GOTHIC STEAM
Detlef Klewer
(Hrsg.)
Vollständige Ausgabe 2022
Copyright © Hammer Boox,
Bad Krozingen
(Fehler sind völlig beabsichtigt und dürfen ohne Aufpreis
behalten werden)
Titelbild: Detlef Klewer
Satz und Layout: Hammer Boox
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GOTHICSTEAM
Eine Dreadpunk-Anthologie
Besorgt blickte Grace in die wolkenverhangene Düsternis der Nacht. In der Ferne tasteten Scheinwerfer eines Luftschiffs über die in Dunkelheit gebetteten Dächer Bloomsburys. Blechernes Klappern kündigte bereits aus der Ferne eine Kutsche an, noch ehe das Fahrzeug in die New Oxford Street bog. Das Quietschen der Achse untermalte das Zischen und Schnaufen des Dampfrosses, während das Gefährt zwei Stockwerke tiefer durch zarte Nebelschwaden über das Kopfsteinpflaster ruckelte und im Schein der Laternen zuckende Schatten an die gegenüberliegenden Hauswände warf.
Nimm dich in Acht, hallte ein Reim in ihrer Erinnerung wider, den Grace längst verdrängt zu haben wähnte, denn in dieser Nacht ist in Londons Gassen ein Monstrum erwacht …
Diese und andere gruselige Geschichten – wie die seltsamen Abenteuer der Gouvernante Jane Eyre, die Geheimnisse des Conte Udolpho Mannara oder das Bildnis der Gann Li-Pen – erwarten den Leser in dieser dampfgetriebenen Horror-Anthologie.
»Dreadpunk« ist ein noch ein sehr junges, neues Subgenre des Steampunk. Der Begriff stellt eine Kombination der Worte »Dreadful« (engl. für: erschreckend, bedrohlich - Als Penny Dreadfuls wurden die viktorianischen Vorläufer der Groschenromane bezeichnet) und »Steampunk« dar und verbindet dessen Elemente und Ambiente mit klassischen Horrormotiven.
Geistergeschichte und Schauermär treffen auf Gaslicht- und Zahnradromantik.
Schauriges Vergnügen!
INHALT
Holger Göttmann
Die Gouvernante
Anna Eichenbach
In nebligen Gassen erwacht
Florian Krenn
Jane Kyle und der Ripper
Cendriya S.
Kesseldreck
M.W. Ludwig
Das Bildnis der Gann Li-Pen
Isabell Hemmrich
Das Geheimnis des Conte
A.L. Norgard
Vom Stein der Unsterblichkeit
Ute Zembsch
Pathologische Hingabe
Julian Gräml
Erdwärts
Stephanie Richter
Dort, wo es dunkel ist
Markus Cremer
Archibald Leach und der Schrecken der See
Nele Sickel
Sturm über Goslar
Detlef Klewer
Tirn Aill
Illustrationen von
Detlef Klewer
Trotz holpriger Kutschenfahrt war ich über dem gleichmäßigen Klappern der Pferdehufe eingeschlafen. Erst der Ruf vom Kutschbock weckte mich:
»Wir sind da!«
Verschleiert durch den nebligen Atem eines trüben Herbstnachmittags und geschützt von verwitterten Steinmauern, breitete sich inmitten des Moores ein abgeschiedenes Anwesen vor uns aus. Die unwirtliche Witterung störte mich beim Verlassen der Kutsche kaum, wenngleich mich im ersten Moment trotzdem der Wunsch überkam, sofort wieder einzusteigen und zurückzufahren. Dieses Landhaus bot mit Sicherheit keinen Grund für mein Verweilen – im Gegenteil! Welch garstiges Gemäuer sich da vor mir auftürmte: Efeu kroch gleichsam wie mit grünen Krallen die Steinwände empor, als ob er das Gebäude auf ewig hinab in den Untergrund zu zerren gedachte. Moos umschlang die Steine des Fußwegs, eroberte das grässliche Stückchen Land zurück – Meter um Meter. Und dennoch trotzten die massiven Mauern mit den vergitterten Fensteröffnungen und schiefen Dachgiebeln im Kampf der Natur gegen Menschenwerk dem schleichenden Angriff. Meine Füße wollten Reißaus nehmen, denn dieser Anblick vertrieb mich eher, als dass er mich eingeladen hätte. Aber die anrührende Melodie einer Spieluhr hing leise in der Luft und nahm der obskuren Szenerie ihren Schrecken. Auch wenn sich ihr Ursprung nicht ausfindig machen ließ, schien sie mir aus einem der Räume des Anwesens zu dringen.
Würde ich hier endlich mein Glück finden? Ich träumte von einem besseren Leben. Doch wer sehnt sich nicht danach? Nur mit Reichtum und Liebe gesegnete Menschen. Und zu diesen gehörte ich nie.
»Soll ich Ihr Gepäck hinauftragen, Ms. Eyre?«
Mit einer Mischung aus Sehnsucht und Abscheu blickte ich die Treppenstufen empor, während die liebliche Musik weiterhin lockend an mein Ohr drang und mich beinahe zu hypnotisieren drohte. Als mir dies bewusst wurde, kämpfte ich mit einem Kopfschütteln dagegen an.
»In Ordnung«, sagte der Kutscher daraufhin.
Ach, der Kutscher! Durch meine Tagträumerei hatte ich ihn ganz vergessen. Unglücklicherweise interpretierte er mein Kopfschütteln als Antwort auf seine Frage, und meine Erziehung verbot mir die Aufklärung dieses Missverständnisses. Eine wohlerzogene Dame widersprach nicht oder wies einen Herr auf Fehler hin! Daher lächelte ich nur geziemend.
»Danke für die Fahrt, Mr. Bell. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag.«
Der Kutscher erklomm den Bock, tippte dann an seinen verfilzten Kastorhut.
»Habe die Ehre«, verabschiedete er sich und trieb die Pferde an.
Hätte ich doch lieber wieder einsteigen sollen? Nein! Lediglich durch den zugegebenermaßen unheimlichen Anblick dieses Anwesens sollte man sich nicht ins Bockshorn jagen lassen. Das Leben warf mir schon so viele Stolpersteine in den Weg – diese Herausforderung würde ich ebenfalls überstehen.
»Selbst ist die Frau«, seufzte ich und hievte meinen Koffer die Treppenstufen hinauf.
Noch bevor meine Hand den rostigen Klopfer berührte, öffnete eine Frau im Gewand eines Dienstmädchens die Tür mit seltsam steifer Haltung und merkwürdig ruckartigen Bewegungen. Vor allem aber verstörten mich ihre Augen: In den seelenlos glänzenden Pupillen schien eine unnatürliche Leere zu lauern.
»Ms. Eyre?«
»Jawohl, Jane Eyre. Mister Rochester ließ mir eine Nachricht zukommen. Sie suchen eine Gouvernante für das Kind des Hauses?«
»Das ist richtig. Bitte, treten Sie ein.«
Ein roter Teppich dämpfte meine ersten Schritte im Inneren des Gebäudes. Im Vergleich zur wuchernden Rebellion der Natur im Außenbereich sah es hier bei weitem nicht derart verwildert aus – dafür aber leer, kalt und dunkel. Zedernholztüren säumten die Eingangshalle, und an manchen ließen sich Rauchspuren erkennen. Ein Hausbrand? Womöglich.
