Lilylu
saß am auf einem Stein am Ufer des Baches und betrachtete den Sonnenaufgang. Über ihren blonden Locken lag ein zartrosa Hauch. In ihren grünen Augen spiegelten sich die leuchtenden Farben des Himmels wieder. Sie plätscherte mit den kleinen Füßen im Bach und ihre Zehennägel schimmerten durch das Wasser wie Perlen.
Lilylu liebte diese Stimmung am Morgen, weswegen sie jeden Tag da saß. Auf genau diesem Stein, von dem aus sie einen wunderbaren Blick auf die Stelle am Himmel hatte, an der bald die Sonne auftauchen würde. Sie sah auch die zarten Nebelschleier über den Wiesen des Grafen, die sich langsam auflösten. Zwar gehörten die Wiesen nun nicht mehr dem Grafen, sondern der Stadt, aber alle nannten sie noch Grafenwiesen und Lilylu auch.
Es war einer von diesen frühen Herbsttagen, die über Mittag noch schön warm werden konnten, nachts aber bereits ahnen ließen, wie der Winter sein würde. Auch jetzt war es noch ziemlich kühl. Kein anderer als Lilylu wäre auf die Idee gekommen, im Bach zu baden, nicht einmal mit den Füßen. Manche von den Menschen hatten schon ihre warmen Jacken aus dem Schrank geholt, was Lilylu ziemlich albern fand. Lilylu fror nie. Sie lief auch immer barfuß, sogar im Schnee. Nur ein einziges Mal hatte sie dieses eine paar dicker Wollstrümpfe, das sie überhaupt besaß, aus dem Schrank geholt. Da war der Bach zugefroren gewesen. Lilylu fürchte, ihre Füße würden am Eis festkleben. An diesem Tag hatte es einen besonders schönen Sonnenaufgang gegeben. Alles lag unter einer dicken Schnee- und Eisschicht und jeder Wärmehauch, der aus den Häusern oder ihrem Mund kam, warf dicke Wolken. Lilylu war nur kurz draußen geblieben und versuchte, sich diesen Morgen zu merken, ganz fest. Vermutlich würde sie so etwas Wunderschönes nie, nie wieder sehen.
Aber auch dieser Sonnenaufgang jetzt war sehr hübsch. Erst hatte es nur einen Hauch Helligkeit gegeben. Dann aber begann das Feuerwerk aus knallroten, gelben und rosa Streifen. Wolkenflecken durchsetzten das Ganze mit lila. Und alles war sehr, sehr schön.
Was Lilylu am Herbst und Winter nicht so sehr mochte, war die Zeit, um die all das geschah. Zu viele Menschen waren schon unterwegs. Sie mußte höllisch aufpassen, nicht gesehen zu werden. Wobei ihr die Menschen noch am wenigsten Kopfzerbrechen bereiteten. Menschen waren blind, gerade am Morgen, wenn sie in Eile durch die Gegend hasteten. Sie sahen meist stur auf ihren Weg und hatten weder ein Auge für den Sonnenaufgang, noch für Lilylu da unten am Bach. Schlimmer waren die Hunde, die von den Menschen morgens vor der Arbeit ausgeführt wurden. Sie schnüffelten überall herum und scherten sich nicht um Wege und menschliche Befehle, wenn sie erst einmal Witterung aufgenommen hatten. Lilylu witterten sie beinahe immer. Ehe man sich´s versah, waren sie von der Brücke herunter und stürzten auf Lilylus Stein zu, ihre Lefzen hoben sich und zum Vorschein kamen diese schrecklichen Zähne, vor denen Lilylu aus gutem Grund Angst hatte, denn sie war kleiner noch als ein zierlicher Frauenschuh lang war. Meist half dann nur ein beherzter Sprung in den Bach, durch den sie bis nach Hause schwamm.
Lilylu konnte sehr gut schwimmen. Sie schwamm sehr gern und hatte vom vielen Schwimmen kräftige Schultern, wie sie überhaupt sehr stark war. Und das mußte sie auch sein, denn das Leben war nicht so leicht, wenn man nur ein paar Zentimeter groß und ganz allein auf der Welt war.
Lilylu dachte nur selten darüber nach, warum die Dinge so waren, wie sie waren. Die Welt war sehr schön und interessant. Es gab viel zu sehen. Und sie war ja auch nicht wirklich allein. Da waren ihre Freunde, die Fische im Bach, die Bienen und Libellen und allerhand Menschen rundum, die zu ahnen schienen, daß es Lilylu gab, ohne sie je wirklich gesehen zu haben. Jedenfalls glaubte Lilylu das. Anders konnte es gar nicht sein.
Warum sonst lag an jedem Morgen eines von diesen wunderbaren Milchbrötchen vor dem Fenster des Bäckers, neben dessen Backstube sie ihre Wohnung hatte?
Lilylu hatte es geahnt: Da war er wieder, dieser struppige Hund, der sie schon seit ein paar Tagen ärgerte. Irgend so ein Mischling. Für einen Hund eher klein, für Lilylu aber groß genug. Sie spähte nach einem guten Fluchtweg aus und haderte mit sich, ob sie - wie sonst - gleich ins Wasser springen oder aber die Flucht über die Steine versuchen sollte. Dem wild gewordenen Hund lief eilig dieser schlacksige Kerl hinterher, der wohl sein Besitzer war. Immerhin hatte Lilylu den Hund noch nie mit jemand anderem gesehen. Komisch war nur, daß er den Hund "Hund!" rief. Gute Hundebesitzer, soviel immerhin wußte Lilylu, gaben ihren Hunden richtige Namen und behandelten sie wie Familienmitglieder. Der hier aber rief "Hund!" und schien auch sonst nicht sonderlich liebevoll zu sein. Tatsächlich kriegte er den Hund diesmal zu fassen und leinte ihn an. Allerdings nicht ohne nach unten zu schauen, was denn nun eigentlich den Hund da unten am Bach so wild macht.
Lilylu duckte sich unter den Zweigen der Trauerweide ab und wußte, daß man sie - sobald ihr Haar nicht mehr zu sehen war - von der Umgebung kaum unterscheiden konnte. Lilylu trug immer grüne Kleider. Sie liebte Grün, weil es so war wie all die schöne Natur rundum. Außerdem war es sehr praktisch. Mit ihren grünen Kleidern und den grünen Kopftüchern oder, im Winter, Mützen, die sie trug, konnte man sie von den Wiesen und Büschen rundum kaum unterscheiden. Und, wie gesagt, Menschen waren ja sowieso ein bißchen blind.
Neugierig blinzelte Lilylu zwischen den Zweigen hindurch nach diesem großen Jungen, der auf der Brücke stand. Während er die Leine des noch immer bellenden und wie verrückt ziehenden Hundes straff hielt, sah er angespannt nach unten zum Bach. Beinahe schien es, als sähe er in ihre Richtung. Beinahe fürchtete sie, er hätte sie gesehen. Aber nach kurzer Zeit schüttelte er den Kopf, sagte "Dummer Hund!" und ging weiter. Lilylu atmete auf.
Auch wenn da diese Milchbrötchengeschichte war, hatte sie nämlich einen Riesenrespekt vor den Menschen. Nicht nur, weil die so groß waren, sondern weil sie sie nicht verstand. Sie verstand nicht, warum viele von ihnen so unzufrieden oder gar traurig aussahen. Sie verstand nicht, warum sie sich stritten und entzweiten. Wenn Lilylu eine Familie gehabt hätte, eine richtige Familie, so wie die meisten Menschen, hätte sie alles für sie getan und wäre einfach nur superglücklich gewesen. Aber die Menschen wußten anscheinend nicht, was sie aneinander hatten. Und manche waren so dumm, das Alleinsein gut zu finden.
Nein, wirklich, Lilylu verstand die Menschen nicht und hielt deswegen lieber Abstand zu ihnen. Wer weiß, was denen in den Kopf kommen konnte, wenn sie so ein kleines Wesen wie Lilylu fänden.
Utz
saß in seinem Zimmer am Schreibtisch und machte seine Hausaufgaben. Das Mittagessen mit dem Vater hatte er, wie meistens, schnell hinter sich gebracht. Der Vater war brummelig und interessierte sich nicht für das, was in Utzens Leben passierte. Und eigentlich hätte Utz gerade heute gern mit dem Vater gesprochen über diese Sache morgens am Bach. Seit Tagen ging das schon, daß der Hund dort anschlug. Und heute hatte Utz gemeint, etwas gesehen zu haben. Aber er war sich nicht sicher.
Sicher war, daß dort irgendetwas war. Aber was? Ebenso sicher war aber auch, daß der Vater sich für diese Sache genauso wenig interessiert hätte wie für alles andere, über das Utz gern mit ihm sprechen würde. Zum Beispiel über die Mutter, die vor Jahren schon "verschwunden" war. So jedenfalls nannte es der Vater. Und das klang stets so, als hätte sie sich in Luft aufgelöst, was natürlich nicht stimmte. Sie war einfach weg gegangen und hatte Utz mit dem Vater allein gelassen. Manchmal abends, wenn der Vater meinte, Utz würde schon schlafen, saß er in der Stube auf dem alten Sofa und betrachtete im schmalen Kegel der Stehlampe die Bilder im Fotoalbum. In dem, Utz wußte es, allerhand Bilder waren mit dem Vater, der Mutter und dem kleinen Utz drauf. Und alle sahen sehr glücklich aus. Das Glück, so glaubte Utz, sei mit der Mutter aus ihrer Familie gegangen.
Die einzigen Gespräche, die der Vater mit Utz führte, gingen irgendwie so:
"Lern, um Gottes Willen, was Ordentliches, damit du dein Leben nicht damit zubringen mußt, ein VON zu sein."
Utz verstand nur ein bißchen, was der Vater meinte. Er hieß, wie sein Vater "von Marbohd", also genau genommen "Utz von Marbohd". Und das war schon schlimm, wenn man zehn Jahre alt war, groß und dünn und auch ein bißchen schüchtern. Utz haßte es, wenn sie ihm in der Schule "Wutz" hinterher riefen, manchmal auch "Dreckwutz", nur weil es so gut zu seinem Namen paßte. Denn natürlich war er nicht schmutzig. Allerdings trug er auch keine Markenklamotten, sondern Cordhosen und Parka. Aber eigentlich sollte es doch egal sein, was er anzog, oder?
Nachdem Utz´ Blicke immer wieder vom Heft aus dem Fenster gewandert waren, schob er die Schulsachen beiseite. Er mußte wissen, was dort am Bach war. Und zwar jetzt, nicht erst irgendwann. Er sprang die Treppe hinunter, zog sich den Parka über, schlüpfte in die Gummistiefel und zögerte an der Haustür kurz, ob er Hund mitnehmen sollte. Dann aber schob er ihn mit dem Fuß zurück ins Haus und schloß die Tür schnell. Heute nicht.
Es war ein ordentliches Stück Weg vom Haus der von Marbohd, das am Waldesrand lag, hinein in die Stadt. Der Vater sagte oft, das Haus sei alles, was ihm vom Adelstitel geblieben war: das ehemalige Jagdhaus der von Marbohd. Der Vater vergaß, daß Utz ein ganz spezielles Erinnerungsstück an die adlige Familie mit sich trug, den Vornamen dieses unbekannten Großonkels, der ihnen einst aus Mitleid dieses Haus vermachte, damit die junge Familie ein Dach über dem Kopf hatte: Utz Friedrich Wilhelm von Marbohd zu Erdbach. Der Großonkel war vor Jahren schon, neunzigjährig, gestorben, aber Utz hieß immer noch Utz, und zwar für den Rest seines Lebens.
Der Weg in die Stadt fiel ihm leicht. Schließlich hatte er lange Beine und genug Übung. Mindestens vier Mal am Tag lief er ihn täglich. Zur Schule und zurück, zum Hundeausführen und oft genug auch zum Einkaufen. Utz´ Vater verließ das Haus beinahe nie.
Es war früher Nachmittag
und, genau wie Lilylu es am Morgen gedacht hatte, noch einmal richtig warm geworden. Lilylu war im Bach schwimmen gewesen, zwischen der Entengrütze durchgetaucht, hatte ein paar Forellen getroffen und den Enten, die fröhlich schnatterten, von ferne zu gewunken. Lilylu war müde und sehr zufrieden mit ihrem Tag. Sie lag auf einem Stein, den die Sonne noch erreichte, und wartete, daß ihr Kleid trocken würde.
Wahrscheinlich war sie eingeschlafen, denn sie erschrak tüchtig, als neben ihr, mitten im flachen Wasser des Baches, der Junge vom Morgen stand. Er mußte sie schon eine Weile betrachtet haben. Noch immer schüttelte er den Kopf.
Utz fragte sich bereits zum wiederholten Male: Was ist das? W e r ist das? Daß es sich um keine Barbiepuppe handelte, war ihm schnell klar. Dieses kleine Wesen war viel zu rund für eine Barbie. Und es atmete! Ganz still lag es in der Sonne, sah aus wie ein Mensch, benahm sich so und war so groß wie eine Barbie. Nur anders. Eben keine Barbie. Obwohl die Menschen, die sie von Ferne sahen, das hätten annehmen können. Utz wußte es jetzt schon besser, obwohl er sonst nichts wußte.
"Wer bist du?", fragte er, als Lilylu sich aufsetzte und ihn mit großen, erschrockenen und sehr grünen Augen anstarrte.
Flucht, so schien es Lilylu, war im Moment keine gute Idee. Der große Kerl da würde allemal schneller sein, wenigstens auf dem Land. Und der Weg zum Wasser war versperrt. Lilylu starrte noch ein Weilchen,aber schließlich hatte sie sich gefangen:
"Wer will das wissen?", antwortete sie. Ihr war klar, daß eine Gegenfrage als Antwort auf eine Frage kein guter Stil war, aber etwas Besseres fiel ihr gerade nicht ein. Sie brauchte etwas Zeit.
"Ich heiße Utz.", antwortet Utz und war von Lilylus zarter Grillenstimme entzückt. Doch er rechnete auch mit der Reaktion, die er schon kannte. Alle, denen er sich vorstellte, lachten erst einmal, wenigstens aber grinsten sie still in sich hinein. Utz, was für ein Name!
Lilylu grinste nicht. Sie antwortete sehr höflich:
"Angenehm.Lilylu."
Utz fand, obwohl er noch nicht wußte, mit wem er es zu tun hatte, der Name paßte zu ihr. Und ein bißchen hoffte er auch, dieses "angenehm" von ihr sei nicht nur pure Höflichkeit gewesen.
Lilylu war inzwischen aufgestanden, hatte ihr noch etwas feuchtes Kleid vom Körper weg geschüttelt und sich zum Gehen umgedreht. Utz erschrak. Wollte sie schon gehen? Wenn sie jetzt ging, hätte er keine Antworten, sondern nur noch mehr Fragen gefunden. Deswegen fragte er so ruhig wie möglich:
"Wohin gehst du?"
Lilylu sah ihn über die Schulter an, drehte dann den Oberkörper halb zu ihm um und antwortete:
"Was für eine Frage! Nach Hause natürlich."
Aber im gleichen Moment wurde ihr klar, daß es so nicht zu machen war. Ginge sie jetzt einfach fort, nach Hause, sähe er ihr womöglich nach und wüßte, wo sie wohnt. Sie mußte ihn anders los kriegen. Aber wie?
Utz sagte schnell:
"Du kannst jetzt nicht gehen."
"Und warum nicht?"
"Wir haben uns gerade erst kennen gelernt."
"Wir haben uns vorgestellt. - Ob ich dich kennen lernen möchte, weiß ich noch nicht."
Utz wußte, genauso wie Lilylu selbst, daß das eine reichlich schnippische Antwort gewesen war. So eine, nach der man am liebsten ein Gespräch beenden würde. Und was Lilylu anging, hoffte sie, daß Utz sich umdrehen und einfach gehen würde. Was Utz auch getan hätte, wäre sie ein ganz normales Mädchen gewesen. Aber Lilylu war kein normales Mädchen, sondern ... ja, was? Das mußte er rauskriegen.
Schließlich drehte sich Lilylu wieder ganz um, setzte sich zurück auf den Stein, versteckte die nackten Füße unter ihrem langen Kleid und sah ihn fragend an.
Utz fiel nichts ein, was er hätte sagen können.
