun. Du musst mich nur lassen.“ Wieder nahm seine Stimme diesen bittenden Ton an. Anstatt, dass er die Schnauze voll hatte von meiner ewigen Missgunst, suchte er erneut einen Weg, um mir zu zeigen, dass man Unmögliches, möglich machen konnte und das Mensch nicht gleich Mensch war. „Ich mag dich Erin. Ich habe kein Problem damit, dich jeden Tag auf ein Neues, davon zu überzeugen.“ Als ich jetzt endlich auf und ihn ansah, lächelte er und hielt seine Finger durch den Schlitz der Scheibe. Eine kurze Zeit sah ich sie an, wie sie darauf warteten, dass ich sie berührte, um ihm zu zeigen, dass er die Chance verdiente, die andere hundertfach verspielt hatten.

Ich hatte so eine unsagbare Angst, wieder vor einer Mauer aus Ignoranz und Gleichgültigkeit zu stehen, allein, und mich für meine Naivität zu schämen, einmal mehr an ihr zu zerbrechen. Aber war es er, der vor Mauern stehen gelassen wurde, augenscheinlich ohne den Hauch einer Chance, sie zu überwinden.

Noch einmal wandte ich den Blick ab, selbst sprach ich mir gut zu und ohne erneut aufzusehen berührte ich zögernd seine Finger. „Möchtest du mit mir gehen?“ Mit gesenktem Blick nickte ich und zog mit der anderen Hand den Kopf hoch. Doch er öffnete sie nicht, er stand auf und wartete. Vielleicht hatte das Öffnen der Tür einen symbolischen Charakter, dass nicht er derjenige war, der sie öffnete, sondern ich ihm aus freien Stücken Eintritt gewährte und schlussendlich mit ihm ginge. Einmal mehr hielt er mir helfend seine Hand entgegen und einmal mehr griff ich nach ihr, damit er wiederholt ein Stück des Weges mit mir gemeinsam ging.

Wir ließen den Wagen hinter uns und es ging querfeldein durch den Wald. „Vertrauen muss man sich verdienen und du bist die Einzige, die weiß, dass ich es verdiene. Würdest du mir nicht trauen, würdest du dir nicht trauen.“ Kurz sah ich zu ihm auf, doch sein Blick blieb geradeaus gerichtet. Woher sollte gerade ich das wissen, ich kannte ihn doch kaum. Doch er schien von seinen Worten überzeugt. Er ließ meine Hand los, postwendend blieb ich stehen, als wäre er mein Antrieb, ohne den ich keinen Meter weiter käme. „Darf ich?“ Er trat hinter mich und hob seine Hand auf meine Augenhöhe. Allein schon der Gedanke, jemanden in diesem Ausmaß zu vertrauen, ließ mich innerlich zusammenzucken. Wenn sich auch alles in mir sträubte, nickte ich nur kurz und seine Hand nahm mir nicht nur die Sicht, sie verdunkelte alles. Mit seiner freien Hand nahm er erneut meine und führte mich sicher vor sich her, es war ungewohnt mit jemanden im Gleichschritt zu laufen. Es war nicht nur die übereinstimmende Bewegung, vielmehr als würden wir gemeinsam denken. Vor jedem kleinen Ast oder Hügel, der unseren Weg kreuzte, warnte er mich mit leisen Worten. Seine Stimme war ganz nah und seine Wärme, machte das ungute Gefühl etwas besser. Ein immer lauter werdendes Rauschen ließ mich genauer hinhören.

Der Boden unter meinen Füßen wechselte, die verworrene Struktur des Waldes ging in über in etwas weiches, das unter meinen Füßen zwar nachgab, aber mich dennoch trug. „Wir sind da.“ Flüsterte er und ich konnte hören, wie er lächelte. „Bist du bereit?“ Seine Lippen waren mir so nah, dass ich jedes Wort fühlen konnte. „Ja?“ Ich klang wenig überzeugend, viel mehr fragend. Vorsicht entfernte sich die Dunkelheit seiner Hand, doch hielt ich die Augen weiter geschlossen, aus gewohnter Angst, was mich erwarten würde. Auch wurde mein Griff um seine Hand fester, sie gab mir einmal mehr Halt.

„Du musst schon hinsehen.“ Ermutigte er mich. Kühler Wind umwehte uns und das erste Mal in meinem Leben roch ich das Meer. Ungewohnt salzig und doch so sehr geliebt. Langsam öffnete ich meine Augen. Es lag vor mir, endlos, wild, sehnsuchtserweckend. Nah rollten die Wellen fast bis vor unsere Füße. Ein leises Schluchzen stieg hoch, doch so kraftvoll, dass ich es nicht unterdrücken konnte. „Es ist so wunderschön.“ Flüsterte ich und warm liefen Tränen über meine Wangen. „Ein Herzenswunsch.“ Ich sagte es eher zu mir, als wollte ich mich bestärken. „Darum hab ich dich her gebracht.“ Brummte er leise, tat einen kleinen Schritt vor, so dass ich gegen ihn gelehnt stand.

