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Impressum / Klappentext

 

 

 

 

 

KROLL

 

von

 

Markus Kastenholz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vollständige Ausgabe 2019

Copyright:

© HAMMER BOOX, Bad Krozingen

(Fehler sind natürlich - wie immer - beabsichtigt und dürfen ohne Aufpreis behalten werden J )

 

Lektorat, Korrektorat:

Thomas Kilian, Thomas Tippner

Cover: Christian Günther

Satz und Layout: HAMMER BOOX

 

 

 

 

EINE BITTE:

 

Wie ihr vielleicht wisst, ist HAMMER BOOKS noch ein sehr junger Verlag.

Nicht nur deshalb freuen wir uns alle, wenn ihr uns wissen lasst, was ihr von diesem Roman haltet.

Schreibt eine Rezension, redet darüber, fragt uns, wenn ihr etwas wissen wollt...

 

DANKE!

 

 

 

 

Clemens Kroll – Schriftsteller und bekennender Tempelritter – muss in den Rheingau zurück: seine alte Heimat.

Vor 15 Jahren, nach dem Tod seiner geliebten Eltern, ist er von dort weggezogen. Auch seine Rückkehr jetzt ist eher unfreiwillig: Seine Aussage wird bei einem Mordfall an einer Nonne in der Abtei St. Hildegard in Rüdesheim benötigt. Dabei kannte er die Tote gar nicht.

Doch sein Aufenthalt steht unter keinem guten Stern. Sein Plan, noch am gleichen Tag wieder zurückzufahren, entpuppt sich als Wunschdenken.

Er trifft alte Freunde und neue Feinde.

Und er trifft Katja, seine erste Liebe. Mittlerweile ist sie Nonne in St. Hildegard.

 

Bald gibt es den nächsten Toten, und es soll nicht der letzte bleiben.

Für Kroll ist es nicht nur ein Trip in seine eigene Vergangenheit, er kommt auch Geheimnissen auf die Spur, die er besser nicht aufgedeckt hätte.

 

 

Markus Kastenholz liefert hier nicht nur einen spannenden Rheingau-Regional-Thriller mit viel Lokalkolorit ab.

Dieser Roman ist sein mit Abstand persönlichstes Werk.

 

 

Kroll

 

 

 

 

 

 

 

 

Obwohl der folgende Roman an realen

Orten spielt, sind die dort stattfindenden Ereignisse, ebenso wie die Personen,

rein fiktiv.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Willkommen im Rheingau.«

Clemens Kroll sagte das so leise, dass keiner seiner Mitreisenden im Regionalzug ihn hören konnte. Es war ganz für ihn allein bestimmt. Seine Stimme troff vor Ironie.

Demonstrativ verschränkte er die Arme vor der Brust und lehnte sich ins rote Kunststoffpolster der Bank zurück. Am liebsten hätte er einen Fluch gen Himmel geschickt. Oder auch gen Hölle, falls das mehr genutzt hätte. Wahrscheinlich hätte keines von beidem etwas genützt, also ließ er es bleiben.

Der Zug war fast leer, zumindest der Waggon, in dem er saß. Kein Wunder, es war Vormittag. Nur morgens und gegen Abend platzten die Züge vor Pendlern schier aus allen Nähten.

Auch Kroll war diese Strecke drei lange Jahre gefahren. Tag für Tag, außer am Sonntag. Morgens nach Wiesbaden in die Schule, nachmittags wieder zurück. Bereits damals schien dieser Waggon hier in Betrieb gewesen zu sein. Generationen von Rei­senden hatten sich überall mit wasserfesten Stiften verewigt: An den Wänden, den Fenstern und dem Aschenbecher, obwohl hier längst Rauchverbot herrschte. Überall waren Sprüche und kleine Zeichnungen: Resultate der Langeweile, der Liebe, der Wut und des Hasses.

Er machte sich nicht die Mühe, die Umgebung nach seinen eigenen Kritzeleien von einst abzusuchen.

Sein gedankenverlorener Blick fiel aus den schmutzigen Fenstern; gnadenlos offenbarte das Sonnenlicht jeden Fleck. Durch die Zwischenräume der hoch aufgerichteten Pappeln am Ufer glitzerte der Rhein blau-silbern. Gelegentlich tuckerte dar­auf ein Containerschiff oder ein weißer Ausflugsdampfer seines Weges.

»Willkommen im Rheingau«, wiederholte Kroll bei diesem vertrauten Anblick. Inständig hatte er gehofft, er würde ihm für immer erspart bleiben.

Er hatte einen Kloß im Hals. Einen riesigen Kloß. Es war nur psychosomatisch, Kroll wusste das. Ebenso wie sein Magen und sein Kreislauf, die ständig doppelte Salti rückwärts zu machen schienen. Nur: Diese Gewissheit machte es ihm auch nicht einfacher.

Seit vorgestern hatten die Beschwerden an Intensität zugenommen. Beschränkten sie sich für gewöhnlich auf einzelne Schübe, die bald vorübergingen, so waren sie zurzeit zum Dauerzustand geworden.

Die Entscheidung, nach Rüdesheim zurückzukehren, hatte nicht er getroffen. Freiwillig hätte er seinen Fuß nicht mehr in den Rheingau gesetzt.

Insgeheim musste er auflachen. Es war schon komisch. Ko­misch nicht im Sinne von amüsant. Und erst recht nicht lustig. Eher seltsam. Absurd. Grotesk.

Fast fünfzehn Jahre war es ihm gelungen, den Rheingau zu meiden wie der Teufel das sprichwörtliche Weihwasser. Und kaum wurde er zur Rückkehr gezwungen, warf sich ein Lebens­müder vor den Zug. Nicht vor irgendeinen Zug, sondern ausgerechnet vor SEINEN Zug!

Natürlich waren sie nicht sofort nach der Vollbremsung da­rüber informiert worden. Der Lokführer war dazu bestimmt nicht in der Lage. Vermutlich hatte er den Selbstmörder auf den Schienen gesehen und den Zug doch nicht rechtzeitig anhalten können. Ein fahrender Zug war wie ein Projektil. Sobald man ihn in Bewegung gesetzt hatte, war er kaum zum Stillstand zu bringen. Und er war mindestens genauso tödlich wie ein Projektil.

Erst einige Minuten, nachdem der Zug auf freier Strecke zwischen Geisenheim und Rüdesheim zum Stehen gekommen war, hatte sich jemand über Lautsprecher an die Passagiere ge­wandt. Die anonyme Stimme – vermutlich gehörte sie einem Schaffner – sprach von einer »außerplanmäßigen Verzögerung« und bat um Verständnis. Wenn man nicht weiterwusste, appellierte man immer an das Verständnis der Anderen.

Sofort waren unter den Passagieren die ersten Vermutungen aufgekommen. Niemand hatte einen Aufprall bemerkt. Niemand hatte einen toten Körper gesehen, der davongeschleudert wurde. Und niemand hatte den Gestank von verkohltem Fleisch gerochen, wenn der Körper auf die glühend heißen Schienen geriet.

Aber kein Wunder. Niemand hier hatte sich je in einem Zug befunden, der soeben getötet hatte. Für den ein menschlicher Körper etwa ein ebenso geringes Hindernis darstellte wie eine Garnison Ameisen für einen Panzer.

Als kurz darauf die Sirenen ertönten, wurden die Spekulationen zur Gewissheit. Polizei- und Krankenwagen tauchten auf, fuhren querfeldein und hielten einige hundert Meter hinter dem Zugende. Die Polizisten schwärmten aus, suchten.

Vom Zug aus war nichts Konkretes zu erkennen. Leider war Krolls Phantasie derart ausgeprägt – manche behaupteten auch, sie sei überbordend und krank! -, dass er gar nichts sehen musste. Auch so meinte er sich äußerst plastisch vorstellen zu können, was die Polizisten dort vorfanden. Und falls nicht, so bildete er es sich zumindest ein.

Endgültige Klarheit brachte erst der Uniformierte, der sie informierte. Er sprach Tacheles. Obwohl auch er nicht sagen konnte, wie lange die Verzögerung dauern werde; die Staatsanwaltschaft habe den Tatort gesperrt und nehme nun die Ermittlungen auf. Es scheine sich um einen Mann gehandelt zu haben. Unmittelbar hinter einer Kurve habe er den Zug erwartet.

Abbremsen? Keine Chance!

