Angst
Ich habe Angst, dass das alles gewesen sein könnte. Ich sehe keinen Fortschritt. Die Tage ziehen an mir vorbei und lassen ein Staunen zurück. Besonders, wenn der Mann, der mein Mann ist, am Wochenende nach Hause kommt und mich fragt, was ich in den letzten Tagen getan habe. Ich kann mich nicht erinnern. An nichts zumindest, das es wert wäre, darüber zu reden.
Ja, gut, ich bemühe mich, zitiere krampfhaft jeden Tag in meine Erinnerung zurück, um lediglich die Bestätigung dessen zu finden, was kaum mehr als eine Ahnung geblieben ist: Ich habe nichts getan, nichts Bedeutendes jedenfalls. Ich sehe zu, wie mein Leben an mir vorbei gleitet und tue nichts, um diesem Zustand abzuhelfen. Das ist der Lauf der Dinge.
Aber: Welcher Dinge?
Ich habe Angst vorm Tod. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas früher gehabt zu haben. Immer sah ich den Tod als eine Art Erleichterung an, die mir noch nicht zuteil werden wollte. Immer in schwierigen Situationen, solchen, die scheinbar nicht zu lösen waren, mich auf eine unerklärliche Weise traurig machten und von meiner Umwelt entfernten (wer umgibt sich schon gern mit Melancholie?), sagte ich mir: Na, gut, aber du hast den Tod. Der gehört dir ganz allein. Zwar hast du nur einen davon und musst also sorgsam mit ihm umgehen, aber es ist eine Möglichkeit. Die Letzte, die bleibt.
Denke ich darüber nach, hat sich daran nichts geändert. Doch ich erkenne die Klippen, die zwischen mir uns meinem eigenen Tod liegen. Ich habe nicht eigentlich Angst vor ihm, sondern Angst, dass er zur unrechten Zeit kommt und in einer Weise, die mir die verbleibende Zeit zur Qual macht.
Oh, ich bin im Moment nicht allzu gern auf dieser Welt, aber ich kann mir denken, dass es viel unangenehmere Arten zu leben gibt. Und dann wage ich mir auch nicht vorzustellen, wie das wäre, käme der Tod schon morgen oder auch erst im nächsten Jahr. (Was jedenfalls noch zu früh wäre.) Nicht meinetwegen, denn mir scheint, die guten Zeiten sind vorbei, sondern der Kinder wegen.
Ich könnte heulen, wenn ich mir meinen Sohn vorstelle, so ganz ohne mich. Schon heute, da er sich meines Schutzes bewusst sein kann, ängstigt ihn alles und jedes. Eine Fliege an seinem Bein kann bewirken, dass er aufschreit, als wäre sein letztes Stündlein heran. Wer wird, wenn ich nicht mehr da bin, ihm beibringen, dass er nur nach ihr zu greifen, höchstenfalls nach ihr zu schlagen braucht, damit sie verschwindet? Wer wird ihm überhaupt beibringen, dass das Leben nicht solche Gefahren in sich birgt, wie er vermutet. Ohne mich kann jede Fliege (die er nicht von einer Wespe unterscheiden kann) ihn in Panik versetzen.
Alle Tage befinde ich mich in neuem Zwiespalt. Er weiss so wenig von der Welt, die durchaus allerhand Gefahren in sich birgt, denen auszuweichen ich ihn bislang nur unzureichend in die Lage versetzt habe. Denn jede Sache, die ich ihm bisher - der Not gehorchend - als gefährlich bezeichnete, zog grundlos zehn andere hinter sich her, vor denen er sich ebenso zu ängstigen begann.
Ich bemühe mich anlässlich derart grundloser Tränen und Furchtausbrüche täglich etliche Male auf´s Neue, ihm zu erklären, warum diese Sache tatsächlich gefährlich ist, jene anderen aber ganz und gar nicht. Ich weiss nicht, ob er mir überhaupt zuhört. Fast scheint es, als würde schon der Umstand, mich von - echten oder falschen - Gefahren reden zu hören, ihn so sehr in Schrecken versetzen, dass er nicht in der Lage ist, meiner Rede zu folgen.
Tatsächlich bemühe ich mich, solche wichtigen, gleichwohl scheinbar vergeblichen, Gespräche mit meinem Sohn dann zu führen, wenn der Mann
nicht da ist. Er (der, wie ich mir habe sagen lassen, selbst kein sehr mutiges Kind war, kann nicht verstehen, dass jemand noch weniger mutig sein kann als er selbst) er also begegnet derlei Situationen (sowohl den Angstschreien meines Sohnes, als auch meinen nachfolgenden Versuchen, ihn zu trösten und über die Gefahrlosigkeit der Sache aufzuklären) mit einer solchen Ungeduld, wie ich sie nie bei ihm für möglich gehalten hätte. Er schimpft ihn Angsthase und hat ihm äussersten Falle (denn er hasst Hysterie und die Ängste unseres Sohnes nehmen zu Zeiten schon hysterisch zu nennende Formen an) auch schon zu Handgreiflichkeiten gegriffen. Um unserem Sohn klar zu machen, dass - selbst dann, wenn der Mut nicht kommen will - es sich lohnt, wenigstens Selbstbeherrschung zu zeigen, weil es noch eine Reihe sehr viel naheliegendere Gefahren in Form der väterlichen Hand gibt.
Ich mag diese Art der Argumentaion nicht. Sie bringt unseren Sohn nicht weiter und ist obendrein nicht sonderlich nervenschonend, da allsogleich erneutes Geschrei ausbricht. (Manchmal hoffe ich, dass er doch endlich bestimmte Selbsterkenntnisprozesse durchmachen möge, die ihn in die Lage versetzen, solche elementaren Empfindungen wie Stolz zu verspüren. Mit seinen sieben Jahren ist er nicht mehr zu jung dafür. Sein noch zu entwickelnder Stolz brächte ihn, so hoffe ich, dahin, dass er von allein zur Selbstbeherrschung findet.)
Oh nein, ganz gewiss will ich ihn seiner Kindheit nicht berauben, die ja zu einem guten Teil auch daraus besteht, dass er so reagiert, wie ihm gerade zumute ist. Ich weiss, dass im gleichen Moment auch seine Arglosigkeit verschwände, die ich so sehr an ihm liebe. Nicht nur ich übrigens. Es ist, als habe er - im Gegensatz zum Rest der Menschheit - noch nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen. Ohne die Gewissheit freilich, noch im Schutz des Gartens Eden zu sein. Wer weiss, vielleicht könnte er diese Gewissheit noch haben, hätten wir ihm nicht immerfort aus irgendwelchen aktuellen Anlässen heraus klar gemacht, dass alles keineswegs so sicher ist, wie er es gern hätte. Ich übrigens auch.
Es wär mir lieber, könnte ich ihm die Sicherheit bieten, derer er offenkundig so sehr bedarf.So aber tun sich Hürden vor ihm auf, die ich dadurch abzubauen bemüht bin, dass ich hin zur Selbständigkeit erziehe.
Mit zitterndem Herzen schickte ich ihn vor Jahren zum ersten Mal allein hinunter in den Sandkasten und war nur froh, dass ich - da ich, um ihn nicht zu kompromittieren, nicht selbst mit gehen konnte - wenigstens meine Tochter irgendwo in seiner Nähe wusste. Heute, da sie mit ihren inzwischen dreizehn Jahren nicht mehr zum Mitgehen zu bewegen ist, habe ich keine Ruhe, sobal er fort ist.
Und wirklich geschieht auch jedes Mal, fast täglich, irgendeine Geschichte, die ihn so verwirrt, dass er heulend nach oben kommt und nicht dazu bewegt werden kann, wieder hinunter zu gehen.
Ich weiss noch, wie er monatelang nur im Kindergarten an die frische Luft kam oder an meiner Hand, weil er sich einbildete, dass eine Horde jugendlicher Rüpel über ihn herfallen würde, sobald er den Fuss vor die Tür setzt.
Und ich weiss auch, was es damit auf sich. Es ist, als schlügen zwei Herzen in seiner Brust. Oder vielleicht ist es nur der häufig fehlgeschlagene und deswegen für mich so bedauernswerte Versuch, nun endlich ein richtiger Junge zu sein.
