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Wir sind.


Wir sind Meliai. Wir sind die Meliai des Waldes. Ich bin Melia. Gemeinsam erwachten die Baumfeen aus ihrem Schlummer und hörten die Stimme ihrer Königin. Wir sind die Feen des Eschenwaldes, wacht auf meine Meliai, Schönheiten in den Bäumen, hübsche Schatten des Waldes, wacht auf.
Die Königin bewegte sich und veränderte die Form ihrer Existenz. Gerade war sie noch Teil der großen alten Esche, tief versunken in den Schichten des Stammes, zwischen den Adern der Blätter und im Geflecht der Wurzeln verteilt, nun nahm sie Gestalt an und betrat den moosbedeckten Waldboden.
„Wir sind in Gefahr, die alte Esche beginnt zu sterben und ich mit ihr. Ich brauche eine Eichel, ein Kind das meine Seele aufnimmt. Ein Raunen erfasste die Bäume des Waldes, deren Form sich aufzulösen schien. Halb Stamm halb Fee wandelten sie ihre Form der Existenz hin und her, die Transformation schwebend und unfertig. Das flüstern der Elfen mischte sich mit dem rascheln der Blätter im Wind. „Ein Kind zeugen? Das hat es seit hunderten von Jahren nicht mehr gegeben...“
Melia schritt schwerelos über das Moos und mit jedem Schritt legte sich ein weiteres Laubblatt um ihren Körper und hüllte sie in ein langes Kleid. Sie ging in Richtung Waldrand und erwählte auf ihrem Weg zwei Vertraute, welche sie schützen sollten.

Die Holzlamellen der Außenwand des kleinen Landhauses waren abwechselnd grün und weiß frisch gestrichen. Natürlich nur mit einer umweltverträglichen Farbe. Danach waren die Holzlamellen mit einem Naturöl lasiert worden um sie wetterfest zu machen. Die Öldosen waren bei einer Sonderaktion gekauft worden und hatten einen kleinen Pinsel dabei. Der Hausherr hatte diesen tatsächlich zum streichen der Außenwände genutzt, da ein größerer Pinsel gar nicht durch die Öffnung gepasst hätte. Er hatte ein paar Tage gebraucht, um alles zu streichen, aber das Ergebnis war beeindruckend.
Das Häuschen glänzte in der Sonne. Und seit Tagen hatte Melia das Leuchten ihrer Augen immer wieder auf das Haus gerichtet. In letzter Zeit waren zwar ein paar unerklärliche Autounfälle weiter unten an der Hangstraße geschehen, aber keiner dachte an das kleine Landhaus, wenn die Fahrer von ungewöhnlichen Lichtphänomenen berichteten.