Kroll seufzte. Er hätte wirklich zu Hause bleiben sollen. Pietätlos zwar – aber manchmal musste er einfach jammern. Das lag in der Natur des Menschen. Fast erschien es ihm, als versuche das Schicksal, seine Rückkehr nach Hause zu verhindern. Kein gutes Omen. Normalerweise hörte er auf sowas. Hier und jetzt hatte er jedoch keine Wahl.

»Wissen Sie, wie lange sowas dauert?«

Er schreckte zusammen, als er angesprochen wurde. Sein Blick war noch immer etwas entrückt, als er aufsah.

Ein Mann um die fünfzig in braunen Cordhosen und mit gelbem Polohemd stand am Fenster, auf der anderen Seite des Waggons. Er hatte es geöffnet. Teils um die Bergungsarbeiten zu beobachten, teils aber auch, damit der Rauch seiner Zigarette nach draußen abzog. Natürlich herrschte hier Rauchverbot. Wie in jedem Zug. Doch angesichts der besonderen Umstände dachte niemand daran, ihn deshalb zur Rechenschaft zu ziehen.

»Ich hab sowas zum Glück noch nie mitmachen müssen«, antwortete Kroll und erhob sich. Der Fahrgast hatte ihn daran erinnert, seine letzte Zigarette hatte er heute Morgen auf dem Bahnsteig in Freiburg geraucht. Beim Umsteigen in Frankfurt und Wiesbaden hatte er es derart eilig gehabt, dass er nicht dazu gekommen war.

Er brauchte jetzt Nikotin.

Die schwarze Umhängetasche ließ Kroll auf der Bank liegen. Er streckte sich, dann begann er, in der rechten Hosentasche nach den Zigaretten zu suchen.

Mit einem wissenden Grinsen quittierte der Mitreisende, wie Kroll sich zu ihm ans Fenster gesellte.

»Wie lange sammeln die die Brocken jetzt schon ein?« Der Mann legte die Stirn in Falten. Wäre es nach ihm gegangen, man hätte die Überreste des Selbstmörders ruhig den Tieren überlassen können.

Kroll ging nicht auf die dumme, respektlose Bemerkung ein. Es stand außer Frage, ein Suizid bedeutete für die Insassen des auserkorenen Zugs Unannehmlichkeiten. Kein Vergleich zum Trauma des Lokführers, das man gern vergaß. Außerdem redete man sich viel zu oft ein, der wurde »dafür« ja bezahlt … Nein, dafür nicht.

All das stand jedoch nicht annähernd in Relation zu dem, was der Selbstmörder dabei empfand: tiefgreifende Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Ohne Ausweg. Man war dermaßen auf sich fixiert, auf den krankhaften Zwang, seiner Existenz ein Ende zu bereiten …, man scherte sich um niemand außer sich selbst.

Dass dieser hier besonders verzweifelt gewesen war, dafür sprach die Art des Todes, die er gewählt hatte. Vielleicht hatte er einen Abschiedsbrief geschrieben. Höchstwahrscheinlich hat­te er das sogar getan. Aber er hatte seine Tat nicht angekündigt, um rechtzeitig daran gehindert zu werden. Kein Ruf nach Hilfe, sondern nihilistische Entschlossenheit. Mit einem Mordwerkzeug, das nicht versagte. Das ihn derart zerfetzte, ebenso zerfetzt, wie wahrscheinlich seine Seele gewesen war.

So sehr es sich Kroll auch gewünscht hätte, es hätte einen anderen Zug getroffen – er konnte auf den Selbstmörder nicht böse sein. Er empfand nur Mitleid für ihn. Eine arme Sau …

Er ließ sein schwarz-goldenes Feuerzeug aufblitzen und hielt die Flamme an den Tabak der Mentholzigarette zwischen seinen Lippen. Tief inhalierte er den beißenden Qualm und bildete sich ein, genau das habe er jetzt gebraucht, um sich besser zu fühlen.

»Scheißdreck, verdammter!« Der Andere reckte den Kopf nach draußen, in Richtung Zugende. Er versuchte seinen Hals so lang wie möglich zu machen, damit ihm dort ja nichts ent­ging. »Ich bin Handelsvertreter. Geschäftstermin. In spätestens zwei Stunden muss ich in Rüdesheim sein, sonst fällt mein Mallorca-Urlaub ins Wasser…«

»Na dann, viel Glück.« Es war Kroll gleich, ob er Glück hatte oder nicht. Aufgrund seiner Ausdrucksweise hätte er ihm ohnehin am liebsten einen Furunkel an die Vorhaut gewünscht.

»Sie sind von hier?«

»Nee.« Er verspürte keine Lust auf eine Unterhaltung – er wollte nur in Ruhe seine Zigarette rauchen. Der Bursche war ihm nicht ganz koscher.

»Sie reisen mit kleinem Gepäck …«

Achselzucken von Kroll. Er war ihm keine Erklärung schuldig. Außerdem war das eine komplizierte, längere Geschichte, und er bezweifelte stark, dass sein Gegenüber die nötige Geduld dafür aufbrachte. Ganz zu schweigen vom Interesse.

Nur eines war ihm klar: Sofern kein Wunder geschah, konnte er seinen wunderschönen, bis ins Detail durchdachten Plan knicken. Morgens in Freiburg in den ICE – mittags seine Aussage bei der Polizei in Rüdesheim – Rückfahrt – kommende Nacht schlief er wieder daheim in seinem Bett.

Noch bestand ein Funke Hoffnung. Es war jetzt kurz nach 12 Uhr, und die Polizeistation lag höchstens vier Kilometer entfernt. Notfalls wäre er auch zu Fuß dorthin gegangen.

Kroll machte sich selbst Mut. Das musste nicht nur reichen, das würde auch reichen.

Er nahm noch einen letzten Zug von der Zigarette, dann drückte er sie am metallenen Abfallbehälter unter dem Fenster aus. Die Glut war nicht komplett verloschen. Um einen Brand im Zug zu verhindern, schleuderte er die Kippe nach draußen, auf den Bahndamm, der auf beiden Seiten von Streifen aus wilden Sträuchern und Unkräutern begrenzt wurde.

Augen zu und durch! Er hatte schon zu viel kostbare Zeit mit Abwarten vergeudet.

Er drängte sich an dem Vertreter vorbei ans Fenster, um ins Freie zu sehen. Die plötzliche Helligkeit blendete ihn für einen Moment und ließ Lichtpünktchen auf seiner Netzhaut tanzen.

Ein sonniger Tag, noch nicht allzu heiß. Angenehm. Genauso, wie er es liebte. Und nicht nur er.

Die Busparkplätze in Rüdesheim würden fast aus allen Nähten platzen, vermutete er. Kaum enden wollende Lindwürmer an Touristen würden vor allem die Rheinpromenade und die Drosselgasse bevölkern. Nicht, dass dort allzu viel zu sehen ge­wesen wäre, außer Souvenirläden und Weinstuben. Der Wein, der dort ausgeschenkt wurde … nach Krolls fester Überzeugung war er von einer Qualität, die kein Einheimischer getrunken hätte. Jedenfalls nicht freiwillig oder nüchtern. Bei den Touristen kam es darauf nicht an. Vor allem die Japaner waren leicht zufriedenzustellen. Hauptsache, sie meinten mitreden zu können und konnten 1000 Urlaubsfotos per Email an jeden schicken, den sie kannten und der sie gar nicht sehen wollte.

Kroll beugte sich nach vorn und sah zunächst in Richtung Lok: nichts zu erkennen. Am hinteren Ende des Regionalzugs dafür umso mehr: Einige hundert Meter entfernt hatte man zwar eine Plane als Sichtschutz aufgestellt, doch die nützte nur wenig. Offenbar war die Leiche nicht in einem Stück. Dafür sprachen die zahlreichen Polizisten und Feuerwehrleute, die das umliegende Gelände akribisch durchforsteten.

Ihm fiel noch etwas auf: An zahlreichen Fenstern des Zugs standen Passagiere. Die Neugier troff geradezu aus ihren Blicken. Jedes noch so morbide Detail wollte man in sich aufsaugen wie ein Schwamm. Und mit etwas Glück entdeckte man von hier aus sogar einen abgetrennten Fuß des Selbstmörders, der mitgeschleift worden war.

Darauf verzichtete Kroll gern. Seine von Natur aus überbor­dende Phantasie übertraf die Realität ohnehin bei Weitem.

Ein Ruck schien durch ihn zu gehen, als er zu seiner Bank ging und sich den Gurt seiner Umhängetasche über die Schulter warf.