»Mein Name ist Grace Poole. Ich bin eine der Bediensteten von Thornfield Hall. Ihre Anreise war vermutlich anstrengend, Ms. Eyre?«
»Ja, in der Tat.«
»Verständlich, der Weg durch das Moor ist unwegsam und holprig. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer, Ms. Eyre. Ruhen Sie sich zunächst einmal aus.«
»Das wäre nett, ja.«
»Bitte, folgen Sie mir. Hier den Gang entlang und dort die Treppe hinauf zur Galerie.«
Grace Poole setzte sich in Bewegung. Und diese Worte wähle ich bewusst, denn in gewisser Weise erinnerte mich ihr Gang an das träge Anfahren einer Eisenbahn: langsam, schwerfällig und stockend. Als ob sie erst Fahrt aufnehmen müsse. Mit jedem weiteren Schritt aber ging sie nun schneller und flüssiger. Fehlte nur noch aus den Ohren quellender Dampf.
Unvermittelt blieb sie stehen und fixierte mich mit seitlich geneigtem Kopf. »Sie starren mich so an. Ist etwas nicht richtig?«
»Nein, nein!« Peinlich berührt fühlte ich mich ertappt. »Alles in Ordnung.«
»Keine Sorge, Ms. Eyre. Sie können meine Gefühle nicht verletzen. Im Falle meiner Person handelt es sich um keinen Menschen, sondern um ein Uhrwerk.«
»Oh, ich ... verstehe.«
Von Derartigem hatte ich schon gehört. Eine Art ... Homunkulus. Allerdings nicht durch Alchemie erschaffen, sondern mittels modernster Technik. Weder Mensch noch Maschine – eine Form von Zwischenwesen. Angetrieben von kleinen und großen Zahnrädern im Inneren und aufgezogen durch einen Schlüssel am Rücken, oder wo auch immer der Konstrukteur den entsprechenden Mechanismus platzierte.
Demnach also eine seelenlose Marionette aus Metall und Wissenschaft.
So zumindest der Tenor in gehobenen Kreisen. Von diesen wandelnden Uhrwerken tuschelte man dort nur hinter vorgehaltener Hand – als groteske Auswüchse geistesgestörter Erfindungswut. Solches hatte keinen Platz in der feinen Gesellschaft Mutter Englands. Insgeheim fragte ich mich gelegentlich, ob diese Erfinder weniger Allmachtsfantasien erlagen, als sich vielmehr nicht mit den Karten abspeisen lassen wollten, die ihnen das Leben zugeteilt hatte. Wer konnte ihnen das verdenken?
»Der Herr des Hauses, Mr. Rochester, ist noch auf Reisen. Er wird voraussichtlich aber im Laufe des Abends zurückkehren und Sie dann empfangen. Sofern die Zeit noch nicht zu weit fortgeschritten ist, natürlich. Und hier wären wir auch schon – Ihr Zimmer, Ms. Eyre.«
Grace Pool öffnete die Tür und angesichts des sich mir bietenden Anblicks vermochte ich meine Überraschung kaum zu verbergen.
Mein Blick wanderte über eine geschmackvolle Einrichtung. Edel. Und – im Gegensatz zu der bisherigen Wirkung des Ambientes – keinesfalls kalt. Fast sogar liebevoll. Ein vollkommener Kontrast zu dem bis hierher durchquerten dunklen Gemäuer. Ein helles Himmelbett mit Baldachin stand an einer Wand. An der anderen ein Schrank, bestückt mit edler Kleidung. Ein großes Angebot von Früchten lag in einer Obstschale auf dem Tisch. Daneben lockten Karaffen mit verschiedenfarbigen Säften. Und all das für mich – eine Gouvernante?
»Sind Sie sicher, dass es sich um den richtigen Raum handelt? Hier scheint mir doch eher die Hausherrin zu wohnen.«
»Nein, kein Fehler«, stellte Grace Pool fest. »Alles wurde explizit nach den Wünschen Mr. Rochesters hergerichtet.«
»Aber ...«
Das Dienstmädchen drehte sich ruckartig zu mir um. »Es hat alles seine Richtigkeit. Glauben Sie mir. Ruhen Sie sich aus. Sie hatten eine lange Reise. Falls Sie möchten, finden Sie sich zur siebten Stunde zum Abendessen ein. Dann mache ich Sie mit Adèle bekannt. Das Esszimmer befindet sich unterhalb der Treppe. Zweite Tür auf der linken Seite. Ein Schild hängt außen. Bis nachher.«
Schon stapfte sie fort.
»Danke«, stammelte ich etwas verblüfft und mit einem Mal allein. Nach einem tiefen Seufzer widmete ich mich der Inspektion meines Zimmers. Während mein Blick über das edle Bettzeug, die modischen Kleider und die vornehme Chaiselongue wanderte, glitt er ebenfalls zum Fenster.
Aus der höheren Perspektive bot sich mir der Anblick des umliegenden Moorgebietes. In diesem Hause herrschte die Abgeschiedenheit einer Einsiedelei – alles hier roch danach und war durchdrungen davon wie eine mit Tau bedeckte einsame Bergwiese. In dieser Atmosphäre, gleichsam einer Festung der Verstoßenen ähnelnd, wirkte ich sicherlich umso mehr wie ein Eindringling.
Dann schossen mir plötzlich Gedanken an das arme Kind des Hauses durch den Kopf! Ohne jegliche Spielkameraden lebte es vermutlich hier. Kein Wunder, dass Mr. Rochester eine Gouvernante suchte. Und wenn man die düstere Lage des Anwesens und dieses merkwürdige Uhrwerk einer Dienerin bedachte, war es ebenfalls nicht verwunderlich, dass bisher keine Gouvernante längere Zeit blieb.
Langsam senkte sich inzwischen die Abenddämmerung herab. Wie müde ich mich doch nach der langen Kutschenfahrt fühlte! Nur einen kurzen Moment hinlegen und ruhen. Vom Bett aus entdeckte ich durch das Fenster einen Seitenturm Thornfield Halls – dort flackerte Licht im höchsten Raum. Wer dort wohl lebte?
Weiter verfolgte ich diesen Gedanken jedoch nicht, denn alsbald zog mich Morpheus in seine Arme.
***
Die liebliche Melodie einer Spieluhr lockte mich entlang eines dunklen Korridors zu einem Raum, der offenbar als Werkstatt diente. Ein großer Metalltisch stand in dessen Mitte, umgeben von weiteren Tischen und allerlei Werkzeug. Die Wände zierten etliche Spieluhren – Ursprung der mysteriösen Musik. Für einen kurzen Moment verweilte ich lauschend am Eingang. Doch dann richtete sich mein Blick wieder in den langen Gang. Wohin er wohl führte? Von Neugierde gepackt wandte ich mich ihm zu und folgte seinem weiteren Verlauf, während die Melodie hinter mir immer leiser ertönte, bis sie schließlich erstarb.
Endlich erreichte ich eine Tür, die sich wie von Geisterhand vor mir öffnete – eine Wendeltreppe wand sich dahinter empor. Führte sie in den Turm von Thornfield Hall? Kurzentschlossen setzte ich meinen Fuß auf die erste Stufe.
Oben angekommen erwartete mich ein kärglich eingerichtetes Zimmer – und als ich es voller Interesse betrat, drehte sich hinter mir ein Schlüssel im Türschloss. Entsetzt starrte ich auf die verschlossene Tür. Eingesperrt!