Von der gerade erwähnten Hangstraße bog ein schmaler Kiesweg ab und verlief bergauf zum Landhaus. Eine geteerte Straße war für den Hausherrn nie in Betracht gekommen. Der ganze Teer, Beton und Bitumen, diese menschgemachten, unnötigen, extravaganten und umweltzerstörerischen Mixturen sollten nichts mit dem gemütlichen Haus zu tun haben. Selbstverständlich war auch ein Kiesweg nichts natürliches, aber ein paar Zugeständnisse an das Leben mussten eben gemacht werden.
Der schmale Weg war von jungen Alleebäumen gesäumt, welche im vergangenen Jahr gepflanzt worden waren. Eine gute Mischung verschiedener Bäume. Pappel, Eiche, Esche, Walnuss, Kirsch- und Apfelbäume. Der Hausherr liebte Biofrüchte. Ein zusätzlicher Pflaumenbaum wuchs hinter dem Häuschen an der Terrasse. Ein Älterer Birnenbaum trug bereits Früchte und bereitete dem Hausherrn eine reiche Ernte im letzten Herbst. Der Hausherr hatte einige davon zum Moster gebracht und daraus köstlichen Saft pressen lassen.
Die Zwischenräume der Alleebäume waren flankiert von Blumentöpfen. Rote Geranien, Dahlien, violetter Lavendel, blauer Rittersporn und gelber Anis wuchsen dort. Dazwischen gediehen verschiedene Küchenkräuter. Vor zwei Jahren noch waren das Haus und Garten völlig verlottert gewesen. Aber der neue Besitzer hatte viel Arbeit hineingesteckt. Was er nicht wusste, war, dass Melia tatkräftig dabei half, dass alle so gut und schnell wuchs.
Melia beobachtete den Mann tagsüber von den Alleebäumen aus, nachts saß sie im Birnbaum und spähte durch die dunklen Fenster. Er schien ihr ein guter Mann zu sein. Seine Arbeit im Wald als Förster verrichtete er gewissenhaft. Mit den Sträuchern und Tieren ging er sanft um.
Jetzt saß er vor seinem gemütlichen Häuschen und nestelte an den Schnürsenkeln seiner schweren Arbeitsstiefel herum und lauschte dem Gesang von Melia, den er für das Rauschen der Blätter im Wind hielt. Er war ein großer Mann, einen Kopf größer als die Meisten. Etwas füllig, auch wenn er das Wort hasste, weil es weibisch klang, aber wenigstens hatte er ausgeprägt männliche Gesichtszüge.
Die dunklen Augenbrauen passten nicht so recht zu seinem roten unordentlichen Haar, dafür passten sie umso besser zu seinen grünen Augen. Seine Nase war ein wenig zu gebogen und seine Lippen etwas zu voll für einen Mann. Seine rauhen Finger zogen sacht an den Schnüsenkeln der Qualitätsschuhe. Die Beine seiner Lederhose hatte er bis zu den Knien hochgekrempelt damit er den Stiefelschaft zuschnüren konnte.
Mit sorgenvollem Blick schaute er zu seinem Heim. Vor kurzem noch war es dort sehr gemütlich gewesen, aber in letzter Zeit hatte er sich immer öfter beobachtet gefühlt. Er nahm seinen schwarzen Allwetteranorak mit den orangenen Leuchtstreifen, die gut geölte Kettensäge, zog seine Hosenbeine herunter und stapfte in den Wald. Er mochte seine Arbeit gerne. Manchmal bedauerte er, dass er so früh aufstehen musste, andere mussten erst um neun Uhr in ihren Büros sein, während er bereits um kurz nach sechs zur Tat schritt. Heute war so ein früher Tag und da er im Wald hinter seinem Haus arbeiten sollte, ging er zu Fuß.
Er liebte seine frühen Spaziergänge im Hochsommer, wenn es schon dämmerte. Sie erfrischten seinen Körper und halfen ihm seine Gedanken zu sortieren. Der Wald fühlte sich so früh morgens ganz anders an. In den Stunden zwischen Hell und Dunkel, wenn der alte Tag noch nicht ganz vergessen und der neue Tag nicht mehr als eine Ahnung ist. Das Licht leuchtete grün und fahl durch das dichte Blätterdach. Die letzten Motten suchten nach einem Blatt um sich darunter zu verstecken. Ein paar schlaftrunkene Igel wankten über die Waldpfade zu ihren Bauten. Rehe weideten versteckt hinter Brombeersträuchern, wachsam und auf den Tageslärm wartend. Flechten und Pilze verströmten ihren erdigen Geruch und Tau glitzerte in den Spinnennetzen. Die Augen der vielen Meliai sah er nicht.