»Was haben Sie vor?«, wollte der Andere wissen.

»Ich will heute Nacht wieder in meinem Bett schlafen.«

 

***

 

Kroll bewegte sich in Richtung Zugende. Die Wagen waren nur spärlich besetzt, die allgemeine Stimmung rangierte irgendwo zwischen »Scheiße, dumm gelaufen« und »Ich nehme mir auch gleich das Leben«.

Immer wieder sah er nach draußen. Nirgends entdeckte er einen Polizisten. Oder sonst jemanden, der ihm helfen konnte. Wie so oft, wenn man jemanden brauchte.

Es half alles nichts. Er musste raus aus diesem Zug. Und er brauchte einen Polizisten, dem er wenigstens Bescheid geben konnte, dass er sich jetzt aus dem Staub machte. Nur Bescheid geben – nicht um Erlaubnis fragen. Niemand hatte ihm vorzuschreiben, was er zu tun oder zu lassen hatte.

Allzu große Unterstützung erwartete er freilich nicht. Die Polizisten standen unter erheblichem Stress. Die zerfetzte Leiche … das Gequängel der Reisenden, das dem eines Kindes an der Supermarktkasse alle Ehre machte … nein er beneidete sie nicht um ihren Beruf. Er beneidete sie höchstens dafür, dass sie Strafzettel ausstellen durften.

Er erreichte das Zugende. Die modernen Wagen hatten elektrische Türen. Zum Glück waren diese Waggons alt. Sie hatten noch die roten Klinken, die derart schwer zu betätigen waren, dass schon so manche Rentnerin daran gescheitert und notgedrungen einige Stationen weiter als geplant fahren musste.

Mit seinem gesamten Gewicht stemmte er sich gegen die Tür, während er die Klinke drückte. Ihm war aus seinen Pendlerjahren bekannt, die Bahn hatte es so an sich, es ihren Fahrgä­sten nicht zu angenehm zu gestalten. Eine erzieherische Maßnahme. Das ersparte es der Bahn, demnächst wieder um Verständnis zu bitten.

Als er die Tür geöffnet hatte, tat ihm zwar sein Handgelenk weh, doch die Freude dominierte.

Die Luft war kühl und erfrischend. Sie duftete. Nicht nach Tod.

Pflanzen. Kräuter, Beeren und Blumen.

Für einen Moment schien Kroll davon überwältigt zu werden. Fast wie betäubt. Es war der Duft der Heimat.

Die er verloren hatte, die er strikt leugnete und von sich schob. Und die jetzt den Platz in seinem Leben einforderte, der ihr zustand. Er hatte sich dagegen gewehrt, all die Jahre. Umso härter traf es ihn.

Die laute, plärrende Stimme ließ Krolls Seifenblase der Besinnung abrupt platzen:

»WAS TUN SIE DA?«, wurde er von irgendwoher angeblafft. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Allein der Tonfall war eine Beleidigung und zeugte von nichtvorhandenem Respekt.

Von seiner Position aus konnte Kroll den Mann nicht erken­nen, der das geschrien hatte. Doch er war davon überzeugt, er war wohl damit gemeint.

»ES IST VERBOTEN, DEN ZUG AUF FREIER STRECKE ZU VERLASSEN!«

Diese Stimme war es gewohnt, Befehle zu erteilen. Schnell kamen die Worte. Wie die Kugeln aus einer automatischen Waffe. Ohne Punkt und Komma. Ohne dem Anderen – Kroll – die Gelegenheit zu geben, etwas zu entgegnen. Man wurde von der Schärfe dieser Worte derart überrascht, dass man keine halbwegs sinnvolle Antwort zustande brachte, sondern sich fügte.

»Steigen Sie sofort wieder in den Zug, oder Sie bekommen eine Anzeige!«

»Ich bin doch noch gar nicht ausgestiegen!«

Drohungen: Kroll hasste sie! Am liebsten hätte er dem Schreihals – unbekannterweise – das Maul gestopft.

Trotzdem tat er dem Burschen nicht den Gefallen, auszusteigen. Mit beiden Händen hielt er sich am Gestänge rechts und links fest und lehnte sich heraus. Er wollte den Kerl, der ihn so anfuhr, wenigstens sehen.

Mit entschiedenen Schritten kam ihm der Polizist entgegen. Unter seiner Mütze schwitzte er, die Schweißtropfen rannen ihm von der Stirn und sammelten sich in seinem Schnäuzer. Das Gesicht war rot, fast wie ein Pavianarsch. Demgegenüber war er um die Nase auffallend bleich: Was er am Tatort gesehen hatte, hatte offenbar auch in ihm Spuren hinterlassen.

Kämpferisch waren seine Hände zu Fäusten geballt.

»Mein Kollege hat es Ihnen doch erklärt! Sie sollen drinbleiben! Ich sag’s Ihnen noch mal, für die Schwerhörigen: Bleiben Sie drin! Je länger Sie uns mit Ihrem kindischen Verhalten behindern, desto länger dauert es! Desto länger sitzen Sie hier fest und …«

»Johnny …?«

 

***

 

Kroll sagte nur dieses eine Wort. Nur diesen einen Namen.

Ein Name, der bei dem Uniformierten nicht seine Wirkung verfehlte. Hatte er sich eben noch verhalten wie ein Pitbull auf Ecstasy, so hielt er plötzlich inne. Der Mund, der weiter schwa­dronieren wollte, verstummte, stand sprachlos offen.

Der Name schien ihm bekannt vorzukommen. Auch wenn er ihn wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr zu hören bekommen hatte. In seinem Kopf arbeitete es.

Nein, kein Zweifel. Kroll hatte sich nicht getäuscht.

Der Polizist hatte ihn an jemanden erinnert. Irgendwie … wie aus einem anderen, lange zurückliegenden Leben, an das er sich nur bruchstückhaft erinnerte.

Johnny hieß nicht wirklich Johnny, erinnerte er sich. Guido Weißmüller stand in seinem Ausweis. Doch aufgrund seiner Nachnamensähnlichkeit mit dem Tarzan-Darsteller von einst hatte jeder ihn nur Johnny genannt. Damals, vor fast zwanzig Jahren.

Kroll und er waren Kumpels gewesen, fast Freunde. Eigentlich sogar echte Freunde.

Johnny stand nur reglos da. Er musterte den stämmigen Mann vor ihm in der schwarzen Jeans, dem schwarzen Hemd und der schwarzen Lederjacke: wie jemand, der gerade von ei­ner Beerdigung kam.

Er realisierte allmählich, wer da vor ihm stand, das war ihm deutlich anzusehen. Doch er wollte es nicht glauben.

Jetzt versuchte er das Bild aus seiner Erinnerung mit der Person vor ihm in Einklang zu bringen. Mehrmals glitt sein Blick an Kroll hinauf, hinab und abermals hinauf.

»Clemens?« Die Stimme wollte ihm versagen. »Bist du das echt, Clemens?«

»Schuldig«, antwortete Kroll und zwang sich zu einem Grinsen. Auch er hatte sich noch nicht entschieden, ob er sich über dieses Wiedersehen freuen sollte oder nicht. Momentan tendierte er jedoch zu Ersterem.

»Scheiße! Clemens!« Abrupt hellte sich Johnnys Miene auf, die Anspannung fiel von ihm ab. Breit lachte er.

Bevor Kroll etwas dagegen tun konnte, hatte Johnny die unterste Metallstufe erklommen. Er griff nach Krolls Hand, drückte sie herzlich, während seine andere ihm auf die Schulter klopfte.

Kroll war viel zu überrascht, als dass er etwas hätte erwidern können. Konsterniert ließ er den Freudentaumel über sich ergehen, ohne darauf zu antworten. Natürlich, sie hatten sich gut verstanden. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, Johnny war einer der Wenigen gewesen, für die er nicht nur eine »fette Sau« gewesen war. Allein das hatte aus ihm einen seiner besten Freunde gemacht. Vielleicht waren sie auch weniger Freunde gewesen, als vielmehr Verbündete. Johnny hatte zwar nicht unter Fettsucht gelitten, dennoch war er ständig gehänselt worden. Sein Vater hatte Jahre vorher aus Eifersucht zunächst seine Frau erschossen und dann sich selbst.

Trotzdem: Kroll fand, er übertrieb maßlos.