Wir waren das nicht, die ihm beibrachten, was das ist, so ein richtiger Junge. Er scheint da andere Quellen zu haben. Keine sehr hilfreichen, wie ich glaube.
Wenn es ihn ankommt, kriegt er eine heillos grosse Klappe und scheut sich nicht, sich mit Älteren anzulegen, denen es gegen den Stolz geht, sich von so einem Knirps auch nur die kleinste Frechheit sagen zu lassen. Mit Schrecken und gleichzeitig Bewunderung beobachtete ich als er vier Jahr alt war vom Fenster aus, wie er auf einen vielleicht Neunjährigen einschlug.
Bereit, hinunter zu rennen, um mein Kind vor dem Totschlag, wenigstens aber dem Loch im Kopf zu bewahren, sah ich mit an, wie dieser Neunjährige, der mehr als einen Kopf grösser war als unser Sohn, fassungslos auf dieses Würmchen blickte, das sich erfrechte, nach ihm zu schlagen. Ich sah auch, wie die kalte Wut in ihm hoch kroch. Nicht dieser Schläge wegen, die ihn wohl kaum gekratzt haben dürften, sondern weil seine ebenso alten Freunde sahen, dass er nichts unternahm.
Ich hörte, wie er meinem Sohn böse drohte und kalkulierte gleichzeitig, dass ich im Ernstfall ganz sicher viel zu spät unten ankäme. Ich hätte sofort losgehen, losrennen müssen, um noch irgend etwas verhüten zu können. Aber ich stand wie fest gewachsen, starrte gebannt auf die Geschehnisse.
Mein Sohn hatte Glück, mehr nicht, denn die Fassungslosigkeit des Neunjährigen machte einer Art Fairness Platz, die ihm eingab, dass er sich schliesslich nicht mit einem solchen Winzling, dem er haushoch überlegen war, allen Ernstes schlagen konnte. Mit einer eher laschen Bewegung schubste er den Kleinen in den Sand, der damals wohl zum ersten Mal erstaunt darüber war, dass geschlagene Leute zurück hauen.
Das war das erste Mal, dass ich hoffte, mein Sohn würde sich diese Heulerei verkneifen. Ihm war ja nicht wirklich etwas passiert, und er hätte auf diese Weise, aus welchen Gründen auch immer, der neue Held des Sandkastens sein können. Stattdessen wich die Bewunderung in den Blicken seiner Altersgenossen, die im Gegensatz zu ihm die Gefahr deutlich erkannt hatten, dem befremdeten Erstaunen darüber, dass der so offenkundige Sieger nun mit einem Mal losheulte. Die anderen begriffen, dass es ein Sieg gewesen war, eine nicht zu erwartende Kapitulation des Stärkeren, denn es ist bei einem Neunjährigen nicht zwingend mit so viel Fairness zu rechnen, wie dieser hier sie aufgebracht hatte.
Überhaupt vermag ich nicht, mir vorzustellen, wie der Mann
im Falle meines vorzeitigen Todes seiner väterlichen Pflichten habhaft würde. Denn Voraussetzung für meine Gedanken an einen vorzeitigen Tod ist die, dass dieser Tod stattfindet bevor er
stirbt. (Jede andere Variante verdränge ich aus meinem Kopf. Stürbe er vor mir, würde ich zwar leben, wäre zum Weitermachen verdammt, schon der Kinder wegen, wenigstens bis sie gross sind, aber ich wäre in Wahrheit nur eine wandelnde Hülle, die darauf wartet, endlich ihren Geist aufgeben zu dürfen. )
Unser Sohn sagte mir, dass ich niemals sterben dürfte und tröstete mich (oder doch eher sich selbst) damit, dass ich irgendwann gesagt hatte, dass noch etliche andere vor mir dran seien. Er zählte Namen von Leuten auf, die er wahrscheinlich schon heute für sein eigenes Leben für verzichtbar hält und denen der Tod nach seiner Ansicht, wenn schon nicht vermeidbar, eher zustünde als mir, die ich bei Weitem noch nicht alt genug zum Sterben sei.
Ich habe darauf verzichtet, ihm die letzte Wahrheit, die, vor der ich selbst Angst habe, zu eröffnen. Nämlich, dass Sterben nur zum kleineren Teil eine Frage der Gerechtigkeit oder des Alters ist. Dass vielmehr Überleben nicht einmal eine Kunst, sondern nur ein Glück ist, meistens.
Ich habe meine Zweifel, dass der Mann
unserem Sohn gerecht werden könnte, schon allein der Probleme wegen, die ihn offenkundig anders sein lassen als andere. (Ich erlaube mir, trotz aller Schwierigkeiten, die es bei ihm, aber bei anderen Kindern nicht gibt, an wirklichen Beeinträchtigungen zu zweifeln. Meine Tochter, die als völlig normal entwickelt gilt, hatte jedenfalls noch nie das Bedürfnis, mit mir über den Tod zu reden.)
Unser Sohn braucht Geduld, Verständnis und mehr Zuwendung als andere Kinder in seinem Alter. All so ´was, was ich dem Mann
nach einem harten Arbeitstag (und das sind sie mehr oder weniger alle) nicht mehr zutraue.
Zwar liebt er seinen Sohn neuerdings (das war nicht immer so), aber er hat auch das verstärkte Bedürfnis aller Eltern (aller Väter), aus seinem Sohn das zu machen, was er selbst nie werden konnte. Er versteht nicht, dass sein Sohn schon ein fertiges Wesen ist. Eines, das zwar vieles zu lernen hat, aber doch fertig ist. (Ich hoffe, dass er noch Stolz, Selbstbeherrschung und - für manche Situationen - Mut lernt.)
Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, dass der Mann
unsere Tochter so beschützen könnte, wie ich es gerade in ihrem Alter für nötig halte. Vor falschen Freunden, Rauschgift, ungewollten (oder dummerweise zu früh gewollten) Schwangerschaften. (Ich selbst hatte mit sechzehn das erste Mal den Wunsch, ein Kind zu haben, und bin dem nur sehr knapp entgangen.)
Und ich habe Angst davor, dass der Mann
sich eine neue Frau nehmen könnte. Ich meine, ich würde es ihm nicht verübeln; er ist nur wenig über Dreissig. Aber ich fürchte, dass diese Frau unsere Kinder nicht ebenso lieben würde wie ich. (Ich kann mir hunderte von Malen sagen, dass das mit der bösen Stiefmutter nur ein Märchen ist.)
Und dennoch, trotz all meiner Sorgen, die bei genauerer Betrachtung gar nicht zulassen, dass ich vor der Zeit sterbe (Es ist nie die richtige Zeit,), kommen mir immer wieder Gedanken an den Tod. Nicht so imaginär, in Form eines Irgendwann. Sehr plastisch sehe ich vor mir, wie das sein wird. Eines Tages wird sich eine von den unangenehmen Empfindungen in meinem Körper ( Zwicken, Kneifen, Übelkeit, plötzliche Leere im Kopf) dermassen ausweiten, dass ich nicht mehr anders kann, als zum Arzt zu gehen (wahrscheinlich werde ich hin getragen). Der Arzt wird mich untersuchen und nichts finden. Und das wird dann mein Todesurteil sein. Denn weil er meine Beschwerden nicht ernst nehmen wird, kann er das Krebsgeschwür (den Schlaganfall, Herzinfarkt), das da in meinem Körper lauert, nicht finden.
Er wird Gewissensbisse bekommen, weil er eines Tages, nachdem er sich harmlos bei meinem Mann nach mir erkundigte, erfahren wird, dass ich gestorben bin. Das heisst, die Gewissensbisse wird er erst dann bekommen, wenn er erfährt, woran ich gestorben bin und das mit den Symptomen in meinem Krankenblatt vergleicht. Denen, die er nicht ernst genommen hat.
Aber für mich wird es dann zu spät sein.
Schüchtern
Ich werde nie erwachsen, dessen bin ich mir mittlerweile ganz sicher. Ich sehe nur so aus, als wäre ich es; dabei steckt ganz tief in mir drin noch das Kind, das ich vor dreissig Jahren war. Oder nein, eher ist es das Kind von vor vierundzwanzig Jahren.
