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Die kleine Friedhofskirche war überfüllt. Ich saß, wie alle nahen Verwandten, in der ersten Reihe der Kirchenbänke und blickte auf den unter Blumen kaum zu erkennenden Sarg. In meiner Jackentasche raschelte der Zettel, den mir meine Mutter am Vormittag gegeben hatte. Es war eine Liste mit den Hinterlassenschaften meines Großvaters. Bis zum Abend sollten mein Bruder und ich uns überlegen, was wir davon gebrauchen könnten, der Rest würde beim Trödler landen, da die Wohnung in einer Woche geräumt sein musste.
Der Pfarrer beleuchtete die Lebensstationen meines Großvaters. Schon komisch, selbst als Toter noch am Arbeitsplatz sein zu müssen, schoss es mir durch den Kopf. Großvater war Kirchner, eine Art Hausmeister für die Kirchen, vereinfacht gesagt.
Hier in der kleineren Friedhofskirche gab es nur im Winter Gottesdienste. Die Tafeln für die Liederanzeigen hingen so tief, dass ich als Kind auf die Bänke klettern konnte und die Zahlen einschob, während Großvater die Heizung anstellte und die Kelche für den Wein blank polierte. Am Ende des Gottesdienstes stolzierte ich, mit einem dieser in Holz gefassten schwarzen Samtbeutel durch die wenig besetzten Bankreihen und durfte die Kollekte einsammeln. Ich hatte auch einen Lieblingspfarrer, der mir oft kleine Sammelbildchen zusteckte. Obwohl die Kärtchen sogar aus dem Westen waren ärgerte ich mich, denn ich bekam sie in der Schule nicht gegen Indianerbilder eingetauscht.
Die Orgel spielte bereits die ersten Takte und ich hatte mein Liederbuch noch nicht aufgeschlagen. In meiner Tasche raschelte der Zettel mit den Habseligkeiten meines Großvaters. Ich brauchte weder Zimmerpflanzen, noch Weingläser, Volksmusikschallplatten und einen Fernseher hatte ich mir auch gerade erst gekauft, stellt ich fest. Ich versuchte die erste Strophe des Liedes in der oberen Stimmlage zu singen. Bald gab ich verzweifelt auf und brummte eine Oktave tiefer mit. Wieso können Kirchenlieder nicht in einer normalen Stimmlage komponiert sein- immer bekommt man ein schlechtes Gewissen, dass man nicht wohlklingend genug lobpreisen kann.
Im Sommer fanden die Gottesdienste in der größeren Frauenkirche im Stadtzentrum statt. In meinem Sonntagskleid fror ich regelmäßig in dem kalten Gemäuer. Ich versuchte die Gänsehaut weg zu rubbeln, während Großvater die Tafeln für die Lieder einschob, die für mich hier zu hoch hingen. Ich saß ein Weilchen in Höhe der Kanzel, in einer der Holzbänke und betrachtete die bunten Bleiglasfenster. Wenn ich Glück hatte schien die Sonne und die Farben leuchteten märchenhaft. Von den Glasbildern gefiel mir Maria am besten, mit ihrem schicken blauen Umhang- so einen wollte ich zu Fasching auch haben. Doch schnell wurde ich ungeduldig und rannte, verfolgt vom Echo meiner klappernden Sandalen, zu Großvater, der am Altar noch Blumen und Kerzen arrangierte. Es schien ewig zu dauern, bis wir endlich gemeinsam die Treppe des Kirchturms hinauf stiegen. Die breite, schon ausgetretene Steintreppe bis zur Orgelempore lief ich noch an Großvaters Hand. Dann begann die Holztreppe, die ich wie ein Affe, teils auf allen Vieren hinauf kletterte. Ganz zu Letzt waren es fast nur noch Leitern und ich musste mich vorsehen, um nicht in einen der weißen, von Tauben hinterlassenen, Kleckse zu fassen. Auf der obersten Sprosse wartete ich auf Großvater, bei dessen schweren Schritten die Holzstiegen zu stöhnen schienen. Ganz allein traute ich mich nicht durch das schlafende Volk der Fledermäuse, das im Dachgebälk hing. Hatte sich da nicht gerade ein Flügel bewegt, war da nicht ein schniefen zu hören? Ich rannte bis in den kleinen Raum, in dem sich das Uhrwerk befand. Meine Kraft reichte gerade, um die eiserne Kurbel zum Aufziehen eine halbe Umdrehung zu bewegen. Wenn Großvater das Kurbeln übernahm knackten die Zahnräder und es klang, als wäre die Uhr nur wiederwillig bereit weiterhin die Stunden anzuzeigen.
Und jetzt saß ich wieder einmal auf einer Holzbank und der Pfarrer war endlich beim Schlusswort angekommen. Ich versuchte mich mehr auf das Begräbnis zu konzentrieren, schließlich wollte ich meinen Großvater nicht blamieren.
Am Abend, nach einem viel zu üppigen Leichenschmaus, versammelte sich die Familie noch einmal in Großvaters Wohnung. Unentschlossen blickte ich auf den Zettel, den ich im Laufe des Tages mehrfach auseinander und zusammen gefaltet hatte. Ich brauchte nichts von der langen Liste, hätte jedoch gern etwas als Ergänzung zu meinen Erinnerungen gehabt. Mutter meinte, ich solle mich doch einfach in der Stube umsehen, vielleicht fände ich ja doch etwas. Sie hatte alle Dinge säuberlich aufgebaut, wie bei einer Tombola oder einem Antiquitätenmarkt. ’Tut mir leid Großvater, ich brauche deinen alten Krempel nicht.’, dachte ich. Da fiel mein Blick auf vier langstielige gravierte Gläser. Sie waren aus blauem Glas und die Lampe leuchtete gerade so, dass sie mich an den Umhang von Maria in der Frauenkirche erinnerten. Sicher wunderte sich meine Mutter, dass ich mich gerade für die Gläser entschied, aber Großvater hätte es sicher gefreut und so denke ich ab und an bei einem Gläschen Wein an ihn und meine Kindheit.


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Tag der Veröffentlichung: 01.02.2009

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