»Scheiße!«, wiederholte er fassungslos. Er roch nach Schweiß und Deo, das längst kapituliert hatte. »Scheiße, wie lange ist das her?«

Kroll verzichtete auf eine Antwort. Johnny wusste das genauso gut wie er. Nach der Mittleren Reife hatte er eine Lehre als Versicherungskaufmann begonnen, irgendwo im Ruhrpott. Einige Jahre hatten sie sich noch geschrieben, doch dann waren die Abstände dazwischen größer geworden, und irgendwann war der Kontakt abgebrochen.

»Du hast abgenommen«, stellte Johnny fest.

»Ich hab noch immer genug auf den Rippen.« Kroll klopfte sich gegen den Bauch.

»Du musst gewaltig abgenommen haben.«

»Über einen Zentner.«

Demonstrativ atmete Johnny aus. »Kompliment.«

»Nicht mein Verdienst«, winkte er ab. »Eine ziemlich lange und komplizierte Geschichte …«

Johnny nickte nur dazu. Ihm war klar, das waren keine Ausflüchte. Wäre Kroll der Ansicht gewesen, es gehe ihn nichts an, er hätte es ihm offen gesagt. Direktheit war schon immer Krolls Stärke gewesen. Und gleichzeitig seine Schwäche.

»Du bist weggezogen«, entsann sich der Polizist. »Als ich aus Dortmund zurückkam, hörte ich, deine Eltern seien gestorben und du seist bei deinem Bruder.«

»So ähnlich. Aber auch das ist eine lange Geschichte.«

Kroll grinste unsicher. Das Leben hatte es so an sich, kompliziert und vielschichtig zu sein. Für einige Geschichten bedurfte es Zeit, andere brauchten die richtige Gelegenheit, und oft waren einige Gläser Rotwein hilfreich, um die Zunge zu lockern.

»Es war eine beschissene Zeit!«, stellte er fest. Seinem Tonfall war zu entnehmen, das war eine äußerst lapidare Umschreibung für das, was er erlebt hatte.

»Du willst nach Rüd? Zu Besuch?« Johnny schien es schon von Berufs wegen gewohnt zu sein, andere Leute auszufragen. Doch das war in Ordnung.

»Nein«, machte Kroll, »sicher nicht.«

»Ach so … ich dachte, du willst Katja besuchen.«

»Katja?« Fragend hob er eine Braue.

»Katja!«

»Nein, nicht Katja …«

Der Kloß in seinem Hals wurde wieder größer. Und sein Magen erreichte den tiefroten Bereich, kurz vor der Explosion.

Katja … wie lange schon hatte er diesen Namen nicht mehr gehört? Seit damals nicht. Umso heftiger fiel der Schmerz jetzt aus.

Natürlich, er versuchte das zu verbergen, versuchte möglichst cool zu wirken. Keine Chance. Er war für Johnny ein of­fenes Buch.

»Ich weiß nicht, wo Katja ist«, gestand er schließlich mit herabhängenden Schultern. »Das mit uns ist schon ewig vorbei.«

»Das will ich doch hoffen!«

Kroll sah ihn fragend an. Er wusste nicht, was sein Kumpel damit sagen wollte.

»Sie ist im Kloster.«

»Sie ist im Kloster?« Krolls Augen wurden groß.

»Abtei St. Hildegard.« Johnny deutete jetzt hinter sich, wo er das Kloster in mehreren Kilometern Entfernung an den Hängen des Niederwalds wusste. Es war nicht zu sehen, es wurde von Baumreihen verdeckt. Doch es war immer noch dort, zweifelsohne.

Katja war im Kloster!

Er konnte das nicht fassen.

Immer wieder hatte er ihren Namen in die Suchmaschine eingegeben: Katja Baumann. Keine Resultate. Jedenfalls nicht die Katja Baumann, die er meinte, die er geliebt hatte und immer noch liebte. Irgendwie … Wahrscheinlich war sie längst verheiratet, hatte er sich gesagt.

Er konnte auch nicht bestimmt sagen, ob er sich wirklich bei ihr gemeldet hätte, hätte er ihre Adresse ausfindig gemacht. Einfach zu wissen, dass sie noch am Leben war, hätte ihm vorerst wohl genügt.

Kroll seufzte und entschied sich zu einem abrupten Themenwechsel. Die Zeit saß ihm im Nacken. Er würde sich später den Kopf über Katja zerbrechen.

»Johnny, ich hab ein kleines Problem«, gestand er. »Ich will dich nicht damit belästigen, weil wir uns kennen. Du bist mir ja auch nichts schuldig.«

»Eigentlich schuldest du mir was. Der letzte Brief zwischen uns kam von mir.«

»Asche auf mein Haupt!« Kroll wusste es nicht mehr genau. Wenn Johnny das behauptete, glaubte er ihm das jedoch. Er rechnete nach … Musste etwa in die Zeit gefallen sein, als er seine an HIV infizierte Mutter gepflegt hatte. Bis zu ihrem Tod. »Du kennst einen Mario Ostberg?«

»Ist bei der Kripo.« Johnny rollte die Augen. »Was hast du mit der Kripo zu schaffen?«

»Das ist keine lange Geschichte, sondern eine blöde«, lachte er gezwungen. »Ich soll bei ihm eine Aussage machen, deshalb bin ich hier.«

Skeptisch legte Johnny die Stirn in Falten. Trotz Uniform und Schnäuzer – für einen Moment erinnerte er tatsächlich an den Schwarzweiß-Tarzan aus Krolls Kinder-Fernsehtagen.

»Du weißt, in der Abtei ist die Schwester Oberin ermordet worden?« Eine rhetorische Frage. Selbstverständlich wusste Johnny davon.

»Schwester Waltraud«, nickte er bestätigend.

Alles andere hätte Kroll verwundert. Gewiss hatte dieses Ereignis hohe Wellen geschlagen.

»Das war am Freitag«, erinnerte sich der Polizeibeamte. »Man fand sie mit eingeschlagenem Schädel im Klostergarten. EINE NONNE!« Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Und damit hast du was zu tun?«

»Ich war über dreihundert Kilometer entfernt.«

»Und bestimmt hast du Zeugen …«

»Du wirst lachen: Dutzende!« Fast liebevoll tätschelte er seine Umhängetasche. Darin befanden sich acht notariell beglaubigte Zeugenaussagen, die bestätigten, Kroll hatte wie an fast jedem Tag im Café gesessen. Dort hatte er einen permanent für ihn reservierten Tisch, dort arbeitete er, dort gehörte er sozusagen zum Interieur. Wäre er ausgerechnet an diesem Tag dort ferngeblieben, wäre das aufgefallen.

»Weshalb will Mario, dass du deinen Hintern zu ihm bewegst?«

»Diese Schwester Waltraud hatte einen Zettel bei sich. Darauf standen mein Name und meine Adresse.«

»Ach …« Mehr fiel Johnny nicht dazu ein.

»Keine Visitenkarte. Den Zettel hatte sie auch nicht von mir. Ich kannte sie überhaupt nicht.« Kroll klang jetzt, als schuldete er ihm eine Erklärung. »Ich hab sie nie gesehen, ich hab sie nie gesprochen. Und der Schrift auf dem Zettel zufolge, hab nicht ich die Adresse geschrieben.«

»Trotzdem will Mario dich sehen?« Johnny wirkte jetzt misstrauisch. Das erschien ihm seltsam.

»Ich wollte ihm den ganzen Scheiß per Einschreiben schicken, aber das reicht ihm wohl nicht.«

»Typisch Mario … zeigt gern jedem, was für ein toller Hecht er ist …«

»Weißt du, damals, nachdem meine Mom starb, und kurz darauf auch noch mein Vater … Ich bin von hier geflohen wie ein geprügelter Hund. Dadurch hab ich an Rüd die schlimmsten Erinnerungen. Jedenfalls sind das die aktuellsten. Die dominieren. Ich will das bei Ostberg schnellstens hinter mich bringen. Ich will nächste Nacht wieder daheim schlafen.«

»Du wohnst wo?«

»In der Nähe von Freiburg.«

»Das schaffst du heute doch locker.«

»Nicht, wenn ich tatenlos abwarte, bis ihr die Einzelteile von eurem Selbstmörder beisammenhabt.«

»Soll ich dich aufs Revier fahren?«

Heiser lachte Kroll auf. »Nein, nicht nötig. Ich wollte bloß jemandem von euch Bescheid geben, dass ich zu Fuß aufbreche. Bis zur Polizei sind es ja bloß … drei oder vier Kilometer?«

»Querfeldein dürfte das hinkommen. Aber erstens darfst du nicht querfeldein am Bahndamm entlang, zweitens lass ich das nicht zu. Ich fahre dich.«

»Musst du nicht, ich …«

»Keine Widerrede!«

»Ich will dich nicht ausnutzen.« Vor allem wollte er sich niemandem zu Dank verpflichtet fühlen.