Da waren gerade meine zweiten Zähne gewachsen, so schief, wie man sich das nur denken kann. Ich schämte mich deswegen und sprach ab da nur noch, wenn man mich etwas fragte. Und auch das nur widerwillig. Vor dem Spiegel übte ich ein Lächeln ein, bei dem man meine Zähne nicht sehen sollte. Ich wollte nicht als unfreundlich gelten. Noch weniger, da es keinen Anlass gab, mich meiner Schönheit wegen zu mögen.
Doch ich fürchte, die richtige Art Lächeln ist mir bis heute nicht gelungen. Am Ende kommt dabei immer nur so ein schiefes Grinsen heraus, das anscheinend den Geschmack der Leute nicht trifft. (Mit den Jahren wächst bei mir der Verdacht, dass wir so weit von tierischen Ritualen nicht entfernt sind. Ich weiss, dass es zum Beispiel bei Wölfen lebensnotwendig sein kann, die Zähne zu zeigen. Dann nämlich, wenn der Schwächere seine Unterlegenheit erkannt hat. Er hebt den Kopf, entblößt seinen empfindlichen Hals und zeigt die Zähne. Hat er das getan, wird der Stärkere grossmütig von ihm ablassen.)
Ich weiss auch noch, wie ich später - mit dreizehn, vierzehn, fünfzehn - oft versuchte, die blendend weissen Kaugummis in meinem Mund so zurecht zu drücken - ich stülpte sie wie Kronen über mein Gebiss -, dass ich mir betrachten konnte, wie ich ausgesehen hätte mit solch geraden Zähnen, die ich gern gehabt hätte. Zu dieser Zeit schien mir schon alles verloren. Drei Jahre war ich nuschelnd mit der Zahnspange herum gelaufen, um mir hernach sagen zu lassen, dass man mir vier Zähne ziehen und die Prozedur von vorne anfangen müsse.
Ich gehe durch die Welt und kann so viele Dinge nicht begreifen. Mein Wissensdurst ist immens, scheint mir aber kein Stück weiter zu helfen. Mir kommt es vor, als verhielte ich mich stets verkehrt. Ich bewundere alle, die alles richtig zu machen scheinen. Und ich will gar nicht wissen, ob sie selbst das ebenfalls glauben. Ich jedenfalls möchte sehr daran glauben, dass es möglich ist, immer alles richtig zu machen.
Nie weiss ich auf der Strasse, wann der richtige Moment da ist, jemanden zu grüssen. Ich sehe die Leute, die ich grüssen sollte, von fern kommen und senke den Kopf, weil ich es für übertrieben halte, schon aus fünfzig Metern Entfernung zu grüssen. Ich tue, als sei ich im Gedanken, bis sie heran sind, was ich mit einem Blick aus den Augenwinkeln beobachte. Habe ich sie drei, vier, fünf Meter vor mir, hebe ich den Kopf und versuche, allerhand freudigen Ausdruck auf mein Gesicht zu bringen. Aber ich bin so verkrampft, dass ich fürchte, eher gequält auszusehen. Oft passiert es dann, dass ich den richtigen Augenblick verpasse. Dann gehen die Leute unmittelbar vorbei. Ich habe den Gruss schon auf den Lippen, kann ihn nicht mehr zurück halten, während sie sich bereits von mir abgewandt haben in der Vorstellung, ich wolle sie nicht sehen. Ich spüre, wie mein Gesicht rot anläuft, und versuche, meinen ohnehin meist sehr leisen Gruss hinter einer spontanen Geste zu verstecken. Damit es so aussieht, als wären mir - so im Gedanken, wie ich bin - ein paar Worte des inneren Selbstgespräches entfahren. Lieber das, als mit einem unerwiderten Gruss zurück bleiben.
Ich fühle mich der Welt der Erwachsenen ebenso wenig gewachsen wie damals als Kind. Nur kann ich es heute besser verbergen. Viele Unbeholfenheiten kaschiere ich, indem ich eine Individualität zur Schau stelle, die nicht wirklich die meine ist. Ich gebe vor, dieser Welt deshalb in so vielem nicht gerecht zu werden, weil ich das nicht will. Ich verstecke mich hinter einem Anderssein, das nichts anderes ist als mein anhaltendes Kind-Sein.
In guten Stunden rede ich mir ein, den anderen ginge es nicht anders. Auch sie haben ihre Unsicherheiten, die ich eher erleichtert als missbilligend zur Kenntnis nehme. Auch sie versuchen, sich so wahnsinnig individualistisch zu geben. Auch sie schämen sich, wenn man sie auf eine ganz bestimmte Art, verbal oder auch nur mit Blicken, zurecht weist. Denken auch sie an die vielen Situationen ihrer Kindheit, in denen sie immerfort etwas falsch zu machen schienen? Sind auch sie heute noch die Kinder, die sie mal waren? Ich möchte gern glauben, dass es so ist. Ich könnte es beinahe glauben, kämen nicht immer wieder die Momente, in denen ich mich ungeschickter und unsicherer fühle als sie das zu sein scheinen.
Es ist nicht schwierig, mir irgendeine Nachlässigkeit, eine Dummheit, ein Versäumnis einzureden, denn ich bin permanent in Erwartung dessen, dass einer kommt und gerade das tut. Selbst wenn ich mich in Wahrheit korrekt verhalten habe, gelingt es mir nicht, den Irrtum lächelnd aufzuklären oder wenigstens in eine angemessene Abwehrhaltung zu gehen.
Ich beginne zu stottern, viel zu langatmig zu erklären (wenn mir überhaupt die richtigen Worte kommen) und hinterlasse, selbst wenn alles gerade gerückt ist, den Eindruck, meiner Sache offenbar so sicher dann doch nicht gewesen zu sein. Man hat den Verdacht, ich habe mich nur heraus geredet. Ich beneide die Leute, die das tatsächlich können. Sie scheinen es ständig zu tun und haben obendrein Erfolg damit. Während jemand wie ich so wirkt, als mache er ständig alles verkehrt.
Das Einzige, das ich verkehrt mache, ist mich verkehrt zu fühlen, denke ich zuweilen. Und dann frage ich mich, warum das so ist. Längst bin ich abgekommen von der Auffassung, dass es an meiner fehlenden Schönheit liegt. Ich habe sie gesehen, die anderen, die ebenfalls nicht schön sind, aber so tun, als wären sie es. Vielleicht kommt es gar nicht so sehr auf die Wahrheit an, sondern auf die Wahrheit, wie wir sie uns in unseren Köpfen zurecht gelegt haben?
So betrachtet wäre es nichts anderes als eine Denkaufgabe: Richtig werden durch Autosuggestion oder vielleicht die richtigen Eltern, die einen von Anfang an behandeln, als wäre man die einzigartige Prinzessin, die sie sich immer schon gewünscht haben.
Es ist nur eine Art Arbeitshypothese, aber immerhin den Versuch wert, weshalb ich meinen Kindern (deren Mangelhaftigkeit mir durchaus bewusst ist) jeden Tag auf´s Neue einrede, wie klug, schön und geschickt sie doch sind. Nicht allein, um ihnen einst die gleichen Qualen, wie ich sie täglich erleide, zu ersparen, sondern auch, weil sie ja doch sehr dankbare Geschöpfe sind, die einzigen, die mich wirklich lieben, so wie ich bin. Obwohl das kein Verdienst von mir ist, sondern der Mangel einer Alternative. Selbst wenn ich saufen, sie schlagen und vernachlässigen würde (statt sie in allem zu ermutigen), würden sie mich lieben.
Ein Trost ist das nicht, aber vielleicht eine Investition in die Zukunft. Und schliesslich ist da noch dieser Nebeneffekt, dass diese kleinen Menschen, die einstens aus mir kamen, die einzigen sind, die keinerlei Zweifel an mir und meinem Tun hegen. Es gab Zeiten, da glaubten sie, ich könnte um die Ecke sehen oder wüsste auch ohne zu sehen alles. Das, denke ich, ist mehr, als ich von allen anderen erwarten kann. Auf diese Weise auch könnte es geschehen, dass mich die Mutterschaft von meinem eigenen Kindsein erlöst.