Lilylu aber schon:
"Du weißt schon, daß dich die Leute dort oben anstarren?" Sie zeigte auf ein altes Ehepaar, das auf der anderen Seite des Baches stand und tatsächlich starrte. Utz wurde rot. Er haßte das, aber er wurde laufend rot. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn die Leute ihn alle gar nicht beachtet hätten. Aber irgendwie sah man ihn stets mehr und öfter an. Vermutlich weil er so groß war für sein Alter und auch so schrecklich dünn. Jedenfalls bildete sich Utz immerzu ein, daß die Leute ihn anstarrten. Utz starrte zurück, dann in den Himmel, dann irgend wohin. Und während er so starrte, nutzte Lilylu die Gelegenheit und machte sich davon.
Als Utz sich umdrehte und dahin sah, wo Lilylu eben noch gesessen hatte, war da nichts mehr außer einem feuchten Fleck. Lilylu war verschwunden.
Schwer atmend
lehnte sich Lilylu von innen gegen ihre Wohnungstür. Das war knapp gewesen! Als der Junge sich umdrehte, war sie schnell hinter den Stein gesprungen, hatte sich ins Gebüsch geschoben und war dann gerannt, so schnell sie konnte. Zum Glück waren die Menschen wirklich ein bißchen blind. Aber der hier - Utz - war ihr so nahe gekommen, wie noch kaum einer von ihnen. Einen Moment lang hatte sie geglaubt, er würde sich zu ihr herab beugen und sie auf seiner Hand hochheben. Und noch nie hatte sie mit einem geredet!
Einige Zeit später saß sie an ihrem kleinen Tisch und nagte nachdenklich an einem Stück Milchbrötchen. Im schlimmsten Fall, so dachte sie, konnte diese Begegnung ihr ganzes Leben verändern. Was Lilylu auf keinen Fall wollte. Es ging ihr gut! Nicht auszudenken, wenn der Junge wiederkäme und sie mitnähme. Sie womöglich bei sich zu Hause hielte wie eine Puppe. Gar nichts mehr würde funktionieren. Und sie wäre so etwas wie eine Gefangene, weit weg von zu Hause.
Andererseits war er ein Junge. Die spielten bekanntermaßen nicht mit Puppen, jedenfalls die meisten von ihnen nicht. Was sollte er also mit ihr anfangen? Und sowieso w a r sie ja keine Puppe und konnte sich wehren. Aber wie? Er war schrecklich groß ...
Lilylu zog sich das noch immer feuchte Kleid aus, hängte es an ihren Kleiderständer an der Wand zur Backstube, die noch immer ein wenig Wärme vom morgendlichen Brotbacken ausstrahlte, und zog sich ein anderes grünes Kleid an. Dann legte sie sich auf ihr Bett, um zu überlegen, wie sie am Besten mit dem Problem umginge. Schlimmstenfalls müßte sie eben die Sonnenaufgänge für ein paar Tage sein lassen. Irgendwann würde der Junge sie vielleicht vergessen haben. Irgendwann hielte er das alles vielleicht für einen Traum. Irgendwann ...
Lilylu war eingeschlafen.
Utz sah noch ein Weilchen
auf den Stein, hinter den Stein und rundum. Aber Lilylu blieb verschwunden. Auch das Ehepaar oben am Bach war schließlich weiter gegangen. Utz fand es eine gute Idee, selbst wieder aus dem Bach zu klettern, ehe noch andere Leute auf ihn aufmerksam würden. Wäre da nicht dieser feuchte Fleck auf dem Stein gewesen, hätte er sich gefragt, ob er sich das alles nicht nur eingebildet hätte.
Wer war dieses Mädchen? Es gab doch nicht wirklich Zwerge und Elfen! Aus dem Alter, in dem man an solche Sachen glaubte, war Utz längst heraus. Es gab kleinwüchsige Menschen, das ja, aber die waren nicht sooo klein. Kleiner als die anderen schon, kleiner jedenfalls als Utz. Aber das sollte nicht viel heißen. Weil die meisten schon jetzt kleiner waren als Utz. Und Utz wuchs noch immer.
Der Heimweg dauerte heute länger als sonst. Immer wieder schob Utz irgendwelche Gedanken durch seinen Kopf und verwarf sie dann wieder. Es hatte Zwerge und Elfen nie gegeben. Nicht einmal in England oder Norwegen. Das war alles bloß Spinnerei. Im wahrsten Sinne des Wortes: Geschichten, die man sich abends am Herdfeuer erzählte, während Wolle gesponnen wurde. Im Winter, wenn es nicht viel anderes zu tun gab.
Aber da war dieser feuchte Fleck auf dem Stein gewesen und auch geblieben, als das merkwürdige Wesen schon fort war. Und überhaupt: Hatte Utz so viel Phantasie, sich solch eine Sache auszudenken? - Nein, wirklich nicht! Ihm reichten schon all die Sachen, die als Überbleibsel ihrer Jahrhunderte alten Familiengeschichte bei ihnen im Haus herum standen. Ihm reichte eigentlich schon dieser dumme Name, den er sein Leben lang würde herum schleppen müssen. Seinetwegen hätte er René Meier heißen können oder Sepp Schulze, was beides auch keine schönen, aber wenigstens normale Namen waren. Seinetwegen wäre sein Leben ein ganz stinknormales gewesen, in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit einem Maurer-Vater und einer Verkäuferinnen-Mutter. Seinetwegen hätte er selbst klein und sogar ein bißchen dick sein können ...
Utz war wütend. Warum mußten solche Sachen ausgerechnet ihm passieren? War sein Leben nicht schon merkwürdig genug?
Lilylu war mitten in der Nacht
munter geworden. Was kein Wunder war, denn sie hatte ja viel früher geschlafen als sonst. Putzmunter ging sie zu ihrem winzigkleinen Fenster, schaute nach draußen und sah im Licht des beinahe vollen Mondes die Kirchturmuhr. Zwei Uhr. Viel zu früh für das neue Milchbrötchen vom Bäcker.
Lustlos nagte sie an den Resten des gestrigen Milchbrötchens herum, die auch von der drauf gestrichenen selbst gemachten Johannisbeermarmelade nicht besser wurden. Die Enten würden heute morgen leer ausgehen.
Und jetzt fielen ihr auch die ganzen Geschehnisse vom Vortag wieder ein. Würde sie überhaupt jejemals wieder einen Sonnenaufgang ganz in Ruhe betrachten können? In ihren Träumen hatte es gewimmelt von lauter Riesen, die nach ihr griffen und auch jede Menge böse kläffender Hunde waren da gewesen. Und während sie im Traum zu rennen und zu schwimmen versuchte, ohne vom Fleck kommen zu können, hatte sie sich bereits im Traum diese Frage gestellt: Werde ich jemals wieder einen Sonnenaufgang sehen können? Oder muß ich ab nun tagsüber immer im Haus bleiben, kann nur noch in der Nacht raus?
Manchmal war es ja ganz praktisch, in der Nacht unterwegs zu sein. Besonders, wenn man so klein war wie Lilylu und allerhand Dinge brauchte, die es rundum in den Läden im Überfluß gab. Da war zum Beispiel der Fleischer, bei dem sie sich gelegentlich eine von den zu klein geratenen Wiener Würsten mopste. Oder, besser noch, der Spielzeugladen, in dem sie allerhand nützliche Dinge fand, wie zum Beispiel Puppengeschirr und -besteck. Auch ihre Kleidung fand sie dort. Und es machte ihr einen höllischen Spaß, sich neben diese albernen Barbies zu stellen und ihre albernen dünnen Figuren zu begutachten, genau so wie ihre komischen rosa Klamotten. Wenn Barbies einmal grün trugen, war das ein ekliges Klittergrün, das Lilylu nie und nimmer auf ihre Haut lassen würde. Man konnte da allerhand Spaß haben, wenn man sich nicht daran störte, daß die Barbies nicht antworteten. Aber Lilylu war es schließlich gewöhnt, mit sich selbst zu sprechen.
Nie und nimmer jedoch wollte Lilylu sich mit dem Gedanken abfinden, ab nun nur noch nachts unterwegs sein zu können. Sie liebte die Sonne und die Tiere viel zu sehr. Und beinahe alle Tiere schliefen in der Nacht.
Genau genommen gab es nur ein einziges Tier, daß Lilylu weder am Tag, noch in der Nacht treffen mochte: Missi, die Ratte, die zu Lilylu nicht nur oft unfreundlich war, sondern mit ihren großen, spitzen Zähnen auch etwas sehr Bedrohliches hatte. Lilylu hatte den Verdacht, daß ihr Name, Missi, nichts mit dem unter den Menschen modern gewordenen vielen Englisch zu tun hatte, sondern ihr vielleicht nur irgendwo das "T" im Namen abhanden gekommen war. Vermutlich hatte Missi irgendwann "Misti" geheißen und fand es jetzt schick, so englisch zu klingen. Denn Missi wohnte in einem Abflußrohr ein Stück den Bach herauf und fraß auch ganz gerne, was durch das Rohr herunter kam. Lilylu fand es eklig, zu essen, was andere weg geworfen hatten, und war dem Bäcker dankbar, daß er so gut für sie sorgte.
Und dennoch: Eine Lilylu lebt nicht vom Milchbrötchen allein ...
Auch Utz
wurde in der Nacht wach, obwohl er noch lange nicht genug geschlafen hatte. Im Gegensatz zu Lilylu nämlich war er ganz normal zu Bett gegangen. Am Abend, nachdem er seine Hausaufgaben fertig und noch allerhand andere nützliche Sachen gemacht hatte.
Utz hatte früh gelernt, daß man, will man eine Sache gemacht haben, sie am besten selber tut. Keiner hatte ihm das gesagt. Es war aber so, daß sein Vater vor lauter Nachdenklichkeit oft vergaß, das Geschirr abzuwaschen oder auch die Wäsche in die Waschmaschine zu stecken. Und wenn er daran gedacht hatte, die Wäsche in die Waschmaschine hinein zu tun, vergaß er eben, sie wieder heraus zu holen. Lauter solche Sachen, an denen Utz gesehen hatte, daß er die Dinge lieber selber machte, statt ständig nachzusehen, ob sein Vater an dieses oder jenes gedacht hatte.
Inzwischen war es so, daß sein Vater erstaunt aufsah, wenn Utz sich mit dem Korb frisch gewaschener Wäsche vor den Fernseher setzte. Während Utz anfing, die Wäsche zusammen zu legen, sagte der Vater dann manchmal etwas wie: "Ahja, Wäsche ...", und Utz fragte sich, ob es für so einen Satz auch ein Ende gäbe oder ob das alles war, was der Vater dazu zu sagen hatte. Ehe der Vater jedenfalls auf die Idee kommen konnte, wie jeder andere normale Vater zu sagen: "Aber Junge, das ist doch meine Arbeit!", war er meist schon aus dem Zimmer und dachte an etwas anderes. Vergeblich hatte Utz eine Zeit lang darauf gewartet, vom Vater gelobt zu werden für all die Erwachsenen-Sachen, die er tat. Inzwischen wußte Utz, daß der Vater ihn nicht loben würde, nie, weil er immer schon wieder im Gedanken woanders war, ehe es ihm einfiel, daß Utz noch ein Kind war und viel mehr Dinge tat, als KInder eigentlich tun müssen.
Utz hatte sich ein paar Mal hin und her gedreht und merkte schließlich, daß er doch nicht wieder einschlafen würde. Er ging hinunter in die Küche, nahm sich ein Glas Milch und saß gedankenverloren in der Dunkelheit am Tisch. Das Mondlicht malte einen schmalen Streifen Helligkeit auf das Fensterbrett, die Spüle und ein Stück vom Küchenboden. Und Utz fragte sich, was dieses kleine blonde Ding da drinnen in der Stadt, an dessen Existenz zu glauben er eben beschlossen hatte, wohl gerade macht.
Wahrscheinlich schläft sie, dachte er, und ging wieder ins Bett.
Lilylu schlief nicht.
Sie hatte sich das Kletterzeug umgehängt und machte sich auf den Weg zu einem ihrer nächtlichen Streifzüge.
Als sie aus dem Haus trat, sah sie sich vorsichtig um. Alles war still. Die Kirchturmuhr zeigte inzwischen drei Uhr. Lilylu ging hinunter zum Bach, wo eine unscheinbare Baumrinde lag, die sie vorsichtig bestieg. Natürlich hätte Lilylu auch schwimmen können, aber sie mochte es nicht, Spuren zu hinterlassen. Und nach dem Schwimmen war die Kleidung naß und tropfte überall hin.
Lilylu nahm das Paddel und überquerte den Bach. Es hatte seit einiger Zeit nicht geregnet. Das Wasser war flach und zeigte nur eine schwache Strömung, von der Lilylu sich treiben ließ. Der Spielwarenladen befand sich ein Stück bachabwärts; der Rückweg, gegen die Strömung, würde ein wenig schwieriger werden. Am Laden angekommen, band sie das Floß fest und begann, auf den früher eingeschlagenen Haken nach oben zu klettern.
Im Laden war es dunkel. Ein zartroter Hauch von einem Lichtsignal der Eisenbahn im Schaufenster lag über allem. Zielstrebig kletterte sie dorthin, wo die Puppensachen lagen. Sie bewegte sich sehr bedachtsam zwischen all diesen nützlichen und schönen Sachen. So verlockend das alles war, mußte sie doch bedenken, daß sie jede Sache, die ihr gefiel, auch würde nach Hause tragen müssen. Und das Klettern war beschwerlich, obwohl Lilylu starke Schultern hatte.
Lilylu hörte ein Rascheln, dann das Kratzen von Krallen auf dem glatten Boden und schließlich eine zischende Flüsterstimme:
"L - I - L - L - I !", hauchte es durchdringend.
Lilylu kroch ein Schauer über den Rücken. Sie wußte, wessen Stimme das war und raffte all ihren Mut zusammen.
"Li-ly-lu!", flüsterte sie ebenso durchdringend zurück."So viel Zeit muß sein!"
Das Geräusch der Krallen war inzwischen näher gekommen. Unter Lilylus Regal saß Missi, die sich auf eine Art aufgerichtet hatte, wie Lilylu das nur von dieser einen Ratte kannte.
"Na, L - I - L - L - I, wieder mal auf DIEBESTOUR?", antwortete Missi, als hätte sie Lilylu nicht gehört. Dabei wußte sie sehr genau, wie Lilylu sich über die Verstümmelung ihres Namens ärgerte. Lilylu hatte ihr, sie wußte nicht, wie oft, bereits erklärt, daß eine Lilli keine Lilylu war. Ebenso oft hatte sie Missi auch erklärt, daß das, was sie tat, nicht wirkliches Klauen war. Sie nahm sich nur winzig kleine Dinge, deren Fehlen wahrscheinlich niemand bemerken würde. Hier einen Holzlöffel, dort einen Plastikteller. Die Dinge konnten ebenso gut beim Gerüttel des Transports herunter gefallen und kaputt gegangen sein. Lilylu antwortete also nicht.
"Du bist eine DIEBIN!", zischelte es unten.
Lilylu wurde zornig, was sehr selten passierte.
"Und du bist ein garstiges Geschöpf!", zischelte sie zurück.
"Aber ich STEHLE nicht!"
"Nein, du frißt nur den Abfall von anderen Leuten."
Etwas Besseres war Lilylu in der Aufregung nicht eingefallen.
"Besser als KLAUEN."
"Dümmer als Klauen.", antwortete Lilylu und bekam Angst vor ihrer eigenen Courage. Wenn sie Missi allzu sehr verärgerte, konnte die ihr das Leben ganz schön ungemütlich machen. Und überhaupt ... wie sollte Lilylu wieder nach Hause kommen, wenn Missi da unten lauerte? Auf keinen Fall konnte Lilylu wieder auf dem gleichen Weg zurück wie sie gekommen war. Denn dieser Weg führte an der Ratte vorbei. An Missi aber käme sie nicht vorbei. Die würde mit ihrer häßlich zuckenden Nase und den langen Zähne ganz schrecklich nahe an sie herankommen. So nahe, daß Lilylu den stinkenden Atem der Ratte würde riechen können. Auf keinen Fall würde Lilylu ... Sie hielt Ausschau nach einem Fluchtweg und mußte feststellen, daß der Weg zur Mauerlücke, die zu ihrem Floß führte, so oder so über den Fußboden führte. Und wenn sie noch so tolle Luftkunststücke veranstaltete; irgendwann mußte Lilylu nach unten. Sonst kam sie aus dem Laden nicht raus.
Missi hatte ihren Blick bemerkt und grinste schauerlich.
"Na, bist du fertig mit deinem Einklauf?", fragte sie scheinheilig,"Komm runter, ich bring dich nach Hause."
"Ich bin ohne dich her gekommen. Ich schaff es auch allein zurück.", antwortete Lilylu stolz und war sich ihrer Sache gar nicht so sicher.