»Clemens, mach dir keinen Kopf«, bat er. »Das würde ich für jeden tun. Na ja, vielleicht nicht für jeden, aber für jeden, der anständig fragt. Du weißt doch: die Polizei, dein Freund und …«

»… Nervensäge«, ergänzte Kroll lachend.

»Manchmal benehmen wir uns wie Arschlöcher«, gab Johnny zu. »Manchmal müssen wir welche sein. Manchmal wollen wir auch welche sein.«

Kroll glaubte ihm das aufs Wort.

 

***

 

»Du willst mich verarschen!«, sagte Guido Weißmüller am Steuer des blau-silbernen Streifenwagens. »Du bist echt Schriftsteller?«

»Tja …« Kroll zuckte nur mit den Achseln, als könne er nichts dafür.

»Du willst mich wirklich nicht verarschen?«

Zur Bestätigung seiner Aussage berührte Kroll mit dem rechten Zeigefinger zunächst seine Brust und dann seine Stirn. Ihm war klar, Johnny konnte diese Geste nicht einordnen, doch das realisierte er erst, als er gerade dabei war.

»Führ’ dich nicht auf, als sei das was Besonderes«, bat er Johnny. »Die einen arbeiten dieses, die anderen jenes. Hauptsache, man arbeitet überhaupt.«

»Für mich IST es was Besonderes!«

»Für mich nicht. Es ist eine Gabe, aber kein Privileg.«

»Muss man dich kennen?«

WENN DU KEIN DUMMBATZ BIST – JA!

Kroll verkniff es sich, seinen ersten Gedanken auszusprechen. Nicht nur aus Höflichkeit, er hätte Johnny damit auch Unrecht getan. Kroll hatte zahlreiche Romanhefte geschrieben – allesamt unter Pseudonym. Dadurch machte man sich keinen Namen. Doch es ernährte. Vorausgesetzt, man schrieb zügig und nicht zu innovativ. Sein zweites Standbein, der Roman, war ihm jedoch lieber. Er konnte schreiben, wonach ihm war, das Buch erschien unter seinem Namen, und es macht sich gut im Regal. Einige seiner Romane hatten sich recht passabel verkauft – und einer überhaupt nicht. Wegen angeblich übertriebener Gewaltdarstellung hatte Maddy, seine Agentin, ihn dringend gebeten, das Manuskript zu entschärfen. Er hatte sich geweigert, der Roman schlummerte weiterhin in einem Ordner von Krolls Computer vor sich hin.

»Kann man davon leben?«

Kroll hatte diese Frage erwartet. Die stellte jeder, der zum ersten Mal mit einem leibhaftigen Schreiberling konfrontiert wurde.

Demonstrativ klopfte er sich auf seinen Bauch. »Ich bin noch nicht verhungert.«

»Du hast ja schon früher geschrieben.«

»Erinnere mich nicht dran.«

»War nicht so schlecht, wie du jetzt tust.«

Er bezweifelte stark, dass Johnny sich auch nur an ein einziges Wort entsann. Auch gut. Er wollte nicht päpstlicher als der Papst sein.

»Damals war es Hobby, jetzt ist es Beruf. Alles eine Frage der Übung und der Einstellung. Je mehr man sich mit etwas beschäftigt, desto besser wird man darin.«

Johnny nickte nur und steuerte den Wagen weiter die Bundesstraße 42 entlang. Sie führte geradewegs durch Rüdesheim. Als Pforte zur Stadt sorgte der schmutzig-braune, verwitterte Bogen der ehemaligen Hindenburgbrücke, die einst von den Nazis gesprengt worden war, dafür, dass die Alliierten nicht auf die rechte Rheinseite gelangten. Als hätte das ihren Vormarsch aufgehalten …

Von Weitem thronte die Germania auf dem Niederwald, Reichsapfel und Schwert fest in den Händen haltend und den wachsamen Blick in Richtung des Erbfeinds Frankreich gerichtet: das Relikt eines fernen, gewonnenen Krieges, mittlerweile nur noch ein bemerkenswertes Denkmal und ein Aussichtspunkt mit grandiosem Panorama.

»Sag’ mal …« Johnny erinnerte sich an etwas. »Wolltest du nicht Pfarrer werden?«

Laut lachte Kroll auf. Wie er mit seinen gut zwei Zentnern auf die Kanzel stieg und von dort aus gegen die Gier predigte, das wollte er niemandem zumuten. Am Allerwenigsten sich selbst.

»Nicht ganz.«

»Aber du hast studiert. In Köln, wenn ich mich recht …«

»Ja, aber nicht katholische Theologie, sondern Religionswissenschaften. Das ist ein Unterschied! Aber mehr als drei Semester hab ich nicht durchgehalten, das Schicksal hatte was dagegen. Du darfst mich also eine gescheiterte Existenz nennen.«

Er ging nicht darauf ein. »Ich kann mich wirklich noch gut an deine Beiträge in der Schülerzeitung erinnern.«

Das war so lange her …

»Jetzt mal im Ernst: Kennt man dich?« Die Frage beschäftigte Johnny offenbar immer noch.

»DU kennst mich. Das genügt.«

»Dreh’ mir nicht das Wort im Mund rum. Gegen dich komm’ ich darin sowieso nicht an.«

»Nein, man muss mich nicht kennen«, gestand Kroll. »Ich hab viel unter Pseudonym geschrieben.«

»Warum nicht unter deinem Namen? Schämst du dich dafür?« Das klang reichlich naiv, was daran lag, dass er sich in dem Metier nicht auskannte.

»Wenn du einen Verlag an der Angel hast, der darauf besteht, dass dein Roman unter einem englisch klingenden Frauennamen erscheint, hast du genau zwei Möglichkeiten: Entweder du sagst zu allem Ja und Amen, oder du verbrennst dein Manuskript und gehst zur Blutspende, um deine Miete zu bezahlen.«

Johnny sah Kroll an, als sei er eine Nutte. Dabei prostituierte er sich gewiss nicht weniger als er, denn im Gegensatz zu ihm hatte er Vorgesetzte. Wenn die es ihm befahlen, hatte er gefälligst zu bellen, Männchen zu machen oder die Körperteile eines Selbstmörders einzusammeln.

»Jawohl«, bekräftigte Kroll, »ich bin eine Schreibhure!«

Johnny tat so, als habe er es nicht gehört. »Was schreibst du so?«

Nicht, dass es ihn wirklich interessiert hätte, Kroll kannte ihn zu gut dafür.

»Krimi, Science-Fiction, Phantastik, Horror …«

»Alles, was Geld bringt.«

Soviel zum Thema Schreibhure…

»Nein«, widersprach Kroll. »Kein Western, keine Liebesschmonzetten, keinen Heimatroman. Auch nichts Historisches. Da kenne ich mich zu wenig aus.«

Verstehend nickte der Uniformierte am Steuer. Ob er tatsächlich verstand oder damit nur über seine Ahnungslosigkeit hinwegtäuschen wollte, das wusste nur er allein.

Vor ihnen tauchte die Polizeistation auf: ein unpersönliches, zweistöckiges Gebäude in Betonbauweise. Kleinere Gebäude grenzten daran; sie stellten sich beim Näherkommen als Garagen heraus. Davor befand sich ein kleiner Parkplatz. Nur wenige der weiß eingezeichneten Plätze auf dem Asphalt waren besetzt, vorwiegend mit zivilen Fahrzeugen. Lediglich ein Streifenwagen stand noch hier. Die restlichen waren vermutlich an der Bahnstrecke. Für eine vergleichsweise kleine Polizeistation wie diese, die für den halben Rheingau zuständig war, bedeutete der Selbstmord einen Großeinsatz.

»Darf ich was fragen?«

»Johnny…«, seufzte Kroll, »seitdem wir uns getroffen haben, löcherst du mich mit Fragen …« Um seinen Worten die Schärfe zu nehmen, grinste er dazu.