Wie konnte er davon wissen? Wenn es mich Überwindung kostete, wandte ich den Blick ab, sah auf und ihn entgeistert an. „Woher wusstest du...“ Er lächelte und erwiderte meinen Blick. „Du hast es mich auf deine Art und Weise wissen lassen.“ Ungläubig schüttelte ich den Kopf und konnte mich an keinen vergangenen Moment erinnern, an dem ich es erwähnt oder angedeutet hätte. „Wir sind uns ähnlicher als du denkst.“ Seinen Blick heftete er erneut auf die tosende See, doch ich sah ihn weiter an, als hätte er mir die Büchse der Pandora geöffnet.

„Jake, das kann nicht.....“ Er unterbrach mich. „Hör genau hin. Hörst du den Wind, wie er flüstert. Er erzählt uralte Geschichten, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Für alle Träumer, für alle, die an etwas Gutes glauben. Für alle, die lieben und geliebt werden.“ Wie gebannt hing ich an seinen Lippen und lauschte seinen leisen Worten, als wären sie der Wind selbst. „Der Wind erzähl deine Geschichte, tief in dir glaubst du an das Gute, du liebst und du wirst geliebt.“ Ich nahm ihn nur noch durch den Schleier der Tränen war, er sollte nicht aufhören, er sollte immer weiter erzählen, denn ich glaube und liebte jedes seiner Worte. „Schließ' die Augen und hör ihm einfach nur zu.“ Und ich tat, was er mir zuflüsterte.

Eine kleine Ewigkeit, standen wir da und lauschten den alten Geschichten, die von Mut, Waghalsigkeit, Geborgenheit, Verzweiflung, Hass, Glück, Fröhlichkeit und der einen großen Liebe erzählten, sie waren älter als die Menschen, sie waren so alt wie der Wind.

Mit einem Mal ebbte der Wind abrupt ab, als hätte er uns alles wissen lassen, was wir für das Leben brauchten und jetzt läge es an uns, daraus lernen. Ich wollte die Augen nicht öffnen, mit dem Herzen sah man so viel besser. Hier hatte ich das Gefühl, ewig leben zu können, die Zeit stand still. Es gab kein Gut, kein Böse, es gab nichts Schlechtes, keine Angst. Es war ein neutraler Ort, der Hoffnung gab, der weise war und das Gefühl, wenn man nur wollte, konnte man alles schaffen.

Jakes Hand fuhr über meinen Arm und erlangte so meine Aufmerksamkeit. „Woher kennst du diesen Ort?“ Noch immer überwältigt von dem, was ich erfahren durfte, sah ihn mit großen Augen an. „Ich wurde hier geboren.“ Mit diesen seinen Worten stand es für mich fest. Er war....engelsgleich.

Noch immer sah ich ihn entgeistert an. Hätte ich mich und meine Körperteile in der Gewalt gehabt, hätte ich mich zu seinen Füße geworfen und ihm von Herzen gedankt. Dass er mich nicht nur gefunden und nach Hause gebracht hatte. Sondern dass er zurück kam und mich mit sich nahm.


Wir saßen im Sand und er brachte mich dazu, dass ich ihm von mir erzählte. Ich hatte keine Scheu mehr vor ihm, ich begann ihm zu vertrauen. Wenn ich sterben würde, so kannte mich jemand, so kannte er meine Geschichte, das Leben wäre nicht völlig sinnlos und ich würde nicht sofort in Vergessenheit geraten.
Ich erzählte ihm alles, Jake erfuhr auch von Jonah, wie sehr ich ihn mochte und wie früh ich ihn gehen lassen musste, auch dass ich ihm immer die Brüder Löwenherz vorgelesen hatte, wie auch an dem Tag, als er starb.
„Kennst du das Land, von dem Jonathan seinem kleinen Krümel erzähl, in dass der Kleine gehen wird, nachdem er gestorben wäre?“ Er sah mich an und nickte. „Nangijala.“ „Ja, ganz genau.“ Ich betrachtete sein Gesicht. „Jake?“ „Hmmm.“ „Versprichst du mir etwas?“ Prüfend sah ich ihn an. „Alles.“ Lächelte er, als könnte er mir keinen Wunsch abschlagen. „Bleibst du bei mir? Ich möchte nicht allein sterben.“ Sein Lächeln wurde tröstlich. „Selbst dann werde ich nicht von deiner Seite weichen.“ Es war beruhigend zu wissen er wäre da, würde meine Hand halten und ich würde in den Armen des einzigen Freundes, den ich zu Lebzeiten hatte, diese Welt hinter mir lassen. Kurz sah ich zu Boden und ließ den Sand durch meine Finger rieseln. „Bringst du mich nach Nangijala?“ Leise lachte er und sah auf. „Wohin du möchtest.“ Somit wurde ich sein Krümel. „Dich haben die Engel geschickt.“ Verlegen lächelte ich und wandte den Blick ab. „Nein, du hast mich zu dir gerufen......“ Ich sah irritiert wieder zurück. „Und ich werde erst wieder gehen, wenn du mich fortschickst.“

In einiger Entfernung vernahm ich leises Stimmengewirr, doch noch immer sah ich in sein liebes Gesicht.