Heute sollte er einen besonderen Baum fallen. Eine große alte Esche im Herzen des Waldes. Sie war von Schwamm und Moos überzogen und würde bald unkontrolliert umfallen, wenn er sie nicht vorher absägte. Mit langen Schritten ging er über den feuchten Waldboden und näherte sich dem Baum. „Eigentlich Schade um die alte Dame“ murmelte er und setzte seine Säge vor dem Stamm ab und schaute sich nach einem guten Ansatzpunkt um und überlegte sich die gewünschte Fallrichtung. Dann stellte er einen Fuß auf eine dicke Wurzel und zog an der Anlasserschnur der Säge – doch sie sprang nicht an. Mehrfach zog er daran, aber nichts rührte sich. „Verfluchter Mist, jetzt hab ich das Ding so weit in den Wald getragen und es läuft nicht!“ Genervt setzte er sich auf die große Wurzel und lehnte sich an den Stamm. Wie er so dasaß bedauerte er immer mehr den Baum fällen zu müssen. Der Wald war so vollkommen, so schön und ruhig. Die alte Esche so erhaben und mächtig. Jetzt wo er hier saß, hatte er plötzlich den starken Wunsch den Baum nicht mehr zu fällen. Er mochte den Baum. Das Holz war viel weicher als er vermutet hätte. Es fühlte sich fast so weich an, als ob das Holz nachgab und sich der Form seines Rückens anpasste. Die Rinde war gar nicht rau und kratzig. Die kleinen Lamellen aus abgestorbenem Rindenholz schienen sich geradezu an ihn zu schmiegen und ihm davon zu erzählen wer sie in Wirklichkeit waren, welche weichen Gewebe es in dem Baum gab, welche Biologie und welche Magie dahinter steckte, aus welchen Molekülen sie aufgebaut waren.
Der Stamm bildete kleine weiche Ausläufer die sich seinen Rücken empor schlängelten, eine etwas fester Verbindung an seinem Rückgrat bildeten und seinen Nacken hoch liefen bis zum Haaransatz an seinem Kopf, den er an den Stamm angelehnt hatte. „Komm zu mir“ flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken. Seine roten Haare zerflossen und vermischten sich mit der frisch gewachsenen Rindenzellulose und färbten diese leicht orange. Das Wasser bildete sanfte Wellen auf dem Moos vor dem Baum und floss zu den Wurzeln und unter seine Schuhe. Aber anstatt an den Sohlen zu halten, floss das Wasser durch die Schuhe und Socken hindurch, durch seine Haut, seine Fettschicht, in die Muskeln hinein, durch die Sehnen, Knochen, Arteiern und Nerven nach oben in den Kopf und darüber hinaus.
Von der Rinde produzierte Hydroxyaldehyde diffundierten durch seine Haut, seine Knochen und Muskeln und kitzelten seine Amygdala. Woher kannte er nur all diese Worte, woher wusste er plötzlich was diese bedeuten? Er war nie gut gewesen in Biologie oder Chemie. „Dies ist nicht dein Wissen, es ist meines“ beantwortete Melia die nicht ausgesprochene Frage. Feine Röhrchen, geflutet mit Polysacchariden wuchsen aus dem Baum durch seine Haare in seinen Kopf hinein, verknoteten sich mit seinen Nervenknoten im Gehirn und verschmolzen mit dem Hirnstamm. Blutzellen und Lymphflüssigkeit strömte von seinen Armen und Beinen zu seinem Rückgrat welches nun fest mit dem Hauptkapillarröhren des Baumstamms verbunden war. Seine Sinne verwebten sich mit der Wahrnehmung des Baumes und des Waldes und er spürte die Anwesenheit von Vielen. Sein Ich heftete sich plötzlich an ein Kaliumatom und diffundierte, osmotischen Gesetzen folgend, durch die Zellwände und schwebte mit dem Strom an Wasser und Zucker den Baumstamm hinauf Richtung Baumkrone. Gigantische Globularproteine enthüllten ihm die ganze Pracht und Schönheit ihrer Tertiärstruktur. Adenosintriphosphat schwebte vorbei, eilfertig dabei seine Energie abzugeben. Die Zelle in der er nun war, war angenehm stabil und gemütlich. Warm und voller Energie. Der ganze Organismus war angenehm und energiereich. Die Welt sah so einfach aus von hier aus. Alles war ihm bewusst und verständlich. Die Verbindungen des Lebens, die Zusammenhänge – alles war offensichtlich. Ihm wurde bewusst, warum Energie nötig war, dass sie an einem Ort hergestellt wurde und an einem anderen verbraucht. Wie Sauerstoff Leben transportierte und Wasser den Fluss aller Existenz ermöglichte. Warum alles nur Energie ist und ein Winter nicht kalt und ein Sommer nicht warm ist. Wie angenehm Licht auf den Chloroplasten ist, wie aufregend der kleine Energiekick eines Sonnenstrahls sein kann. Er konnte die Energie fühlen, wie sie von den Wurzeln anstieg, den Stamm hochlief, in die Zweige und Blätter strömte. Die Energie katapultierte sein Bewusstsein für einen kurzen Moment in der Ewigkeit ins Nirwana und er erkannte im letzen Moment seiner diesseitigen Existenz die Gedanken von Melia.

Die Eingangstür zum kleinen Häuschen wurde von den zwei Meliai aufgestoßen. Liebevoll stellten sie eine Wiege in die große Küche und legten das schlummernde Neugeborene hinein. Das Mädchen hatte kurze schwarze Locken und leuchtend grüne Augen. „Sie wird bald erwachsen sein und die Wege der Menschen erlernt haben, dann kehren wir in den Wald zurück“ sagte die ältere der beiden und deckte die wiedergeborene Königin mit einem bunten Tuch aus immerwarmer Spinnenseide zu.

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Tag der Veröffentlichung: 27.10.2011

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