»Wenn du im Gegensatz zu früher kaum dein Maul aufbekommst …«

»Keine Sorge, ich hab’ noch immer eine große Fresse«, versicherte er. »Sogar noch größer als früher. Bloß geht es mir momentan nicht so gut …«

Fragend sah Johnny ihn an. Er wartete auf eine Erklärung, dass nicht er der Grund dafür war.

Die sollte er bekommen. »Seitdem ich weiß, dass ich hierher muss, hab ich kaum geschlafen. Ist nicht schön, mit Dingen konfrontiert zu werden, vor denen man fünfzehn Jahre lang weggelaufen ist.«

»Ist das so schlimm?«

»Nein, noch schlimmer«, stieß er rau hervor und war Johnny dankbar dafür, dass er nicht nachhakte. Kroll war momentan nicht in der Stimmung, seine Lebensgeschichte zum Besten zu geben. Jetzt wollte er nur eines: auf schnellstem Weg wieder nach Hause.

Endlich wieder frei auf seinem Balkon durchatmen können, die Last der Erinnerung abstreifen, sie weiter verdrängen und leugnen, bis er nicht mehr daran dachte.

Eine trügerische Illusion. Irgendwann wurde jeder von seiner Vergangenheit eingeholt. Besonders wenn die Wunden nur vernarbt waren. Beim geringsten Anlass platzten sie auf und schmerzten mehr denn je.

Dennoch, die Entscheidung, von hier wegzuziehen, war richtig gewesen. Auch wenn es nicht seine Entscheidung gewesen war.

Johnny steuerte den Streifenwagen auf einen der freien Plätze und ließ ihn ausrollen.

»Was ich fragen wollte, Clemens: Wenn du hier fertig bist - bleiben wir in Kontakt?«

»Wie kannst du so eine dämliche Frage stellen?« Für ihn bedurfte es darauf keiner Antwort. Natürlich würden sie in Kontakt bleiben, jedenfalls von seiner Seite aus. Ob sie diese zweite Chance nutzen würden, musste sich zeigen. Ihm war nur klar, wenn sie diese Chance gar nicht erst wahrnahmen, würde nie eine echte Freundschaft entstehen können. »Wenn es dir recht ist, würde ich dich ungern noch einmal aus den Augen verlieren …«

Johnny nickte lapidar. Das schien ganz in seinem Sinne zu sein.

»Ich glaube, wir haben uns eine Menge zu erzählen.«

Johnny winkte nur ab. »Ich hab’ ein ziemlich ödes Leben, wenn nicht grad jemand auf den Gleisen ausrutscht oder im Rhein angespült wird …«

Kroll WOLLTE sich das nicht vorstellen!

»Sag’ mal, Clemens … hast du nicht Lust, noch ein, zwei Tage dranzuhängen? Du könntest bei mir im Gästezimmer schlafen, ich hab …«

Krolls »Nein!« klang, als sei es in Stein gemeißelt. »Wie gesagt, das hat nichts mit dir zu tun. Ich will bloß wieder weg. Ohne die Schnapsidee von diesem Kripo-Wichser würde ich weiter den Schwanz einziehen.«

»War es wirklich SO schlimm?« Johnny zeigte echtes Mitgefühl.

»Ich kann kaum drüber sprechen …« Er presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie zu einem schmalen Strich wurden.

Auch um das zu erzählen, fehlten ihm Zeit und Laune. Johnny konnte ihn nicht verstehen. Wie auch?

Die jahrelange Pflege seiner Mutter hatte Spuren in ihm hinterlassen. Sein Vater war damit überfordert gewesen, und für eine professionelle Pflegekraft wäre das Haus draufgegangen. Jenes Haus, das sich seine Eltern vom Mund abgespart hatten. Also hatte Kroll sein Studium vorerst unterbrochen und war wieder in sein Kinderzimmer unterm Dach eingezogen. Erstens, weil kein anderer sich dafür zuständig gefühlt hatte, zweitens hatte er die subjektiv besten Eltern der Welt. DIE Gelegenheit für ihn, ihnen etwas zurückzugeben. Nicht nur ständig nehmen, nicht immerzu die Hand aufhalten, sondern sich revanchieren. Quitt würde er niemals mit ihnen werden. Doch er konnte es zumindest versuchen. Auch wenn er nicht den blassesten Schimmer einer Ahnung davon gehabt hatte, was ihn erwarten würde.

HIV, das war damals noch ein Todesurteil gewesen. Die Frage lautete nicht, ob man überlebte, sondern für wie lange. Und obwohl es erwiesen war, dass seine Mutter sich bei einer Bandscheiben-OP Jahre zuvor an kontaminiertem Blutplasma infiziert hatte - trotzdem hatte der Makel der sexuell Perversen an ihr gehaftet, jedenfalls für Nachbarn und Bekannte, die sich schnell zurückzogen. AIDS holte man sich nur bei Ausschweifungen, war die vorherrschende Meinung gewesen. Einige behaupteten sogar, es sei eine Strafe Gottes. Natürlich, man sprach es nicht aus. Doch die Gedanken waren umso lauter. Vor allem hatte man eines: Angst, sich ebenfalls zu infizieren.

Seine Mutter war aufgrund der ständig neuen Krankheiten oft im Krankenhaus gewesen. Trotzdem – an Feierabend oder an ein freies Wochenende war für ihn nicht zu denken gewesen. Auch im Krankenhaus bedurfte sie seiner Zuwendung.

Obwohl ihnen die Ärzte nie ernsthafte Hoffnung gemacht hatten, war ihr Tod letztendlich für alle ein Schock gewesen: Lungenentzündung. Gleichzeitig – und Kroll schämte sich noch immer dafür – aber auch eine Erlösung. Für sie ebenso wie für jeden anderen, der mit ihr zu tun gehabt hatte.

Hatte Kroll ohnehin geistig und körperlich platt wie eine Flunder am Boden gelegen – als elf Tage später sein Vater starb, war ihm, als würde noch zusätzlich eine Dampfwalze über ihn rollen.

Er war ihr einfach hinterhergestorben. Wie jemand ohne Ziel.

Unweigerlich schüttelte sich Kroll. Gänsehaut bildete sich auf seinen Unterarmen, und es lief ihm eiskalt den Rücken hinab.

Die Jahre, die seitdem ins Land gezogen waren, schienen ohne Bedeutung zu sein. Nur ein Wimpernschlag. Viele Details hatte er vergessen oder verdrängt. Die prägnantesten hatten sich jedoch wie mit einem Brandeisen in sein Gehirn gebrannt. Unauslöschlich! Sie riefen ein tumbes Gefühl der Traumatisierung hervor.

Seit einigen Jahren, nach seinem Nervenzusammenbruch und den Folgen, war es besser. Nur noch der ganz normale Wahnsinn des Lebens. Nichts, das ihn in einen schier bodenlosen Brunnen der Depression stürzte. Für Kroll war das noch lange kein Grund, Entwarnung zu geben. Karma is a bitch! Das Schicksal hatte es so an sich, besonders dann zuzuschlagen, wenn man sich in Sicherheit wähnte. Dann erst zeigte es seine wahre Natur. Wie eine Katze, die mit einem verletzten Vogel spielte, ihm Glauben machte, er habe eine Chance, zu entkommen - dabei war er längst tot.

Vielleicht geschah dies alles nur, um Demut zu lehren. Trotz ihrer Bauwerke, Computer und Gentechnik, trotz der himmelhohen, fast göttlich anmutenden Errungenschaften der Moderne, sollte den Menschen ins Gedächtnis zurückgerufen werden, es war allein das Schicksal, das die Fäden in Händen hielt, sie zusammenfügte oder spann. Oder sie auch durchtrennte …

Sie stiegen aus dem Streifenwagen. Johnny wandte sich in Richtung des Polizeigebäudes, doch Kroll hielt ihn auf.

»Wart’ mal«, bat er. »Damit wir’s uns nicht schon wieder vornehmen und vergessen …« Aus der rechten Hosentasche holte er seinen Geldbeutel. In einem der Fächer befanden sich Visitenkarten. Einige sehr schlicht, ohne seine Postadresse, sondern lediglich mit der Adresse seiner Homepage und die Mailadresse seiner Agentur. Die verteilte er an die wenigen Leute, die ihn erkannten. Meistens behaupteten die, sie würden ebenfalls schreiben und wollten, dass er ihre Elaborate Probe las. Oder er solle als Ghost-Writer für ihre Memoiren fungieren. Als wisse er nichts Besseres mit seiner Zeit anzufangen … Außerdem wusste doch jeder, Memoiren verkauften sich nur, wenn man entweder Serienmörder war oder mit einigen C- und D-Promis geschlafen hatte. Oder beides.