„Hey Großer, auch mal wieder im Land.“ Jake sah über mich hinweg und grinste. „Musste doch mal nach dem Rechten sehen.“ Eine fremde Hand streckte sich von hinten über meinen Kopf, die Jake ergriff und ich den Kopf erschrocken einzog.
„Und nette Begleitung hast du auch mitgebracht.“ Ich wunderte mich arg über diese Bemerkung und drehte mich der tiefen Stimme entgegen. Keine Armlänge hatte er sich hinter mich gehockt, lächelte und sah mich aus neugierigen Augen an..

„Hey.“ Begrüßte er mich kurz und ich war kaum in der Lage etwas zu erwidern. Er hatte eben so dunkle Haare wie Jake, auch seine Augen waren braun, fast schwarz und dasselbe ehrliche Lachen. „Hey.“ Stammelte ich und glotzte ihn noch immer an. „Ich bin Sam.“ Er streckte mir seine Hand entgegen, die ich mit großen Augen ansah. „Ich nicht.“ Er fing an zu lachen und erst da wurde mir klar, was ich für einen Scheiß ich von mir gab. Jake setzte in das Lachen mit ein. „Ähhhh Erin.“ Verbesserte ich mich, schüttelte kurz den Kopf, damit ich wieder denken konnte und griff seine Hand. „Und Ähhhrin, wo kommst du her?“ Er setzte sich neben mich und wartete auf eine Antwort. „Von da.“ Ohne hinzusehen zeigte in Jakes Richtung und piekte ihm fast einen Finger ins Auge. Wieder kicherten die beiden. „Heavens Gate.“ Half Jake mir, damit ich mich nicht völlig zum Horst machte. Sam nickte, sein Lachen wandelte sich in ein kleines mitleidiges Lächeln.
„Erin ist eine Freundin.“ Überrascht sah ich zurück zu Jake. Es war ungewohnt, dass dieses Wort mit mir in Verbindung gebracht wurde.

„Sind die anderen auch hier?“ Fragte Jake und schien sich über diesen Überraschungsbesuch zu freuen. Auch ich fand es weder unpassend, noch hätte ich ihn fortschicken wollen, um mit Jake allein zu sein. Ihre Herzlichkeit machte sie beide unverzichtbar. Kurz schüttelte Sam den Kopf. „Jared ist bei Kim, Quil irgendwo mit Claire unterwegs. Dein ´Schwager´.....“ Sam begann zu kichern, Jake verdrehte genervt die Augen und schnaufte. „......keine Ahnung, wo der sich rumtreibt und Embry kam mir gerade entgegen. Habt ihr ihn nicht gesehen?“ Jakes Ausdruck wurde bedauerlich, er schüttelte den Kopf. „Leider nicht.“ Wie es schien war besagter Embry jemand, den Jake sehr mochte. „Ich muss gleich auch wieder los. Emily wartet schon auf mich.“ Diese Emily konnte sich glücklich schätzen, wie ich fand. Sam war...... perfekt, auf jeden Fall in meinen Augen. Großgewachsen, ein sehr schönes Gesicht, seine Art wie er auf mich zu ging, frei von Vorurteilen, er verbreitete nicht nur diese Herzlichkeit und Aufrichtigkeit, wenn er mich ansah und lächelte. Er hatte etwas Animalisches an sich. Seine Größe, die offensichtliche Stärke, in seinen Augen funkelte etwas Wildes und seine überaus nette Art machten ihn mehr als nur interessant.

Eine Weile blieb er und ich hörte ihrer Unterhaltung zu, es tat gut mal was anders zuhören. Andere Leben, mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sams Lachen war ansteckend, so wie es ertönte, konnte ich nicht anders und es riss mich mit.

Kurz und unerwartet setzte der Schwindel ein, den ich keine Minute vermisste hatte. Jake schrak hoch und war sofort an meiner Seite. Ich starrte vor mich hin, versuchte ihn zu verdrängen und nicht stärker werden lassen. „Soll ich einen Arzt holen?“ Fragte Sam verunsichert und sah mich prüfend an. Aber Jake schüttelte nur kurz den Kopf und winkte ab. Er setzte sich so dicht neben mich, dass ich mich an ihn lehnen konnte und er, wie selbstverständlich seinen Arm um mich legte.

Als es wieder besser ging, verabschiedete Sam sich. Ich wusste nicht, ob es ihm vielleicht Angst machte, dass ich jeden Moment das Zeitliche segnen könnte. „Machs gut. Wir sehen uns wieder.“ Lächelte er, nahm meine Hand ins seine, die unfassbar groß war. Er nickte Jake kurz zu, drehte sich um und ging. Etwas wehmütig sah ich dem starken, perfekten Sam nach. Dann schmiegte ich meinen Kopf wieder an Jake und sah zum Meer.