Und dann drang das Ticken einer Uhr an mein Ohr.
Lauter. Immer lauter. Bis es zu einem unerträglichen Dröhnen in meinem Kopf anwuchs.
Schweißgebadet fuhr ich aus dem Schlaf hoch, und mein zum Fenster gerichteter Blick fiel wieder auf diesen einsamen Turm – wie ein mahnender Finger ragte er gleichsam drohend in den Abendhimmel. Kein Wunder, dass er mich bis in meine Träume verfolgte! In der kommenden Nacht galt es die Vorhänge zu schließen, andernfalls wäre an erholsame Nachtruhe nicht zu denken.
»Auf geht es, Jane. Zum Abendessen«, murmelte ich mir ermutigend zu und versuchte, meine angespannten Nerven zu beruhigen.
Vor der großen Spiegeltür des Kleiderschranks ordnete ich sorgfältig den Sitz meiner Kleidung und richtete meine Steckfrisur. Abschließend schenkte ich meinem Spiegelbild ein zufriedenes Nicken und verließ das Zimmer. In den düster und verlassen wirkenden Korridoren auf mich allein gestellt, wurde mir alsbald mulmig zumute. Die seitlich angebrachten Lampen spendeten kaum Licht, während beunruhigende Schatten über die Wände huschten. Manchmal wähnte ich aus den Augenwinkeln Bewegung wahrzunehmen. Doch beim näheren Hinsehen ließ sich nichts entdecken. Lauschend verharrte ich, hörte jedoch nichts. Nein, Moment!
Da ertönte wieder eine Melodie! Zart und leise schwebte sie in der Luft. Doch woher kam sie?
Da ich ihren Ursprung nicht zu erkennen vermochte, atmete ich tief durch, ignorierte sie und setzte meinen Weg fort. Im Erdgeschoss fiel mein suchender Blick schnell auf das an der Tür befindliche Holzschild Esszimmer. Höflich klopfte ich an.
Eine Mädchenstimme rief: »Herein!«
Wandlampen kämpften im Esszimmer gegen die Dunkelheit des Abends, während eine breite Fensterfront den Erkerraum mit trübem Mondlicht füllte.
An einem von sechs Stühlen umrahmten Esstisch saß ein junges Mädchen von vielleicht zehn Jahren. Lächelnd betrat ich den Raum, doch als das Kind aufstand, gefror mir das Lächeln in den Mundwinkeln. Es bewegte sich auf die gleiche abgehackt ruckende Weise wie das Dienstmädchen – und seine Augen! Ohne ein Blinzeln starrten sie mich an.
»Guten Abend, Ms. Jane«, sagte es. Selbst eine rostige Gartentür quietschte menschlicher.
»Dir auch einen schönen Abend, Kleines«, erwiderte ich, innerlich einen kurzen Moment Abscheu niederkämpfend. »Du musst Adèle sein?«
»Jawohl, das bin ich.« Unbeholfen und mit seitlich geneigtem Kopf knickste sie. »Es freut mich, dass Sie uns Gesellschaft leisten, Ms. Jane. Und bevor Sie fragen: Ja, auch ich bin ein Uhrwerk. Aber setzen Sie sich doch mit mir an den Tisch. Das Abendessen wird gleich aufgetragen.«
Wie abgesprochen öffnete sich eine andere Tür und ein Servierwagen wurde von der mir noch unbekannten Haushälterin hereingeschoben, die sich als Mrs. Fairfax vorstellte. Auch bei dieser Frau – vorgeblich fortgeschrittenen Alters – zeigten sich die seltsam ruckenden Bewegungsabläufe. Wieso titulierte sie sich als »Mrs.«? Es handelte sich doch auch in ihrem Fall offensichtlich um eine mechanische Marionette! Ein Uhrwerk. Welch Travestie!
Doch äußerlich höflich lächelnd hielt ich mich innerlich zurück.
Das Abendmahl bot nichts Ungewöhnliches: Porridge, Fisch, Eier, Toast und Marmelade. Zugegebenermaßen schlang ich es geradezu herunter. Einerseits, weil die lange Anreise mich hungrig gemacht hatte, andererseits jedoch, um der Tischgesellschaft dieses ... Dings ... möglichst rasch zu entfliehen. Wieso aß dieses vorgebliche Mädchen überhaupt? Es besaß doch gar keinen menschlichen Organismus!
»Sie sagen gar nichts, Ms. Jane«, stellte meine Tischgesellschaft nun fest.
»Entschuldige, ich bin nur ...« Was sagen, ohne unhöflich zu sein, oder gar Zorn zu erregen? Und doch plagte mich Neugierde. »... verwundert, Adèle. Mir scheint, der gesamte Haushalt besteht aus Uhrwerken?«
»Das ist korrekt.«
»Wozu benötigt Mr. Rochester dann die Dienste einer Gouvernante?«
»Na, für mich«, erwiderte das Mädchen, als ob dies ganz selbstverständlich wäre. »Eine Gouvernante lehrt. Und Sie sollen mir Menschlichkeit beibringen.«
Ich blinzelte verwirrt. »Wie bitte?«
»Menschlichkeit. Mich normal verhalten. Bewegen. Reden. Lachen. Leben.«
Ob dies wirklich jener Art Anstellung entsprach, die ich mir wünschte? Hoffentlich würde Mr. Rochester bald erscheinen, damit ich mit ihm darüber reden konnte.
»Weißt du, wann dein Vat...« Diese mir unpassend erscheinende Bezeichnung ließ mich innehalten.
»Sprechen Sie es ruhig aus. Keine Sorge. Stimmt ja in gewisser Weise: mein Vater.«
»Ach?«
»Er schuf mich als Ebenbild seines verstorbenen Mündels. Es starb bei einem Feuer. Vater ist Erfinder und Mitglied einer Loge, die schon seit langem das Okkulte der Zahnräder erforscht. Zwar verlor er damals durch den Hausbrand alles, doch mithilfe seiner Bruderschaft gelang es ihm, dem Schicksal zu trotzen. Und uns zu erschaffen.«
»Na gut, dann ... weißt du, wann dein Vater wieder zurückkehren wird?«
»Heute im Laufe des Tages. Er scheint sich verspätet zu haben. Aber bis er kommt, haben wir Zeit für uns. Und ich kann Sie durch das Anwesen führen, Ms. Jane.«
»Jetzt noch? Ist es nicht zu spät für ein Kind wie dich?«, kam es mir spontan über die Lippen.
»Normalerweise schon. Doch ich bin ein Uhrwerk. Vergessen Sie das nicht.«
Wie hätte ich das vergessen können?
»Nun, wenn du meinst ...«
»Außerdem kann ich Sie beobachten und dabei lernen. Seien Sie einfach nur Sie selbst. Dann wird alles gut.«
Adèle klatschte in die Hände und sprang vom Stuhl. Ich blickte auf meinen geleerten Teller, nickte und erhob mich ebenfalls. Vielleicht sollte ich es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Bis zur Ankunft Mr. Rochesters würde ich wohl einfach mitspielen müssen, denn auf eigene Faust und ohne Kutsche würde ich nicht durch das Moor kommen.
