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Ich habe ein seltsames Hobby: Ich kopiere. Ich kopiere alles: Blätter, Apfelscheiben, Federn, Papierservietten, Spitzen, die Unterseite von Einmachgläsern. Alles eben. Die Kopien hefte ich, von Klarsichthüllen geschützt, in schwarze Leitz- Ordner. Ich ordne sie nicht nach irgendwelchen besonderen Kriterien - ich hefte sie einfach in der Reihenfolge ab, in der ich sie gemacht habe. Auch die die Misslungenen werfe ich nicht weg, und ich hebe die besonders schönen nicht hervor. „Warum um alles in der Welt tust du so etwas?“ fragte meine Kollegin Lisa, als ich ihr unsinnigerweise davon erzählte, und verbiss sich nur mühsam ein durchaus gemeines Lachen. Dabei hat sie ihre Wohnung nach den Empfehlungen von zwei so genannten Feng-Shui-Beratern eingerichtet und liest täglich ihr Horoskop in vier verschiedenen Zeitschriften nach - wer derartige Dinge tut, sollte Verständnis für Albernheiten jeglicher Sorte haben. Um sie zu beeindrucken, schwafelte ich dummes Zeug von „Bilder- Tagebuch“ und „Impressionen aus dem Alltagsleben“. Traurig genug: es beeindruckte sie in der Tat. Natürlich war es gelogen. Natürlich wusste ich nicht, warum ich es machte. So wenig, wie Angler wissen, warum sie Fische fangen, die man viel einfacher und vermutlich auch billiger kaufen kann; sowenig Kreuzworträtsellöser wissen, warum sie über Fragen nachgrübeln, die längst beantwortet sind, und sowenig Origami-Fans wissen, warum sie wieder und wieder Papierfiguren anfertigen, wo doch längst ihre ganze Wohnung von dem Zeug überquillt und sogar ihre Freunde endlich wieder gekaufte Geburtstagskarten haben möchten und nicht Glückwünsche, die auf einen fliegenden Kranich geschrieben sind. Wir alle gehören einer etwas exzentrischen Spezies an, die eben Hobbys hat und daher seltsame Dinge tut. Warum weiter fragen? Vielleicht ähnele ich dem Origami-Faltenden am meisten. Bei mir wie bei ihm geht es letztendlich um Schönheit, zweckfreie Schönheit, die keinerlei Anspruch auf irgendeine Bedeutung erhebt, noch der Rechtfertigung durch irgendwelche Gründe bedarf. Vor Jahren einmal hatte ich zuviel Geld in den Kopierer geworfen, und so kopierte ich aus Spaß meine Hände, das machen ja viele. Weil ich danach immer noch zwei Kopien übrig hatte und weil gerade niemand da war, der mir zusah, kopierte ich meine Krawatte. Es war ein alter, ziemlich schlechter Kopierer. Aber es hatte etwas Wunderbares, Magisches an sich, dieses grobe Schwarzweiß- Muster, das irgendwie doch räumliche Tiefe besaß. Von da an tat ich es wieder und wieder, immer in der Hoffnung, der Moment, wo ich die Kopie umdrehte und anschaute, brächte wieder denselben Zauber mit sich, dieses sinnfrei-genüssliche Erschaudern. Und oft gelang das Experiment, und der Anblick einer zerquetschten Blüte oder eines Satin-Bandes, die auf Papier fixiert waren, löste solche Gefühle in mir aus. Ich fertigte die wenigsten Kopien an meinem eigenen Drucker an, nur solche, die sehr umständlich waren oder das Gerät hätten verunreinigen können. Ansonsten ging ich in einen der vielen Copy-Shops, die es in einer Universitätsstadt wie der meinen zur Genüge gibt. Das war billiger. Ein dummes Schamgefühl hielt mich davon ab, denselben Laden allzu häufig zu besuchen, ich wechselte sie daher der Reihe nach durch. Unlängst fand ich, als ich gerade von der Arbeit nach zur U- Bahn- Station ging, eine Feder auf dem Weg. Eine ehemals weiße, nun schmutzige Feder, auf der sehr deutlich der Abdruck eines Sohlenprofils zu erkennen war. Ich hob sie auf - es war wie eine Sucht, es ist, natürlich, eine Sucht - und fragte die Vorbeikommenden nach dem nächsten Copy-Shop. Man nannte mir die Adresse – der Laden war mir nicht bekannt bis dahin. Ich zog eine durchsichtige