„Ist es okay, Angst zu haben?“ Flüsterte ich, ohne ihn anzusehen. „Alles, was unbekannt ist, macht uns Angst. Es ist menschlich.“ Tief brummte seine Stimme und sein Arm zog mich ein bisschen fest an ihn. „Was ist deine Angst?“ Hakte ich nach und sah ihn kurz an. „Wenn du aufhören würdest zu träumen.“ Jetzt erwiderte er meinen Blick. „Träume sind alles, was ich habe. Wie sollte ich je damit aufhören?“ Versuchte ich in zu beruhigen und lächelte. „Alles, was du hast. Und in deinen Träumen hast du mich.“ Er sah zurück zum Meer. „Nein, dich habe ich hier.“ Bestärkend schob ich meine Hand unter seine, die er leicht drückte und festhielt.

Still saßen wir noch so lange am Strand, bis es zu dämmern begann. Ich war müde und nickte immer wieder kurz ein, da ich es nicht gewohnt war, meinem Bett solang fern zu bleiben und die frische Luft sicher dazu beitrug. Wenn ich auch an Ort und Stelle hätte einschlafen können, so ging ich nur widerwillig mit Jake. Es war so schön, endlich am Meer zu sein und er mir meinen Herzenswunsch erfüllt hatte. Das würde ich ihm nie vergessen.

Der Rückweg war um einiges entspannter. Ich sah zum Fenster hinaus, wie die Welt vorbei zog und es war wahrlich wunderschön, wie die untergehende Sonne den Himmel in ein unbeschreibliches Rot tauchte. Es war so schön, dass man darüber hätte weinen können.

„Besuchst du mich morgen wieder?“ Abwartend sah ich ihn an, als wir die Treppe der Terrasse hinauf gingen. „Wenn du mich lässt.“ Grinste er und blieb stehen, beugte den Kopf und sah von unten auf. „Es wäre mir eine Ehre.“ Lächelte ich zurück und legte den Kopf schräg. „Bis morgen. Und sei da, nicht, dass ich dich suchen und daran erinnern muss, dass es mich gibt.“ Murmelte er leise, als er mich an sich drückte und ich es erwiderte. „Das werde ich.“ Noch einmal kuschelte ich mich fest an ihn und atmete seinen Duft ein. Mit dem letzten Schimmer der sich neigenden Sonne ging er und nahm seine beschützende Wärme mit.

Nangijala


Nangijala

Die Nacht war unruhig, ich träumte wirsches Zeug, von dem Krankenhauszimmer, aus dem Jake mich abgeholt hatte, immer wieder sah ich das Gesicht von Dr. Murphy vor mir und wie er mit mir sprach, doch verstand ich ihn nicht, nahm ihn nur verzerrt war, mein Kopf tat so unmenschlich weh und ich hatte das Gefühl, nicht richtig Luft zu bekommen. Es war einer dieser Träume, von denen man nachdem Erwachen nicht sicher sagen konnte, es war ein Traum. Als ich wach wurde, rang ich nach Luft, als würde etwas schwer auf meiner Brust lasten, sie brannte und stach, als versetzte man ihr elektrische Schläge. Immer wieder versuchte dieser Traum mich zurückzuholen, krampfhaft kämpfte ich dagegen an, versuchte mich wachzuhalten und dagegen zu wehren, fürs Erste erfolgreich.

Tief sog ich die Luft ein und sah mit aufgerissenen Augen zum Fenster hinaus. Der Himmel war grau wolkenverhangen und es regnete. Trotz dieser inneren Unruhe driftete ich immer wieder weg, mein Sichtfeld verkleinerte sich zusehends und ich konnte mich nur unter unmenschlichen Kräften wieder aus dem Schwarz heraus hangeln. Mir war komisch, etwas riss an mir, als wollte es mich mit sich nehmen, doch schien es noch nicht an der Zeit zu sein. Wie die Vorboten eines drohenden Unheils. Dunkel, angsteinflößend und Panik erweckend.

Mit schweren Gliedern rappelte ich mich hoch und lief im Zimmer auf und ab, um dem nicht zu erliegen. Ich wartete auf Jake, doch wie es schien, ließ er sich heute Zeit. Wieder merkte ich, wie mich die Kraft verließ, meine Augen zufielen, meine Beine zu zittern begannen und wieder zwang ich mich hoch und lief weiter. Noch nie hatte ich aufgegeben, wie schlimm es auch wurde. Immer habe ich mir eingeredet es würde weitergehen, so wie auch in diesem Moment. Wenn ich dem nachgeben würde, wüsste ich nicht was passierte und es machte mir Angst. Angst die so erschütternd an mir zerrte, dass ich sicher war, es war Todesangst. Ich musste nur durchhalten bis Jake endlich hier wäre, dann würde alles gut. Er war das Licht im ewigen Dunkel. Meine eigene Sonne, die nicht nur meinen Tag erhellte, sondern mich wärmte und mich wissen ließ, mit ihm an meiner Seite konnte mir nichts geschehen. Mit ihm zöge ich in jeden Kampf, den das Leben mir aufbürden würde. Mein Ritter in glänzender Rüstung.