Johnny bekam eine der »richtigen« Visitenkarten. Mit Krolls vollständiger Adresse, Fax-, Mail- und Telefonnummer. Sie war aufwändig gestaltet. Die äußere Hülle war schwarz lackiert; Krolls Initialen waren golden eingestanzt.

Vorsichtig nahm der Polizeibeamte sie an sich und sah sie an. Vermutlich scholt er ihn ab sofort nicht länger eine Schreibhure, sondern eine snobistische Literatur-Nutte.

»Sorry, ich hab keine Karte …«

»Also bist du in der Pflicht, dich zu melden«, grinste Kroll. »Am besten rufst du abends an. Nach acht. Da bin ich praktisch immer daheim. Und wenn nicht, ist der AB dran. Den wirst du zwar hassen wie jeden AB, aber du kannst ihm deine Telefonnummer nennen. Ich rufe dann zurück. Versprochen.«

Mit diesem Deal schien Johnny einverstanden zu sein. Nickend schob er die Visitenkarte in die Brusttasche seiner Uniformjacke. Die Art, wie er das tat, verriet, er würde sie hüten wie einen Augapfel. Er würde anrufen.

Kroll räusperte sich. »Du, ich hab’ keine Ahnung, wie lange die Aussage dauert … Wer weiß, ob wir uns danach noch sehen …«

»Du findest allein zum Bahnhof?«

»Logisch.«

Er wollte noch etwas sagen. Für gewöhnlich fiel es ihm leicht, die richtigen Worte zu finden. Doch jetzt versagten sie.

Das war allerdings auch gar nicht nötig.

Sie sahen sich nur an, er und Johnny. Kommunizierten schweigend miteinander durch einen Blick.

Wortlos drückten sie sich die Hände. Kein unpersönlicher, lascher Händedruck, wie man ihn mit jemandem austauschte, dem man einmal im Leben begegnete und dann nie wieder. Beide Hände des Einen schlossen sich um die des Anderen. Für beide hatte das etwas Ergreifendes an sich.

Als Kroll heute Morgen aufgestanden war, hatte er noch nicht geahnt, dass der Rheingau nicht nur Traumata bedeutete. Nicht nur Grauenhaftes hatte er hier erlebt. Er hatte Freunde gehabt. Sogar gute Freunde. Weitaus bessere, als er all die Jahre hatte wahrhaben wollen.

So schwer es ihm fiel, sich das einzugestehen: Seine Reise hatte sich gelohnt. Jetzt wusste er, wo sich Katja befand. Und Johnny würde sich bei ihm melden. Sie würden großartige, stundenlange Telefongespräche führen und in der Vergangenheit schwelgen. Irgendwann würde sich sicher die Gelegenheit ergeben, sich auch zu treffen. Ob hier in Rüdesheim, bei Kroll oder auf halber Strecke, würde sich zeigen. Für ihn war das so sicher wie das Amen im Gebet.

Weder er noch sonst jemand konnte erahnen, wie Unrecht er haben sollte …

 

***

 

Der »Empfang« im Polizeirevier lag hinter Panzerglas. Unmittelbar neben der sich automatisch öffnenden Doppelglastür.

Zwei Uniformierte saßen dahinter und kümmerten sich um Neuankömmlinge, Notrufe, deren Koordination und alles andere, was sonst anfiel. Die beiden Beamten waren deutlich über 50; nicht zuletzt aufgrund ihres Alters saßen sie auf diesen relativ sicheren Posten. Nicht, dass es hier weniger zu tun gegeben hätte. Aber immerhin ersparten sie sich hier körperliche Anstrengungen.

Als sie Johnny entdeckten, nickten sie ihm grüßend zu.

»Schon fertig?«, erkundigte sich einer der beiden – Halbglatze, Bauchansatz, kein Schnäuzer – bei ihm.

»Nee, ich bring’ bloß meinen Kumpel zu Mario. Der Typ am Bahndamm läuft nicht weg …«

Vielsagend winkte Johnny ab, was seinen Kollegen ein angewidertes Schütteln entlockte. In einem Beruf wie diesem lernte man zwar, das alltägliche Grauen nicht zu nah an einen herankommen zu lassen, die Opfer ebenso wenig zu personalisieren wie die Täter … einfacher wurde es dadurch nur bedingt. Manchmal geschahen Dinge, da vergaß man alles, was man gelernt hatte, auf einen Schlag.

Kroll fand, das Gebäude war nicht nur von außen, sondern auch von innen, sehr sachlich, sehr zweckmäßig und sehr kalt. Ein eisiger Bürobau. Wohl fühlte sich hier niemand. Und sollte es auch nicht.

Von irgendwoher ertönte Lärm: Geschrei, das nicht zu verstehen war. Gerumpel wie von umgeworfenem Mobiliar.

Fragend sah Johnny seine Kollegen an.

»Ehegeschichte«, meinte der Andere, der so dick war, dass selbst Kroll ihn sich nur mit einem verstohlenen Grinsen bei der Verfolgung eines Flüchtenden vorzustellen vermochte. »Als seine Frau mit den Kindern zur Mutter wollte, ist er ausgeflippt und mit ‘nem Messer auf sie losgegangen.«

Besorgt hob Johnny eine Braue. Wahrscheinlich hatte er soeben ein Déjà-vu vom Tod seiner eigenen Eltern.

»Nichts passiert«, winkte der Dicke hinter Glas ab. »Die hat sich in ein Zimmer eingesperrt und uns gerufen.«

Trotz der vermeintlichen Unbekümmertheit der beiden – Johnny blieb besorgt. Wahrscheinlich ohne es zu merken, hatte sein Körper Spannung angenommen. Er stand da, steif wie ein Brett. Oder eher wie ein Pfeil, der von der Sehne gelassen werden wollte.

»Mach dir keinen Kopf, Guido. Der randaliert schon fast ‘ne halbe Stunde. Willi und Anja haben das voll im Griff …«

»Wenn du das sagst …« Johny versuchte ein Lächeln, das ihm gründlich misslang.

Kroll wusste nicht, wie viel Erinnerung er an den Tod seiner Eltern hatte. Er wusste nicht, hatte er die Bluttat mit ansehen müssen, hatte er die Leichen gefunden, oder hatte man später nur versucht, ihm einigermaßen kindgerecht zu erklären, was geschehen war. So wie Johnny sich plötzlich benahm, tendierte er dazu, er hatte sie gefunden und alles war präsenter denn je in ihm.

»Komm, Clemens.« Mit einer Geste bedeutete er, ihm zu folgen. Sie durchquerten eine Art Lobby, in der eine breite Treppe nach oben führte. Beide ließen sie links neben sich und betraten stattdessen einen Korridor.

»Bist du eigentlich verheiratet?«

»Nee.« Kroll klang wie ein überzeugter Misanthrop. »Ich bin fraumatisiert.«

»Mhm?« Johnny verstand nicht, was er damit sagen wollte.

Verlegen schmunzelte Kroll; die Hände in seinen Hosentaschen ballten sich für einen Moment zu Fäusten. »Ich hab die geniale Angewohnheit, mich ausgerechnet in die Frauen zu verknallen, die schon vergeben sind. Die ständig drüber jammern, was für ein Arschloch ihr Mann doch ist, die aber nicht dran denken, ihn zu verlassen.«

Er runzelte die Stirn. Auch das würde er bei Gelegenheit ausführlich mit Johnny erörtern.

»Die suchen einen schwulen Freund, dem sie mit ihrem Psycho-Müll die Ohren vollquatschen können.«

»Bloß, dass du nicht schwul bist.«

»Das ist das Problem.«

»Die lieben dich für die Aufmerksamkeit, die du ihnen entgegenbringst. Du tust alles für sie – ficken tun sie dann aber mit einem anderen.«

Johnny hatte erstaunlich schnell sein Rollenverhalten durchschaut. Kroll selbst hatte Jahre dafür gebraucht.

»Oder auch sehr gern«, fügte Kroll hinzu, »welche mit einer gewaltigen Macke.«

»Katja hatte keine Macke.«

»Nein, hatte sie nicht.«

Johnny verzichtete darauf zu fragen, weshalb Kroll und Katja kein Paar geworden waren. So sehr es ihn auch danach drängen mochte.

»Du hast auch keine Kinder?«, wollte Johnny wissen.