Missi währenddessen begann, vor Lilylus Regal hin- und her zu patrouillieren. Schnuppernd hielt sie ihre Nase mal rechts, mal links. Ihre Krallen kratzten und klackten furchterregend über den Boden. Zwischen diese Krallen wollte man lieber nicht kommen. Missi war sich ihrer Sache so sicher, daß sie Lilylu einen Moment zu lange aus den Augen ließ.
Lilulu nämlich hatte inzwischen eine von diesen scheußlich glänzenden Barbieklamotten genommen, sie über den Bindfaden an der Decke geworfen, den sie entdeckt hatte, und sich in rasantem Flug bis zum Schaufenster gleiten lassen. Als Missi sich noch suchend nach Lilylu umsah, war die schon durch den Mauerritz geschlüpft und ins Wasser gesprungen. Missi, so wußte sie, war zu dick, um den Laden auf dem gleichen Weg zu verlassen. Ehe Missi durch den Keller das Haus verlassen konnte, saß Lilylu bereits in ihrer Wohnung, wrang ihr nasses Kleid aus und merkte, wie nebenan der Backofen warm wurde.
Utz war früh aufgestanden,
viel früher als sonst. Er hatte Hund im Wald, nahe beim Haus, ausgeführt. Viel kürzer als sonst. Und sich dann auf den Weg gemacht. Die Schultasche bereits auf dem Rücken. Er wollte sich Zeit nehmen und den Bach noch einmal untersuchen.
Als er ankam, sah er schon von Weitem, was ihm früher noch nie aufgefallen war. Lilylu saß auf einem Stein, einem anderen als gestern Mittag, und sie betrachtete den Sonnenaufgang. Utz schlich sich leise von hinten an. Er hatte das Gefühl, daß Lilylu nicht unbedingt auf ein Gespräch mit ihm aus war. Wenn er hinter ihr stand, konnte sie nicht wieder unbemerkt davon laufen.
Er fragte: "Was machst du da?"
Lilylu erschrak. Natürlich, sie war es nicht gewöhnt, von hinten angesprochen zu worden, sie war es, genau genommen, überhaupt nicht gewöhnt, angesprochen zu werden. Und nach dem nächtlichen Erlebnis mit Missi war sie auch etwas schreckhaft.
Sie antwortete schnippisch:
"Ich schaue mir den Sonnenaufgang an. Das siehst du doch. Guten Morgen übrigens."
"Und was hast du davon?"
Lilylu kannte sich mit Jungens nicht aus. Sonst hätte sie gewußt, daß das eine ganz typische Jungenfrage war. Als ob man die Dinge nur tat, um etwas davon zu haben.
Aber Utz war noch nicht fertig:
"Die Sonne geht auf, ob du nun hinguckst oder nicht."
Lilylu lächelte milde, als wüßte sie es besser.
"Vielleicht geht die Sonne nur auf ... w e i l ich ihr zuschaue?"
Sie wußte natürlich, daß sie übertrieb. Vermutlich ginge die Sonne tatsächlich auch ohne Lilylu auf. Aber wer konnte sich da so sicher sein? Eigentlich war Lilylu ja immer dabei. Da konnte man schon auf so eine Idee kommen. Und wenn es nicht stimmte? Na und! Dieser Utz da (was für ein Name!) konnte ihr das nicht beweisen. Und jedenfalls klang es ungeheuer wichtig. Ihr Dasein bekam auf diese Weise einen Sinn, den es sonst nicht gehabt hätte, wenn man schon unbedingt und immer nach einem Sinn suchen wollte. Lilylu glaubte nicht, daß so ein Utz es verstehen würde, wenn sie Sonnenaufgänge einfach toll fand. Er sah nicht aus, als gäbe es irgend etwas Tolles in seinem Leben. Betrachtete sie es recht, so sah er ziemlich traurig aus. Warum wohl?
Statt ihn das zu fragen, sagte sie: "Und was machst du hier? Sonnenaufgänge scheinen dich ja nicht zu interessieren."
Utz hätte gern gesagt, daß ihn nicht Sonnenaufgänge interessieren, aber Lilylu. Aber irgendwie hätte das komisch geklungen. Wenn Jungens so etwas zu Mädchen sagten, dann war das immer so eine Art Liebeserklärung. Und schließlich war Lilylu ja so etwas wie ein Mädchen. Vielleicht würde sie dann auch so etwas denken. Das wäre ihm peinlich gewesen.
"Ich bin auf dem Weg zur Schule.", antwortete er stattdessen.
Woraufhin sie spöttisch erwiderte: "Ahja? ... Ich wußte gar nicht, daß neuerdings eine Schule hier am Bach ist."
Utz errötete, wieder einmal, und sagte: "Ich muß jetzt los. Bist du heute Mittag wieder da?"
Er wartete ihre Antwort nicht ab und rannte los.
Lilylu blieb zurück, sah weiter in den Sonnenaufgang und fragte sich, ob sie jetzt eine Verabredung hatte.
Nachdem Utz weg
und der Sonnenaufgang vorbei war, machte sich Lilylu auf den Weg, ihr Floß zurück zu holen. Sie sprang in den Bach, der heute eine kräftige Strömung hatte. Irgendwo oben in den Bergen, aus denen der Bach kam, mußte es in der Nacht geregnet haben. Sie ließ sich von der Strömung tragen und mußte nur aufpassen, daß sie rechtzeitig beim Spielwarenladen irgend etwas zum Festhalten fand.
Der Rückweg war beschwerlich. Lilylu kämpfte, das Floß an der Hand, gegen die Strömung und tröstete sich mit dem Gedanken, daß diese Wetterverhältnisse ihr wenigstens Missi vom Halse hielten, die - so wußte Lillylu - zwar bösartig, aber auch träge war. Missi mochte kein unruhiges Wasser, obwohl sie vermutlich besser damit klar gekommen wäre als Lilylu. Schließlich war sie ja größer und dicker.
Erst als Lilylu erschöpft schnaufend am Ufer saß, wo sie nach ihrer Rückkehr das Floß fest gemacht hatte, erfuhr sie von den schnatternden Enten, daß Missi in ihrem Abflußrohr hockte und sich den ganzen Tag lang noch nicht hatte blicken lassen. Eine Ente behauptete, sie habe ein Stöhnen und wütendes Schimpfen gehört. Eine andere sagte, Missi habe am ganz frühen Morgen ihren Schwanz zum Kühlen in den Bach gehängt. Eine dritte glaubte zu wissen, daß Missi bei der Jagd auf Lilylu in der Nacht in eine Falle geraten war und dort ein Stück von ihrem Schwanz verloren hätte.
Lilylu brauchte bei diesem Gespräch all ihre Konzentration. Denn wenn Enten einmal schnatterten, war es schwierig, einzelne Stimmen heraus zu hören und zu verstehen. Und die Enten waren sehr, sehr aufgeregt, als sie erzählten, was sie zu wissen glaubten.
Lilylu wußte nicht so recht, ob sie angesichts dieser Erzählungen Mitleid mit Missi empfinden oder sich glücklich preisen sollte, daß die sie nicht erwischt hatte. An vielen Tagen zuvor nämlich hatte sich Lilylu gefragt, warum Missi zu ihr zwar garstig war, ihr aber nie wirklich zu nahe kam. Irgend etwas mußte da sein, was Missi zurück hielt.
Heute jedoch beschäftigten Lilylu ganz andere Dinge: Hatte sie nun eine Verabredung oder nicht? Und, wenn ja, was hieß für so ein Menschenkind "Mittag"? Irgendwo hatte Lilylu gehört, Mittag sei um Zwölf. Da läutete die Kirchturmuhr am Häufigsten und kurze Zeit später waren allerhand Menschen unterwegs. Keine gute Zeit für Lilylu, sich draußen aufzuhalten. Zu groß war die Gefahr, doch von irgend jemandem, der da durch die Gegend schlenderte, entdeckt zu werden.
Andererseits: Um zwölf sah sie selten Schulkinder, nicht einmal die kleinen. Offenbar ging die Schule länger. Die Großen tauchten erst Stunden später auf. Was also hatte es mit diesem geheimnisvollen Mittag auf sich?
Ja, und dann fragte sich Lilylu, ob sie überhaupt eine Verabredung hatte. Vielleicht war das von diesem Utz nur so daher gesagt? Und sowieso konnte sie sich nicht im aller Geringsten vorstellen, was eine Lilylu und ein Utz, zwischen denen nicht nur ungefähr eineinhalb Meter Größe, sondern auch allerhand andere Sache lagen, bei so einer Verabredung miteinander anfangen könnten. Einerseits war es natürlich eine tolle Vorstellung, mit jemandem reden zu können, der nicht man selbst war. Denn Lilylu redete sehr viel mit sich selbst, wenn da nicht gerade ein paar - zugegebenermaßen - anstrengende Enten oder Fische oder Insekten daher kamen. Andererseits fürchtete sich Lilylu ein bißchen. Mit Menschen hatte sie nämlich noch nie zu tun gehabt. Wenn man einmal von dem Bäcker absah, von dem sie ja auch nur seine Milchbrötchen kannte. Der war sicher sehr nett, aber Lilylu wußte nicht einmal, wie er aussah. Obwohl sie eigentlich sehr neugierig war, hatte sie sich nämlich noch nie getraut, ihn sich anzuschauen. Sie glaubte, wenn er schon von ihrer Existenz wußte (und das mußte wohl so sein), dann würde er sie auch viel schneller entdecken als all die anderen Menschen, unter deren Augen sie praktisch hindurch gehen konnte, ohne auch nur den Hauch eines Erkennens zu sehen.
Lilylu, nachdem sie - wie so oft - ein frisches grünes Kleid angezogen und das nasse an die Wand zum Backofen gehängt hatte, saß auf einem Stein und baumelte mit den Beinen. Gelegentlich stupste sie mit ihren Zehen ein bißchen Wasser in die Luft, was bei dieser starken Strömung nicht weiter auffiel. Lilylu langweilte sich. Es war nicht sonderlich interessant, auf eine Verabredung zu warten, die vielleicht keine war, und dabei dem Schlingern des Floßes zuzuschauen. Es war überhaupt langweilig, zu warten und nicht zu wissen, worauf. Dieser Utz schien ja kein besonders aufregender Bursche zu sein. Und obendrein sah er immer ein wenig traurig aus. All das waren Sachen, die Lilylu nicht mochte. Sie mochte es aufregend und unbeschwert.
Andererseits hatte Utz, ein Mensch!, sie gesehen. Was ansich schon ein Ereignis war. Und er hatte ganz normal mit ihr gesprochen, wenn man einmal davon absah, daß er keine besonderen Umgangsformen hatte. Jeder Fisch war vermutlich höflicher als er. Jedenfalls hatte er nicht hysterisch herumgebrüllt: "Hilfe, eine Zwergin, ein Elf, ein ..." - wie auch immer so Mensch eine Lilylu benennen wollte. Er hatte mit ihr gesprochen, als wäre sie so groß wie er.
Lilylu fand das nett, weil es ihr nicht wirklich Spaß machte, sich stets versteckt zu halten. Manchmal auch fragte sie sich, ob sie die Farbe Grün wirklich mochte, weil sie sie mochte oder weil sie so praktisch war.
Ganz entschieden aber mochte Lilylu es nicht, so viel nachzudenken. Wenn dieser Utz nicht bald kam, wäre sie weg.
So ein Vormittag
in der Schule, merkte Utz, konnte ganz schön langweilig sein, wenn man hinterher etwas Besseres vor hatte. Dabei wußte Utz nicht einmal, was genau er eigentlich vor hatte und ob Lilylu da sein würde, wenn er kam. Das waren die Momente in Utz´ Leben, in denen er gerne einen ganz richtigen Freund gehabt hätte, mit dem er über die merkwürdigsten Sachen sprechen konnte. Denn natürlich war es merkwürdig, sich vorzustellen, daß es da ein Mädchen gab, nicht größer als seine Hand, das offenbar ziemlich eigensinnig war. Und natürlich war das Leben von Lilylu mit dem von Utz nicht im aller Geringsten zu vergleichen. Sie ging, zum Beispiel, nicht zur Schule, was Utz eigentlich gern tat. Utz lernte gern, auch wenn er das um keinen Preis zugegeben hätte. Man machte sich keine Freunde, wenn man zugab, daß Schule eigentlich eine tolle Sache war. Vielmehr galt man dann leicht als Streber, was Utz keinesfalls wollte. Er hatte es schon schwer genug. Denn die anderen nannten ihn nicht nur "Wutz", sondern auch "Langer" und bemerkten sehr wohl, daß Utz´ Zensuren ziemlich gut waren. Solange einer sich dabei still verhielt, was Utz auch tat, ging es noch. Aber solche spinnerten Geschichte von kleinen Mädchen, die am Bach lebten und aussahen wie Elfen ... nein, da gab es keinen, dem er die hätte erzählen können, ohne für schrecklich verrückt gehalten zu werden.
Utz wollte seine Ruhe. Und Utz wollte, daß die Schule endlich vorbei ist.
Auch wenn er nicht einmal wußte, was dann wohl passieren würde. Vielleicht stünde er am Bach und niemand wäre da? Hernach hätte er zu Hause Ärger wegen gar Nichts. Denn Utz hatte beschlossen, das Mittagessen zu Hause ausfallen zu lassen und gleich nach der Schule zum Bach zu gehen. Sein Vater würde sauer sein. Klar. Manchmal schien es Utz, als warte sein Vater fast sehnsüchtig auf seine Heimkehr, um sich dann doch wieder in sein Zimmer zurück zu ziehen, nachdem man beim Essen kaum ein Wort geredet hatte. Immer wieder hatte Utz versucht, seinem Vater von der Schule zu erzählen, und gehofft, daß der Vater irgend etwas interessant finden würde. Aber der Vater schaute meist seltsam abwesend und sagte gar nichts oder höchsten "Soso." oder "Aha."
Die Aussicht, mit jemandem über unmögliche Sachen sprechen zu können, fand Utz nicht übel. Und er war der festen Überzeugung, daß Lilylu sich hierfür sehr gut eignete. Sie selbst war ja irgendwie "unmöglich". Nicht, daß er das je zu ihr sagen würde! Denn wahrscheinlich fand sie selbst sich ganz normal und Utz merkwürdig. Aber wenn sie bereit war, sich mit ihm zu treffen, war sie vielleicht auch bereit, sich allerhand Sachen anzuhören, die sie nicht kannte. Und davon ging Utz aus. So scheu, wie Lilylu sich gegeben hatte, kannte sie nicht viele Menschen. Utz kannte ja auch niemanden wie sie und hatte auch nie von jemand anderem gehört, der von jemandem wie ihr erzählt hätte.
Gegen Ende des Vormittages ertappte sich Utz dabei, wie er unruhig auf seinem Stuhl hin und her zappelte, schon lange nicht mehr wußte, was die Lehrerin vorn erzählte; und seine Gedanken hatten sich haltlos verknotet. Zum Glück waren es nur noch zwanzig Minuten bis zum letzten Klingeln der Schulglocke.
Zwanzig Minuten später rannte Utz, was sonst nicht seine Art war, genau so wie die anderen die Schultreppe hinab. Bei seinem Weg in die Stadt achtete er darauf, daß nicht etwa ein Mitschüler seinen Weg kreuzte. Dabei gesehen zu werden, wie er am Bachufer entlang kletterte und nach Lilylu Ausschau hielt, wäre so ungefähr das Peinlichste gewesen, was Utz vor seinen Mitschülern passieren konnte. Aber die anderen dachten nur an ihr Mittagessen und die Freuden des Nachmittags. Utz interessierte sie nicht. Und das war ihm sehr Recht heute.
Am Bach angekommen, sah er Lilylu schon von Weitem, wie sie auf dem gleichen Stein saß wie neulich nachmittags. Und auch sie sah ihn. Sie stand auf und schaukelte unschlüssig hin und her. Ihr Rocksaum wippte, was ein bißchen verlegen aussah.
Lilylu war tatsächlich verlegen. So unbefangen sie auch sonst an alles heran ging. Heute fühlte sie sich etwas komisch. Als Utz näher kam, streckte sie jedoch den Rücken, hörte mit dem Schaukeln auf, sah ihm gerade in die Augen und sagte:
"Da bist du ja."
"Ja, ich bin da. Aber ich war mir nicht sicher, ob du auch kommst.", antwortete Utz. Und Lilylu fand es nett, daß Utz aussprach, was sie auch gedacht hatte. Denn sie hätte das nie zugegeben. Lilylu war sehr stolz und außerdem ungeübt im Aussprechen von Gefühlen und Gedanken. Aber es gefiel ihr.