„Hey Krümel.“ Erklang fröhlich, die geliebte Melodie seiner Stimme. Er war da, endlich war er da. Erleichtert seufzte ich und drehte mich zu ihm. Das liebe Lachen wich aus seinem Gesicht und es wurde besorgt. „Was ist mit dir?“ Noch bevor ich ihm antworten konnte knickten mir die Beine erneut weg. Mit zwei langen Schritten war er bei mir und stützte mich. Warm lagen seine Hände auf meinem Rücken und sein Gesicht, sah vor Sorge um Jahre älter aus. „Keine Ahnung.........ich.....irgendwas ist komisch.“ Er sah mich an, kurz zuckte er zusammen, als hätte er eine Ahnung, als kenne er die Vorboten. Fast panisch sah er sich um, als wartete er nur darauf, dass hässliche Dämonen aus den dunklen Ecken des Zimmers kriechen würden. „Wir müssen hier weg.“ Knurrte er leise. Noch nie hatte seine Stimme diesen Unterton und es trug nicht dazu bei, dass ich mich besser fühlte. Immer wieder sah er mich kurz an, doch behielt er die ganz das Zimmer im Auge, als würde es uns verschlucken, wenn er unachtsam wäre. „Jake........“ Wieder wurde mir schwarz vor Augen, aus meiner Kehle stieg nur ein unverständliches Gurgeln. „Erin, ERIN!“ Die Angst, die seine Augen verrieten, übertrug sich auf seine Stimme, sie wurde tief, fast grollend. „Sieh mich an! Nicht die Augen schließen!“ Es klang wie ein Befehl, er bat mich nicht, er forderte es. „Lass' dich nicht verführen, bleib bei mir. Sieh' mich an, sieh' mir in die Augen.“ Die Todesangst, die noch vor Minuten von mir Besitz ergriff, es war als wäre sie von mir auf ihn übergesprungen, denn jetzt hatte ich keine Angst mehr, Jake war da. Ruckartig schnappte er mich, öffnete die Terrassentür und lief mit mir raus, über die Wiese, am See vorbei, hinüber zum Parkplatz. Alles verschwamm immer mehr ineinander, zeitweise wusste ich nicht wo wir waren, doch war es egal. Solang Jake nur bei mir war.

Er stellte mich auf meine wackeligen Beine und versuchte hektisch, die Beifahrertür zu öffnen. Meine Arme waren kraftlos und hingen, wie unnötiger Ballast an mir hinunter. Ununterbrochen sprach er mit mir und redete auf mich ein, auch wenn ich mich noch so anstrengte, ich verstand ihn nicht. Als würde er in einer mir unbekannten Sprache zu mir reden. Müde versuchte ich den Kopf zu heben, um ihn anzusehen. In diesem Moment war er derjenige, der mir unsagbar leid tat. Er kämpfte gegen übermenschliches und ich war mir fast sicher, er wusste es. Dann sackte ich erneut zusammen und Dunkelheit umgab mich.

Als ich die Augen wieder öffnen konnte, saß ich neben ihm im Auto. „Wohin?“ Stammelte ich leise und aus müden Augen sah ich ihn an. „Dorthin, wo dir nichts passieren kann, wo du gerne bist, wo du dich unzählige Male hin geträumt hast.“ Seine Hand hielt meine, sein Blick wechselte immer wieder von der Straße zu mir, unruhig und rastlos, wie ein gehetztes Tier. Nie in meinem Leben gab es einen Ort an dem ich sicher war. Immer war ich allem und jedem schutzlos ausgeliefert, doch jetzt war es anders. Wenn ich vieles zum letzten Mal getan hatte, so tat er etwas für mich und es war das erste Mal. Ich war nicht länger ausgeliefert oder schutzlos, Jake beschützte mich, wie sein eigenes Leben.

„Erinnerst du dich noch, als ich dich zum Heavens Gate gebracht habe?“ Er sprach schnell und eindringlich, als bliebe ihm keine Zeit mehr, doch versuchte er zu lächeln, um mich zu beruhigen. Unglaubliches Leid sprach aus seinen Augen, als würde er mit mir, auch sein Leben lassen. Ich nickte. „Erzähl mir was, du weißt ja, wer redet, kann nicht schlafen.“ Er versuchte erneut zu lächeln und es sah so unglaublich gequält aus, es tat mir leid, ihn so zusehen. Wäre ich nur müde, wäre es ein Leichtes, seinem gut gemeinten Rat folge zu leisten. Aber ich fühlte mich, als müsste ich Schlaf für ein ganzes Leben nachholen. Immer wieder rief er mich laut und schüttelte mich, wenn ich Gefahr lief, tiefer in dieses betäubende Schwarz abzudriften. Mehr als Einmal, wünschte ich mir, ihn in den Arm nehmen zu können, um ihm beruhigende Worte zu zuflüstern. Das er sich keine Sorgen machen müsste und alles Leid, bald ein Ende finden würde.

„ERIN. Hey wir sind gleich da, wir haben es fast geschafft.“ Ich sah an ihm vorbei, sah die hohen, dichten Bäume und wusste, wo er mich hinbrachte. Er entschied richtig für mich, er wusste was gut für mich war, ich konnte ihm blind und grenzenlos vertrauen.

Abrupt hielt der Wagen, schnell sprang er heraus und war in Sekunden an meiner Tür, die er aufriss und mich schnappte. Tief sog ich die Luft ein, der Geruch des Waldes war beruhigend und nie roch es besser. Es war verheißungsvoll und nicht länger beängstigend.