Eifersucht
Ich bin eifersüchtig und könnte mich selbst dafür in den Hintern beissen. Denn die, bei denen ich´s bin, sind nicht schöner, nicht klüger, nicht einmal aufregender als ich. Das sind nur richtige Weiber, scheint mir. Also das, was ich nicht bin. Die geben Geld aus für Klamotten und Kosmetik und produzieren sich, sobald mein Mann in ihre Nähe kommt. Da werden sie witzig und auch so komisch anschmiegsam. Das heisst, komisch kann ich´s nicht finden, wenn er sich von solchen einwickeln lässt und hernach behauptet, ich solle mich nicht so aufregen, das sei doch alles bloss Spaß gewesen Und überhaupt wäre es affig, wie ich mich aufführe ...
Ich weiss nicht, wie ich mich aufführe. Nur, dass ich jedes Mal stinksauer bin. Ich könnte gar nicht sagen, warum genau.Denn mein Verstand erlaubt mir immerhin die Erkenntnis, dass keine von denen mir das Wasser reichen kann. So eine könnte für ihn nie das Gleiche sein wie ich. Aber das ist nur der Verstand, denn ich wage zu bezweifeln, dass er im Fall des Falles besonders intensiv nachdenken würde. Und also regen sich in mir die Zweifel.
Angefangen hat das ganz harmlos. Mit unseren neuen Freunden. Man wurde sich sympathischer, begrüsste sich mit Umarmung und Küsschen und irgendwann im Suff wurden dann ganz richtige Küsse daraus. Ich konnte ihm gar keine Vorwürfe machen, denn ich hatte ja nicht unschuldig daneben gestanden. Und hätte auch alles als harmlose Entgleisung abgetan, wären da nicht ihre Blicke gewesen. Die sagten: "Ich kann ihn haben" und triumphierten. Über mich. Vor meinem Mann, der von all dem nichts mit bekam.
Oder doch?
Es spielte keine Rolle, denn da war plötzlich die Angst: Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn er dieser oder manch anderer, die noch folgen mochte, aufsitzen würde. Und da kam der Gedanke: "Was wird dann aus mir?". Ich weiss, dass ich derlei vorher nie gedacht hatte. Da war immer die Zuversicht, dass es weiter gehen würde. Plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob es immernoch gehen würde, jetzt und hier. Ich ertappte mich dabei, wie ich - nie hatte ich derlei vorher getan - Berechnungen anstellte, w i e zurecht zu kommen sei. Und dabei zu der Schlussfolgerung kam, dass eben nicht zurecht zu kommen war.
Ich bin eifersüchtig und hege dabei sehr materialistische Gedanken. Ja, gut, auch mein Stolz, mein Selbstbewusstsein werden angekratzt, wenn ich meine, Grund zur Eifersucht zu haben. Aber vordergründig macht mir doch der Gedanke Angst, e r könnte mich verlassen. Wegen so einer!
Eine von denen, die ich als potentiell gefährlich einstufe, hat es neulich sogar zugegeben. So ganz allgemein. Dass sie hin und wieder allein fort geht, höchstens mit anderen Frauen (die anscheinend die gleichen Gründe haben), jedenfalls ohne ihren Mann. Um zu sehen, ob sie noch bei anderen Chancen hat. (Was gut zu wissen ist für den Fall, dass der Eigene abtrünnig wird. Aber das sagte sie nicht.)
Ich ahne schon, warum sie derlei nötig hat. Sie und etliche andere. Spätestens, seit ich erfuhr, dass sie ihren Mann schon aus dem Sandkasten kennt und niemals einen anderen hatte. Eine Sache, die ich mir nun gar nicht vorstellen kann. Und offenbar kein Einzelfall. Anscheinend ist der Drang, einen Versorger abzukriegen, hier auf dem Land viel grösser noch als anderswo. Da sichert man sich seinen Anteil lieber schon beizeiten, ehe alle vergeben sind und man dumm aus der Wäsche schaut.
Ganz unweigerlich kommt dann irgendwann die grosse Torschlusspanik, die zur grossen Unzufriedenheit wird. Wie auch soll frau wissen, dass sie den Besten abgekriegt hat, wenn sie nicht vergleichen kann? Da fangen die Weiber an zu keifen, weil sie meinen, irgend etwas versäumt zu haben.
Es stimmt, nie vorher sah ich so viele latent unzufriedene Frauen. Die meckern und nölen. Die suchen nach dem Glück, der Selbstverwirklichung und dem selig-machenden Knall, der ihnen einst in der Jugend versprochen wurde. Wieder gefunden haben sie sich im täglichen Einerlei zwischen Waschmaschine, Windeleimer und dem Mann, der abends nicht schon wieder das Gleiche essen will wie letzte Woche. (War das wirklich erst letzte Woche?) Die Zeit ist ein Brei, der zäh dahin fliesst und seine Spuren zurück lässt. Spuren, die im Fall des Falles verhindern, dass sich ein anderer findet, der an die Stelle des Verlorenen tritt.
So testet frau gelegentlich den eigenen Wiederverkaufswert.
Welten scheinen mich von diesen Frauen zu trennen. So wenigstens komme ich mir vor. Denn sie betrachten mich, die ich bislang nicht im Entferntesten Ambitionen dieser Art habe, ebenso erstaunt wie ich sie. (Erst langsam komme ich dahinter, dass es ein durchaus existentielles Problem sein kann, zwei Kinder aber keinen Mann zu haben.)
Sie können´s nicht fassen, dass der Gedanke an einen Männerstriptease mein Herz nicht genauso hoch schlagen lässt wie das ihre. Ich schummele mich möglichst um solche Veranstaltungen herum. Schon weil ich weiss, dass ich nie mit der gleichen Begeisterung wie sie solcherart Schaustellungen beiwohnen könnte. (So schön auch finde ich sie nicht, die Herren, die sich allein nur zu dem Zweck ausziehen, gesehen zu werden. Kostenpflichtig, versteht sich.Man(n) muss ja leben. Wenn´s nur darum geht, kann ich´s mir sparen. Das macht mir weder mehr Appetit auf den eigenen, den ich so oder so liebe, noch erregt es mich sonst irgendwie. Halt ein Mann, der anscheinend nichts anderes gelernt hat. Und aus dieser Sicht bestimmt keine Empfehlung, weil ich mehr auf die mit Köpfchen stehe. Und was diese Muskelberge angeht, die man an so einem Mann allenfalls bewundern kann - naja, wem´s gefällt. Ich jedenfalls leide nicht unter der Zwangsvorstellung, dass Männer so aussehen müssen, um wirklich welche zu sein.)
Ich hab´genug von dieser Sorte gesehen, angezogen und ohne was, so dass mein etwaiger Bedarf seit langem schon gedeckt ist.
Die anderen Frauen offenbar nicht. Die gieren nach jedem prallen Männerarsch (Ich weiss bis heute nicht, welche Kriterien da anzusetzen sind. Meistens sieht man die Ärsche ja ohnedies nicht. Sie tragen ja doch Hosen.) und auch nach dem, was die Hose sonst noch füllt, bestaunen - wenn sich´s lohnt - auch mal ein schönes Männergesicht. (Was ich noch am ehesten verstehen kann., denn der meine ist nicht der einzige schöne Mann auf der Welt. Und ausserdem hat das nichts mit einem womöglichen Tatendrang in dieser Richtung zu tun, sondern ist eine Frage der Ästhetik; ich bewundere ja auch schöne Frauen.)
Nicht einmal vor Typen wie Schwarzenegger oder denen mit den Goldkettchen machen die Halt. Es macht den Eindruck, als wäre ihnen alles Recht, wenn´s nur nicht der eigene ist, den man zwar nicht ständig (denn er ist die Sicherheit), aber doch wenigstens hin und wieder mal ganz gerne los hätte. Um endlich einmal den eigenen Neigungen nachgehen zu können.
Wenn´s keinen Spass macht, kann man so einen ja hinterher gleich ´rausschmeissen (was man mit dem eigenen, sei er noch so langweilig oder ungeschickt, nie machen könnte).
Sie wollen bestätigt bekommen, dass sie noch nicht zu alt sind, denn ihr Leben ist schon heute nicht anders als das ihrer Eltern. Altes Ehepaar in alten Gleisen. Jedes Tun hat seine Zeit, ist im Voraus absehbar.