Utz setzte sich auf den Stein neben ihr und stippte mit einem Stock, den er gedankenlos am Bachufer aufgesammelt hatte, ins Wasser.
"Was hast du heute getan?", fragte er.
Lilylu fand das eine ziemlich persönliche Frage. Sie hätte ihm ja ihr halbes Leben erklären müssen, damit er die Sache mit dem Spielwarenladen und dem Floß verstanden hätte. Gar nicht zu reden von Missi. Also antwortete sie:
"Och, nichts Besonderes. - Und du?"
"Ich war in der Schule. Auch nichts Besonderes."
Im gleichen Moment, in dem Utz das sagte, hätte er sich ohrfeigen können. Wenn sie weiter so reden würden, wäre ihr Gespräch bald zu Ende. Wenn beide nichts Besonderes zu sagen hatten, konnten sie es auch ebenso gut sein lassen, miteinander zu reden. Gespräche, fand Utz, also richtige Gespräche, sollten immer etwas Wichtiges zu sagen haben. Die anderen, die unwichtigen Gespräche, hatte er schon mit seinem Vater. Viel zu viele, als daß er noch mehr davon hätte haben wollen."Aha.", "Soso." und "Sehr schön." waren mindestens genauso bedeutungslos wie wenn man behauptete, das eigene Leben sei "nichts Besonderes". Schließlich hatte man ja nur das eine.
Utz gab sich also einen Ruck und sagte:
"Ich mußte den ganzen Vormittag an unser Treffen denken."
Was Lilylu sehr gefiel, weil sie selbst um keinen Preis so etwas gesagt hätte. Beinahe hätte sie geantwortet, daß sie viel zu viel zu tun hatte, um ... Aber dann besann sie sich. Dieser Utz war vielleicht komisch. Aber er war auch nett. Und er verdiente eine solch dumme und unwahre Antwort nicht. Also gab sie zu:
"Ich hatte zwar viel zu tun, aber ich habe auch ein paar Mal daran gedacht.", was nicht ganz gelogen, aber eben auch nicht ganz richtig war. Denn im Grunde hatte Lilylu den ganzen Vormittag über an nichts Anderes als an ihre Verabredung gedacht. Das jedoch zu sagen, nein, so gut kannte sie Utz dann doch noch nicht.
Utz war schon froh, daß Lilylu ihn wichtig genug fand, ein paar Mal an so einem Vormittag an ihn zu denken. Ihm wäre kein anderer eingefallen, der sonst an ihn denken würde. Manchmal freilich hoffte er, seine Mutter, die irgend wo da draußen in der Welt lebte, täte das. Aber dieser Gedanke hatte etwas von einem Traum. Was denn nützte es ihm, wenn seine Mutter tatsächlich an ihn dachte? Sie war ja nicht da. Lilylu jedoch war da und scheinbar das einzige Wesen, das sich irgendwie für ihn interessierte. Auch er interessierte sich für sie. Wer war sie? W a s war sie? Was tat sie den ganzen Tag? Hatte sie eine Familie? Er hätte sie gern so vieles gefragt, spürte aber, daß sie nicht sonderlich gern Auskunft geben würde. Er mußte die Sache vorsichtig angehen. Deshalb sagte er:
"Du lebst hier am Bach?"
"Ja."
"Bist du jemals woanders gewesen?", was sicherlich überheblich klang. Aber Lillylu fand das nicht, denn sie war ja tatsächlich noch kaum irgendwo anders gewesen.
"Nein."
Lilylu bemerkte selbst, daß man so nicht miteinander reden konnte. "Ja." und "Nein." waren zwar korrekte Antworten, aber eben nicht korrekt, wenn man sich kennen lernen wollte. Also fragte sie:
"Wo lebst denn du?"
Dankbar antwortete Utz:
"Außerhalb der Stadt, am Wald. Da hat mein Vater ein Haus. Es ist sehr einsam dort. Aber gut für Hund."
"Warum hat dein Hund keinen Namen?"
"Er stand eines Tages vor unserer Tür. Er muß doch vorher jemandem gehört haben. Vielleicht kommt der Besitzer irgendwann und will ihn zurück haben. Da habe ich doch kein Recht darauf, ihm einen anderen Namen zu geben. Sicherlich hat er schon einen. Wir wissen ihn nur nicht."
"Wer ist "wir" ?", fragte Lillylu und war froh, daß das Gespräch auf diese Weise funktionierte.
"Mein Vater und ich."
"Hast du keine Mutter?", wollte Lilylu wissen, denn Menschenkinder hatten beinahe immer Mutter und Vater.
"Natürlich hab ich eine Mutter. Aber ich weiß nicht, wo sie ist."
Utz hatte geantwortet, ohne vorher zu überlegen. Er hoffte, Lilylu würde nicht weiterfragen, weil er ja doch nicht sehr viel mehr sagen konnte.
Lilylu schämte sich. Sie konnte sehen, wie ein Hauch Traurigkeit über Utz´ Gesicht zog, das noch eben ganz klar und offen gewesen war. Eigentlich war Utz ein hübscher Junge. Seine blauen Augen hatten sie die ganze Zeit offen angeschaut. Und kein einziges Mal war er wirklich unfreundlich zu ihr gewesen. Und sie stellte solch dumme Fragen.
Sie legte ihre kleine Hand auf sein Bein und sagte:
"Tut mir leid."
Er schaute staunend auf diese kleine Hand da auf seinem Bein. Einen Moment lang hatte er vergessen, wie klein Lilylu doch war. Utz rührte sich nicht, weil er fürchtete, die allerkleinste Bewegung, die er tat, würde diese wunderschöne kleine Hand von seinem Bein vertreiben. Finger, zarter als Streichhölzer, mit rosa schimmernden Nägeln, die einen winzigen Teil seines Oberschenkels langsam anwärmten.
Utz wollte nicht
weiter an seine Mutter denken. Während sein Kopf das dachte, ging ein leichtes Schütteln durch seinen Körper. Lilylu zog erschrocken ihre Hand zurück und fürchtete schon, daß nun etwas Schreckliches geschehen würde.
Aber Utz fragte nur:
"Möchtest du unser Haus sehen?"
Lilylu schwieg. Sie schwankte zwischen ihrer Neugier und dem Gedanken, daß sie Utz ja eigentlich gar nicht kannte. Sie kannte die Menschen nicht gut genug, um ihnen zu vertrauen. Andererseits konnte man den meisten Lebewesen durchaus trauen. Nicht alle waren wie die hinterhältige Missi. Und selbst Missi hatte noch nie etwas wirklich Schlimmes getan. Außerdem glaubte Lilylu sowieso, daß es niemand wirklich Böses gab. Das Leben ist schön, dachte Lilylu und freute sich auf die neue Erfahrung.
"Ja, gern!", sagte sie, "Aber wie soll ich da hin kommen?". Was eine dumme Frage war, wie sie wußte. Utz würde sie hinbringen, natürlich.
Utz lächelte und hielt ihr seine Hand hin.
Lilylu zögerte nur kurz und kletterte dann darauf. Sie setzte sich in den Schneidersitz, um nicht umzufallen, und sah Utz ins Gesicht. Wenn da irgendeine Bösartigkeit in seinen Augen wäre, würde sie es sehen und schnell herunter springen können. Aber in Utz´ Augen war Freude. Sie waren so klar und blau, wie ehrliche Augen nur sein konnten. Lilylu entspannte sich. Utz`Hand war warm und beugte sich schützend um sie. Utz stand auf und ging los.
Die Böschung des Baches war uneben, weshalb Utz manchmal schwankte und Lilylu in seiner Hand gefährlich hin und her schaukelte. Utz hielt auch die andere Hand schützend um sie. Kurz vor dem Aufstieg auf die kleine Brücke fiel ihm jedoch ein, daß es komisch aussah, wie er da so mit vorgehaltenen Händen durch die Gegend lief. Jeder würde wissen wollen, was er da in der Hand hielt. Er sagte zu Lilylu:
" So können wir nicht weitergehen."
Lilylu sah ihn fragend an.
"Naja, man wird dich sehen."
Lilylu verstand.
"Und was nun?"
Utz öffnete einladend die Vordertasche seines Parkas.
"Was hältst du hiervon? Du könntest unter der Lasche vorsichtig heraus schauen."
Lilylu war noch nie in einer Jackentasche transportiert worden. Es könnte lustig sein, die Dinge von so hoch oben zu sehen und sich so groß zu fühlen wie die Menschen. Sie nickte und Utz hob sie hoch, damit sie in die Tasche klettern konnte.
Die Jackentasche war so tief, daß Lilylu gerade noch ihr Kinn über den Rand halten konnte, während die Lasche sich auf ihren Kopf legte.
Utz ging los und gab sich Mühe, vorsichtig zu laufen, damit Lilylu keinen Schaden nähme. Es war ein seltsames Gefühl für sie, so hoch oben und so schnell unterwegs zu sein. Utz hatte sehr lange Beine.
Jenseits der Brücke wurde der Weg schon fremd. Hier war Lilylu noch nie hier gewesen. Da gab es einen Laden mit Töpferwaren, dann einen mit Wolle. Und in einem anderen standen seltsame Geräte. Utz erklärte, daß es sich um CD-Spieler und allerhand andere Sachen handelte, von denen sie noch nie etwas gehört hatte.
Die Welt war viel größer, als Lilylu je gedacht hätte. Sie sah einen riesigen, lauten eisernen Koloss und erfuhr, daß es sich um einen Zug handelte, in dem Menschen von einem Ort zum anderen transportiert wurden. Erst jetzt wurde ihr klar, daß die Züge im Spielzeugladen, wie beinahe alles dort, der richtigen Welt nachgebaut waren, nur eben kleiner. Und schließlich sah sie den Wald, in dem Bäume waren ... viel mehr und viel größer, als sie es sich je hätte vorstellen können. Ein bißchen vermißte sie das Wasser des Baches bis Utz ihr zeigte, wo der Bach hier floß. Denn ein Arm des Baches führte durch Utzens Wald. Würde Lillylu von zu Hause aus immer bachaufwärts schwimmen, käme sie zu Utz, irgendwann.
Schließlich kamen sie bei Utz an. Kurz vor dem Haus blieb er stehen und warnte sie, daß sie nun ganz in die Tasche hinein kriechen müßte. Wegen des Vaters. Und auch wegen Hund. Der Vater, wenn er sie sähe ... Utz wüßte nicht, was dann geschehen würde. Und Hund, das wußte sie ja, konnte sie wittern und würde ein Heidentheater machen, sogar dann, wenn man sie nicht sehen könnte. Lillylu setzte sich hin, obwohl sie gern gewußt hätte, wie das Haus aussah. Deswegen war sie schließlich hier. Aber sie verstand auch, daß Neugier die eine, Vorsicht aber die andere Sache war. Es hatte keinen Sinn, neugierig zu sein, wenn es nur Ärger einbrächte.
Utz schloß die Tür auf und sofort kam ihm Hund entgegen gerannt. Hund wedelte mit dem Schwanz, was Freude bedeutete, stupste aber gleichzeitig Utz mit seiner Schnauze an, was eine Aufforderung schien, irgend etwas zu tun. Utz machte es sich einfach, indem er Hund die Tür aufhielt, damit der ein wenig draußen herum springen konnte. Obwohl es nicht das war, was Hund wollte. Viel lieber hätte der einen richtigen Spaziergang gemacht, stundenlang, durch den Wald. Doch sein Herrchen schien auf so etwas keine Lust zu haben. Hund sprang also ein paar Mal durch den Vorgarten, bis er begriff, daß aus dem Spaziergang wohl nichts werden würde. Dann kam er zurück ins Haus.
Während dessen hörte Utz die Stimme des Vaters:
"Wo warst du denn so lange? Das Essen ist fast kalt."
Ein Vorwurf, natürlich, aber weitaus weniger schlimm, als Utz es erwartet hätte.
"Es hat etwas länger gedauert in der Schule.", sagte Utz unbestimmt und hoffte, der Vater würde sich damit zufrieden geben.
Tatsächlich schien der Vater weniger verärgert als erwartet. Sein Teller war fast leer, während er Utz´ Essen in die Mikrowelle schob.
Utz rief schnell: "Ich komme gleich!" und rannte in sein Zimmer, wo er vorsichtig Lilylu aus seiner Jackentasche hob und auf seinen Schreibtisch setzte.
Er flüsterte ihr zu: "Ich bin gleich wieder. Schau dich inzwischen ein bißchen um." und war schon wieder verschwunden.
Da saß Lilylu nun, auf dem Tisch von Utz, wo eine erstaunliche Ordnung herrschte, wie sie feststellte. Alle Dinge schienen ihren Platz zu haben, alles war gerade ausgerichtet. Sie setzte sich auf etwas, dessen Sinn sie nicht wirklich erkannte. Ein bauchiges Ding mit einem Loch drin und einer Kurbel dran. Keine Ahnung, was das sollte. Sie würde ihn später danach fragen. Jedenfalls bot der Schreibtisch einen großartigen Blick hinaus in den Wald, der sie schon vorher fasziniert hatte. Bäume, so weit das Auge reichte! Grün, aber auch ein bißchen finster. Jedoch nicht bedrohlich. Der Wald war schön!
Dann schaute sich Lilylu im Zimmer um. Ein Bett, ein Schrank, ein Bücherregal mit wirklich vielen Büchern drin. Auf dem Regal eines von diesen Geräten, die sie vorhin in diesem "elektrischen" Schaufenster gesehen hatte. Von der Decke hing etwas Fliegendes, das interessant aussah, aber für Lillylu keinen Namen hatte.
Sie hatte viele Fragen und hoffte, Utz käme schnell zurück, um ihr Antworten zu geben.
Utz schlang sein Essen
schnell herunter und war erleichtert, daß der Vater nicht weiter fragte, was denn in der Schule länger gedauert hatte. Der Vater machte sich offenbar nie Sorgen um Utz. Jedenfalls schien sich der Vater nicht vorstellen zu können, daß in der Schule für Utz etwas schief lief.
Wie immer stand der Vater auf, sobald sein Teller leer war, und ging ins Wohnzimmer, wo ihn Utz wenig später auf dem Weg nach oben über seinen Briefmarkenalben brüten sah. Mit einer Pinzette richtete er die Briefmarken in den Alben aus und hielt hin und wieder eine von ihnen prüfend unter die Tischlampe.
Utz hielt sich nicht damit auf, seinem Vater zuzusehen. Er rannte die Treppe hinauf, wobei er peinlich darauf achtete, daß ihm Hund nicht folgte. Hund aber interessierte sich mehr für seinen Freßnapf, den Utz unten in der Küche klappern hörte.
Lilylu war froh, als Utz zurück kam. Nicht nur, weil sie sich langweilte in diesem - ach so ordentlichen! - Zimmer. Sondern weil sie sich mit jeder Minute, in der sie allein gewesen war, auch ein bißchen mehr Gedanken darüber machte, ob Utz überhaupt jemals wieder zurück kommen würde. Sie wollte sich lieber nicht vorstellen, wie viele Probleme sie haben würde, wenn sie plötzlich hier säße und kein Mensch sich mehr um sie kümmern würde. All ihre Kletter- und Schwimmkünste würden ihr dann nichts helfen, weil spätestens an dieser Tür mit dem geschnörkelten Griff alles vorbei wäre. Gar nicht zu reden von dem Hund, dessen Freßnapf irgendwann leer wäre. Vielleicht bekäme der dann Appetit auf kleine Lilylus? Als Utz jedoch durch die Tür mit dem verschnörkelten Griff herein kam, war alles wieder gut.
Er sah Lilylu schon beim Eintreten, wie sie da auf seinem Schreibtisch am Bleistiftspitzer lehnte und mit den Beinen baumelte.
"Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat.", sagte er.
Um nicht irgend etwas zu antworten, das ihre Ängste verraten könnte, antwortete sie: "Und? Was machen wir jetzt?"
"Ich wollte dir doch unser Haus zeigen. Am Besten fangen wir hier oben an. Unten ist mein Vater beschäftigt. Der wird uns nicht stören."
Er hielt seine Hand vor Lilylus Füße, und die klettere darauf, als hätte sie das schon viele Male getan. Zur Sicherheit, wie schon beim ersten Mal am Bach, setzte sie sich in den Schneidersitz, wo sie die Falten ihres Kleides sorgfältig sortierte, so daß nur noch die Zehenspitzen unter dem Saum hervor schauten.