»Folgen Sie mir, Ms. Jane.«
Adèle führte mich durch die Korridore. Ständig starrte sie mich dabei von der Seite an, geradezu als sauge sie jede meiner Bewegungen in sich auf. Und wenn ich mir durch das Haar fuhr oder mein Kleid zurechtrückte, imitierte sie dies auf verstörend unnatürliche Weise. Adèle lotste mich durch das Erdgeschoss und präsentierte mir die einzelnen Wohnräume. Vom Esszimmer zum Salon und zur Küche. Von einer Bibliothek bis hin zum Musikzimmer mit einem Flügel und einem Grammophon. Danach schritten wir die Treppe hinauf und durchwanderten die Räume im ersten Stock. Hier befanden sich nur Schlaf- und Gästezimmer. Ein überraschend großes Anwesen – aber gänzlich menschenleer.
Wieder auf dem Gang, vernahm ich erneut den Klang einer Spieluhr – diesmal deutlicher als je zuvor. Die Melodie kam aus der Richtung eines Traktes, den wir während unseres Rundgangs nicht betreten hatten.
»Was liegt dort hinten?«, fragte ich und wies zu dem unbekannten Gebäudeteil.
»Dort befindet sich der Nordturm.«
»Willst du mir den nicht zeigen, Adèle?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, Vater wünscht es nicht. Dieser Bereich ist verboten, Ms. Jane.«
»Und wieso ertönt von dort diese Musik?«
»Welche Musik?«
»Hörst du sie nicht, Adèle?«
Das Mädchen lauschte, schüttelte dann aber den Kopf.
»Nein, Ms. Jane. Ich höre nichts.«
Befremdet atmete ich tief durch, nickte dann aber und ließ das Kind unsere Führung fortsetzen. Wohl fühlte ich mich in der Gesellschaft dieses Uhrwerkmädchens nicht, und war froh, als sie mich schließlich zu meinem Zimmer geleitete.
»Jetzt ist es Zeit. Selbst für mich, Ms. Jane. Ein Uhrwerk benötigt Ruhe und muss mindestens zweimal am Tage erneut aufgezogen werden. Wir sehen uns morgen wieder.«
Verabschiedend knickste Adèle und ich flüchtete vor diesem unnatürlichen Ding ins Zimmer. Erleichtert atmete ich dort an die Tür gelehnt tief durch. Doch dann veranlassten mich plötzliche Geräusche auf dem Hof, an das Fenster zu eilen. Eine Kutsche näherte sich entlang des einsamen Weges. Ohne Pferde? Das Gefährt schien aus Holz und Metall zu bestehen – auch eine Art Uhrwerk? Es steuerte seitlich in eine Ausbuchtung und hielt. Ein Mann entstieg ihm.
Viel vermochten meine Augen in dem schwachen Mondlicht nicht zu erkennen, lediglich Zylinder, Reitermantel und einen Gehstock.
Das musste Mr. Rochester sein! Ob ich ihn zu dieser späten Stunde noch aufsuchen sollte? Nein, das schien mir nicht angebracht. Die Aussicht auf eine Nacht auf diesem Anwesen war mir zwar nicht angenehm, aber sie würde sich schon durchstehen lassen. Es wäre nicht meine erste unangenehme Nacht in beängstigender Umgebung. Dann glitt mein Blick allerdings auf den Nordturm, in dessen oberstem Bereich erneut Lichtschein flackerte.
Genug davon! Ruckartig zog ich die Vorhänge zu und sperrte diesen beunruhigenden Anblick aus. Energisch beschloss ich, heute Nacht keine Gedanken daran zu verschwenden.
***
Die Dunkelheit der Nacht lauerte vor meinem Fenster, und trüber Mondschein malte unruhige Schatten durch den Faltenwurf der Vorhänge. Trotz der schaurigen Atmosphäre schaute ich entgegen meinen Vorsätzen zum Fenster. Es war eine gute Idee gewesen, den Ausblick auf den Nordturm zu verdecken. Aber selbst jetzt noch lockte mich eine undefinierbare Empfindung zu ihm – etwas wie der geisterhafte Ruf einer verlorenen Erinnerung.
Doch was war das? Eine Bewegung im Zimmer? Mich überlief ein eiskalter Schauer, und ich fuhr mit schreckensweiten Augen hoch.
»Ist da jemand?«
Mein Blick glitt suchend über die schattenhaften Silhouetten des dunklen Raumes, entdeckte jedoch niemanden. Alles blieb still, und nach ein paar angstvollen Atemzügen ließ ich mich auf mein Kissen zurücksinken.
Plötzlich krallten sich zu meinem größten Entsetzen abrupt und vollkommen unerwartet Hände um meine Kehle! Pressten mich unbarmherzig voller Wucht nieder.
»Du verdammtes Miststück!«, kreischte eine Frauenstimme über mir. Verzweifelt strampelnd versuchte ich mich der Angreiferin zu erwehren, während meine Lunge qualvoll um Atem rang.
Auf einmal ertönte im Zimmer eine Art Rumpeln. Als fiele etwas zu Boden. Gleich eines undurchdringlichen Mantels breitete sich gänzliche Schwärze über mich.
Morgensonne belagerte bereits die Vorhänge, als ich mein Bewusstsein wiedererlangte und mich wenige Atemzüge später ruckartig aufrichtete. War der nächtliche Angriff tatsächlich passiert – oder nur ein böser Traum? Dieses unheimliche Gemäuer und diese unnatürlichen Uhrwerke! All dies hatte sich ganz offensichtlich in meinen Verstand gefressen und ihn vergiftet. Ich würde heute noch mit Mr. Rochester reden und die Stelle als Gouvernante mit aller gebotenen Höflichkeit ablehnen. Andernfalls würde mich in diesem Hause tatsächlich noch der Wahnsinn ereilen!
Nur wenig später klopfte ich an die Tür des Esszimmers.
»Herein!«, meldete sich Adèle wieder.
Als ich den Raum betrat, schaute mich das Uhrwerkmädchen durchdringend an. Es galt, sich nicht täuschen zu lassen: Es sah zwar wie ein Kind aus, war aber keines. Es handelte sich um ein Ding – und ich bildete für sie nur eine Art Anschauungsobjekt. Also Distanz, Jane. Distanz!
»Sag, Adèle, wo ist denn dein Vater?«
»Er liest im Salon. Bei einem Kaffee. Wie er es immer macht.«
»Würdest du mich zu ihm führen? Ich muss etwas mit ihm bereden.«
»Natürlich, Ms. Jane. Sehr gerne!«
Adèle zeigte ein Lächeln, doch es reichte nicht bis in diesen seelenlosen Abgrund ihrer Augen.
»Danke dir.«
Sie knickste und führte mich zu einer Tür am anderen Ende des Korridors.
»Papa!«, rief sie nach dem Klopfen.
»Was ist?«, antwortete eine tiefe Männerstimme.
Adèle drückte die Klinke, und wir betraten einen abgedunkelten Raum. Dichte Vorhänge sperrten das Morgenlicht aus, und lediglich ein Kaminfeuer erhellte den ansonsten in düsteres Zwielicht getauchten Salon. Es schien mir zur Lektüre nicht der beste Ort, und verwundert fragte ich mich, weshalb Mr. Rochester statt im Sonnenschein lieber in einem Ohrensessel nahe des flackernden Lichtschein eines Feuers saß. Auf einem kleinen Tischchen neben ihm lagen etliche Bücher, aber auch lose Papierbögen. Tintenfass und Federkiel deuteten wohl darauf hin, dass er hier weniger las als vielmehr Notizen anfertigte.