Sie glauben tatsächlich, sie könnten diesem Einerlei entrinnen, indem sie Bestätigung bei anderen suchen und vielleicht auch finden. Kopfkino. (Ich könnte ihnen ja sagen, dass sie nichts versäumt haben. Vorausgesetzt jedenfalls, dass sie so leidlich zufrieden mit den eigenen Männern sind. Sie wachsen nicht eben auf den Bäumen, die Männer, mit denen die Sache mehr Spass macht als üblicherweise. Noch weniger, da sie höchstwahrscheinlich die Falschen ab bekämen. Die nämlich, die in gleicher Weise aus sind auf ein aussereheliches Abenteuer, um hernach mit Stolz im Herzen heim zu ihrem Frauchen zu gehen, wo sie sich - ganz nach Veranlagung - einen Kaffee kochen oder den Nacken massieren lassen. Weil sie´s ja auch nicht mehr gewöhnt sind, sich nur für einen Orgasmus die halbe Nacht um die Ohren zu schlagen.)
Und am Ende alles nur Theorie. Es reicht ihnen, sich an der eigenen Entschlossenheit zu weiden. Daran, dass sie´s - bei günstiger Gelegenheit - tun könnten, würden, vielleicht im letzten Moment darauf verzichteten. Weil´s ihnen ja eigentlich reicht, zu wissen, dass es sie noch gibt, solche, die Interesse hätten.
Unter diesem Aspekt ist meine Eifersucht umso unverständlicher. Ich sollte mir sagen, dass sie im Grunde ihrer Seele den gleichen Schiss haben wie ich. Vor materiellen, sexuellen und Seelennöten. Denn - mögen sie sein wie auch immer, ihre Ehemänner - sie sind immerhin da, worauf man sich bei einem anderen, gegebenenfalls, nicht allzu sehr verlassen sollte.
Und dennoch bin ich eifersüchtig. Weil mein Mann so tut, als seien all meine diesbezüglichen Ängste so vollkommen aus der Luft gegriffen. (Das macht er immer, wenn sie das nicht sind. Dann steht, sitzt, liegt er da und stellt mich hin, als litte ich unter Verfolgungswahn, versucht mir zu beweisen, dass diese anderen mir das Wasser nie und nimmer reichen könnten. Und eben weil er sich so müht, werde ich immer skeptischer. Denn wenige Stunden zuvor - solche Szenen finden ja stets erst nachher statt - schien es ihm ganz gut zu tun, wie sie ihn umschwirrten. Da machte er nicht den Eindruck, als fände er die Damen dumm, langweilig oder unattraktiv.) Ich finde es unnatürlich, wie er sich in solchen Situationen aufregt. (Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen!) Denn schliesslich müsste er, wäre mein Ärger so völlig unsinnig, nur einfach loslachen.
Stattdessen argumentiert er mit einer Scharfsinnigkeit, die mir allzu gut vorbereitet scheint, und endet jedes Mal damit, dass er mich nie verlassen würde. (Ich habe nicht vergessen, dass er mir in einer schwachen Stunde anvertraute, dass er sich - sollte es so weit kommen - nie und nimmer von einer EX finanziell ausnehmen liesse. - Warum denkt so ein bodenlos treuer Mann über derlei nach?)
Also bleibe ich auch weiterhin eifersüchtig. Mit dem Resultat wenigstens, dass sie ihm keinen Spass mehr machen, diese feucht-fröhlichen Zusammenkünfte, bei denen man früher oder später immer auf schlüpfrigem Parkett landet; unweigerlich kommt man immer wieder dahin. Die Frauen trinken mehr, als gut für sie ist. (Ich trinke mehr, als gut für mich ist.) Und dann beginnen sie mit diesen Anspielungen, fassen ihn allzu vertraulich an, legen sich in seinen Arm, nötigen ihm Küsse auf (die er nicht ungern erwidert) und sind also voll in ihrem Element. (Auch ich wäre gern voll in meinem Element, aber ich sehe keinen, der die Mühe lohnen würde. Ich bin schon so lange mit meinem Mann zusammen, weil sich etwas anderes einfach nicht lohnt.)
Mir wäre wohler, wenn er ähnlich denken würde. Weil er´s aber offenichtlich nicht tut, bin ich gezwungen, mir Gedanken darüber zu machen, wie es bei mir weiter ginge. Ich, allein mit den beiden Kindern. Jede Mark müsste ich in der Hand herum drehen. (Er wird mir fehlen und sein Geld ebenso.) Und am Ende müsste ich feststellen, dass das alles mich nicht weiter bringt. Weil alles, was ich täte und hätte, stets zu wenig wäre.
Ich bin eifersüchtig und das aus gutem Grund. Irgendwann, fürchte ich, könnte es bei ihm mehr als nur Spass sein. Und deswegen hoffe ich, dass die anderen Frauen mindestens genauso weit denken und nicht wegen ihrer Scheiss-Selbstbestätigung all ihre Sicherheit auf´s Spiel setzen. Ich würd´s ihnen ja sagen (aber sie fragen mich nicht), dass er ganz sicher gern seinen Spass mit ihnen hätte. Aber mehr wäre nicht drin.
Und wenn ich mich irre?
Samstag morgen
...nach draußen schauen, so früh am Morgen, nichts anderes sehen als Grau in Grau und der eigenen Befindlichkeit nachspüren. Schlechtes Wetter muß nicht schlechte Laune sein, aber auch nicht unbedingt gute.
In der Psychologie nennen sie es ambivalent
. Ja, ich bin heute ambivalent. Durchaus positiv gestimmt mit dem Blick auf ein sohnloses Wochenende, obwohl er eigentlich da sein sollte, denn ich bin dieses Wochenende dran
. Aber frau hat sich dran gewöhnt und muß gestehen, daß sie sich an den Wochenenden mit Sohn eigentlich ein bißchen in ihren Abläufen gestört fühlt.
Ist man allein, deckt man keinen Frühstückstisch. Jedenfalls nicht ich. Man nimmt zunächst geistiges Frühstück am PC zu sich. Kommentare auf die eigenen Einträge, die zuweilen etwas von Dessert haben. Sie schmecken süß. Der Tag könnte gut werden. Wenn man ihn denn in Angriff nähme und nicht noch ein bißchen vor sich herschöbe. Nebenan auf dem Bildschirm das Alpenpanorama, das ich vor wenigen Jahren noch tödlich langweilig fand. Wer sieht sich so was an?
Ich, ein paar Jahre später, jetzt. So gehen sie hin. Ich sehe ebenso viel Trübsinn wie vor meinen eigenen Fenstern und denke an die Schreiberin, die übers Älterwerden schrieb: Symptom Eins. Ich sehe mir Tierreportagen an. Das hätte ich nie von mir gedacht.
Tierreportagen sehe ich schon länger, ohne Schlimmes dabei zu denken. Und das Alpenpanorama ... nunja, ich sehe ja nicht wirklich hin. Es ist das Hintergrundbild zum Videotext, den ich lese, um ein Alibi zu haben. Man könnte eine Idee für einen Eintrag kriegen. Und man kann den Tag noch ein bißchen vor sich hin schieben. Eine Zigarette rauchen, noch eine, den flauschigen Bademantel anziehen, bis die Heizung hochgefahren ist.
Auf dem Weg in die Küche über dieses Telefonat neulich nachdenken. Der Gesprächspartner erkannte zwar, daß man aus Thüringen kommt, hat aber dann doch schlechtes Sächsisch imitiert. Warum machen Leute das? Ich meine, mit einem Schwaben würde ich auch nie schwäbisch reden wollen. Nicht nur, weil ich´s nicht gut kann und das weiß (thüringisches Schwäbisch halt - wie mag das klingen? Vermutlich ebenso blöd wie schlechtes sächsisches Thüringisch.), sondern auch, weil so was für mich Verarsche ist: Hör mal, wie du dich anhörst! (Na, jedenfalls nicht so scheiße, wie du da sprichst. Obwohl ich meinen AB ungern selbst bespreche. Da klinge ich wie meine Schwester und ganz bestimmt nicht hochdeutsch.)