»Jedenfalls keine, von denen ich weiß. Und ich wüsste es, glaub’s mir. – Und du?«

Als sei ein unsichtbarer Schalter gedrückt worden, veränderte sich Johnnys Miene. Es wurde zu einem glückseligen Strahlen. »Verheiratet, zwei Töchter.«

»Respekt, Alter!« Freundschaftlich boxte er ihm gegen den Arm.

»Danke«, lachte er. »Wir Männer sind zwar gnadenlos in der Unterzahl … Aber ich genieße das!«

Das hörte sich tatsächlich so an, als wäre er glücklich. Fast – nur fast – war Kroll geneigt, darauf neidisch zu werden. Sein eigener Zug war in dieser Hinsicht längst abgefahren. Jedenfalls empfand er das so. Natürlich, rein theoretisch hätte er noch mehr Kinder in die Welt setzen können, als er ernähren konnte. Er war noch nicht zu alt dafür.

Vielleicht war er auch einfach zu anspruchsvoll. Er wollte keine Gebärmaschine, er wollte eine Partnerin. Jemand, mit dem er respekt- und liebevoll auf Augenhöhe den Rest seines Lebens verbringen konnte. Ohne Zwang. So sein zu können, wie man war. Nein, er erwartete nichts Unmögliches. Nichts, das er nicht selbst von sich verlangte.

»Ich weiß, ich hab leicht reden«, meint Johnny, »aber wenn du die richtige Frau gefunden hast, dann greif‘ zu. Nicht groß nachdenken … Kinder sind was Wunderbares. Du bekommst eine völlig neue Perspektive, du wirst … WEICH!«

Er verstummte abrupt.

Der Radau im Gebäude nahm plötzlich zu. Er kam direkt aus dem Raum neben ihnen. Sie beide verstanden kein Wort. Ihnen war lediglich klar, der ausgeflippte Ehemann hatte sich noch längst nicht beruhigt.

Abermals jener besorgte Blick von Johnny, als er zu besagter Tür sah. Er fragte sich, sollte er sich einmischen und seinen Kollegen zur Hilfe eilen. Ein beträchtlicher Teil von ihm wollte das, wollte die Tür aufreißen und dem Burschen zeigen, was er von Leuten hielt, die mit dem Messer auf die eigene Frau losgingen. Ein anderer Teil von ihm mahnte ihn zur Zurückhaltung.

Diese Entscheidung wurde ihm abgenommen.

Das Gebrüll von innen brach unerwartet ab. Fast gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen. Mit einem heftigen Ruck.

Krachend prallte die Tür gegen die Wand, und hätte die Klinke die Wucht nicht abgefangen, die dünne Sperrholzplatte wäre zerschmettert worden.

Eine Schrecksekunde lang waren sowohl Kroll als auch Johnny viel zu überrascht, um etwas zu tun.

In der offenen Tür war ein Mann aufgetaucht. Er musste irgendwo Ende 20 sein: groß, schlank, schwarzer Lockenkopf, 7-Tage-Bart. Doch das war ohne Bedeutung. Durchaus von Bedeutung waren seine fast irrsinnig weit aufgerissenen Augen und der Speichel, der sich in seinen Mundwinkeln angesammelt hatte und an ein tollwütiges Tier erinnerte. Oder wie man sich ein tollwütiges Tier gemeinhin vollstellte.

Diese Augen!

Kroll hatte noch nie Augen sehen müssen, die diesen auch nur ähnelten: Wut, Angst, Hass, Verzweiflung – all das spiegelte sich darin wider. Sie funkelten glasig. Wahnsinnig. Wie ein Tier, das man in die Ecke getrieben hatte und das weder ein noch aus wusste.

Deutlich war ihm das Entsetzen anzusehen, als er realisierte, dass er direkt vor einem weiteren Uniformierten stand.

Es war keine kluge Reaktion von ihm. Sie war nicht einmal ansatzweise durchdacht. Es war das mit Abstand Dümmste, das er tun konnte.

Er sah nichts außer der Uniform – und die stand ihm im Weg.

Woher er das Messer in seiner Hand hatte? Die Götter oder vielmehr die Dämonen mochten das wissen. Vielleicht wusste er es selbst nicht mehr.

Ein langes Küchenmesser. Eine ziselierte Damaszener-Klinge, wie man sie zum Zertrennen von Fleisch benutzte.

Blut klebte daran.

Bevor Johnny oder Kroll kapierten, in welcher Gefahr sie schwebten, zuckte das Messer vor.

Sie traf Johnny in den Hals. Tief bohrte sich die Schneide in ihn, durchtrennte mühelos Fleisch, Blutgefäße und einen Halswirbel.

Als der Stahl wieder herausgezogen wurde, schoss ein Blutstrom aus der Wunde. Wie eine Fontäne.

Ungläubig, fassungslos griff sich Johnny an den Hals. Er begriff noch immer nicht, was geschehen war, wollte sich vergewissern, woher der Schmerz kam. Und erst all das Blut …

Auch dazu kam es nicht mehr.

Plötzlich erstarrte er in seiner Bewegung und verdrehte die Augen. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, klappten ihm die Knie zusammen, und er sackte in sich ein.

 

***

 

»GEH‘ MIR AUS DEM WEG, DU WICHSER!«

Der laute, hysterisch klingende Schrei war für Kroll ein Weckruf.

Wie ein schrilles Alarmsignal, das ihn aus seiner Starre zurück in die Realität katapultierte.

Obwohl er es mit eigenen Augen sah – er kapierte nicht, was passiert war. Johnny … mein Gott, Johnny!

Leblos lag er neben Kroll am Boden und blutete wie das sprichwörtliche abgestochene Schwein. Der Stich musste die Halsschlagader durchtrennt haben. Das Blut aus der klaffenden Wunde spritzte wie ein Schwall daraus hervor, rhythmisch im Takt des Herzschlags.

Johnny lebte also noch. NOCH!

Entsetzt starrte Kroll den Kerl an.

Aber aus dem Entsetzen wurde schnell Wut!

Eine SCHEISS-WUT!

Der Kerl wirkte keineswegs selbstsicher. Den Griff hielt er fest umklammert, wie der Ertrinkende den letzten Strohhalm. Was er getan hatte, begriff er nicht. Vor Gericht würde sein Anwalt auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren. Nicht ganz zu Unrecht, wie Kroll leider zugeben musste. Seine Einsicht dämpfte diese Wut allerdings nicht im Geringsten.

Der Schweiß stand dem Burschen auf der Stirn. Sein Körper bebte. Besonders die Rechte, die das Messer hielt, die Spitze nach oben gerichtet, bereit zum Angriff, bereit zuzustoßen und das von eben zu wiederholen.

Ob er tatsächlich unter Drogen stand? Unwichtig! Er war viel zu tief in die Dunkelheit hinabgesunken, um auch nur den winzigsten Lichterfunken zu erkennen.

Fast, nur FAST hätte Kroll Mitleid gehabt. Darauf beschränkte es sich allerdings auch schon. Tatsache war, dieser Typ würde nicht davor zurückschrecken, das Messer auch gegen ihn einzusetzen. Oder er würde ihn als Geisel nehmen, um von hier wegzukommen.

»VERPISS‘ DICH!«

Die Stimme von Krolls Gegenüber klang rau und heiser. Er war zu allem entschlossen. Er hatte nichts mehr zu verlieren außer seinem Leben. Und momentan war ihm das weniger wert als ein nagelneuer 1000-Euro-Schein aus einer ukrainischen Privatdruckerei.

Kroll wurde die Entscheidung abgenommen. Viel schneller, als er es dem Kerl zugetraut hätte, schnellte dessen Klinge vor.

Geistesgegenwärtig riss Kroll seine Tasche hoch, zwischen sich und Messer.

Die Tasche war nicht nur stabil, der Ringbuchblock darin verhinderte auch, dass sich die Messerspitze hindurch bohrte.

Kroll gab ihr einen Schlag mit. Einen Schlag, in dem all seine Wut lag.

Damit traf er seinen Kontrahenten an der Brust. Leider nicht fest genug, dass dieser die Waffe fallen ließ oder stürzte. Aber er taumelte, torkelte nach hinten, wieder zurück ins Büro, aus dem er gekommen war.

Kein Grund zur

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Hammer Boox
Cover: Christian Günther
Lektorat: Hammer Boox
Tag der Veröffentlichung: 11.06.2019
ISBN: 978-3-7487-0686-1

Alle Rechte vorbehalten

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