Nach und nach, wurde das leise Rauschten der Wellen lauter, weich gab der Sand unter mir nach. Es hatte aufgehört zu regnen, einen Moment sah ich in den grauen Himmel über unseren Köpfen. Wir waren angekommen und er hielt mich in seinen Armen, müde lehnte ich meinen Kopf gegen seine Brust. Jakes Atem ging schwer und schnell, seine Hand zitterte, als sie über mein Gesicht fuhr. „Bringst du mich jetzt nach Nangijala?“ Er war verzweifelt und seine Brust bebte. „Es ist zu früh, sie wollen dich holen und dein Leid ginge weiter. Lass' sie nicht, wehre dich. Du kannst das, du bist stark.“ Zu lange musste ich stark sein, jetzt war ich am Ende meiner Kräfte angekommen. Leicht schüttelte ich den Kopf, ich verstand nicht, von wem er redete. „Es ist okay, mein Freund.“ Versuchte ich ihn leicht lächelnd mit dünner Stimme zu beruhigen. Ich hatte keine Angst, ich fühlte mich sicher und beschützt, es wäre in Ordnung wenn er mich einfach gehen lassen würde. Ein paar letzte, lieb gemeinte Worte, eine letzte Umarmung, ein letztes Lebwohl.

Leicht schüttelte er mich, meine Lider waren bleiern und gehorchten mir nicht länger. „Nein, nein, nein, das ist ein Trugschluss, sie locken dich. Es sind verdammte Lügner. Erin, nur ich kann dich nach Nangijala bringen. Sie sind Heuchler. Biitttte.“ Er flehte, er weinte und redete auf mich ein, aber ich hatte wie so oft, keine Wahl.

Ich fühlte noch, wie die warme Hand, meines einzigen Freundes, die meine drückte. Es war bedauerlich, dass diese Freundschaft nur so kurz währte und ich Jake nicht schon vor Jahren kennen lernen durfte. Mein Leben wäre so viel reicher gewesen, reicher an Wärme, an Lachen, an Vertrauen, an Erinnerungen. Er war so besonders für mich. Wie durch einen dichten Vorhang, war das Letzte was ich vernahm, wie er meinen Namen weinte.

Das Schwarz wurde immer dichter, als würde es mir die Luft zum Atmen nehmen, das Rauschen und die geliebte Melodie seiner Stimme immer leiser wurden.

Für einen Schlag setzte mein Herz aus.

„Mrs. Air, wenn Sie mich hören, versuchen Sie, meine Hand zu drücken.“ Diese Worte sprach eine wohlbekannte, aber wenig gemochte Stimme, doch tat ich, was sie mir sagte. Nach weiteren vergangenen Minuten schlug ich blinzelnd die Augen auf, der Anblick, der sich mir bot, verwirrte mich und machte mich orientierungslos. Dann wurde mir mit schauriger Gewissheit klar, wo ich war. In dem verhassten Krankenzimmer, das ich ursprünglich gegen das Hospiz und eine unverwechselbare Freundschaft eingetauscht hatte.

Doch wie konnte das sein? Panisch versuchte ich mich aufzusetzen, aber mein Kopf stach rücksichtslos auf mich ein, dass mir schwindelig wurde und ich fast bewegungsunfähig zurück sank. „Wo ist Jake?“ Flüsterte ich mit geschlossenen Augen und versuchte dem Schmerz stand zu halten. Dr. Murphy räusperte sich und macht ein nicht zu deutendes Geräusch. „Jake? Wer ist das?“ Er klang verständnislos. „Aus dem Hospiz.“ Versuchte ich es im inbrünstigen Ton der Überzeugung rüber zubringen, doch war es nicht mehr als ein Flüstern. Ich versuchte, die Augen erneut zu öffnen, die Helligkeit stach auf mich ein wie ein scharfes Messer. „Er war hier, er hatte mich mitgenommen und ins Heavens Gate gebracht.“ Laut seufzte der Doc, als müsste er durch ein weiteres lästiges Übel. „Mrs. Air........ bevor Sie abgeholt werden konnten, hatte sich ein kleines Blutgerinsel in Ihrem Kopf gelöst und Sie lagen eine geschlagenen Woche im Koma. Hätte Sie jemand mitgenommen, wäre es uns bestimmt aufgefallen.“ Sein arroganter, überheblicher Ton war zum Kotzen. Wenn ich das nicht glauben wollte, so waren seine darauf folgenden Worte ein wahrer Schlag ins Gesicht. „Sie waren nie weg und das Heavens Gate gibt es nicht, sonst wüsste ich davon und ein Jake war auch nie hier, sie hatten noch nie Besuch.“ Er machte ein abwertendes Geräusch, kehrte mir den Rücken, verließ das Zimmer und mich verstört zurück.