»Ms. Jane möchte dich sprechen, Papa.«
»So, so. Will sie das?«
»Ja, das möchte ich, Mr. Rochester. Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen.«
Selbst in diesem Zwielicht konnte ich sein Gesicht erkennen. Hart und kantig, mit buschigen Augenbrauen und scheinbar widerspenstigem Haarschopf. Er wirkte nicht wie einer dieser feinen Gentlemen der englischen Upperclass. Dicke Augengläser ließen sein ohnehin schon markantes Gesicht noch ein wenig außergewöhnlicher erscheinen. Hinter ihnen verbarg sich ein lauernder Blick – gleich dem eines Wolfes, der sich anschickte, im nächsten Augenblick ein Lamm zu reißen.
Nein, kein Mitglied der feinen Gesellschaft. Dort saß meinem Eindruck nach ein verstoßener Rebell. Manche Damen mochten einen Mann solcher Ausstrahlung wohl attraktiv finden, doch ich gehörte nicht zu jenen. Immerhin hörte man allerlei Geschichten über Gouvernanten, die schließlich dem Charme des Hausherren verfielen...
Nein, ein solches Frauenzimmer war ich nicht.
»Oh, keine Sorge, Ms. Eyre. Sie dürfen jederzeit eintreten.« Er blickte zu Adèle. »Kind, lass uns doch bitte allein.«
»Jawohl, Papa.«
Die Brillengläser reflektierten den tanzenden Feuerschein und verliehen Mr. Rochesters Antlitz etwas geradezu Dämonisches, als er mich mit einladender Geste heranwinkte.
»Treten Sie doch näher, Ms. Eyre.«
»Danke, dass Sie mich empfangen. Ich habe ein Anliegen.«
»Oh, welch glücklicher Zufall! Ich ebenso, aber fangen Sie ruhig an.«
Er vollführte eine ermunternde Handbewegung, ich lächelte höflich.
»Es geht um meine Anstellung, Sir. Zu meinem Bedauern kann ich sie nicht antreten.«
Mr. Rochester hob eine Augenbraue.
»Ach? Ist das so? Aus welchem Grund, wenn mir die Frage gestattet ist? Sind es die Uhrwerke?«
»In gewisser Weise ja, Sir. Aber es ist mehr als das. Ich bin einfach nicht die Richtige für dieses Haus. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit und ehrt mich sehr, dass Sie mich für diese Aufgabe ausgewählt haben. Doch ich kann nicht länger bleiben.«
»Vielleicht hätte ich Ihnen die besonderen Umstände von vornherein erklären sollen. Doch die Erfahrung lehrte mich, dass mir dann direkt eine Absage erteilt wird. Ich hoffte, dass Sie alles als gar nicht so schlimm empfinden, sobald Sie erst einmal hier sind.«
»Es ist ungewohnt und überraschend, Sir. Und ich fühle mich nicht wohl. Einer Maschine Menschlichkeit lehren? Das ist nichts, wozu ich ausgebildet wurde.«
»Ich verstehe.« Er seufzte. »Es bleibt mir unter diesen Umständen wohl nichts übrig, als Ihrem Wunsch zu entsprechen.«
»Ich danke Ihnen, Mr. Rochester. Und ich bedauere die Unannehmlichkeiten, die Ihnen meine Entscheidung bereitet. Ich hoffe wirklich, dass Sie alsbald eine andere Gouvernante finden, die nach Thornfield Hall passt.«
Mr. Rochester erhob sich. »Das wird nicht so einfach werden. Denn mir schien, dass insbesondere Sie, Ms. Eyre, sich perfekt hier einfügen würden. Aber gut, es sollte nicht sein – und daran muss ich wohl arbeiten.«
Welch merkwürdige Formulierung, schoss es mir nach diesen Worten durch den Kopf.
»Es wird sich schon jemand finden lassen, Mr. Rochester.«
»Nun, wir werden sehen, doch lassen Sie das getrost meine Sorge sein. Vermutlich wollen Sie so bald als möglich aufbrechen?«
»Das wäre mir sehr recht, ja.«
»Dann schlage ich vor, Sie richten nun Ihr Gepäck. Meine Kutsche wird Sie noch heute zurück nach London bringen.«
»Die Kutsche, mit der ... Sie hergekommen sind, Sir?«, fragte ich zögerlich und schluckte.
»Jawohl, es handelt sich gleichfalls um ein Uhrwerk. Das stellt doch hoffentlich kein Problem für Sie dar, Ms. Eyre?«
»Nein, nein ...« Eine Lüge zwar, doch was blieb mir übrig? Eine andere Möglichkeit würde er mir sicher nicht anbieten.
»Seien Sie unbesorgt. Die Kutsche findet selbständig ihren Weg. Sie ist präzise eingestellt, jedes Zahnrad sitzt am rechten Platz.«
»Natürlich, Sir! Daran hege ich keinerlei Zweifel und vertraue Ihnen darin voll und ganz! Ich danke für Ihre Gastfreundschaft und Ihr Verständnis.«
»Aber nein, ich habe zu danken, Ms. Eyre! Auch wenn Ihre Anwesenheit hier nur kurz war, so habe ich aus ihr doch einige Erkenntnisse gewinnen können. Erlauben Sie mir, dass ich Sie zu Ihrem Zimmer geleite? Dann sind Sie während Ihres Ganges durch dieses unheimliche Haus voller Uhrwerke nicht allein.«
Auch dieses Geleit vermochte ich nicht auszuschlagen, und so nickte ich.
»Sie erwähnten zu Anfang, dass auch Sie ein Anliegen haben, Mr. Rochester?«
»Das stimmt, doch hat es sich nun erübrigt. Machen Sie sich darum keine Gedanken.«
Er schritt zu mir und bot mir höflich seinen Arm. Einen Augenblick blinzelte ich irritiert, atmete dann tief durch und nahm sein Angebot an. Im nächsten Moment jedoch spürte ich tastende Finger an meinem Rücken!
»Mr. Rochester!«
Empört wollte ich ihn von mir stoßen. Doch zu spät. Schon durchzuckte mich Schmerz. Eine vergiftete Nadel?
Nein, das konnte doch wohl nicht möglich sein! Beim nächsten Atemzug schwanden mir bereits die Sinne – und ich glitt zu Boden.
***
Kontinuierliches Ticken einer Uhr im Rhythmus meines Herzens empfing mein allmählich aus den Tiefen empfindungsloser Dunkelheit emportauchendes Bewusstsein. Und über diesem Geräusch schwebte wieder diese Melodie einer Spieluhr – diesmal deutlich lauter.
Doch wo befand ich mich? In einem Keller? Benommen spürte ich eine eiskalte Fläche unter mir. Ein Kribbeln durchlief meine Hand – nein, meinen gesamten Körper. Unnatürlich hell blendete eine über mir hängende Lampe meine noch unscharf wahrnehmenden Augen.
Bewegung erfolgte in den Schatten jenseits des grellen Scheins. Langsam gewann meine Sehfähigkeit wieder an gewohnter Schärfe. Meine Augen gewöhnten sich an die Extreme aus grellem Licht und tiefster Dunkelheit. Vorsichtig und möglichst unauffällig schaute ich an mir herunter: bekleidet mit einem Nachtgewand lag ich auf einem Tisch!
Da war jemand! Direkt neben mir. Mühsam drehte ich meinen Kopf zur Seite. Über einen seitlichen Tisch gebeugt, stöberte Mr. Rochester in einer Schublade. Ein Vergrößerungsglas prangte über seinen Augen. Einen Atemzug später hob er eine Zange. Dann einen Bohrer. Schließlich noch eine Pinzette. Platzierte alles neben sich.
