Ich saß im Zug und hoffte in wenigen Stunden mein Urlaubsziel zu erreichen. Niemand im Wagon sprach mehr Deutsch, und so störten mich auch die angeregten Gespräch der Mitreisenden nicht. Die unbekannte Sprache klang für mich wie eine Hintergrundmelodie, welche gemeinsam mit dem Geruckel und Gezuckel der Eisenbahn den Alltag aus meinem Körper vertrieb. Ich las oder döste vor mich hin, bis wir zu einer kleinen Ortschaft kamen, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe.
Der Zug schickt sich an, den Bahnhof zu verlassen, als er mit einem unnatürlich starken Ruck wieder zum Stehen kommt. Mein Buch rutscht über den Tisch und fällt zu Boden. Mist, jetzt darf ich wieder nach der richtigen Seite suchen! Außerdem ist das Buch nur geborgt. Ich bin nicht die Einzige, die über das unsanfte Bremsmanöver schimpft. Die alte Dame an dem Tischchen auf der anderen Seite des Ganges tupft sich Kaffeeflecken von ihrem dunkelgeblümten Kleid. Weiter vorn ist sogar eine Tasche aus dem Gepäcknetz geflogen. Ein kleines Mädchen heult. Alle warten auf den erneuten Ruck, der, sanfter natürlich, die Weiterfahrt bedeuten würde.
Vom Bahnsteig her dringt ein hysterischer Schrei zu uns in das Großraumabteil, gefolgt von weiteren kläglichen Lauten. Was ist los, was ist passiert? Ich sitze auf der anderen Seite, sehe nur, dass sich auf dem Bahnsteig einige ratlos blickende Menschen sammeln. Neugierige verzieren die Scheiben mit Finger- und Nasenabdrücken, weil die Fenster sich nicht öffnen lassen. Ich versuche zu lesen, kann mich aber nicht konzentrieren. Warum denkt man immer gleich an das Schlimmste? Ein Selbstmörder wird sich doch kaum auf dem Bahnhof unter den Zug legen. Die anderen Passagiere wissen auch nichts genaues, wenn ich den Tonfall der Gespräche richtig deute. Mein Kopf wird wie von einem Magneten immer wieder in Richtung Bahnsteig gedreht. Ich sehe nicht viel. Eine ältere Frau steht verheult da und streicht sich mit einer Hand, in der sie das Ende einer Hundeleine hält, mehrmals die Haare aus dem Gesicht. Es ist nutzlos, die Haare folgen der Schwerkraft, sobald sie wieder nach unten blickt. Das andere Ende der Leine bleibt für mich unsichtbar. Könnte gut sein, dass der Köter unter die Räder gekommen ist. Die Frau sieht aus, als hätte sie einen dieser Staubwedel, dieser unnützen gezüchteten Modehunde an ihrer Leine gehabt. Und worauf warten wir jetzt, auf den Hundebestatter? Ein Bahnbeamter hat sich rudernd einen Weg durch die Neugierigen gebahnt. Er deutet mit seiner Pfeife unter den Zug und kümmert sich nicht um die ältere Frau. Ist es doch nicht deren Hund, der die Weiterfahrt verzögert? Die Stimmen von draußen dringen nicht in den Wagon. Auch die Passagiere mit direktem Blick auf den Bahnsteig rätseln noch, interpretiere ich die fragenden Gesichter. Endlich steht die Mutter des kleinen Mädchens auf und geht langsam in Richtung Tür. Auch ich schaue ihr nach. Es ist kaum eine Minute vergangen, da öffnet sich die Glastür wieder, die den Vorraum von unserem Großraumabteil abtrennt. Stimmen und Geräusche vom Bahnsteig schwappen mit der jungen Frau herein. Ihr Gesicht ist wie versteinert. Sie beugt sich zu der Babuschka mit dem Kaffeefleck und findet kaum Worte. „Jesus Maria!“ Die Alte bekreuzigt sich. Das verstehe ich ohne Wörterbuch. Die Nachricht schlägt ein, wie ein Blitz. Ich will auch wissen was los ist! Das wäre der reinste Horrorfilm, sollte ich tatsächlich auf einer Leiche sitzen. Ich fühle mich beobachtet, doch die Leute auf dem Bahnsteig blicken nicht zu mir, sondern genau unter mich. Ich schaue automatisch nach unten, will den Punkt sehen, der die Aufmerksamkeit erregt, doch mehr als den Teppich auf dem Boden sehe ich nicht.
Keiner schaut mehr nach draußen, selbst das kleine Mädchen verhält sich ruhig. Eine Atmosphäre wie bei meiner letzten schriftlichen Abschlussprüfung. Und wann bekomme ich meinen Aufgabenzettel, wann erfahre ich, was hier los ist? Ich schließe die Augen. Eine leise, sich wiederholende Melodie ordne ich der Sirene eines Krankenwagens zu.
Nur wenige Geräusche verraten, dass meine Mitreisenden nicht völlig erstarrt sind. Ich stehe auf und hebe meine Reisetasche aus dem Gepäcknetz. Ein Stück von der Bahnsteigkante entfernt sehe ich einen Burschen, der mehr als dick ist. Auch er blickt in meine Richtung, auf etwas, das sich schätzungsweise einen halben Meter unter mir befinden müsste. Gelassen stopft er sich dabei eine Pommes nach der anderen in den Mund. Der würde doch keine Pommes essen, wenn hier eine Leiche unter dem Zug liegen würde, oder? Und der Krankenwagen? Ein abgefahrenes Bein, ein gequetschter Brustkorb? Mir läuft ein Schauer den Rücken hinunter. Ich wende mich ab und blicke aus dem Fenster auf meiner Seite. Ein Zug fährt ein. Die Bremsen quietschen laut, fast zu laut für die drückende Stille im Wagon. Auf dem Bahnsteig bleiben einige Mädchen mit Schulranzen zurück. Sie lachen, und in der Sonne blitzen die Spangen in den Haaren. Doch mit einem Mal stocken ihre Bewegungen. Ein Blick in meine Richtung, eine schüttelt lachend das Haar. Sie treten einen Schritt näher an das Gleis heran, beugen sich nach vorn und halten die Hand vor den Mund, als wollten sie das Lachen gewaltsam vertreiben. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, ich will weiterfahren, obwohl mir nicht mehr nach Urlaub zu Mute ist. Auf dem Platz hinter mir raschelt Alufolie, und ein leichter Hauch geräucherter Knoblauchwurst dringt an meine Nase. Aus dem Augenwinkel sehe ich auf dem Bahnsteig zwei Männer in Kitteln, die sich weiße Handschuhe überstreifen. Ich greife zum Buch und starre gedankenlos auf die Buchstabenabfolge. Man hört, wie unter unserem Wagon gearbeitet wird. Harte Klänge, Metall auf Metall, als ob die Bremsen kontrolliert würden. Nein, ich fahre nicht wieder Zug, denke ich, als wäre dadurch das Unglück rückgängig zu machen.
Langsam setzt das Leben im Wagon wieder ein. Ich schaffe es sogar, zusammenhängende Sätze zu lesen. Ein schriller Pfiff ertönt, ich schrecke hoch und blicke aus dem Fenster. Ein Ruck, und unser Wagon setzt sich in Bewegung. Er lässt den Ort hinter sich und rollt der untergehenden Sonne entgegen. Am Zielbahnhof liegt der Bahnsteig zum Glück auf der anderen Seite. Ich verkneife mir einen Blick unter den Zug und halte gehörigen Abstand von der Bahnsteigkante.
Tag der Veröffentlichung: 28.01.2009
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