Wie fühlte man sich, wenn die Welt, mit dem Menschen, der mich mochte und wertschätzte, gar nicht existierte? Wenn es Jake und seine Freundschaft zu mir nie gegeben haben sollte, warum hallte noch immer der Klang seiner wunderschönen, unverwechselbaren Stimme in meinen Ohren, `Sie sind Lügner, Heuchler, lass' dich nicht verführen, sie verlängern dein Leid, bleib bei mir, du bist stark, wehre dich, du kannst es´, es machte mich so unsagbar traurig, dass ich wünschte, mein Herz stünde still.
Erst jetzt ergaben viele seiner Worte einen Sinn.
`Du weißt, dass ich dein Vertrauen verdiene`,´Würdest du mir nicht trauen, würdest du dir nicht trauen`, ´Du hast mich zu dir gerufen´. Seine unglaubliche Geduld, sein Wissen, dass ich mich ans Meer gewünscht hatte und er sagte, dass ich es ihm auf meine Art und Weise gesagt hätte. Er kannte Nangijala und wollte mich dort hin bringen. Seine mir unbekannte sanfte Art, wie er auf mich zu ging, wie er mit mir sprach, mir seine Hand reichte und den Glauben an mich nicht verlor. Ja, einfach zu schön, um wahr zu sein.
Es war kaum vorstellbar, dass das alles nur meinem Hirn entsprungen war. Doch wie ich schon wusste, in meinem Kopf war ich frei.

Nie hatte ich von Dr. Murphy geträumt, wenn ich meinte ihn in meinen Träumen vor mir zusehen, waren dass die einzigen Momente in denen ich wach war. Eine Vorstellung die grausamer war, als mein komplettes vorheriges Leben.

Kraftlos drehte ich mich zum Fenster. Graue Wolken, Regen, Weltuntergangstimmung, ein gewohnter Anblick, mit einem Unterschied. Es war eine Welt untergegangen, meine Welt.

Nach ein paar quälend langen, einsamen Stunden kam die Schwester zurück und brachte mir etwas zu Essen und erkundigte sich, wie es mir ginge. Doch der Hunger blieb verschwunden. Ich starrte weiter zum Fenster hinaus, wenn die Dunkelheit auch nicht mehr zuließ, dass ich etwas erkennen konnte, so versuchte ich unermüdlich, mir Jake liebes Gesicht vorzustellen, das warme Gefühl herauf zu beschwören, wenn er bei mir war. Einmal mehr wollte ihn zu mir zu rufen. Wollte er doch erst gehen, wenn ich ihn fortschickte. Aber war nicht er derjenige, der ging, ich war es und vermisste ihn in einem Ausmaß, dass es körperlich Folter gleichkam, als hätte jemand ein riesiges Loch in mein Herz gerissen, das nie wieder verheilen würde. Tonnenschwer lag die Welt auf meinen Schulter.

„Wie spät ist es?“ Fragte ich die Schwester, bevor sie das Zimmer wieder verließ. „Es ist kurz vor acht.“ Etwas näher trat sie an mein Bett. „Wundern Sie nicht, falls Ihre Brust noch etwas wehtut, wir mussten Sie vor ein paar Stunden reanimieren, Ihr Herz hatte einfach aufgehört zu schlagen. Kurz waren sie ansprechbar, sind dann aber wieder für ein paar Stunden in ihren vorherigen Zustand zurück gefallen.“ Mitleidig lächelte sie und verließ mein Zimmer. Ich konnte kaum denken, so schrecklich quälte mich ein Kopf, fast war es ungewohnt, da es mir die letzten Tage so gut wie nie ging.

Ich wollte weder essen, noch trinken, noch leben. Wenn mein Leben schon immer schwierig und schwer zu bewältigen war, verließ mich gänzlich der Wille, es noch länger aushalten zu wollen. Die Verzweiflung, die ich fast wie einen alten Freund begrüßen konnte, fand ihren Weg zurück und lag bleiern auf meiner Seele. Ich wollte mich einfach in Luft auflösen, einfach nicht mehr da sein, nicht mehr leiden müssen.

So hoffte ich, dass der Schlaf, wenn auch nur für diesen Moment, alles von mir nehmen würde. Die Dunkelheit vor meinen Augen ließ mich eintauchen und verschluckte mich. Dann ein Ruck, dieses Hochschrecken, wenn man kurz davor war, in die Welt der Träume zu flüchten.

Es war so leise, kein Geräusch war zuhören, noch nicht mal das Schlagen meines Herzens. Die Schmerzen gingen und erlösten mich fast mit Leichtigkeit. Ich wollte ewig schlafen, so beruhigend lag die Dunkelheit auf mir. „Krümel.“ Ertönte leise die geliebte Melodie. Erschrocken riss ich die Augen auf, das kleine weiße Licht der Nachtlampe schenkte mir Gewissheit.

Ich blinzelte und rieb mir durch die Augen, ich konnte nicht glauben, was sie mir versuchten vor zu machten. Langsam schloss er die Tür hinter sich und trat in den schwachen Schein der Lampe. „Jake?“ Das gewohnte liebevolle und tröstliche Lächeln umspielte seinen Mund. Leise schluchzte ich und hielt mir eine Hand vor den Mund. Um ganz sicher zu gehen, dass ich nicht träumte, schloss ich kurz die Augen, um ein zweites Mal aufzusehen. Und er war da.
„Du bist hier?“ Hauchte ich und einmal mehr war ich völlig durcheinander. Nickend kam er näher. „Ich sollte dich nach Nangijala bringen.“ Erinnerte er mich an meine Worte und sein Lächeln wärmte mich. Mit offenem Mund bewunderte ich sein Näherkommen.