Derweil ist das Spiegelei in der Pfanne. Kräutersalz, Curry und noch dies und das. Kein Problem, daß es beim Umlagern auf den Teller zerläuft. Man hätte es sowieso angestochen und will auch keinen Kochwettbewerb gewinnen. Noch später drei häßliche Eigelbkleckse auf dem weißen Bademantel. Vielleicht hätte man doch am Tisch essen sollen? Aber Spiegelei und Alpenpanorama allein ist zu öde. So alt ist man dann doch noch nicht. Und in der Waschmaschine ist ja genug Platz, wenn da nur die eigene Wäsche ist.
Man sollte den Tag nun endlich anfangen und nicht nach der nächsten (diesmal Verdauungs-) Zigarette greifen. Man sollte einkaufen gehen. (Warum schon jetzt? Der Laden hat auch in sechs Stunden noch auf. Und sowieso gings am letzten Wochenende auch ohne. Was braucht man schon, wenn man allein ist? Die Tabakdose immerhin ist voll. Und irgendwo da oben im Schrank liegt auch noch Fertigteig für Brot. Frau ist gerüstet, wenn irgendwelche Infernos kommen, noch zwei Tage länger auf das Ende zu warten.)
Und sowieso: Wer will schon raus in diesen Wetterdreck? Nicht Fisch, nicht Fleisch. Mit einem halben Meter Schnee könnte ich leben. Der macht es wenigstens hell, wenn´s schon von oben dunkel ist. Hier drinnen ist´s nett und gemütlich. Hier in meinem Kuschelbademantel. (Wenn ich mich so hinsetze wie jetzt, dann sieht man nicht mal die Eigelbflecke.) Hier drinnen in mir. Ich. Am Samstag.
Alt
Ich werde alt.
Nicht, daß ich Angst davor hätte. Manchmal, wenn ich mit morgenmatten Augen vor den Spiegel trete, an dem Spiegel rumrubbele, um festzustellen, daß nicht der Spiegel, sondern meine Augen matt sind, erkenne ich nach einigem Bemühen das Gesicht, das ich einst hatte. Ich fand mich damals nicht schön, muß aber heute sagen, daß ich so übel dann auch wieder nicht war. Aber vor allem war ich jung. Mit Ende zwanzig, zwei Kinder an der Hand, sah ich jünger aus als diese heutigen präsexuellen Mädchen, die sich so viel Farbe ins Gesicht schmieren, daß man ihr Alter nicht mehr erkennt. Sie benutzen Grundierungen, Make-up, allerhand Farben und Stifte, deren Namen ich auch heute noch nicht kenne. Sie färben ihre Haare alle paar Wochen um. Sie sehen alt aus, noch ehe sie´s wirklich sind, und kriegen mit dreißig Tränensäcke und erste Runzeln an allen möglichen Körperstellen, weil sie so viel unter der Sonnenbank gelegen haben. Ich damals, im gleichen Alter, benutzte bestenfalls diesen Stift um die Augen, der - wie ich meinte - das Beste an mir betonen sollte. Das Näpfchen mit dem blauen Lidschatten reichte ewig, weil ich es zumeist nur am Wochenende öffnete, wenn man tanzen ging. Erst etliche Jahre später, weit jenseits der dreißig, wechselte ich zu dem grünen, der mir viel besser steht. Inzwischen nehme ich von diesem Augenzeugs gar nichts mehr. Ich vertrage es nicht. Schon nach kurzer Zeit beginnen die Augen zu brennen und zu jucken, und wenn man dann reibt, verschmiert alles und man sieht albern aus. Hernach ist es viel schlimmer als ohne all das.
Nie wieder werde ich diesen klaren Blick von damals haben.
Heute, wenn ich morgens im Bad bin, dauert alles ein bißchen länger als damals. Schon allein deshalb, weil ich ohne Dusche nicht in die Gänge komme. Vermutlich ist diese tägliche Duscherei nicht gut für die Haut, schon gar nicht für die alte, der man ohnedies nachsagt, sie würde langsam, aber sicher austrocknen, aber ohne Dusche verharre ich im nächtlichen Traumland und bin für den Alltag nicht zu gebrauchen. Mich verfolgen die oft schlechten Träume. Und zuweilen, wenn mich das Traumgeschehen gar zu sehr bedrängt, ertappe ich mich dabei, wie ich im Selbstgespräch mit jenen Traumgestalten auf dem Klo sitze bis mein Blick auf den Wecker fällt, der auf der Waschmaschine steht, und feststelle, daß ich gut daran täte, mich zu sputen.
Das Ritual nach dem Duschen ist ein ewig gleiches, über Jahre hin eintrainiert, damit nicht gar zu viel Zeit für eine Sache draufgeht, für die man früher kaum mehr als fünf Minuten brauchte. Inzwischen benutze auch ich Make-up. Meine Haut ist nicht mehr schön. Der hohe Blutdruck hat sie allzu sehr gerötet und auch hier und da ein Äderchen platzen lassen. Ich decke also all diese Unschönheiten ab, um hernach festzustellen, daß da scheinbar noch mehr Falten sind als zuvor. Ich habe schon alles Mögliche ausprobiert, aber das Resultat, so sehr mir auch Verjüngung versprochen wurde, wird selten besser. Manchmal denke ich, daß es dieses Produkt nun ist. Aber dann, an irgend einem Morgen sehe ich, daß da wieder (oder immernoch?) diese Falten sind und neuerdings auch Schatten unter den Augen, die mich von der jungen Frau mit den zwei Kindern an der Hand, die ich einst war, unterscheiden.
Ich bin beinahe fünfzig, inzwischen Großmutter, und ich trauere nicht der Jugend nach, sondern diesem klaren Blick, den ich damals hatte. Ich klappte morgens die Augen auf, reckte mich einmal und sprang aus dem Bett. Ich verliebte mich ständig, und nur selten wußte das Objekt meiner Begierde von meinen Gefühlen. Ich meinte lange Zeit, noch nicht reif für die Liebe zu sein. Irgendwann, so wußte ich, würde sie da sein, ganz echt und ganz richtig. Gerne rede ich mir ein, auch ich sei einmal ein fröhliches, unbedarftes Kind gewesen, ganz genau so wie all die anderen auch. Ich hätte gelacht, dumm geplappert und das ganze Leben für ein Abenteuer gehalten. Jedoch nehme ich an, daß es mit dieser fröhlichen Unbedarftheit, sofern sie jemals da war, aufhörte als ich fünf war. Da drückte man mir das rote Köfferchen, das ich zum Arztspiel hatte, nunmehr gefüllt mit Buntstiften und einem Zeichenblock, in die Hand und schickte mich zur Vorschule. Dort waren Kinder, so alt wie ich, die ich noch am Besten fand, wenn sie wirklich lustig waren. Das mochte ich später auch in der richtigen Schule. Im Zeugnis der ersten Klasse stand über mich: "Ihren Nachbarn hat sie oft etwas Lustiges zu erzählen." Es schien, als hätte man nur Spaß, wenn man selber spaßig war. In Wahrheit jedoch konnte ich mit Gleichaltrigen nie etwas anfangen. Bereits als ich vier Jahre alt war, klingelten die Nachbarn bei meiner Mutter, um ihr zu erzählen, daß ich im Sandkasten (demselben, in dem mein Sohn sich später prügelte) auf dem Spielplatz eingeschlafen war. Schon damals müssen mich die anderen gelangweilt haben.