Wieder ein Traum?
Nein, kein Traum. Ich war eindeutig wach, denn meine Stirn schmerzte, ebenso mein Rücken. Tunlichst versuchte ich ein Aufstöhnen zu unterdrücken. Mr. Rochester durfte nicht bemerken, dass ich inzwischen bei Bewusstsein war!
Als er sich mir zuwandte – stellte ich mich schlafend. Mit geschlossenen Augen konnte ich mich nur noch auf mein Gehör verlassen.
Ein Klirren. Dann wurde quietschend ein Stuhl über den Boden gezogen. Näher zu mir. Ein tiefer Seufzer drang an mein Ohr.
»Was hast du nur mit ihr gemacht, Jane?«, sprach er mehr mit sich selbst. »Aber das bekommen wir schon wieder hin. Ich rette dich. Und dann sind wir endlich wieder glücklich vereint.«
Ganz offensichtlich befand ich mich in der Gewalt eines Verrückten! Englands Upperclass hatte Recht: Uhrwerke ... Teufelszeug! Jemand, der Solches ersann, konnte einfach nicht bei klarem Verstand sein! Dieser obsessive Erfinder hier war anscheinend besessen von mir, einer unscheinbaren Gouvernante! Aber wieso?
Seine Finger drückten an meine Schläfen. Kalter Stahl ließ mich unwillkürlich zusammenzucken. Er hielt inne. Hatte er meine Reaktion bemerkt? Nein, Türenknarren ertönte im Hintergrund, dann sich nähernde, abgehackt wirkende Schritte. Vermutlich hatte ihn das abgelenkt.
»Mr. Rochester.« Grace Pooles monotone Stimme erklang. »Im Nordturm benimmt sich Ihre Frau wieder merkwürdig. Scheinbar ein Anfall.«
Rochester seufzte tief, und erneut drang das Rutschen des Stuhls an mein Ohr.
Diesmal von mir weg.
»Gute Güte, dann muss das hier noch ein wenig aufgeschoben werden. Bitte achten Sie derweil auf Jane, Grace. Sie ist noch nicht wach, sollte Ihnen daher keine Schwierigkeiten bereiten.«
»Jawohl, Mr. Rochester. Was, wenn sie zu sich kommt?«
»Das wird nicht passieren.«
»Und wenn doch?«
»Dann schalten Sie sie aus.«
»In Ordnung, Mr. Rochester.«
»Sie wissen ja, wie ...«
Nur mühsam vermochte ich bei dieser Unterhaltung einen Aufschrei zurückzuhalten. Doch ich blieb still. Mucksmäuschenstill. Nur die sich entfernenden Schritte des Wahnsinnigen waren zu hören – dann war ich allein mit diesem seelenlosen Ding namens Grace Poole. Nur ihr Kleiderrascheln durchdrang die eingetretene Stille. Sie näherte sich. Unmittelbar neben mir stand sie nun. Ich spürte es. Beugte sie sich über mich? Lieber nicht darüber nachdenken. Ihr Gesicht mochte jetzt ganz nah dem meinem sein. Ihre leeren, kalten Augen starrten vielleicht vergeblich auf meine geschlossenen Lider.
Dann wieder ihre Bewegungen – diesmal fort von mir. In Richtung des anderen Tisches? Vorsichtig öffnete ich ein Augen einen winzigen Spalt breit. Ja, sie drehte mir den Rücken zu. Meine Gelegenheit!
Langsam, ganz langsam und lautlos, griff ich nach dem neben meinem Kopf abgelegten Bohrer. Umfasste ihn und erhob mich.
Grace Poole inspizierte die Schublade, die Mr. Rochester offengelassen hatte und kramte in dem Inhalt. Genug Geräusche, die meine Schritte übertönten. Barfüßig schlich ich hinter sie. Hob den Bohrer, holte aus – und stach ihr in den Kopf.
Der Schädel bot zwar mehr Widerstand als vermutet – und doch drang die Bohrerspitze tief ein. Kratzen, Scheppern und Ticken setzte ein. Wie im Falle einer unrund laufenden Uhr.
Grace Poole packte meine Hand, doch traf mein Hieb sie wohl an einer empfindlichen Stelle. Dieser Automat verfügte nicht mehr über genügend Kraft, um mich von sich zu stoßen. Ich war stärker!
Das Uhrwerk in Menschengestalt wankte, und sein Kopf drehte sich – nicht aber der restliche Körper! Vor Schreck entfuhr mir ein Schrei und ich schlug sofort die Hand vor meinen Mund. Die Arme des mechanischen Körpers hoben sich, streckten sich in einem letzten, langsamen Versuch nach mir aus. Taumelnd wich ich angstvoll zurück, bis mein Rücken den Tisch berührte.
Doch dann stolperte Grace Pool. Ihre Augen weiteten sich. Vor Entsetzen? Sie empfand Schrecken? Wie sollte das möglich sein? Dieses Ding besaß keine Gefühle! Konnte keine besitzen!
Es sackte zusammen, tickte noch vor sich hin, erbebte – dann erstarb sämtliche Bewegung. Ebenso das Ticken. In unnatürlichen Verrenkungen lag die blasphemische Verhöhnung eines Menschen vor mir. Es galt nun, rasch zu entkommen!
Trotzdem zerrte ich zunächst den Bohrer aus dem metallenen Schädel, denn mit irgendeiner Waffe musste ich mich notfalls verteidigen können. Hastig stolperte ich in Richtung der Tür. Nicht abgeschlossen! Nun, wenigstens etwas.
Vor mir erstreckte sich ein eisiger dunkler Steingang. Mich fror, dumpf hallte das Echo meiner nackten Füße nach. Nur fort von diesem Verrückten und seinem verfluchten Anwesen! Doch lediglich mit einem Nachthemd bekleidet drohte mir draußen der sichere Tod. Im Moor wäre es bei der Kälte dieser Jahreszeit auch schon ohne diese zusätzliche Schwierigkeit gefährlich genug. Es gab keine andere Möglichkeit: Ich musste mich auf mein Zimmer stehlen und Wärmeres anziehen. Mein Gepäck würde zurückbleiben. Das hielte mich nur unnötig auf. Aber ich benötigte wenigstens warme Kleidung!
Ja, das klang nach einem guten Plan.
***
Trügerisch vermittelte mein freundliches Zimmer die Empfindung einer sicheren Zuflucht. Voller Hast knöpfte ich mit zitternden Fingern meinen Mantel zu und warf den Pelzumhang über. Noch ein letzter Blick aus dem Fenster: dunkel und kalt.
Aber dort! Das flackernde Licht im Nordturm des verbotenen Traktes. Dort hielt sich derzeit sicherlich dieser Verrückte auf und stellte mit seiner Frau womöglich Unbeschreibliches an! Schon im Begriff, mich nach dieser grausigen Überlegung abzuwenden, hielt ich plötzlich inne. Erst in diesem Moment erschloss sich mir die wahre Tragweite dieses Gedankens. Durfte man diese eingesperrte Frau hier zurücklassen? Nein, wer auch immer sie war – völlig undenkbar, sie in den Fängen dieses ... Monsters ... und seiner Gefolgschaft williger Uhrwerkdienerinnen zu belassen. Tief schöpfte ich Atem und rang mich zu einer schwerwiegenden Entscheidung durch: Ich würde Mrs. Rochester retten!