Plastikfolie, die ich immer dabei habe, aus meiner Tasche, legte sie auf das Glas des Kopierers und kopierte. Während ich kopierte, sah ich mich ein wenig um. Es war ein sehr kleiner Laden, nur zwei Geräte. Die Besitzerin - ich hielt sie dafür, denn sie rauchte und las so selbstverständlich hinter ihrer Kasse - beachtete mich kaum. Zwischen den Geräten stand ein Papierkorb, schon mehr als voll. Ich entnahm meine Kopien, steckte sie in die Tasche und wollte zahlen, da fiel mein Blick auf das Blatt Papier, das zuoberst im Papierkorb lag. Es war nicht zerknüllt. Gut erkennbar hatte hier jemand seine Hand kopiert (dabei warf man das Geld hier doch überhaupt nicht im Voraus ein, man zahlte an der Kasse). Etwas an der Kopie fiel mir auf, und so nahm ich das Blatt mit, aber erst auf der Straße bemerkte ich, was es war. Die Innenfläche dieser Hand - es war die linke Hand eines Mannes - wurde durchkreuzt von einer langen Narbe. Und ich kannte diese Narbe. Ich stopfte die Kopien in meine Tasche, es war ein Reflex. Sie zerknitterten, auch die mit der Feder, aber ich kümmerte mich nicht darum. Ich war so erschrocken, dass ich in die falsche U- Bahn einstieg und es erst nach drei Stationen bemerkte. Als ich nach Hause kam - die letzte Strecke ging ich zu Fuß, mir war danach - war es bereits stockdunkel, dabei war erst August.

„Die Welt ist klein“ hatte meine Mutter gesagt, als wir Florian und seinen Eltern am Strand von Caorle begegneten. „Die Welt ist ein Nest.“ Wir wohnten in derselben Straße, hatten aber fast nie miteinander gesprochen. Und wir hätten es wohl auch hier nicht getan, hätte ich, wie in den Jahren davor, meine beiden Cousins und noch ein paar andere Kinder, Söhne und Töchter der weiter entfernten Verwandtschaft und Bekanntschaft meiner Eltern, dabeigehabt. Aber wir waren allein hier, es war spät im Jahr, mein Vater hatte nicht früher frei bekommen. Und so sprachen wir schließlich miteinander, spielten miteinander, verbrachten zum Schluss beinah unsre gesamte Zeit in diesem Urlaub zusammen. Er war ein Jahr älter als ich, daher eine Klasse über mir, und einen halben Kopf größer. Einer von diesen Freiluftjungen, die ein Buch eher in die Hand nehmen, wenn sie ein Wurfgeschoß brauchen, als um darin zu lesen. Ich war ein Stubenhocker. Trotzdem verstanden wir uns. Ich hatte so ein tütenartiges Fischernetz, wie sie in den italienischen Küstenstädten in allen Spielzeugläden verkauft werden, und da seine Eltern eine Aversion gegen „Geldmacherei“, „Abzocke“ und „überflüssiges Zeug“ hatten, er also kein solches Werkzeug besaß, mag mein Netz ein entscheidender Faktor gewesen sein bei seiner Entscheidung, sich mit mir einzulassen. Wir gingen gemeinsam auf Krabbenjagd. Am leichtesten waren die Tiere in der Nähe der Stege oder Felsen. Wo das Wasser unter dem Stein eine Höhlung ausgeschwemmt hatte, sammelten sie sich, dort glaubten sie sich sicher. Aber wir spürten sie dort am leichtesten auf. Die Gefangenen taten wir in meinen alten Plastikeimer. Erst genierte ich mich ein wenig, überhaupt Sandspielzeug dabei zu haben; ich fürchtete, er würde mich für kindisch halten. Aber er dachte sich gar nichts dabei, er war nur froh, dass ein Behälter zur Verfügung stand. Wenn wir genug Krabben - die wir übrigens „Krebse“ nannten, wohl weil das eindrucksvoller und gefährlicher klang -, warfen wir uns der Länge nach auf den Boden und buddelten mit den Händen ein „Gehege“, das heißt, wir gruben so lange, bis das „Grundwasser“ kam, was sehr bald der Fall war, weil wir unsere Gehege immer äußerst nah am Meer bauten. Dann schütteten wir den Inhalt des Eimers in unsern winzigen künstlichen Tümpel. Mir fiel irgendwann ein, dass die Krabben etwas zu essen brauchten, und von da an sammelten wir Nahrung für