Ich habe mir angewöhnt, allerhand zu trinken. Wasser, Saft, Tee - egal. Hauptsache: flüssig, damit meine alte Haut nicht gar so sehr verschrumpelt. Die Schönen aus dem Fernsehen behaupten es ja alleweil, daß sie auch mit sechzig noch so faltenfrei sind, weil sie brav ihre drei Liter täglich trinken. Aber vermutlich ist diese Sache mit dem vielen Trinken genau so ein Gerücht wie es so viele im modernen Alltag gibt. Da wird eine PR-Maschine in Gang gesetzt, deren geistige Produkte sich über Jahrzehnte halten und am Ende alle Bereiche durchziehen. Vermutlich sind diese PR-Maschinen die gleichen, die den prominenten Sechzigjährigen raten, lieber nichts von ihren Schönheits-OPs zu erzählen. Zum einen, weil Natürlichkeit in ist, zum anderen hat man vielleicht einen Vertrag mit einem Wasserhersteller. Manchmal tragen diese Damen tatsächlich diese kleinen, hübschen Kunstwerke von Wasserflaschen herum, die jeder gleich an der Form, spätestens aber am Etikett erkennt, das - ganz zufällig - in Richtung Kamera gedreht ist. Übrigens möchte ich in deren Haut nicht stecken, also in der Haut dieser prominenten Frauen, die bis an ihr selig Ende zum Schönsein verdammt sind. Was ja doch gleichzeitig eine Reduzierung dessen ist, was sie womöglich auch sind: Menschen mit Erfahrung. Bei Frauen will man nicht ihre Erfahrung sehen. Sie sollen ansehnlich sein, solange man sie sehen kann. Und wenn sie´s nicht mehr sind, dann sollen sie sich gefälligst aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Mit ein bißchen Glück kriegen sie dann noch ein paar nette Synchronrollen oder dürfen Hörbücher vorlesen. Da möchte man dann lieber keine Schauspielerin mehr sein, sondern die Normalfrau bleiben, die man eben ist. Obschon auch die Normalfrau nicht gänzlich frei von derlei Erwartungsdruck ist.
Meinem Sohn, neulich, als er lästerte, "die Weiber" würden sich alleweil dieses Zeugs ins Gesicht schmieren, um den Männern zu gefallen, versuchte ich es zu erklären. Noch am wenigsten die Männer sind es, für die ich es tue. Und am Ende nicht einmal ich selbst. (Obwohl wir Frauen gern behaupten, wir täten es nur für uns.) Sondern die anderen Frauen, deren Blicke ich zuweilen auf mir ruhen sehe, taxierend auf eine Weise, die mich irgendwo im System unterzubringen versucht, nicht selten in dem Bemühen, mich möglichst irgendwo weit unterhalb der eigenen Wertigkeit einzuordnen. Man merkt es immer, wie diese Taxierung ausgefallen ist. Allerdings ... seit einiger Zeit beobachte ich, daß jüngere Frauen mich entweder gar nicht mehr anschauen oder aber mit einem Blick, mit dem sie vermutlich auch ihre Mütter bedenken. Je nach Typ und Qualität des Kontakts zur eigenen Mutter schwingt darin entweder Aufsässigkeit oder ein schwacher Abglanz von Ehrerbietung. Sie sehen mich nicht mehr als Frau, nicht mehr als Konkurrenz (die ich ja auch nicht bin; es wären, gegebenenfalls, andere Gewässer, in denen wir fischen - wenngleich ... im Zweifelsfall nimmt so ein Mann natürlich lieber eine Jüngere). Sie wissen, daß sie allemal im Vorteil sind, wäre ich so schön wie auch immer. Aber ich bin´s nicht. Das macht die Sache noch leichter. Ich bin eines von diesen armseligen Geschöpfen, das seine beste Zeit lange hinter sich. Daß diese Zeit einst auch bei ihnen kommen wird, können und wollen sie sich nicht vorstellen. Schon gar nicht, daß das viel schneller geht, als so ein junges Ding sich das überhaupt vorstellen kann.
Auch ich, dermaleinst, konnte mir nicht vorstellen, alt zu werden. (Heute hoffe ich, nicht nur alt, sondern möglichst lang am Leben und dabei gesund zu sein, denn was nützt einem das schönste Alter, wenn man sich mies dabei fühlt?) Ich erinnere mich an diesen Logiergast meiner Eltern, ein Ungar im Alter von Anfang vierzig, der ein Auge auf mich geworfen hatte. Da war ich schon Mutter, aber noch jung genug, seine Tochter zu sein. Als ich mich in seine Nähe beugte, um an seinem teuren Parfüm zu schnuppern, hätte er mich beinahe geküßt. Heute denke ich, ich hätte eine von diesen Gelegenheiten ergreifen sollen. Er war zwar nicht unbedingt mein Typ, aber durchaus gut aussehend, kultiviert und hatte einen respektablen Job. Ich hätte mir von ihm ein weiteres Kind machen lassen können und wäre bar aller Sorgen gewesen. Inzwischen würde ich perfekt ungarisch sprechen und je einmal im Jahr nach Budapest und Wien zum Einkaufen fahren. Ich hätte die ungarische Küche gelernt und einmal im Monat deutsches Essen gekocht. Damit die Kinder und dann die Enkel ihre deutschen Wurzeln nicht vergessen. Im Sommer hätte ich meine Familie in unser Ferienhaus am Balaton eingeladen und im Winter wären wir ein paar Tage nach Deutschland gekommen. Ach, was hätte ich es doch gut haben können ...
Für ihn wäre ich auch heute noch jung; wahrscheinlich ist er jetzt so um die Siebzig.
Einsam
Ich fühle mich einsam, mitten unter all den netten Leuten.
Sie sagen "Grüß Gott!" und haben jederzeit ein paar freundlich-unverbindliche Worte parat, auf die ich selten etwas Passendes zu erwidern weiß. Sie holen ihr Lächeln hervor wie ein Taschentuch und können es ebenso schnell wieder weg stecken. Ich fühle mich dem nicht gewachsen. (Ich beherrsche nicht die einfachsten Spielregeln.) Und bin doch so bemüht, mich einzufügen.
Aber ich habe diese Art Freundlichkeit nicht gelernt. Ich habe gelernt, dass man sich die Leute ansehen muss, mit denen man umgeht, und dass Vorsicht die Mutter der Porzellankiste ist. Mir wurde zwar gesagt, dass man es mit Freundlichkeit weit bringen kann, aber auch, dass andere Sachen einen weiter bringen. Schon möglich, dass ich da was Falsches gelernt habe.
Jedenfalls beginne ich zu glauben, dass manches falsch war von dem, was ich früher für richtig hielt. Damals war es allemal einfacher, die Grenzen klar gezogen. Ich war freundlich zu den Menschen, die ich mochte (Da fiel es mir nicht schwer.) und habe allen Ernstes geglaubt, mehr wäre nicht von Nöten. Im übrigen erlaubte ich mir die Freiheit, entweder sachlich zu sein (man muss seine Nachbarn und Kollegen ja nicht unbedingt mögen) oder aber mich meiner Haut zu wehren.
Jetzt jedoch muss ich erleben, dass mein gewinnendes Auftreten (über das ich nicht verfüge) urplötzlich zum Mass aller Dinge wird. Dabei will ich gar nicht gewinnen, wenigstens nicht durch mein Auftreten, sondern dadurch, dass ich entweder gut bin (bei Bewerbungsgesprächen) oder dass ich Recht habe (bei den Ämtern).
Aber es passt ihnen nicht, dass ich alle Beziehungen auf dieses sachliche Mass reduziere. Vielmehr gewinne ich den Eindruck, dass es nicht die mindeste Rolle spielt, ob ich gut bin oder Recht habe, wenn nur sie das Gefühl haben, ich würde sie nett finden. Sie wollen bestätigt bekommen, dass ich sie allesamt mag, um dann ihrerseits wiederum mich mögen zu können. Es scheint, sie hätten auf dieser Strecke Defizite aufzuweisen.
Gar nicht zu reden von denen, die meinen, kraft ihrer Position in diesem Gefüge einen Anspruch auf meine Freundlichkeit zu haben. Die hegen eine ganz eigenartige Erwartungshaltung: Lächeln aus der Bauchlage.
Ich bin nicht dazu erzogen, vor jemandem auf dem Bauch zu liegen. Schon gar nicht könnte ich mir vorstellen, von da aus nach oben zu grinsen. Denn mehr als ein Grinsen würde es ja doch nicht. Eher komisch als die gewünschte Ehrerbietung. Sie wollen gemocht werden, weil sie sich ihrer selbst offenbar so sicher nicht sind. Und es ist ihnen allemal lieber, mit der freundlichen Lüge als der harten Wahrheit zu leben. Nämlich der, dass Respekt verdient sein will. (Sie müssen sich unter ihresgleichen zu oft beweisen, als dass sie den Luxus der Macht nicht ausnützen würden.) So jedenfalls habe ich das gelernt, sei es so falsch wie auch immer. Es scheint mir schlüssiger. Ohnedies begriff ich den Sinn meines Lebens nie daran, anderen zu Wohlgefühl zu verhelfen. Das, so meinte ich, sei bestenfalls ein Nebenprodukt, aus dem Herzen geboren, wenn es denn so sein soll.