Wieder in dem Gang, den Bohrer mit beiden Händen fest umklammernd, zeigte sich kein weiteres Uhrwerk oder verstellte mir den Weg. So schlich ich durch die Korridore des dunklen Thornfield Hall, an dessen Wänden nur hin und wieder Gaslaternen schwaches Dämmerlicht verbreiteten. Die leise Spieluhrmelodie, die mich seltsamerweise immer wieder zu verfolgen schien, schwebte zwar auch jetzt unaufhörlich in der Luft, jedoch ignorierte ich sie mittlerweile.
Bald schon erreichte ich den Nordtrakt – und die verbotene Tür. Behutsam drückte ich die Klinke. Nicht verschlossen! Dahinter eine sich schier endlos emporschraubende Wendeltreppe. Hastig folgte ich den Stufen hinauf und erreichte schließlich eine schwere Holztür, die einen Spalt offenstand, durch den streitende Stimmen drangen.
»... ich bringe dieses Miststück um!«, schrie eine Frau.
»Du hättest sie nicht angreifen dürfen!«, erwiderte Mr. Rochester donnernd.
»Sie wird mich nie ersetzen! Das wird sie nie können – und das weißt du!«
»Was bleibt mir anderes übrig? Denkst du, ich will das? Glaubst du, ich möchte nicht wieder alles so, wie es war?«
»Das liegt daran, dass du es verdorben hast. Alles! Mit deinen Lügen. Mit deiner Hurerei. Mit deiner Loge!«
»Ruhe! Ich werde mir das nicht weiter anhören, ich ...«
Beide waren so in ihr Streitgespräch vertieft, dass ich mich vorwagte und vorsichtig durch den Türspalt lugte. Mr. Rochester holte mit der Hand aus, verdeckte jedoch die Frau, der er die Ohrfeige verpasste. Aber sie setzte zum Gegenangriff an! Ihre krallenartigen Finger legten sich um seine Kehle. Mit einem heftigen Ruck befreite er sich aus ihrem Griff und trat die Frau von sich – fort aus meinem Sichtfeld.
Nein, das durfte ich nicht weiter tatenlos mit ansehen! Schon stürmte ich hinein, mein provisorisches Mordwerkzeug hoch erhoben, und wollte auf den Mann einstechen, da ließ der Blick der Frau mich wie von einem unsichtbaren Schlag getroffen zurücktaumeln. Ich erkannte sie – und sie ... mich!
»Du!«, schrie sie schrill. »Miststück! Ich töte dich! Töte dich! Töte dich!«
Die Stimme aus meinem Traum? Nein, es war kein Traum! Sie hatte wirklich versucht, mich zu töten! Wie in Schockstarre verharrte ich, als sie auf mich zustürmte. Ihre Hände würgten mich, während sie mir hasserfüllt tief in die Augen starrte.
Und ich – blickte in mein eigenes Gesicht. Wie in ein entstelltes Spiegelbild! Verunstaltet durch eine großflächige Brandnarbe, die sich vom Mund bis zum Ohr und den Hals hinab zog. Das musste eine weitere Marionette dieses Wahnsinnigen sein, raste mir durch den Kopf. Ein Uhrwerk, geschaffen nach meinem Vorbild! Doch darum sollte ich mir jetzt keine Gedanken machen, denn nun hing diese Furie an mir!
Ich schrie, und der Überlebenswille verlieh mir schier unmenschliche Kräfte gegen dieses außer Kontrolle geratene Ding. Es kratzte, trat, schlug. Schmerz durchfuhr meinen Arm, als sich nadelspitze Fingernägel in meine Haut bohrten. Verzweifelt rang ich mit dieser Monstrosität und löste endlich ihren Griff von meiner Kehle, um wieder atmen zu können.
»Nein, Jane!«, schrie Mr. Rochester auf.
Als ob ich auf diesen Verrückten hören würde! Niemals!
Ich holte aus und stach mit meinem Bohrer auf den Kopf meiner mechanischen Doppelgängerin ein.
Doch etwas ... stimmte nicht. Ein kurzes Knacken – und schon öffnete sich der Schädel.
Kein Ticken? Kein Scheppern? Kein Metall? War das kein Uhrwerk?
Leblos fiel das Ding zu Boden. Rote Flüssigkeit sickerte aus dem Kopf.
Blut? Entsetzt wankte ich zurück, stieß gegen eine Petroleumlampe. Sie kippte, fiel herab, zerbrach und verteilte Öl auf dem Teppich. Mit schreckensweiten Augen blickte ich panisch umher. Schon fraßen sich lodernde Flammen gierig in den roten Teppich.
»Was hast du Jane angetan?«, schrie mich Mr. Rochester im nächsten Augenblick mit sich überschlagender Stimme an.
»Was? Aber ...«, stotterte ich. »Ich bin doch ...?«
Er stürzte zu dem leblosen Körper, unter dem sich eine immer größere Blutlache ausbreitete. »Nein! Jane! Ich will dich nicht verlieren!«
Immer mehr Feuerzungen arbeiteten sich rasch voran. Erfassten Mobiliar, Bett, Vorhänge. Aus Wärme erwuchs zunehmend Hitze. Aus Hitze entwickelte sich mit rasender Schnelligkeit Gluthitze. Doch das anwachsende Inferno kümmerte mich in diesem Moment kaum.
Mr. Rochester kauerte neben dem leblosen Frauenkörper. Was um alles in der Welt geschah hier? Sollte ich in Wahrheit einen Menschen getötet haben? In sprachloser Fassungslosigkeit ließ ich mein Mordinstrument fallen, wandte mich um und stürmte die Turmtreppe hinunter. Dann den Korridor entlang bis zur Eingangspforte. Hastig stieß ich sie auf, trat hinaus und blickte mich um – ratlos nach einem Ausweg suchend. Nur fort von diesem garstigen Gemäuer!
Dort! Die Uhrwerkkutsche! Das war meine Rettung!
Schon rannte ich hin, riss die Tür auf und stieg ein. Im Inneren sah ich, nur teilweise durch eine Holztäfelung verkleidet, zahlreiche Zahnrädchen – kleine wie große, außerdem Getriebe, Motoren, Kompressoren. Und an der Tür gab es einen Knopf an einer Apparatur. Voller Panik drückte ich ihn einfach. Was hätte jetzt schon noch schiefgehen können? Sofern Mr. Rochester mich nicht angelogen hatte, würde die Kutsche ihren Weg eigenständig finden. Das würde sich nun zeigen.
Wie von Geisterhand wurde nur einen Atemzug später Dampf in die Kompressoren geblasen, Ventile gaben pfeifende Geräusche von sich, und die Kutschentür verriegelte sich. Die Zahnräder setzten sich gegenseitig in Bewegung. Es rumpelte, dröhnte und vibrierte, als die Maschinerie tief im Inneren anging.
Und dann rollte die Kutsche den Weg entlang durch das Tor, das sich durch einen ominösen Mechanismus eigenständig öffnete.
Draußen! Endlich draußen! Entkommen!