sie. Wir versuchten, sie soweit zu zähmen, dass sie uns aus der Hand fräßen, aber sie verschmähten sowohl die grünen Algen, die sich wie feuchte Gelatine in unseren Händen anfühlten, als auch die haarigen Algen, und selbst die Pfirsichkerne, die wir für sie aufhoben, fraßen sie nicht. Übrigens versuchten sie meist, sobald wir sie aus dem Eimer entließen, uns zu entkommen, indem sie sich im Sand eingruben oder aus dem Gehege kletterten. Auch dressieren ließen sie sich nicht. Es war unklar, wozu man solche Tiere eigentlich fing, aber uns kam es vor wie das Nützlichste und vielleicht auch das Aufregendste auf Erden. Mir zumindest. Die Krebse daran zu hindern, sich einzugraben, sie mit einem der angeschwemmten Holzstöckchen unerbittlich wieder an die Erdoberfläche zu zerren, oder sie wieder einzufangen, wenn sie türmen wollten, damit konnte man schon einen Nachmittag verbringen. Manchmal waren wir hinterhältig. Dann nahm Flo einen der Krebse und tat ihn aus dem Gehege, als wolle er ihn laufen lassen - ich traute mich nicht, sie anzufassen. Wenn der Krebs sich eilends davonmachte, versperrten wir ihm mit Stöcken oder Muscheln, Flo auch mit seiner Handfläche, den Weg, und das taten wir so lange, bis der Krebs notgedrungen wieder freiwillig ins Bassin zurückkehrte. Wenn wir gerade nicht Krabben quälten, tauchten wir gemeinsam. Unter Wasser wollte ich die Krebse nicht sehen, dort waren sie mir irgendwie unheimlich, und ich hatte immer Angst, auf einen zu treten. Ich hatte auch Angst vor Quallen und dem tiefen Wasser. Wenn man tauchte und in Richtung Strand schaute, sah man zartes Blau, von Sonnenlicht erfüllt, sah man hellen, schimmernden Boden. Wenn man in die andre Richtung blickte, hatte man eine dunkler werdende Masse vor Augen. Dann stellte ich mir vor, dass es dort tief hinunter ging und immer weiter, dass es weiterging bis nach Afrika. Zumindest das war wohl Blödsinn, aber ich dachte es, und tauchte dann rasch wieder auf oder drehte mich wenigstens um. Ich wollte nicht zu weit ins Wasser. Natürlich gab ich vor Flo nicht zu, dass ich Angst hatte. Ich sagte ihm, dass ich meine Wassersaltos nur im Flachen machen konnte, und er war zufrieden. Vermutlich hätte er mich auch nicht ausgelacht, wenn ich ihm meine Furcht eingestanden hätte, aber so weit traute ich ihm noch nicht. Ich war gut in Wassersaltos. Es waren zwar wohl eher Purzelbäume, aber mein Rekord lag bei vierzehn. Soviel brachte ich in guten Momenten zustande, ehe mir die Luft so knapp wurde, dass meine Nasenlöcher brannten und ich auftauchen musste. Es waren andere Urlaubswochen als ich sie bisher gekannt hatte, obwohl wir nichts großartig anderes taten als ich in den Jahren zuvor mit meinen Cousins getan hatte. In meiner Erinnerung erscheint mir diese Zeit in Italien mit Flo sehr lang, als hätte sie Wochen gedauert. Tatsächlich waren es insgesamt nur elf Tage, dann fuhren wir heim, und die Schule fing wieder an. Aber von da an sahen wir uns gelegentlich, denn auch unsre Eltern hatten sich angefreundet, und trafen sich hin und wieder.

Und nun? War die Welt wieder ein Nest? Unwahrscheinlich. Unmöglich. Und doch war es war seine Hand. Eine Hand, die ich wohl eine Stunde lang betrachtete, als ich endlich daheim war. Dabei trank ich Campari, aus der Flasche. Der Alkohol war eine Lösung. Lösung, in die ich die Negative meiner Erinnerung warf, sie zu Fotografien entwickelte. Ich verglich die Form, die Stelle, wo sich die Narbe befand mit dem Bild, das langsam entstand. Ja, es war seine Narbe. Ein weißer Strich. Erstreckte sich über Zeige- und Mittelfinger, lief über die ganze Innenfläche, durchkreuzte alle Linien und endete erst kurz vor der Pulsader. Ja, es war seine Narbe. Ja, es war seine Hand. Es musste seine Hand sein. Flos Hand.