Sie kamen in ein weitläufiges Treppenhaus, das Lilylu vorhin, aus der Jackentasche heraus, nicht hatte sehen können. Utz´ Zimmer befand sich links von der Treppe. Auf der Galerie waren drei Türen und noch eine gegenüber von Utz´ Zimmer. Zwischen den Türen hingen große Geweihe von Hirschen und darunter kleinere, die krumme Hörner hatten. Die Wände und auch das Treppengeländer waren aus dunklem Holz. Ebenso wie der Fußboden, der leicht knarrte, als Utz darüber ging. Er öffnete gleich die nächste Tür, hinter der ein Raum, ebenso dunkel wie das Treppenhaus, war. An den Wänden standen volle Bücherregale, in denen allerhand Bücher mit alten Einbänden standen. Manche von ihnen trugen mattgoldene Buchstaben. Im Raum verteilt gab es kleine runde Tische mit schweren Ledersesseln drumherum. Auf jedem der Tische stand ein schwerer Napf aus Marmor.
Utz erklärte, dies sei die Bibliothek, wo früher die Gäste gesessen und auch geraucht hätten, wenn sie - erschöpft von der Jagd und vom schweren Essen - sich ausruhen wollten. Er trug sie zu einem der Fenster, an dem grüne Samtvorhänge hingen. Da hatte man einen wunderbaren Blick direkt auf den Bach, der hier unter den alten Bäumen noch ein schmales Rinnsal zwischen großen, glatt gespülten Steinen war.
Lilylu gefiel dieser Raum gut. Ein bißchen war es wie bei ihr zu Hause. Die Regale waren nicht einfach nur Regale, sondern hatten Schnörkel oder trugen an manchen Stellen geschnitzte Tierköpfe. Der Raum roch nach dem Leder der Sessel und auch ein bißchen nach den alten Büchern, von denen sie gern etwas mehr gewußt hätte. Was wohl konnte in so vielen Büchern drin stehen?
Aber für Utz war all das nichts Besonderes. Er lebte ja hier und konnte alle Tage nach nebenan gehen. Er hielt sich nicht lange hier auf, sondern steuerte die übernächste Tür an. Lilylu, als sie das Zimmer sah, vergaß ihn zu fragen warum er das Nachbarzimmer bei seiner Führung ausgelassen hatte. Sie fühlte sich hier wie in einem Mädchenhimmel. An den Fenstern waren luftige Vorhänge mit großen roten und grünen Blumenmotiven. In der Ecke stand ein Sofa mit einer riesigen Kopfstütze, das mit dem gleichen Stoff bespannt war. Daneben eine Stehlampe, deren weit ausladender Schirm ebenfalls den gleichen Stoff trug. Auf der runden Ablagefläche, die direkt an die Lampe angebaut war, lag ein staubbedecktes Buch, das offenbar lange keiner mehr in der Hand hatte. Vor dem Sofa ein kuschliges Schaffell, das zum barfuß laufen einlud. Und ehe Lilylu noch allerhand andere schöne Dinge entdecken konnte, sagte Utz:
"Das war das Zimmer meiner Mutter. Sie ist fort gegangen, als ich gerade in die Schule gekommen war."
Und einen Moment später meinte er:
"Dabei hätte man sich hier doch richtig wohl fühlen können."
Er trug Lilylu zu einem Bild an der Wand.
"Das ist sie."
Lilylu sah das Bild an. Ihr blickte eine strahlend junge Frau mit langen schwarzen Locken, grünen Augen und zartrosa Wangen entgegen. Einen Moment lang wunderte sie sich, daß dieses Bild, anders als alle anderen Dinge hier im Raum, vollkommen staubfrei war. Es schien, als würde regelmäßig jemand her kommen und Staub wischen, aber nur auf dem Bild.
Dann merkte sie, wie ihr schwindlig wurde. Erst nur ein bißchen. So, wie wenn man einen Moment zu lange in die Sonne geschaut hat und dann Sternchen sieht. Dann aber wurde ihr schrecklich schlecht. Der Schweiß brach ihr aus allen Poren und schließlich war ihr ganz schwarz vor den Augen.
Utz konnte sie gerade noch mit der anderen Hand festhalten. Sonst wäre sie hinunter gefallen.
Als Lilylu erwachte,
fand sie sich auf einem Kissen liegend. Utz stand über sie gebeugt und wedelte ihr mit einem Blatt Papier Luft zu. Irgendwo hatte er gehört, daß das bei Bewußtlosen helfen sollte. Sehr viel anderes hätte er ohnedies nicht tun können, denn für Mund-zu-Mund-Beatmung und all diese Dinge war Lilylu viel zu klein. Vermutlich hätte er mehr kaputt gemacht als in Ordnung gebracht.
Lilylu atmete ein paar Mal tief durch, dann richtete sie sich langsam auf.
"Was ist passiert?", fragte sie.
"Das frage ich dich.", antwortete Utz. Denn er konnte sich nicht erklären, wieso sie so plötzlich in Ohnmacht gefallen war. Hatte sie zu wenig gegessen? War dieser Ausflug vielleicht zu anstrengend für sie?
Lilylu besann sich:
"Da war dieses Bild.", sagte sie."Und mir wurde so komisch. Irgendwas war darauf..."
Utz ahnte nicht, was am Bild seiner Mutter so schrecklich sein sollte. Genau genommen war seine Mutter eine sehr schöne Frau. Und ganz gewiß nicht böse oder gar erschreckend.
Lilylu fiel ins Kissen zurück.
"Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht sollte ich es mir noch einmal ansehen?"
Utz fand das keine gute Idee. Wer weiß, ob Lilylu nicht wieder in Ohnmacht fallen würde. Und vielleicht würde er sie beim nächsten Mal nicht wieder so leicht wach kriegen.
Aber sie richtete sich plötzlich ganz entschlossen auf und meinte entschieden:
"Trag mich noch einmal hin! Ich will wissen, was passiert ist."
Er kannte Lilylu zwar noch nicht lange und auch nicht besonders gut, aber so viel wußte er schon: Wenn sie so mit ihm sprach, konnte er nicht anders als tun, was sie sagte. So schob er sie also vorsichtig auf seine Hand und ging zum Bild der Mutter, das Lilylu nun ganz genau betrachtete. Schließlich sagte sie:
"Die Kette ... das Medaillon. Ich kenne das. ... Ich habe genau solch eine Kette zu Hause."
Utz verstand nicht.
"Die Kette ist alles, was mir von meiner Familie geblieben ist.", erklärte Lilylu und konnte sehr viel mehr nicht sagen, weil sie so viel nicht wußte. Tief in ihrem Kopf drin war eine Erinnerung daran, daß sie einst eine Familie gehabt haben mußte. Aber sie sah keine Personen und keine Erlebnisse. Familie zu haben war für sie mehr so ein Gefühl, das ganz weit zurück lag.
Zum ersten Mal in ihrem Leben fragte sich Lilylu, wie alt sie eigentlich war. Sie erinnerte sich nicht. Eigentlich war alles schon immer so gewesen wie heute. Die Dinge rundum hatten sich geändert, das schon. Aber Lilylu fühlte sich plötzlich, als sei sie immer schon da gewesen. Irgendwo in der Nähe des Stadtschlosses, wo sich so viel nicht verändert hatte. Das Schloß stand seit Ewigkeiten und auch die Bäckerei mit ihrer Wohnung dran. Der Bach floß seit langer Zeit. Alles andere schien nebensächlich. Menschen kamen und gingen. Läden öffneten und schlossen wieder. Die Jahreszeiten wechselten und an die Stelle der einen Enten und Insekten traten andere.
Doch jetzt schien alles anders. Lilylu kannte einen Menschen, der ihr vielleicht schon das Leben gerettet hatte. Und dieser Mensch hatte auf erstaunliche Weise etwas mit ihrer Familie zu tun, an die sie sich nicht erinnern konnte.
Während sie all diese Dinge dachte, versuchte Utz zu begreifen.
"Du meinst, meine Mutter hat etwas mit deiner Familie zu tun?", fragte er. Denn er erinnerte sich nicht mehr an viele Dinge, die seine Mutter betrafen. Aber er wußte, daß er als kleines Kind versucht hatte, mit dem Medaillon seiner Mutter zu spielen. Und diese hatte es ihm liebevoll, aber bestimmt aus der Hand genommen und damals gesagt:
"Nicht kaputt machen! Das ist von meiner Mutter. Eines Tages wird es dir gehören und du wirst es deinem ältesten Kind schenken."
Wenn also das Medaillon so große Bedeutung für die Familie seiner Mutter hatte, war das bei Lilylu vielleicht ähnlich? Und wenn es das gleiche Medaillon war, dann ...
Utz konnte nicht weiter denken. Wie paßte all das bloß zusammen? Diese kleine Lilylu und er konnten unmöglich zu einer Familie gehören. Wenn man doch bloß richtig mit dem Vater reden könnte! Der mußte doch wissen, was es mit seiner Frau auf sich hatte. Er mußte die Eltern seiner Frau kennen und all so etwas. Aber es war nie die Rede von Großeltern auf Mutters Seite gewesen. Oder von Geschwistern. Geschweige denn von anderen Verwandten. Eigentlich waren sie, schon als die Mutter noch da war, immer allein gewesen.
"Was sollte deine Mutter mit meiner Familie zu tun haben?", fragte Lilylu wider besseres Wissen. "Sie ist viel zu groooß!" Und dabei dachte sie an die grünen Augen der Mutter, die ihr aus dem Bild heraus anscheinend tief in ihr Herz geschaut hatten. Ohne Utz´ Mutter je gekannt zu haben, hörte sie eine Stimme, die nur deren Stimme sein konnte. Und die sagte: "Lilylu, fang an, dich zu erinnern. Du mußt dich erinnern!" - Erinnern. An was? An was nur sollte sie sich erinnern?
"Bring mich nach Hause!", sagte sie und wollte tatsächlich nur noch das: in ihre kleine kuschlige Wohnung direkt am Backhaus, nachdenken und sich ausruhen. Wie sollte sie Utz Fragen beantworten, wo sie doch selbst keine Antwort kannte?
Utz reagierte ärgerlich. Seit er dieses kleine Ding kennen gelernt hatte, war alles aus den Fugen geraten. Er dachte über Dinge nach, an die er eigentlich gar nicht denken wollte. Er stellte Fragen, die er schon lange vergessen hatte. Er war unzufrieden mit seinem Leben, das er vor ein paar Tagen noch ganz in Ordnung fand. Und statt ihm zu erklären, warum all das so war, wollte sie nun fort und ihn mit all dem allein lassen. Hastig ging er zur Zimmertür und achtete nicht auf Lilylu in seiner Hand.
"Auh!" schrie sie mit ihrer Grillenstimme, die nun in den Ohren weh tat, weil alles wackelte und sie beinahe von seiner Hand gefallen wäre.
Utz entschuldigte sich nicht einmal, aber er achtete ein kleines bißchen besser auf sie, während er die Treppe hinunter lief und sich nun auch keine Gedanken mehr darum machte, daß der Vater oder Hund Lilylu bemerken könnten. Einen Moment lang meinte er sogar, gleich würde der Wecker klingeln und alles sich als Traum erweisen.
Die Sorglosigkeit rächte sich, als Utz Lilylu kurz auf dem Schuhschrank absetzte, um seinen Parka anzuziehen. Denn Hund kam aus der Küche gerannt und streckte sich schnüffelnd in Lilylus Richtung, was Utz erst gar nicht bemerkte. Angesichts der offenen Wohnzimmertür blieb Lilylu ihr Schreckensschrei im Halse stecken. Hunds Schnauze war schon ganz nahe. Plötzlich begann er zu jaulen und Lilylu verstand:
"Frag den Grafen." und noch einmal: "Frag den Grafen!"
Nein, sie hatte sich nicht geirrt. Der Hund hatte mit ihr gesprochen. Was Lilylu nicht so sehr erstaunte, wie das, was er gesagt hatte. Was hatte der Graf mit all dem zu tun? Der Graf war nichts anderes als ein alter Mann, der zu einigen Feiertagen auf dem Balkon des Schlosses stand und ein paar Worte sagte. Inzwischen gehörte ihm nicht einmal mehr das Schloß. Er war dort nurmehr Gast wie alle anderen auch, die die Ritterrüstungen und alles andere sehen wollten. Inzwischen wohnte er irgendwo auf dem Land. Lilylu wußte nicht wo.
Erschrocken zunächst, dann erstaunt, beobachtete Utz, was da geschah. Lilylu schien vor dem Hund keine Angst mehr zu haben. Es war, als würde sie auf sein Jaulen lauschen. Nicht daher kam die Gefahr, sondern vom Vater, der, durch den Krach aufgestört, vielleicht aus dem Wohnzimmer kommen und Lilylu sehen würde. Rasch und nicht sehr sanft nahm er Lilylu und schob sie in seine Tasche, während er seinem Vater zurief:
"Ich gehe noch ein bißchen mit Hund spazieren."
"Ja, mach das," antwortete der Vater durch die offene Tür, "er scheint mir sehr unruhig heute."
Lilylu war am Bach
sehr hoheitsvoll von Utz´ Hand gestiegen, hatte nur kurz den Kopf gedreht und "Grobian!" gesagt. Das war ihr Abschied, denn auf dem Heimweh wurde sie kräftig durchgeschüttelt, weil Utz mit Hund sogar gerannt war. Wie konnte er das tun mit ihr in seiner Tasche! Sie drehte sich auch später nicht noch einmal um. Und erst in ihrer Wohnung fiel ihr ein, daß sie sich gar nicht wieder verabredet hatten.
"Ach, egal!", dachte sie,"Wenn er etwas will, weiß er, wo er mich findet."
Dieser Nachmittag war ihr entschieden zu aufregend gewesen, als daß sie sich so schnell eine Wiederholung gewünscht hätte. Und außerdem war ihr noch immer ein bißchen schlecht. Sie wollte sich nur hinlegen und nachdenken, vielleicht auch schlafen.
Aber dann ging sie doch zuerst zu ihrer Kommode und begann, nach ihrem Medaillon zu suchen, das sie schon vor Jahren abgelegt hatte, weil es sie beim Schwimmen und Klettern störte. Sie fand es schließlich ganz hinten, noch hinter den Wollsocken, die sie in ihrem Leben nur ein einziges Mal getragen hatte. Und sie fand bestätigt, was sie beim Anblick des Bildes gespürt hatte. Es war ganz genau so wie das Medaillon von Utz´ Mutter. Sehr viel kleiner zwar, natürlich, aber genau so, wenn man einmal davon absah, daß das Gold in allerhand Jahren matt und das Glas, hinter dem sich ein seltsames Symbol aus grünen Steinen verbarg, beschlagen war. Lilylu holte einen Lappen und begann, alles zu putzen. Und während sie putzte, versuchte sie sich zu erinnern. Wo hatte sie das Medaillon her? Wer hatte es ihr gegeben?
Aber ihr wollte und wollte nichts einfallen, auch wenn sich die ovale Form seltsam vertraut in ihren Händen anfühlte. Wie denn nur sollte sie sich erinnern, wenn nicht einmal das Medaillon half? Und was hatte der Graf mit all dem zu tun?
Lilylu erinnerte sich, daß sie heute viel zu wenig frische Luft gehabt hatte. Dieses Rumsitzen in geschlossenen Räumen und Taschen war tödlich für ein Wesen wie sie. Was dabei heraus kam, sah man ja an ihrer Ohnmacht. Lilylu war noch nie ohnmächtig gewesen! Nicht jedenfalls, soweit sie sich erinnern konnte. Aber sie hatte ihre Zweifel, ob nicht vor ihrer Erinnerung viele Dinge lagen, an die man sich besser erinnern sollte. Wenn man das bloß gekonnt hätte!
Sie ging nach draußen, setzte sich auf ihren Mittagsstein, auch wenn die Sonne langsam hinter der Kirche verschwand und ihren Stein längst nicht mehr erreichte. Frische Luft!
Im Bach plätscherten die Enten und schnatterten:
"Lilylu! Lilylu! Wo warst du?"
Beinahe klang es wie ein Lied. Sie hatte eine Idee. Die Enten, ja, natürlich. Die konnten doch fliegen. Und sie waren nicht immer am Bach. Manchmal flogen sie einfach nur so durch die Gegend und sahen sich um.
"Wißt ihr, wo der Graf jetzt wohnt?", fragte sie.
"Der Graf! Der Graf!" schnatterte es wild durcheinander.
"Der Graf wohnt im Schloß."
"Unsinn!", antwortete Lilylu, "Das gehört ihm doch gar nicht mehr."
"Nicht in diesem hier! Nicht in diesem hier!", schnatterte es aufgeregt und vielstimmig.
"Wieso? Hat er noch eins?"
"Aber ja! Aber ja!"
Manchmal waren die Enten wirklich anstrengend, wenn sie - und das taten sie meistens - alle zusammen antworten mußten.