Doch der Wahnsinn sollte mich noch nicht aus seinen Fängen entlassen. Mich endlich in Sicherheit wähnend, richtete ich meinen Mantel und runzelte angesichts des zerrissenen Ärmels die Stirn. Dieses merkwürdige Spiegelbild meines Selbst hatte ihn mir zerfetzt. Hatte meine Haut aufgekratzt. Doch ließ sich das wirklich so nennen – Haut? Was war das? Mir offenbarte sich kein Blut. Auch kein Fleisch. Nein, Metall! Wie in Trance hob ich den Arm an mein Ohr und lauschte. Ein Ticken – ganz im Rhythmus meines Herzens. Auch diese bis in meine Brust spürbare Spieluhrmelodie ertönte in spielerisch leichtfüßigem Takt und wirbelte meine Seele auf. Die nun in mir keimende Erkenntnis völligen Grauens ließ mich nach Luft schnappen.
War ich in Wahrheit ein ... Uhrwerk? Besaß somit kein Herz? Keine Seele? Entsprach meine Ankunft in dem Anwesen nur meiner Einbildung? Beruhte die Erinnerung der Kutschfahrt lediglich auf einer in den Lauf meiner Zahnräder eingestellten Mechanik? Bedeutete meine Existenz überhaupt ... Leben?
Schwindel erfasste mich, als all diese Gedanken meinen Kopf durchschossen. So musste es wohl sein, wenn man über den eigenen Tod nachdachte.
Über die eigene Entstehung.
Über das Leben.
Über Gott.
Doch wenige Augenblicke später atmete ich tief durch und verdrängte diese beängstigenden Gedanken. Ganz ruhig, Jane! Besser, alles einfach akzeptieren – und möglichst wenig darüber nachdenken.
Vielleicht mochte ich die Karten nicht, die mir das Leben zugeteilt hatte. Doch wie ich sie ausspielte, blieb immer noch mir selbst überlassen. Möglicherweise war ich ja tatsächlich nur ein Uhrwerk. Doch lebte ich, dachte, handelte, fühlte. Wie auch immer dies möglich war. Und ich würde das Beste aus meiner Existenz machen!
So legte ich einen verdeckenden Schal über meine letztlich so aufschlussreiche Armwunde und blickte aus dem Fenster.
Der bereits ferne Nordturm Thornfield Halls stand in Flammen. Das Feuer hatte sich schon bis tief in dieses grässliche Gemäuer gefressen. Ob Mr. Rochester entkommen war? Oder ob er bei der wahren Jane verharrte – bis zu seinem eigenen Tod? Ich weiß es bis heute nicht.
Nun, so entfloh ich letztendlich dem verfluchten Thornfield Hall.
Die Anstellung im Hause Mr. Rochesters entpuppte sich als nicht für mich gedacht. Aber vielleicht ist Ihnen jemand bekannt, der eine Gouvernante wie mich sucht? Natürlich nur, sofern Sie meine Geschichte nicht verschreckte, und Sie nicht von Vorurteilen belastet sind. Ich garantiere, Sie werden in meinem Fall keinen Unterschied im Vergleich zu einem Menschen bemerken. Immerhin ging es mir selbst ebenso. Aber bevor Sie dem Gedanken anheimfallen, in mir eine hörige Dienerin zu vermuten:
Ich verfüge über einen eigenen Willen. Weshalb Mr. Rochester mir diesen wohl verlieh? War es überhaupt Absicht?
Ich werde es vermutlich nie herausfinden. Nun ja, vielleicht ist es auch besser so...
Besorgt blickte Grace in die wolkenverhangene Düsternis der Nacht. In der Ferne tasteten die Scheinwerfer eines Luftschiffs über die in Dunkelheit gebetteten Dächer Bloomsburys. Blechernes Klappern kündigte bereits aus der Ferne eine Kutsche an, noch ehe das Fahrzeug in die New Oxford Street bog. Das Quietschen der Achse untermalte das Zischen und Schnaufen des Dampfrosses, während das Gefährt zwei Stockwerke tiefer durch zarte Nebelschwaden über das Kopfsteinpflaster ruckelte und im Schein der Laternen zuckende Schatten an die gegenüberliegenden Hauswände warf.
Nimm dich in Acht, hallte ein Reim in ihrer Erinnerung wider, den Grace längst verdrängt zu haben wähnte, denn in dieser Nacht ist in Londons Gassen ein Monstrum erwacht ... Unwillkürlich erschauderte sie, schloss rasch Läden und Fenster, um die Geräusche und klamme Kälte dieser trüben Oktobernacht auszusperren. Mit energischem Ruck zog sie schließlich die schweren Vorhänge zu.
»Hast du die Läden auch ganz fest verschlossen?«, erklang es gedämpft. Mehr als einen zerzausten blonden Haarschopf und beunruhigt geweitete Augen, die unter der Bettdecke hervorlugend ihre Handgriffe beobachteten, vermochte Grace nicht auszumachen.
»So, wie an jedem Abend, Rob«, entgegnete sie mild lächelnd.
Die Decke senkte sich daraufhin ein wenig und offenbarte die geröteten Wangen eines Jungen. »Heute müssen sie besonders fest verschlossen sein«, mahnte er mit ernster Besorgnis, den Blick auf die Vorhänge gerichtet, als könne er hinter ihnen den Fenstergriff sehen.
»Fenster und Läden«, versicherte das Hausmädchen und setzte sich auf die Bettkante, »sind so fest zu, wie es nur eben geht.« Liebevoll strich sie über seinen Kopf.
Ein erleichterter Seufzer entrang sich der kleinen Brust. »Dann ist es ja gut.« Kurz huschte sein Blick erneut zu den Gardinen.
»Du brauchst nichts zu fürchten«, versicherte sie ihm.
»Fürchten?« Rob rutschte höher, straffte die schmalen Schultern und bemühte sich um eine tapfere Miene. Der Anblick hatte etwas Rührendes. »Ich fürchte mich nicht.« Verlegenheit stahl sich auf seine Züge. »Es ist nur ...«
Sanft legte Grace eine Hand auf die Decke, unmittelbar über seinem Herzen. Eine stumme Ermunterung, weiterzusprechen.
»Ich weiß, dass ihr ein Geheimnis habt, ihr Erwachsenen.« Er fixierte sie mit einem Ernst, der nicht so recht zu einem Kind seines Alters passen wollte. »Mum schaut mich immer so besorgt an. Und manchmal, wenn ich ins Zimmer komme, hört sie plötzlich auf, mit Dad zu reden, als wollten die beiden etwas vor mir verheimlichen.«
»Rob, ich glaube nicht ...«
Der Junge schüttelte entschieden den Kopf. »Ich weiß, dass es so ist.« Trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust. »Bei meinem Freund Arthur verhält es sich genau so«, setzte er nach. »Heimlich hat er darum seine Eltern belauscht und mir erzählt, dass ...« Fest presste Rob die Lippen zusammen, als habe er bereits zu viel verraten.
»Was hat er dir erzählt?«
»Von ... von ihm.« Einem Schatten gleich huschte Furcht über sein Gesicht. »Von den Kindern, die … verschwinden.«
Grace setzte zu einer Erwiderung an. Wollte ihn beschwichtigen, ihm sagen, dass Arthur etwas falsch verstanden haben müsse. Wollte abstreiten, dass in den vergangenen Wochen bereits drei Kinder aus ihren Betten gestohlen worden waren, ohne dass die Ermittler auch nur einen einzigen Anhaltspunkt fanden, wo man mit der Suche beginnen sollte. Doch das Vertrauen, das Grace
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2022
ISBN: 978-3-7554-1561-9
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