„Du siehst hübsch aus.“ Brummte seine tiefe Stimme und seine Hand griff neben mein Kinn, er zwirbelte eine braune Locke um seinen Fingen. Überrascht sah ich ihm dabei zu und fragte mich, wo sie herkäme. Mit großen Augen sah ich ihn an. „Wunderschön.“ Lächelte er erneut. Zögerlich hob ich eine Hand und fuhr mir über den Kopf. Der nicht wie gewohnt spiegelglatt war, sondern von dichten Haaren bedeckt. Meine Hand fand an seiner Ruh und ich schmiegte meine Wange hinein „Wo warst du?“ Warf ich ihm mit zitternder Stimme vor. Kurz sah er zu Boden, dann wieder zu mir. „Du warst noch nicht soweit. Dein Kopf musste noch lernen was dein Herz schon wusste.“ Etwas drückte er meine Hand und es fühlte sich so vertraut an. „Wirst du wieder gehen?“ Ich hatte furchtbare Angst vor der Antwort, auf diese wichtige Frage. Nicht nochmal würde ich es überstehen, wenn ich ohne ihn zurück bliebe. „Das werde ich.“ Etwas beugte er sich über mich und küsste meine Stirn. Kurz schloss ich die Augen und Tränen rannen über meine Wangen, ohne dass ich es hätte verhindern können. „Und du auch.“ Vervollständigte er melodisch seinen Satz. Hoffnungsvoll sah ich wieder zu ihm auf.

Hinter ihm nahm ich eine kleine Bewegung war, etwas lehnte ich mir vor um, um ihn herum zusehen. Jake tat ein paar Schritte zurück. Hinter ihm stand ein kleiner Junge, braune wache Augen, braunes volles Haar. „Hallo.“ Grüßte ich ihn fragend und er strahlte mich an, als wäre ich ihm das Liebste. „Du hast mich lange warten lassen.“ Kicherte er und versteckte sich mit einem Satz wieder hinter Jake, den ich überrascht ansah. „Sag bloß, du kennst mich nicht mehr.“ Sang sein glockenhelles Stimmchen, er sprang aus Jakes Schatten und zog eine Grimasse. Einen Moment überlegte ich und betrachtete ihn, dann schüttelte ich ratlos den Kopf. „Oh, oh Erin.“ Sang er erneut und Jake kicherte leise über meine mangelnde Erinnerung. „Soll ich dir auf die Sprünge helfen?“ Bot der kleine Wirbelwind seine Hilfe an. „Das wäre sehr nett.“ Erwiderte ich und hatte keinen Plan, wer das niedliche Kerlchen war. So wie er gerade noch herum sprang, stellte er sich neben Jake und nahm seine Hand. Aufrichtig sah er mich an.

„Jetzt will ich von meinem Bruder erzählen, von ihm, Jonathan Löwenherz, will ich erzählen. Es ist fast ein Märchen, finde ich, und ein klein wenig auch wie eine Gespenstergeschichte, und doch ist alles wahr. Aber das weiß keiner außer mir und Jonathan.“ Er zitierte die ersten Sätze der Brüder Löwenherz. „....aber das weiß keiner außer mir und Erin.“ Ergänzte er es leise mit seinen eigenen Worten. Ein Schauer jagte mir über den Rücken und meine Augen weiteten sich ungläubig.

„Jonah?“ Fragte ich mit zitternder Stimme. Sein kleiner Mund verzog sich erneut zu einem strahlenden Lächeln. Er ließ Jakes Hand los, lief auf mich zu und schlang seine kleinen, dünnen Ärmchen um mich. „Du hast mich nicht vergessen.“ Flüsterte er und drückte seine Wange an meine. Tränen der Freude stiegen hoch. „Wie sollte ich, mein kleiner Jonah. Du warst alles, was ich hatte.“ Leise schluchzte ich, nahm sein wunderschönes kleines Gesicht in meine Hände und mit dem Wissen sah ich den kleinen kahlköpfigen kranken Jungen von damals. Sanft küsste ich seine Wange und er drückte mich ein bisschen fester. „Ich hab dich lieb, Erin.“ Flüsterte er so leise, dass nur ich es hören konnte. „Ich hab dich auch lieb, kleiner Jonah.“ Vorsichtig wischten die kleinen Händchen, die Tränen von meinen Wangen.

„Nangijala wartet, wie auch die Abenteuer, die erlebt werden wollen.“ Lachte Jake. „Jaaaaaaa.“ Rief Jonah, sprang auf, öffnete die Tür und lief, laut und vor Freude glucksend, hinaus. Ich sah ihm nach, bis er verschwunden war.

„Komm Erin, es ist Zeit.“ Jake streckte mir seine Hand entgegen, ich ergriff sie, so dass wir auch das letzte Stück dieses langen Weges zusammen gehen konnten.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 07.05.2012

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