"Wo ist denn das andere Schloß?", fragte sie.
"Draußen im Wald! Draußen im Wald!"
Lilylu rollte enttäuscht mit den Augen. Wie weit es in den Wald war, wußte sie von ihrem heutigen Ausflug. Allein würde sie es dahin nie schaffen. Und außerdem wunderte sie sich, daß Utz auf dem Hinweg nichts von einem weiteren Schloß des Grafen gesagt hatte. Er hatte ihr unterwegs doch wirklich alles erklärt. Sollte es noch tiefer im Wald sein als Utz´ Haus?
"Ich war heute im Wald. Ich habe es nicht gesehen."
"Der Wald ist groß! Der Wald ist groß! Wo warst du, Lilylu! Wo warst du, Lilylu?"
Sie zeigte grob die Richtung.
"Nicht dieser Wald! Nicht dieser Wald! Der andere. Der andere." Die Enten zeigten mit ihren Schnäbeln in genau die entgegen gesetzte Richtung. "Der da. Der da."
In der Richtung jedoch, in die die Enten zeigten, kannte Lilylu nur Häuser. Viele Häuser. Der Wald mußte viel weiter weg sein als der, in dem sie heute war. Wie nur sollte sie den Rat des Hundes befolgen und den Grafen fragen? Und was sollte sie den Grafen auch fragen? Was hatte der mit all dem zu tun?
Ratlos verabschiedete sich Lilylu von den Enten und ging zurück in ihre Wohnung. Noch immer war sie schwach in den Knien, und so legte sie sich auf ihr Bett, um sich ein wenig auszuruhen. Nur kurz, dachte sie, und war schon ganz fest eingeschlafen.
Erst in der Nacht wurde sie wach. Alle unbeantworteten Fragen des Tages stürzten sogleich wieder auf sie ein. Den Graf fragen? Was?! Und vor allem: Wie sollte sie ihn fragen, wo er doch anscheinend unerreichbar weit weg war?
Sie stand auf und griff nachdenklich nach dem Medaillon, das noch immer auf dem Tisch lag. Der Mond schien durch ihr Fenster und warf ein kleines Lichtviereck auf den Boden. Gerade genug, um Streichhölzer und Kerze zu finden. Lilylu stellte die entzündete Kerze neben ihren Spiegel und hielt sich das Medaillon vor. Aber es war irgendwie nicht richtig. Es sah nicht aus wie bei Utz´ Mutter. Sie nahm die Kette und legte sie sich um.
Bereits, als die Kette ihren Hals berührte, spürte Lilylu ein seltsames Kribbeln. Tausend Farben und Gedanken sah sie vor ihren Augen. Nichts davon konnte sie greifen und doch war es, als wäre da ALLES. Lilylu zögerte einen Moment, behielt die Kette in der Hand, ehe sie sie ganz auf die Haut gleiten ließ.
Es war wie ein Feuerwerk aus grün und türkis und den Farben des Sonnenaufgangs. Sie schwankte einen Moment. Dann hörte Lilylu das Geräusch von reißendem Stoff. Sie hatte sich gar nicht bewegt. Was war passiert? Im Spiegel sah sie ein seltsam grün-türkises Schimmern, ehe ihr klar wurde, was geschehen war:
Lilylu hatte Flügel!
Mit wütendem Schritt
war Utz nach Hause gestapft. Was diese Lilylu sich bloß einbildete! Sagt einfach "Grobian" und verschwindet. Kein Abschiedsgruß, keine Verabredung. Einfach so.
Hund, der zwar bemerkt hatte, daß Utz irgendwie anders war, sprang trotzdem hoffnungsvoll um ihn herum. Vielleicht war da noch ein richtig großer Spaziergang "drin"? Aber Utz steuerte geradewegs das Haus im Wald an, hängte, zu Hause angekommen, die Leine an die Garderobe und wollte nach oben in sein Zimmer gehen, als sein Vater ihn ansprach:
"Ich muß heute noch weg.", sagte der, und Utz wunderte sich sehr. Es kam schon vor, daß sein Vater gelegentlich wegfahren mußte. Aber so kurzfristig war das noch nie passiert. Meistens nämlich fuhr der Vater zu irgendwelchen Philatelisten-Treffen, die schließlich nicht von heute auf morgen anberaumt wurden. Heute jedoch schien der Entschluß fast aus dem Moment geboren. Andernfalls hätte Utz´ Vater bereits am Mittagstisch darüber gesprochen. Der Vater wartete nicht auf eine Antwort und ging nach oben in sein Zimmer, um die bereits gepackte Tasche zu holen.
"Wenn alles klappt," erklärte der Vater, "bin ich schon morgen abend wieder da. Aber mach dir keine Sorgen, wenn ich erst übermorgen komme. Du kommst doch alleine klar?"
Utz nickte nur. Als ob der Vater hier bleiben würde, wenn er "Nein." gesagt hätte.
Derweil stand der Vater angezogen in der Tür, schob Hund, der schon wieder schnuppernd die Nase nach draußen hielt, in den Flur zurück, strich Utz knapp über den Kopf und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Utz wußte nicht, was er von dieser Sache zu halten hatte. Sobald der Vater um die Ecke gebogen war, begannen jedoch all die anderen Sachen ihn wieder zu beschäftigen. Er ging in das Zimmer der Mutter, sah sich ihr Bild mit dem geheimnisvollen Medaillon an. Und bei genauerer Betrachtung entdeckte er eine Ähnlichkeit mit Lilylu: Da waren die grünen Augen und auch die rosigen Wangen. Sogar die rundlichen Formen sowohl im Gesicht, als auch in der Figur wiesen bei beiden Ähnlichkeiten auf. Der große Unterschied lag nur in der Haarfarbe. Aber, nunja, das gab es in anderen Familien auch.
Am Ende beschloß er doch, vernünftig zu sein und erst einmal seine Hausaufgaben zu machen. Aber die rechte Konzentration wollte nicht kommen, was schlimm genug war, weil Utz doch schon am Vormittag in der Schule kaum zugehört hatte. Schließlich aber hatte er es geschafft, wenn auch wahrscheinlich nicht so gut wie sonst.
Er strich durchs Haus wie ein unruhiger Geist. Noch immer fühlte es sich merkwürdig an, allein im Haus zu sein. Hund war da nur ein schwacher Trost, auch der Fernseher kaum eine Ablenkung. Umso weniger, als hier im Wald der Empfang nicht besonders gut und an all die Kabelprogramme nicht zu denken war.
Für ein einzelnes Haus machte man sich nicht die Mühe. Erstaunlich, daß es wenigstens das Telefonkabel bis hierher geschafft hatte. Utz wußte jedoch nicht, wen er hätte anrufen sollen. Richtige Freunde gab es nicht und auch keine Verwandtschaft, mit der man hätte reden können oder wollen. Wenn wenigstens Lilylu ... Quatsch! Aber die Mutter hatte sicherlich ein Telefon. Man müßte nur wissen, wo! Doch diesen Gedanken hatte Utz schon so oft gehabt und wieder beiseite gelegt. Die Dinge waren so, wie sie waren. Utz hatte keine Mutter mehr, auch wenn das natürlich nicht stimmte. Oder doch? Woher sollte man wissen, daß sie tatsächlich noch lebt? So eine Mutter, also eine wirklich richtige Mutter würde doch versuchen, mit ihrem Kind Kontakt aufzunehmen. Oder etwa nicht?
Erst erschrocken,
dann noch immer staunend stand Lilylu vor dem Spiegel. Tatsächlich: Da, wo vorher die Ärmel ihres Kleides gewesen waren, hingen nun ein paar grüne Fetzen herunter und zwischen diesen Fetzen zitterten ein paar zarte, durchscheinende Flügel, die grünlich schimmerten. Sie hielt die Arme vom Körper weg, damit sie die neuen Körperteile richtig betrachten konnte. Sie wackelte ein wenig mit den Fingern, und die Flügel fingen an zu schlagen. Ehe sie sich´s versah, schwebte sie ein Stück über dem Boden. Sie wackelte eine bißchen mehr. Die Flügel schlügen heftiger. Sie stieg weiter auf. Noch mehr Wackeln, noch heftigeres Schlagen, noch höher. --- Wuuups! Lilylu war mit dem Kopf an die Decke gestoßen. Vor Schreck hatte sie aufgehört mit dem Wackeln und war zu Boden gestürzt.
Im Spiegel betrachtete sie die Stelle am Kopf, mit der sie an der Decke angeschlagen war und wo nun ziemlich rasch eine Beule wuchs. Lilylu ballte ihre Hände zu Fäusten, damit nicht rein zufällig ein weiteres Wackeln zu einem neuen Senkrechtstart führen konnte. Fliegen wollte gelernt sein, ahnte sie, und ganz sicher nicht in geschlossenen Stuben.
Die Gelegenheit schien günstig. Noch immer war es draußen dunkel und alle schliefen. Auch Missi hatte man den ganzen Tag nicht mehr draußen gesehen. Lilylu, noch immer die Fäuste geballt, ging draußen zum ersten Stein am Bach und begann, mit den Fingern zu wackeln, sie schwebte wenige Zentimeter über dem Stein, dann wackelte sie mehr, schwebte höher, noch mehr, noch höher. Ehe sie sich´s versah, befand sie sich mehrere Meter über dem Wasser. Sie bog ihre rechte Hand ein wenig nach außen, da bewegte sie sich nach rechts. Dann links. Es schien, als wäre sie immer schon geflogen. Keiner mußte ihr erklären, was wie zu tun ist. Sie wußte es einfach. Rechts, links, geradeaus.
Es war ein großartiges Gefühl, so durch die Gegend zu fliegen.
Missi, die im Dunklen ihren Schwanz zum Kühlen in den Bach hängen ließ, sah zunächst nur einen Schatten, der über die Scheibe des Mondes schwirrte. Als sie genauer hinsah, erkannte sie Lilylu. Lilylu, die nun Flügel hatte und sie benutzte, als hätte sie nie etwas anderes getan. Missis Nase zuckte gerührt.
"Sieh an," flüsterte sie, "die Kleine hat sich erinnert." und ging zurück in ihr Abflußrohr, um nicht zu stören.
Am Abend vor dem Schlafengehen
machte Utz die Runde durchs Haus. Er prüfte, ob Türen und Fenster geschlossen waren und der Herd ausgeschaltet. Besonders die Fenster waren wichtig, denn vor einiger Zeit hatte sich ein Eichhörnchen durch ein offenes Fenster in die Bibliothek geschlichen und nicht mehr heraus gefunden. Es muß Tage später gewesen sein, daß sie es, jämmerlich verhungert, am Boden liegen fanden.
An der Zimmertür seines Vaters zögerte Utz. Eigentlich durfte er das Zimmer nicht betreten. Andererseits war doch heute er der Herr im Hause und hatte für Ordnung zu sorgen. Warum sollte das nicht für das Zimmer des Vaters gelten? Utz hob die Hand zur Türklinke, zog sie wieder zurück und ärgerte sich über sich selbst, daß er sogar in Abwesenheit des Vaters solch einen Respekt vor dessen Wünschen hatte. Genau genommen hatte der Vater ihn seinerzeit lediglich gebeten, dort nicht hinein zu gehen. Das war kein Befehl gewesen und nicht einmal in bösem Ton geäußert worden. Der Vater hatte lediglich gesagt:
"Ich würde mich freuen, wenn ich dir in dieser Frage vertrauen könnte."
Das hatte sehr erwachsen geklungen und jedenfalls so, daß Utz seinen Vater nicht enttäuschen wollte. Allerdings fand dieses Gespräch zu einer Zeit statt, zu der ihn der Vater noch nicht über Nacht allein ließ. Wer konnte damals ahnen, daß sich die Umstände ändern würden? Und sowieso war nicht klar, ob so eine Bitte für die Ewigkeit galt. Welch große Geheimnisse sollten sich schon hinter der Tür verbergen?
Utz drückte entschlossen die Klinke herab und mußte feststellen, daß die Tür des Vaters verschlossen war. Ein seltsames Gefühl von Scham überkam ihn. Hatte der Vater geahnt, daß man ihm, Utz, nicht würde vertrauen können? Dann wiederum sagte er sich, daß auf ihn immer Verlaß gewesen war. Wirklich immer. Und doch hatte der Vater kein Vertrauen zu ihm! Utz trat wütend gegen die Tür und war sich nun ganz sicher, daß er wissen wollte, was sich dahinter verbarg.
Er begann, nach dem Schlüssel zu suchen. Er schaute in Blumenvasen nach, in Schubfächern des Flurschrankes, in den Blumenübertöpfen des Treppenfensters. Aber noch während er all das tat, wurde ihm klar, daß etwas an seiner Suche nicht stimmte. Er versuchte, sich zu erinnern. Er war nach Hause gekommen, der Vater ging nach oben, um seine Tasche zu holen. Als er unten ankam, mußte die Tür schon verschlossen gewesen sein. Utz hatte kein Klimpern in Vasen oder Übertöpfen gehört. Und er hätte es hören müssen. Auch war alles viel zu schnell gegangen. Der Schlüssel mußte ganz in der Nähe der Tür sein.
Utz ging zurück, faßte unter den Läufer im Flur, wo er nichts fand. Dann hatte er eine Idee. Er griff nach oben auf den Türstock ... und hielt plötzlich den Schlüssel in der Hand. Nicht einmal einen Stuhl hatte er gebraucht! Sein Vater schien gelegentlich zu vergessen, wie schnell Utz in den letzten zwei Jahren gewachsen war.
Den Schlüssel zu finden, war die eine Sache. Eine andere, ihn zu benutzen. Utz hatte seine Bedenken jedoch schnell nieder geschlagen. Der Vater traute ihm nicht, na gut, dann konnte er sich auch so benehmen, wie der Vater sowieso dachte. Er schloß auf. Und war ein bißchen enttäuscht, daß alles so normal aussah. Zuletzt war er irgendwann vor vier oder fünf Jahren hier gewesen. Da hatte er nachts geweint, weil er immer wieder von der Mutter träumte. Und der Vater nahm ihn mit zu sich ins Bett. Was sich komisch anfühlte, weil man sich sonst nie wirklich nahe kam. Seither schien die Zeit in diesem Zimmer still gestanden zu haben. Bett, Schrank, Nachttische und sogar Mutters Frisiertisch standen noch an der gleichen Stelle wie seinerzeit. Beinahe schien es, als hätte der Vater sogar die gleiche Bettwäsche aufliegen wie damals, als Utz neben ihm geschlafen hatte. Aber das war natürlich Unsinn. Utz sah diese und andere Bettwäsche regelmäßig unten in der Waschmaschine. Das Besondere, Geheimnisvolle an diesem Zimmer waren nicht die Möbel oder die Bettwäsche, sondern irgendwelche Dinge in den Schränken oder Schubfächern, die Utz nicht sehen sollte. Aber was?
Systematisch begann er zunächst den Inhalt der Nachtschränkchen zu betrachten, dann die Schubfächer des Frisiertisches. Er fand beim Vater Bücher über Briefmarken, ein Buch mit alten Sagen und eine Lupe. Der Nachtschrank der Mutter war leer, ebenso wie ihr Frisiertisch. Wahrscheinlich hatte sie den Inhalt mitgenommen, als sie fort ging.
Hinter der großen Tür des Kleiderschrankes hingen Hosen, Anzüge und Hemden in weiter Entfernung voneinander. Irgendwann waren da wohl auch Mutters Sachen gewesen und hatten diese und jene Lücke zurück gelassen, die der wenig eitle Vater seither mit Neukäufen kaum auffüllen konnte. Alles uninteressant.
Aber dann ... Utz hatte die schmalere Tür des Kleiderschrankes geöffnet, als alle sauber aufgestapelten Strümpfe, Pullover und T-Shirts des Vaters schlagartig uninteressant wurden. In einem der Schrankfächer standen winzig kleine Möbel. Nicht etwa irgendwelcher Bastelkram, sondern angeordnet wie in einem richtigen Zimmer. Lilylu hätte sich vielleicht hier wohl gefühlt. Einen Moment lang ging ihm durch den Kopf, daß er sich nicht wundern würde, wenn seine Mutter, plötzlich so klein wie Lilylu, hinter einem der Möbel hervor käme und ihm die Hand streichelte. Aber das Zimmer war leer, das Bettzeug glatt gestrichen, die Waschschüssel blank geputzt, als sei sie nie benutzt worden. Aber wer sagte denn auch, daß sie je benutzt worden sei?