Im Frühsommer darauf, ich war fast dreizehn Jahre alt, verunglückten meine Eltern in, als sie von einer Gartenparty heimfuhren. Ein betrunkener Jugendlicher raste direkt in ihr Auto. Er war sofort tot. Meine Eltern auch, so erzählte man mir. In Wirklichkeit lebte meine Mutter noch eine halbe Stunde, sie war noch bei Bewusstsein, als der Krankenwagen kam. Das erfuhr ich vom älteren meiner beiden Cousins einmal viel später, aus Versehen, ganz beiläufig. Er hatte die Lüge anscheinend vergessen, mit der man mich damals zu trösten versucht hatte, oder ruhig zu halten. Ich ließ mir nichts anmerken. Meine Großmutter zog in unsere Wohnung. Eine Übergangslösung, das war allen klar, nur mir nicht. Es stand fest, dass ich zu Beginn des neuen Schuljahres umziehen würde zur Familie meines Onkels, die in einer andern Stadt lebten. Daran dachte ich in den ersten Wochen natürlich noch nicht. Ich war auch nicht besonders entsetzt, als ich es mir nach und nach klar wurde. Und als es soweit war, passierte es eben. Mein Leben wurde nicht schrecklich waisenkindhaft und grausam in seinen äußeren Dingen durch den Tod meiner Eltern. Nur waren die Säulen zerbrochen, worauf die Erde ruhte. Der Himmel war mir auf den Kopf gefallen, wie es bei Asterix immer heißt. Und weil es mir bei mir Zuhause viel präsenter war, waren die Ferienwochen, die ich mit meiner Großmutter noch dort verbrachte, die schlimmsten überhaupt. Sie meinte es gut, aber sie war unerträglich. Sie fand dass das Leben weitergehen müsse, und stellte dauernd solche Fragen wie „Schmeckt dir der Kakao gut?“ und „Gefällt dir der Film?“ und verstand nicht, dass mir der Kakao gleichgültig war, und dass die Ablenkung, die mir der Film vielleicht für ein paar Momente gewährte, zunichte wurde im Augenblick ihres Fragens. Aber sie war auch in Trauer, die sie in ihrer ritualisierten, altmodischen Form auslebte, und am Morgen meines Geburtstags - es war zwei Tage nach der Beerdigung - küsste sie mich nur auf die Stirn, erwähnte es aber mit keinem Wort, dass ich heute dreizehn wurde. Meinte sie, mir könne unmöglich nach Feiern zumute sein? Das war es wohl. Aber ich war tief gekränkt, und ich hasste meine Eltern dafür, dass sie mir derart meinen dreizehnten Geburtstag zerstörten, auf den ich schon seit Monaten wartete, weil es doch etwas ganz anderes war, etwas Neues. Und ich schämte mich, dass ich so zornig auf sie war. An dem Morgen verließ ich das Haus zum ersten Mal freiwillig und ohne Grund. Es war trüb. Kein richtig schlechtes Wetter, aber doch unfreundlich, und auch noch früh am Morgen. Der kleine Spielplatz, wo ich schon lange nicht mehr spielte, weil ich ja kein Baby mehr sein wollte, war leer. Ich setzte mich auf eine der Schaukeln, die an langen Eisenketten befestigt waren und auch das Gewicht von Erwachsene aushalten konnten. Aber ich schaukelte nicht. Ich hasste die ganze Welt, so sehr, dass ich sie am liebsten genommen und zwischen meinen Zähnen zerquetscht hätte. Flo musste mich vom Fenster aus gesehen haben, seine Wohnung war gleich neben dem Spielplatz. Jedenfalls kam er zu mir runter. Er trat von hinten zu mir, ich konnte nicht mehr weggehen, als hätte ich nicht gesehen, sonst hätte ich es wohl getan. „Hi“ sagte er, schüchtern, seine Eltern hatten ihm sicher erzählt, was geschehen war. „Na?“. Sagte es verlegen und mitfühlend. Ich tat ihm leid. Seine Eltern lebten noch, meine Eltern nicht mehr. In dem Moment hasste ich auch ihn. „ Na warte“ schrie ich, „du Arsch, du Arschloch!