Meine Herzensgefühle interessieren niemanden. Man will mich höflich, freundlich, harmlos und - zu gegebener Zeit - unterwürfig. Wozu ich das Talent nun mal nicht habe.
Stets auf´s Neue staune ich über diesen modernen Satz: "Als Mensch finde ich sie/ ihn ja ganz nett, aber ...", an den sich zumeist eine sich freundlich gebende Kritik anschliesst, welche oft vernichtender ist, als hätte man den Menschen nicht gemocht. Ich verstehe diesen Satz nicht. Noch weniger, wenn er zu anderen als dem Betroffenen gesagt wird. Es ist, als würden diese ganzen Freundlichheimer sich absichern für den Fall, dass solch eine Botschaft weiter getragen würde, an den heran, den sie betrifft. "Aber ... " könnten sie sich dann verteidigen, "ich mag dich doch. Das hab ich auch gesagt."
Ich mag keine Menschen, deren Mängel ich nicht tolerieren kann. Und kann ich sie tolerieren, dann rede ich nicht drüber, dass sie welche haben. Fehler habe ich selbst auch und bin darauf angewiesen, dass es ein paar gibt, die die meinen tolerieren können. Würden sie zu Dritten drüber sprechen, bekäme ich Zweifel an der Toleranz und folglich ein schleichendes Unwohlsein, was diese Beziehung angeht.
Die Freundlichen von heute kennen diese Beschränkung nicht. Weil sie ja irgendwie alle mögen ("so als Mensch"), sprechen sie mit jedem über jeden, fühlen sich aber keinem wirklich nahe und verpflichtet. Die grossen Netzwerke der Neuzeit begründen sich auf der Illusion, dass jeder jeden mag, aber auch jeder im Zweifelsfall durch fünf andere, ebenso freundlich-beliebige ersetzt werden kann.
Die Zeit fliesst und ich stecke in meinen zweifellos altmodischen Vorstellungen von Freundschaft und Liebe, die ich wohl nach meiner Art nicht mehr finden werde, unrettbar fest.
Vom Gehen und Bleiben
Die Kunst besteht darin, nicht zu viel zu erwarten. Wir gehen durch´s Leben und erwarten stets den großen Wurf, während wir die kleinen Dinge übersehen. So leben wir ein Leben, das besser sein könnte - auf nichts anderes warten wir -, wenn wir nur zuließen, daß es besser ist. Die Dinge sind nicht wirklich schlecht; wir machen sie dazu.
Ich bemühe mich. Wenn das Wochenende kommt, beginnt der leidige Einkauf. Im Gegensatz zu allem, was man Frauen so nachsagt, gehe ich nicht gerne einkaufen. Aber ich arbeite an diesem Unwillen.
Verlasse ich die Firma, gleichgültig, wie das Wetter ist, tue ich so, als sei ich im Urlaub. Schließlich, was anderes als ein kurzer Urlaub ist so ein Wochenende? Ich sage nicht: Ich m u ß dieses oder jenes tun, sondern ich sage mir, daß es ein Spaß sein wird, in die Stadt zu gehen und zu bummeln, während alle anderen im Gedanken schon bei der nächsten Sache sind.
Ich sehe mich um. Ich sehe eine Horde von alten Frauen. Busreisende, die aus ihrem letzten Rest von Leben noch eben so viel herausholen wollen, wie halt drin ist. Nicht viel: Städte sehen, seien sie provinziell wie auch immer (ohnedies lieben wir im Alter mehr die Ruhe als die großen Dinge; wir haben gelernt, daß alles, was sich groß gibt, nur eine größere Aufmachung dessen ist, was auch im Kleinen stattfindet, nur eben nicht so laut und grell), mit Menschen zusammen sein, auch wenn wir mit d e n e n d a früher um keinen Preis etwas hätten gemeinsam machen wollen (wir haben nicht mehr die große Auswahl; die einen haben sich aus dem Geschehen zurückgezogen, die anderen können nicht mehr und wieder andere haben sich in den Tod davongemacht). Einfach nur draußen sein und das Gefühl haben, noch nicht Tod zu sein. Aber der Tod steckt bereits in uns, von Anbeginn an. Nur, daß wir ihn jetzt näher fühlen. Er spricht zuweilen zu uns, mit leiser Stimme, kaum hörbar. Aber wir wissen, daß er da ist. Das erschreckt uns. Weil es uns bewußt macht, was alles wir versäumt haben werden, wenn er denn kommt und uns mitnimmt.
Immer glauben wir, wir würden etwas versäumen. Gehen wir dorthin, glauben wir, es wäre besser da gewesen; entscheiden wir uns für die eine Sache, fürchten wir, die andere wäre vielleicht richtiger gewesen. Wir haben nicht gelernt, uns zu bescheiden, weil da immer noch mehr sein muß. Am Ende ist kein Platz mehr für dieses Mehr, dann ist einfach Schluß und vieles ungesagt und ungetan und jede Menge Leben ungelebt, weil wir alleweil darauf gewartet haben, daß alles anders und besser wird.
Am Ende kriechen wir am Krückstock, mit einem Blindenabzeichen an der Brust durch eine fremde Straße in einer fremden Stadt zwischen Menschen, die wir nicht wirklich mögen, und denken, wir könnten dem Tod ein Schnippchen schlagen, indem wir nicht da sind, wo er uns sucht.
Er weiß immer, wo wir sind. Und nichts Ungetanes ist nachholbar.
Auch diese Franzosen, die ich zuvor sah, machten mich nicht fröhlicher. Sie gingen durch den Park, hastig, als würde ihr Bus sie dalassen, wären sie nicht rechtzeitig da, und ich fühlte mich unter ihren Augen ein bißchen wie ein Affe im Zoo. Ich als Bestandteil ihrer Weltläufigkeit erträumenden Touristikseligkeit. Aha, so sehen die Menschen da also aus. In Wahrheit sehen die Menschen hier wie da nicht anders aus, und Reisen bringt uns uns selber nicht näher, sondern sorgt bestenfalls für einen Abstand zwischen uns und dem Alltag, mit dem wir partout nicht umgehen können. Wir meinen, wenn wir woanders sind, werden auch wir selber anders. Aber in Wahrheit sind wir immer wir, wo auch immer wir sind. Wir nehmen uns ja mit. Die Reise als Flucht vor uns selbst, dem Alltag und der Gewöhnlichkeit funktioniert nur kurzzeitig und illusionär.
Ich bleibe, wo ich bin, und bilde mir die Reise nur ein. Ich schaue auf das Bekannte mit fremden Augen, die solcherart geschärft tatsächlich nicht das Gleiche sehen, wie jene, die nur ihren Alltag absolvieren. Ich bin nicht in Eile, weil Eile keine Sache wirklich forciert. Die Dinge dauern, solange sie nun einmal dauern. Das Warenstorno meines Vorgängers auf Grund eines fehlerhaften Strichcodes geht nicht schneller, wenn ich ungeduldig hin und her zappele. Wir reden ein paar Worte. Aber während ich im Urlaub bin denkt er schon an die nächste Sache, die er zu versäumen fürchtet, und ist ganz woanders.
Die Menschen sind oft woanders, nicht bei der Sache. Sie wundern sich, wenn sie hernach nie wirklich wissen, wo sie waren, was sie getan haben. Sie waren da und auch immer schon wieder weg. Gleichzeitig hier und dort, nie bei der Sache.
In der Furcht, etwas zu versäumen, versäumen sie alles.
Ich arbeite an dem Unwillen, den Einkaufen für mich mit sich bringt. Ich spreche mit Menschen, ich lächle, ich bin entspannt. Das Wetter ist schön und mein Heimweg mit den schweren Einkaufstaschen nicht weit. Ich bemühe mich zu leben. Jetzt und hier.
Inhalt
Seite 5 Angst
Seite 18 Schüchtern
Seite 25 Eifersucht
Seite 36 Samstag morgen
Seite 40 Alt
Seite 49 Einsam
Seite 54 Vom Gehen und Bleiben
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Tag der Veröffentlichung: 12.08.2008
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