Utz hörte Hund von außen an der verschlossenen Tür kratzen. Seltsamerweise fühlte er sich nun ertappt. Rasch schloß er den Schrank und sah sich um, ob Spuren seiner Durchsuchung zu sehen waren. Alles schien in Ordnung. Utz verließ das Zimmer des Vaters und legte den Schlüssel der nun wieder verschlossenen Tür auf den Türstock, wo er ihn gefunden hatte.
Am liebsten wäre er sofort zu Lilylu gelaufen, um mit jemandem über seinen seltsamen Fund zu sprechen. Die hätte vielleicht gewußt, was von dieser Sache zu halten war. Aber nachts in Gummistiefeln durch den Bach zu stapfen, um am Ende vielleicht niemanden zu finden, war vielleicht doch kein so guter Gedanke. Utz wußte ja nicht einmal so genau, wo er nach Lilylu suchen sollte. Außerdem hatte er das Gefühl, für heute genug Regeln gebrochen zu haben. Ganz entschieden gehörte das nächtliche Herumlaufen in der Gegend zu den Sachen, die er in seinem Alter auch nicht tun sollte. Ungern, aber ebenso vernünftig wie meistens, ging Utz ins Bett, wo ihm noch lange die merkwürdigsten Gedanken und Bilder durch den Kopf rasten.
Völlig ausser Atem
war Lilylu nach ungefähr einer Stunde wieder auf ihrem Stein gelandet. Sie wußte zwar noch immer nicht, wie all das passiert war und was es zu bedeuten hatte, aber sie empfand alles als rundum gut und richtig. Es war, als hätte ihr jemand den Weg gezeigt, den sie nur immer weiter gehen mußte. Und am Ende fände sie den Sinn ihres Lebens und ... vielleicht ... sogar ihre Familie. Wenn sie sie nicht schon gefunden hatte. Schließlich mußte es doch einen Grund haben, daß sie durch Utz fliegen gelernt hatte. Jedenfalls hätte sie es ohne ihn nie gelernt. Das Medaillon läge dann noch immer unbeachtet in ihrer Schublade und wäre wohl nie wieder ans Tageslicht gekommen.
Lilylu kicherte leise in sich hinein: "Ans Tageslicht! So´n Quatsch!" Noch immer war es dunkel, auch wenn die ersten Lichtschleier am Horizont aufzogen. Das Medaillon hatte noch kein Tageslicht gesehen. Überhaupt war Lilylu plötzlich sehr froh zumute. So sehr, daß sie, ihren gestrigen Ärger vergessend, am liebsten zu Utz geflogen wäre, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen. Ob sie ihn wohl wach kriegen könnte?
Lilylu gönnte sich eine Verschnaufpause und griff dankbar nach dem Milchbrötchen, das der Bäcker ihr bereits hingestellt hatte. Sie verspürte einen Riesenhunger und hätte beinahe das ganze Brötchen auf einmal gegessen. Aber Nachschub gab es nicht. Das Brötchen mußte bis morgen reichen.
Sie machte sich auf den Weg, als bereits die ersten rosa Schleier über den Himmel zogen. Zum ersten Mal in ihrem Leben sah sie den Sonnenaufgang aus der Luft von hoch oben. Alles war noch viel schöner als sonst. Aber sie konnte sich nicht großartig aufhalten mit irgendwelchen Betrachtungen. Was sie Utz mitzuteilen hatte, war so viel wichtiger. Und sein Haus lag in Richtung Sonnenuntergang, so daß sie mit dem Rücken zum Sonnenaufgang flog. Beim Haus im Wald angekommen, mußte sie sich erst einmal orientieren. Hinter welchem Fenster schlief Utz? Schlief er überhaupt noch, fragte sie sich, nachdem ihr einfiel, daß er ja in den letzten Tagen bereits zur Zeit des Sonnenaufgangs bei ihr am Bach gewesen war. Sie schwirrte an der Bibliothek vorbei, dann sah sie ein ganz gewöhnliches Schlafzimmer und schließlich Utz, wie er in seinem Bett lag und sich räkelte. Sie landete auf der Fensterbank und klopfte mit der bloßen Hand gegen die Scheibe. Aber nichts war zu hören. Also flog sie nach unten zum Weg, nahm einen Kiesel und versuchte es noch einmal, indem sie mit dem Kiesel vor die Scheibe schlug. Es machte ein Geräusch zwischen "klock" und "klirr", und Lilylu meinte, das sollte man eigentlich hören. Aber Utz wälzte sich nur einmal herum und blieb dann doch reglos liegen. Noch einmal: "klock-klirr", diesmal heftiger und öfter. Sie sah, wie Utz unruhig wurde, schließlich die Augen öffnete und lauschte. "Klock-klirr, klock-klirr, klock-klirr ..." Lilylu strengte sich tüchtig an. Irgendwann mußte er doch mitbekommen, von wo das Geräusch kam. Und wirklich stand Utz auf, sah sich suchend um, ehe er den Ursprung des Geräusches lokalisiert hatte und zum Fenster lief.
Utz bekam kullerrunde, erstaunte Augen und sein Mund stand ein bißchen dümmlich offen, als er Lilylu am Fenster erkannte. Rasch öffnete er und konnte keine sonderlich gescheiten Worte finden.
" Du hier?", fragte er nur.
Und gleich hinterher: "Kannst du schon immer fliegen?"
Lilylus zarte Flügel sirrten ein wenig, während sie mit verlegenem Lächeln meinte:
" Das wollte ich dir doch gerade erzählen."
Utz meinte, einen zartrosa Hauch auf ihren Wangen zu sehen. Kam das vom Sonnenaufgang oder der Anstrengung des Fliegens?
" Ich hab´es heute nacht gelernt."
Jetzt sah er auch das Medaillon an ihrem Hals, das dem seiner Mutter auf dem Bild zum Verwechseln ähnelte. Er wußte nicht, ob die plötzliche Kälte, die ihn durchfuhr, von draußen herein kam oder in ihm selber war. Aber Lilylu meinte praktisch, wie sie nun einmal veranlagt war:
" Laß uns doch rein gehen. Du hast schon ganz blaue Lippen."
Sie kletterte über den Fensterrahmen nach drinnen und, als Utz nicht dergleichen tat, hob sie ihm ihre Arme entgegen.
" Na, nimm mich schon hoch!", was er auch tat.
Schließlich hatte er sich von seinem Erstaunen erholt und meinte:
" Ich hab dir auch etwas zu erzählen." Und er erzählte, was er am Vorabend gefunden hatte.
Natürlich wollte Lilylu unbedingt dieses merkwürdige Zimmer im Schrank sehen, umso mehr, als Utz behauptet hatte, es würde ihr sicherlich gefallen.
" Vielleicht, " meinte sie mit einem albernen Kichern, "ziehe ich bei Euch ein? Sicher gibt´s da auch mehr zu essen, als jeden Tag Milchbrötchen." Die Sache mit dem Milchbrötchen verstand Utz nicht und überhaupt fand er sie heute reichlich albern. Aber das lag vielleicht daran, daß er selbst noch ein bißchen müde war, während sie schon seit Stunden durch die Gegend flog.
Als der Junge ohne große Anstrengung nach dem Schlüssel auf dem Türstock griff, wurde Lilylu wieder bewußt, wie groß Utz eigentlich war. Sie hatte es beinahe vergessen, denn manchmal erschien er ihr reichlich hilflos und schüchtern. Ganz sicher aber hatte sie keine Angst mehr vor ihm. Utz würde niemandem etwas antun können. Er öffnete die Tür und ging schnurstracks zur schmaleren der beiden Kleiderschranktüren, die er öffnete. Er setzte Lilylu in das Schrankfach, das eingerichtet war wie ein Zimmer für Puppen, und sie kam aus dem Staunen nicht heraus. Es stimmte: Hier hätte jemand wie Lilylu sich wohl fühlen können, sah man einmal von der Vorstellung ab, daß die Schranktür geschlossen und plötzlich alles ganz dunkel würde. Sie ging hier hin und dort hin, faßte dies und das an, legte sich sogar auf´s Bett. Schließlich sagte sie:
" Das ist keine Puppenstube. Hier hat wirklich jemand gelebt. Jemand wie ich. Es riecht wie bei mir zu Hause. Besonders das Bett."
Beide, Lilylu und Utz, wußten, wer hier gelebt hatte und fanden keine Worte dafür, wie das gehen sollte. Utz´ Mutter war doch groß gewesen, wie alle anderen Menschen auch.
Zufällig fiel Utz´ Blick
auf den Wecker des Vaters auf dem Nachtschrank.
" Ohje! So spät schon! In fünfzehn Minuten muß ich in der Schule sein!"
Ein weiteres von vielen Malen fragte sich Lilylu, warum es die Menschen so mit der Zeit hatten. Ohnedies kam im Leben immer alles ganz genau richtig, auch ohne Uhr. Und sie wußte, wovon sie sprach. Die Kirchturmuhr bemühte sie nämlich nur, wenn sie wissen wollte, wie es um die Menschen rundum stand, was sie wohl gerade eben taten und worauf man sich als so kleines Wesen von ihnen gefaßt machen mußte.
"Fünfzehn Minuten", sagte sie ein wenig schnippisch, "was ist das schon? Wahrscheinlich viel zu wenig, um es auch in die Schule zu schaffen. Du hast sowieso anderes zu tun."
Aber so klar war das für Utz nicht. Natürlich gab es öfters andere Dinge, die man anstelle der Schule hätte tun können. Sicherlich. Aber Schule war nun einmal Schule, dachte er, bis eben. Denn eigentlich, so wurde ihm klar, war es eine reichlich unangenehme Geschichte, zu spät zum Unterricht zu kommen und dann etwas von "verschlafen" zu erzählen. Die Mitschüler amüsierten sich über die Zu-spät-Kommer, und oft gab es an solchen Tagen für die Betroffenen in jeder Pause dumme Sprüche. Schon allein der Gedanke, vor der Klasse stehen und sein Sprüchlein sagen zu müssen, während ihn alle anschauen würden, schreckte Utz. Vielleicht war es doch kein guter Tag, in die Schule zu gehen? Er hatte eine Idee. Er nahm Lilylu auf die Hand und ging mit ihr nach unten zum Telefon. Dort wählte er die Nummer des Schulsekretariats und hielt in Lilylus Richtung seinen Zeigefinger auf den Mund, damit sie leise wäre.
" Guten Morgen.", sagte er mit schwach klingender Stimme. "Hier ist Utz von Marbohd aus der 5b. Ich wollte mich entschuldigen. Ich habe eine Magen-Darm-Grippe." ...
" Mein Vater ist gerade im Bad. Den hat es, fürchte ich, noch viel schlimmer erwischt als mich.", behauptete er der Stimme am Telefon gegenüber, die sich mit dieser Auskunft offenbar zufrieden gab. Es hatte schon seine Vorteile, als zuverlässiger Schüler zu gelten.
Lilylu kicherte, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte.
"Das hätte ich dir gar nicht zugetraut. Jetzt, wo ich weiß, wie gut du lügen kannst, muß ich mich wohl vorsehen?", fragte sie. Das war natürlich ein Scherz. Lügen am Telefon und jemandem direkt ins Gesicht lügen, das waren schon sehr andere Sachen.
"So. Das wäre erledigt.", meinte Utz dann auch nur, ohne auf ihre Bemerkung ein zu gehen. "Und was haben wir heute so schrecklich Wichtiges zu tun?"
"Zunächst erst einmal frühstücken.", meinte Lilylu mit den Gedanken bei ihrem schon sehr aufgegessenen Milchbrötchen.
Eine halbe Stunde später schwelgten sie in Rühreiern und Toastbrot mit Marmelade oder Wurst. Utz hatte Lilylus Kakao, den es dazu gab, in einem Eierbecher angerichtet und fand es schon komisch, wie sie über den Tisch stolzierte und mit zierlichen Fingern hier und da etwas nahm. So hungrig sie sich jedoch zu Beginn gefühlt hatte; sehr bald ließ sich auf ihren Po fallen, hielt ihren Bauch und meinte:
"Puh, so etwas Gutes habe ich noch nie gegessen. Aber jetzt kann ich nicht mehr! Wahrscheinlich kann ich jetzt gar nichts mehr. Und schon gar nicht fliegen."
"Wohin wolltest du denn fliegen?"
"Frag deinen Hund.", sagte sie träge.
"Ja, natürlich.", antwortete er, weil er die Sache für einen Spaß hielt.
"Wohin sollen wir gehen, Hund?", sprach er das Tier an. Woraufhin Hund tatsächlich gelaufen kam und zu heulen anfing. Utz streichelte ihm den Kopf und meinte:"Laß dich nicht ärgern."
"Warum sagst du das?"; fragte Lilylu. "Er ärgert sich doch gar. Er sagt das gleiche wie gestern zu mir." Und dann fiel ihr ein, daß Menschen nicht mit Tieren reden konnten und wie vieles sie Utz noch gar nicht erzählt hatte.
Hernach war klar
daß sie zum Grafen fahren würden. Mit Rücksicht auf Lilylus vollen Bauch und einige Kilometer, die das Waldschloß des Grafen entfernt lag, hatte man sich nämlich für das Fahrrad entschieden. Heute bekam Hund, der natürlich mitkommen sollte, die richtig große Runde, die er schon seit Tagen nicht mehr gehabt hatte. Ein Versuch, Hund dazu zu bewegen, seine Äußerung zu erklären, schlug fehl. Hund hatte erklärt, manche Dinge wisse so ein Tier eben, ohne groß nachdenken zu müssen. Man nenne das Instinkt und solle ihn nicht weiter fragen.
So machten sich Lilylu und Utz auf den Weg, wobei sie die großen Straßen mieden. Immerhin durfte man nicht vergessen, daß Utz ja offiziell krank zu Hause im Bett lag und von niemandem gesehen werden durfte, der ihn kannte. Nach ein paar Kilometern waren sie aus der Stadt heraus und sahen Felder und Wald. Mit vor Anstrengung rotem Kopf, denn es ging straff bergauf, erklärte Utz, man sei noch lange nicht da. Das Schloß läge wirklich weit draußen. Während ihm beinahe die Luft ausging und das Rad immer langsamer wurde, japste Hund noch immer glücklich nebenher. Lilylu jedoch stand in ihrer Tasche und konnte sich nicht satt sehen, weil sie erkannte, was alles an Landschaft sie verpaßt hatte, bevor sie Utz kennenlernte.
Schließlich waren sie doch angekommen. Und hätte Utz nicht ganz sicher gewußt, daß hier das Schloß war, hätte man es nicht geglaubt. Denn da war ein hoher Zaun, der so dicht bewachsen war, daß man nicht sehen konnte, was sich dahinter verbarg. Und am Eingang befand sich ein hohes Tor, eingerahmt von einem noch höheren Torbogen, der nicht gerade zum Hereinkommen einlud. Vielmehr mußte man klingeln und durch eine Wechselsprechanlage sagen, was man wollte, ehe man - vielleicht - hereingelassen wurde.
Utz und Lilylu waren sich schnell einig, daß sie nicht erklären konnten, warum sie mit dem Grafen sprechen mußten. Sie wußten es ja selbst nicht so genau. Das wäre ein hübsches Gestottere geworden an dieser Wechselsprechanlage, und der Graf hätte sie wahrscheinlich für verrückt gehalten. Also beschlossen sie, daß Lilylu allein gehen sollte. Vielmehr mußte sie fliegen und zusehen, wie sie irgendwie hinein kam und den Grafen fand.
Lilylu machte einen Probeflug und war froh, daß ihr noch vor kurzer Zeit so voller Bauch nun offenbar nicht mehr so voll war. Es ging gut mit dem Fliegen, und sie winkte fröhlich zurück, ehe sie zwischen den Gitterstäben des Tores verschwand.
Sie flog einen breiten Kiesweg entlang, der auf beiden Seiten an einen Park mit großen, alten Bäume grenzte. Am Ende des Weges befand sich ein Rondell, in dessen Mitte ein Brunnen mit steinernen Figuren, auf denen Moos wuchs, fröhlich plätscherte. Dahinter stand das Schloß, das mit Utzens bescheidenem Jagdhaus nicht das Geringste gemein hatte. Eine prächtige Treppe führte hinauf zu einer zweiflügeligen Tür, die mit Rot und Gold bemalt war. Neben und oberhalb der Tür sah Lilylu eine Vielzahl prächtig bemalter und verschnörkelter Fenster. Der Gedanke, wie sie hinter all diesen Fenster das finden sollte, hinter dem der Graf war, verdarb ihr jedoch die Freude über so viel Pracht. Schließlich hatte sie eine Aufgabe und war nicht zu ihrem Vergnügen hier. Ziellos flog sie mal vor das eine, mal vor das andere Fenster und hatte beim fünften Fenster in der erste Etage Glück. Dahinter, an einem großen Schreibtisch aus dunklem Holz saß ein alter, weißhaariger Mann und schrieb mit einer Füllfeder etwas in ein ledergebundenes Buch. Er schien sehr vertieft. Jedenfalls bemerkte er Lilylu nicht, was die nicht übel nahm. Meistens war sie ja froh, nicht bemerkt zu werden. Aber jetzt grübelte sie, wie sie wohl am Besten auf sich aufmerksam machen konnte. Zwar dachte sie auch jetzt an den Trick mit dem Kiesel, aber der Graf - wenn er es denn war - war nicht Utz und würde vielleicht nicht glauben, was er da sah. Sie mußte anders hinein kommen und gleich anfangen können, zu reden.