“ Sinnlos wild, wie es so gar nicht meine Art war. Er starrte mich überrascht an. Ich sprang auf und trat ihm ans Schienbein, so fest ich konnte. Vielleicht wünschte ich mir, er würde sich wehren, würde mich genauso schlagen wie ich ihn. Aber man hatte ihm wohl eingeschärft, dass ich trauerte, dass ich also eine Art Unberührbarer war, dass man Nachsicht mit mir haben müsse. Als ich begriff, dass er sich nicht wehren würde, stieß ich ihn mit aller Kraft, die ich hatte, zu Boden. Es war nur Kies, kein Asphalt, so wie er auf Spielplätzen üblich ist. Er konnte sich gar nicht wirklich wehtun. Aber im Kies war etwas, das ich nicht gesehen hatte. Ein rostiges, scharfkantiges Ding, irgendein Schrott, mit dem andere Kinder wahrscheinlich gegraben hatten, oder was auch immer. Florian griff direkt hinein, als er den Sturz mit seinen Händen abfangen wollte. Er schrie auf. Ich fühlte mich ein wenig besser, sein Schrei befriedigte einen kleinen Teil meines mir uferlos vorkommenden Hasses. Aber als er aufstand, war nicht nur seine linke Hand voll Blut, sondern auch sein T- Shirt und seine Hose. Er starrte die Hand an, ratlos, sagte kein Wort. Ich rannte davon und kam mir vor wie ein Mörder, so sehr war ich davon überzeugt, dass er verbluten würde, dass er irgendwie und ganz unheilbar kaputt war, dass ich ihn zerstört hatte So, wie einmal am Strand kleiner Junge die geschlossene Muschel zerstöre, die ich gefunden und ihm geliehen hatte- er hatte sie mit einem Taschenmesser geöffnet. Und vielleicht fand ich auch im Bewusstsein meiner eigenen Grausamkeit nicht nur Schmerz, sondern zugleich Befriedigung.

„Wenn man von jemandem die Adresse braucht, von dem man nur den Namen kennt, was muss man dann machen?“ fragte ich Lisa am nächsten Morgen, es war ein Freitag. „Hmmm...“ sie nagte an ihrer Unterlippe, während sie gleichzeitig ihren Himbeerjoghurt mit einem Plastiklöffel umrührte. „Also ich würde...Warum willst du das denn wissen?“ „Ach, nur so.“ „Hmmm. Ich kenne einen, der arbeitet bei...keine Ahnung, aber ich glaube...also, wenn du wirklich jemanden suchst, könnte ich ja fragen. Johnnyboy kennt sich da sicher aus.“ Die Neugier tropfte ihr förmlich aus den Nasenlöchern, es konnte einem den Magen umdrehen, aber ich sagte zu. „Es ist wegen einem Klassentreffen“ log ich und ging aufs Klo, um ihrem fragenden Blick zu entgehen. Später schrieb ich ihr den Namen in ihr Notizbuch.

Als der Verband entfernt wurde, sprach er wieder mit mir. Da war es schon Herbst. Wir waren uns ein paar Mal auf der Straße begegnet, drehten aber immer den Kopf zur Seite und gingen schweigend aneinander vorbei. Aber am Tag, als der Verband entfernt wurde, kam er hoch zu unserer Wohnung und klingelte. Meine Großmutter ließ ihn herein. Ich saß gerade am Küchentisch und malte mit Wasserfarben ein Bild von der Küche. Die Großmutter hatte mir diesen Vorschlag gemacht. „Dann kannst du dich immer erinnern“, hatte sie gesagt. Ich war mir sicher, dass ich mich nicht erinnern wollte, und dass meine schlechten Bilder ohnehin mit Erinnerung nichts zu tun hatten, aber mir war langweilig gewesen, und solange ich nichts tat, hatte ich keine Ruhe vor ihr, sie wollte mich dann immer daran hindern, „traurigen Gedanken nachzuhängen“, es war lästig. Flo setzte sich mir gegenüber und lehnte freundlich das Angebot der Großmutter ab, etwas zu trinken oder zu essen. Ich zerknüllte das Bild, goss das Wasser aus und warf die Farben achtlos in den alten Schuhkarton zurück. „Komm, gehen wir raus“ sagte ich. Er nickte. Wir waren beide ziemlich verlegen und gingen erst einmal schweigend nebeneinander her. Wir waren schon am Spielplatz vorbei und kamen auf den Feldweg, in den unsere Straße mündete, da hob er auf einmal die linke Hand und hielt mir die Innenseite entgegen. „Guck“ sagte er, „Das bleibt für immer.“ Er sagte es nicht anklagend, er sagte es stolz. Ich schluckte. „Tut mir leid“. Aber er ging mit einem unwilligen Laut darüber hinweg. Hinter einem Strauch hatte er seinen Fußball versteckt. Wir kickten eine Weile hin und her. Dann sah er auf die Uhr. "Muss wieder hoch" sagte er, "Ich wollte eigentlich nur den Müll rausbringen." "Tschüs dann" sagte ich. Er nickte. „Wir sehen uns ja dann“ sagte er, lächelte und ging. Ich sah ihn nicht wieder. Ich zog um, wurde umgezogen. Eine Stadt, die ich kannte, Stadt meiner Tante, Stadt meiner Cousins, wurde mir, weil sie nun meine Heimat zu heißen hatte, vollends zur Fremde. Es war schwer, mit meinen Cousins zusammenzuleben, obwohl die Belanglosigkeit unserer täglichen Konversation es mir wohl überhaupt erst möglich machte, in einer Art von Normalität zu leben. Aber früher war diese Belanglosigkeit uns gemeinsam gewesen, hatte auf Gegenseitigkeit beruht. Jetzt spielte ich sie nur. Wir bewegten und auf unterschiedlichem Boden, ihrer fest, meiner brüchig. Ich rechnete mit der Katastrophe, allezeit, und wenn ich es doch einmal vergaß, dass sie möglich war, so vergaß ich auch mich selbst - im Schlaf und manchmal bei einem Vergnügen und später gelegentlich im Suff: sich der Katastrophe nicht bewusst zu sein, war Bewusstlosigkeit. Die Jahre vergingen, ich wurde größer, ich wurde erwachsen, wurde fertig mit der Schule, irgendwie, bekam einen Beruf, irgendwie, und das ereignete sich alles an mir, weder gegen noch durch meinen Willen. Ich wunderte mich nicht darüber, obwohl ich mich wunderte, dass sich die anderen nicht wunderten. Aber alles was geschieht, geschieht selbstverständlich, ist schon gewesen und ist nicht der Rede wert, so wenig wie Dinge der Rede wert sind (nur Bilder sind es). Die Jahre vergingen: Und wenn ich zurückblicke, vergingen sie schnell. Immer vergeht die Zeit schnell, wenn man zu tun hat und beschäftigt ist, ein wenig beschäftigt, mit sich wiederholenden Sachen, die nicht eigentlich qualvoll sind, sondern angenehm und willkommen in ihrem Mangel an Bedeutung. Lang sind nur Urlaubswochen. Und ich bin nicht mehr in Urlaub gefahren seit damals. In den Ferien blieb ich daheim, die Großmutter kam, solange man mich für zu jung zum Alleinbleiben hielt. Alle hatten Verständnis dafür, sie hatten für alles Verständnis. Ich blieb daheim und vermied den Anblick des Meeres.

Aber als ich am Abend nach jenem, an dem ich die Kopie gefunden hatte, an einem Spielzeugladen vorbeikam, sah ich Sandspielzeug in einem Schaufenster liegen, und ich kaufte Sandspielzeug, das mir dabei half, das Wochenende herumzubringen. Nur durch seinen Anblick, sein Herumliegen auf der Vorzimmerkommode. Montags sprach Lisa mich auf die Nummer an. „Hab mich mächtig ins Zeug gelegt!“ sagte sie und wollte gelobt werden, das merkte man an der Art, wie sie stolz ihre Brüste im rosa B.H. zurrecht rückte. „Und Johnnyboy hat sich auch ins Zeug gelegt, und hier ist die Adresse.“ Ich dankte ihr. Es fiel mir schwer, weil ich nicht genau wusste, wie ich die Freude in meiner Stimme zu dosieren hatte. Den Zettel, den sie mir gab, steckte ich in die Tasche, ohne ihn anzusehen, obwohl ich so tat, als würde ich ihn kurz überfliegen. Ich entnahm ihn wohl zwei Dutzend Mal der Tasche und steckte ihn dann gleich wieder zurück. Manchmal hatte ich schon den Hörer vom Telefon abgehoben, dann aber fiel mir kein erster Satz ein, und ich legte ihn hin und machte mit Kaffee oder ging die Wäsche in den Trockner füllen. Zum Teufel mit dem Sandspielzeug – ich hängte es an den Kletterturm am Spielplatz, die Kinder würden es schon finden. Als ich ihn drei Tage lang nicht angerufen hatte, begriff ich, dass es alles umsonst gewesen war. Ich heftete die Kopie der Hand, der deutlich vernarbten Hand, in meinen Ordner zu den anderen Kopien. Und den Zettel mit der Telefonnummer zerriss ich in viele kleine Schnipsel, so klein, wie ich nur konnte.

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Tag der Veröffentlichung: 15.12.2008

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