Nachdem sie ein paar Mal ratlos vor den verschiedenen Fenstern des großen Zimmers hin und her geschwirrt war, sah sie endlich ein gekipptes Oberlicht. Es war gar nicht so leicht, sich hindurch zu zwängen und fast fürchtete sie, sie würde stecken bleiben, weil da noch allerhand von dem reichlichen Frühstück in ihrem Bauch war. Aber dann schaffte sie es doch. Einen Moment lang ruhte sie sich auf einem der silbernen Arme des Kronleuchters aus.
Beim Start klirrten die kristallenen Gläser des Leuchters leise. Der Graf hörte es und blickte auf. Beinahe sofort sah er Lilylu auf sich zukommen und schüttelte erst staunend, dann zweifeln den Kopf. Erst rieb er sich die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen, dann seine Augen, als sähe er nicht recht. Inzwischen war Lilylu direkt vor ihm auf dem Buch gelandet. Er kam nicht mehr dazu, seine Hand zum Herzen zu führen, was er zweifellos vorgehabt hatte.
"Es ist alles in Ordnung.", sagte Lilylu. "Du bist vollkommen gesund."
Der Graf glaubte ihr nicht sofort.
"Aber das sind doch alles Kindermärchen."
"Bist du ein Kind?"
"Natürlich nicht.", antwortete er. "Aber sie haben mir als Kind von dir erzählt."
Das wiederum erstaunte Lilylu.
"Du kennst mich?", fragte sie.
"Nicht dich. Aber dein Volk. Aus Erzählungen."
Damit hatte sie nicht gerechnet, obwohl sie bei genauerer Überlegung gar nicht wußte, womit sie hätte rechnen sollen.
"Aber ich habe kein Volk. Ich bin allein."
"Das kann schon sein, und es würde mich nicht wundern. Aber warte."
Er stand auf und ging zu einem der Bücherregale, die hinter ihm standen. Dort griff er zielsicher hinein und nahm ein altes Buch mit verschnörkelten Goldbuchstaben heraus.
"Hier." Er öffnete das Buch an einer beliebigen Stelle, und es traten bunte Bilder in Lilylus Lieblingsfarben zutage. Grün und türkis. Bei genauerer Betrachtung sah sie Wesen, die ihre Geschwister, Eltern und Großeltern sein könnten. Tatsächlich waren da einige alte Männer mit weißen, langen Bärten zwischen Mittelalten und ganz Jungen ihrer Art. Ein tolles Gewimmel mit vielen fröhlichen Gesichtern. Keiner von denen schien so viel nachzudenken wie Lilylu.
"Einst", sagte der alte Mann, "soll es von deiner Art sehr viele gegeben haben. Sie brachten, sagt man, meiner Familie sehr viel Glück. Aber dann sind sie verschwunden, einer nach dem anderen, sehr schnell. Die Sage behauptet, wir hätten etwas verkehrt gemacht. Dabei hat meine Familie sich immer bemüht, alles richtig zu machen."
Sie verstand nicht wirklich, was der Graf da redete. Sie und die Grafenfamilie? So viele sollen sie einst gewesen sein? Lilylu konnte sich nicht an einen einzigen erinnern, der wie sie gewesen war.
" Als meine Familie", fuhr der Graf fort, "vor zweihundert Jahren dieses große Fest einführte, damit sich das Volk einmal im Jahr richtig amüsieren kann, war anscheinend alles schon zu spät. Die Geschichten über euch findet man nur noch in den alten Büchern. Von den Vorfahren, die ich noch erlebt habe, hat keiner euch mehr gesehen."
Lilylu, die bis dahin auf dem Tintenfass gesessen und mit den Beinen geschaukelt hatte, hielt erstaunt inne. Das sollte alles sein?
"Aber warum hat er dann gesagt, ich solle dich fragen?". Sie sah den Graf enttäuscht an. In der Nacht, als sie fliegen gelernt hatte und über die Worte des Hundes nachgedacht, war ihr alles so einfach erschienen. Der Graf war ihre große Hoffnung und erwies sich nun als ein solcher Fehlschlag.
"Wer hat das gesagt?", fragte der Graf.
"Der Hund." flüsterte Lilylu, und es war mehr wie ein Ausatmen.
Der Graf zog die Augenbrauen zunächst unverständig nach oben.
"Ahja, ich erinnere mich. Man erzählte mir, ihr könntet mit Tieren sprechen."
"Wir können mit Tieren sprechen.", erwiderte sie nun ein bißchen trotzig.
"Und über was sollten wir sprechen?"
"Das konnte er mir nicht sagen."
"Je, nun", meinte der Graf, "dann haben wir jetzt ein Problem."
"I c h habe das Problem. Bei dir bleibt alles, wie es war. Aber ich kann nicht mehr zurück. - Noch vor ein paar Tagen war alles so einfach."
"Auch bei mir könnte es besser gehen, genau genommen.", stöhnte der Graf.
Utz wanderte angespannt
vor dem Tor des Schlosses auf und ab, ohne den Blick aus der Luft zu nehmen. Er hielt es für ein gutes Zeichen, daß Lilylu so lange auf sich warten ließ, obwohl sich gelegentlich der Gedanke einschlich, jemand könne sie entdeckt und eingefangen haben. Endlich sah er sie doch.
Lilylu bemerkte, daß Fliegen eine Sache war, die eine gewisse Beschwingtheit erforderte. Es war entschieden nicht gemacht für traurige Elfen. Vielleicht hatte es damals gar keine traurigen Elfen gegeben? Und während sie so traurig und beschwerlich vor sich hin flatterte, fiel ihr auf, daß sie sich selbst bislang noch nie als Elfe bezeichnet hatte. Sie war Lilylu und vor ein paar Tagen noch ganz einzigartig gewesen. Und jetzt hatte sie ein ganzes Volk, das verschwunden war, einfach so. Sie fühlte sich einsamer als zuvor, da sie noch von keinem Volk gewußt hatte.
Utz erkannte sofort, daß etwas nicht stimmte. Da, wo Lilylus Flügel vorher lustig gesirrt hatten, schlugen sie nun müde und schwach. Zwei oder drei Mal sackte sie im Fluge ab, als fehlte ihr die Kraft zum Fliegen. Besorgt hielt er ihr seine Hand entgegen, auf der sie mühevoll landete.
Tatsächlich klang das, was Lilylu zu erzählen hatte, nicht sonderlich Hoffnung erweckend. Zwar war es interessant, von ihrem Volk zu erfahren, aber doch auch wenig tröstlich, daß es dieses Volk allem Anschein nicht mehr gab.
Beide bemerkten ebensowenig wie Hund, daß drinnen im Schloß der Graf an seinem Fenster stand, von wo aus er Lilylus Abflug zugesehen hatte. Er sah mit großem Interesse, wie sie auf der Hand dieses großen, schlacksigen Jungen landete, der ihm bekannt vorkam. Wer war doch gleich dieser Junge? Was hatten er und die Elfe miteinander zu tun? Und: Mußte der Junge nicht, wenn alle Geschichten, die der Graf kannte, stimmten, selbst zur Grafenfamilie gehören? Denn die Elfen hatten sich nie jemand anderem gezeigt. Oder trafen alle diese Geschichten einfach nicht zu, zumindest heute nicht mehr, nicht mehr bei Lilylu?
Er ging zurück zu seinem Schreibtisch, klappte das Buch, in dem er vorher geschrieben hatte, zu und schritt die Reihen der Bücher in den Regalen ab. Vielleicht fand er hier etwas, das ihm weiter half?
Die Heimfahrt auf dem Rad war weitaus weniger anstrengend, weil es ja nun bergab ging. Sie hätte beinahe fröhlich sein können, wäre da nicht die bedrückende Erkenntnis gewesen, daß Lilylu zwar nun von ihrem Volk wußte, sich aber ihrer Einsamkeit umso mehr bewußt geworden war. Auch Utz fühlte sich einsamer als zuvor, hatte er doch gehofft, endlich etwas über seine Mutter zu erfahren. Aber die spielte keinerlei Rolle in dem, was der Graf gesagt hatte. Seit Generationen wurden in dessen Familie keine Elfen mehr gesehen. Und sowieso war nicht klar, ob all das wirklich etwas mit seiner Mutter zu tun hatte, obwohl Utz das inzwischen wie selbstverständlich annahm.
Gelegentlich bremste Utz seine rasche Fahrt etwas ab, um nach Lilylu in seiner Tasche zu sehen, woraufhin die ihm jeweils traurig zulächelte, um zu zeigen, daß alles in Ordnung war. Als sie kurz vor der Stadt ankamen und er ein weiteres Mal in seine Tasche schaute, war Lilylu ganz fest eingeschlafen. So tief in ihren friedlichen Anblick versunken, bemerkte Utz nicht, daß ein großes, schwarzes Auto nur knapp an ihm vorbei fuhr und ihn beinahe gerammt hätte.
Der Graf im Auto, hinter den getönten Scheiben, betrachtete sich den Jungen ganz genau.
"Aber ja,", fiel es ihm ein,"das ist doch der kleine Marbohd." Und da wurde dem Grafen klar, was die beiden dort auf dem Rad noch nicht verstanden hatten. Der Graf, den sie fragen sollten, war nicht er, sondern Utz´ Vater.
Utz kam es nur kurz
in den Sinn, die noch schlafende Lilylu am Bach abzusetzen. Zum einen wollte er nach diesem geschwänzten Schultag nur ungern in der Stadt gesehen werden, zum anderen mochte er diese traurige Elfe gerade heute nicht allein lassen. Vielleicht, wenn sie sich richtig ausgeschlafen hatte und hernach von ihm noch etwas Gutes zu Essen bekam, würde sich ihre Laune bessern. Dann könnte sie immer noch nach Hause gehen oder, besser: fliegen.
Im Jagdhaus angekommen, vergewisserte er sich zunächst, ob der Vater nicht schon wieder da war. Aber das war nicht der Fall. Dann legte er die noch immer schlafende Lilylu vorsichtig auf sein Bett und holte aus dem Schrankfach des Vaters das Bett, das wie für sie gemacht war, stellte es in eine Lücke seines Bücherregals und legte sie hinein. Sofort streckte sie sich wohlig, schlang ihre Arme um die Decke, deren Zipfel sie unter den Kopf schob. Augenscheinlich fühlte Lilylu sich wohl und dachte gar nicht daran, wach zu werden.
Utz ging nach unten, räumte die Küche auf und wußte nicht recht, was er nun tun sollte. Schließlich kam er zurück in sein Zimmer und legte sich auf sein Bett. Zunächst nur, um die schlafende Lilylu zu betrachten. Aber die Nacht zuvor war kurz gewesen und der Tag anstrengend.
Er erwachte davon, daß seine Tür leise knarrend geöffnet wurde. Langsam schob sich ein schmaler Lichtkegel aus dem Flur in sein Zimmer. Utz rieb sich die Augen. Sein erster Blick fiel auf die noch immer schlafende Lilylu, dann auf den Vater, den er im Gegenlicht nur an seinen Umrissen erkannte. Hoffentlich ließ der Vater das Licht aus, sonst müßte er unweigerlich die Elfe nebenan im Regal sehen.
Wirklich kam der Vater zu ihm ans Bett, ohne das Licht an zu machen. Er setzte sich auf die Bettkante, faßte seinen Sohn an die Stirn und fragte:
"Bist du krank?"
Ein besseres Stichwort hätte er nicht geben können. Utz antwortete sofort:
"Ich hatte es mit dem Magen. In der Schule habe ich heute früh angerufen. Du mußt mir aber eine Entschuldigung schreiben. Übrigens habe ich gesagt, daß du auch krank bist. Ich wollte nicht erzählen, daß du über Nacht weg warst."
Am liebsten hätte er sich für diese großartige Idee selbst gratuliert. Sollte der Vater ruhig ein schlechtes Gewissen bekommen, weil er ihn allein ließ.
"Ja, das ist in Ordnung.", antwortete der Vater. Und man konnte ihm nicht ansehen, ob er diese Geschichte gut fand oder nicht. Eher schien es, als sei er schon wieder mit anderen Sachen beschäftigt. Aber dann fragte er:
"Und wie geht´s dir jetzt?"
"Es ist schon wieder viel besser. Ich schlafe weiter, dann bin ich morgen wieder in Ordnung." Jetzt hieß es nur, den Vater recht schnell los zu werden, ehe der sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte und Lilylu womöglich doch noch sehen würde. Der tätschelte einen Moment lang seine Hand, dann stand er auf und schloß die Tür hinter sich.
Utz´ Blick fiel auf die im Bett sitzende Lilylu. Sie hatte sich die Decke bis zur Nasenspitze gezogen und ihre Augen waren vom Schreck geweitet.
" Das war knapp!", flüsterte sie.
Er nickte nur.
"Und wie geht´s dir jetzt?", fragte er sie.
"Ganz gut.", antwortete sie. "Nur schade, daß ich von einem Magenkranken wohl kein Abendbrot erwarten kann." Sie kicherte.
"Ich staune immer wieder, wie geschickt du doch bist."
Ein wenig schämte er sich, aber nur ein wenig. Fast mußte es so aussehen, als wäre er der größte Lügner aller Zeiten.
"Na komm, mach mir schon das Fenster auf, damit ich raus kann."
Eine Stunde später ging Utz nach unten. Er putzte sich die Zähne und stand dann in der Wohnzimmertür, um dem Vater Gute Nacht zu wünschen. Der wünschte ihm, ohne von seinen Briefmarken auf zu sehen, ebenfalls eine gute Nacht und sagte:
"Deine Entschuldigung liegt auf dem Schuhschrank." Alles war wie immer. Die kurze Besorgheit des Vaters schien vergessen.
Was Utz, der sehr schnell in seinem Zimmer verschwand, nicht sehen konnte, war die Briefmarke, deretwegen der Vater unterwegs gewesen war und die er jetzt so eingehend betrachtete. Es war eine afrikanische Marke aus einem winzig kleinen Königreich. Darauf war eine junge, schwarzhaarige Frau mit grünen Augen und rosigen Wangen, die auf einer schwarzen Hand saß. Hinter ihren Schultern glitzerten zarte grün-türkise Flügel. Ein für Afrika vollkommen untypisches Briefmarkenmotiv.
Lilylu landete am Bach
und war fest entschlossen, sich nicht mehr mit diesem ganzen Unsinn abzugeben. Daß sie eine Familie gehabt haben mußte, wußte sie auch vor dem Besuch beim Grafen. Und daß die nicht mehr da war, war auch nichts Neues. Die Dinge waren wie sie waren. Es brachte rein gar nichts, sich den Kopf zu zerbrechen, wenn einem ja doch keiner etwas sagen und man selbst sich nicht erinnern konnte. Das Gespräch mit dem Grafen, nunja, es war schon irgendwie in Ordnung gewesen. Wenigstens hatte sie ihre einstmals große Familie einmal auf Bildern gesehen. Außerdem, beschloß Lilylu, mußte Schluß sein mit dieser ewigen Schlaferei, obwohl sie ahnte, daß es eben anstrengend war, die Wahrheit heraus zu finden. Auch Traurig-Sein machte offensichtlich müde. Sie aber wollte nicht mehr traurig sein. Hier am Bach war es schön, der Sonnenaufgang gehörte ihr und ein Milchbrötchen für den Tag reichte vollkommen aus. Allerdings ... so ein Kakao dazu wäre keine üble Sache.
Aber was! Lilylu sprang in den Bach. Auch Wasser schmeckte gut! Und was für Enten und Fische richtig war, konnte ihr schließlich nicht schaden.
Vom Ufer aus wisperte jemand:
"Hallo LILYLU, wie war dein Tag?"
Lilylu wunderte sich, daß Missi sie heute gar nicht Lilly nannte und auch über deren sanfte Stimme. Das verhieß vielleicht nichts Gutes. Sie versuchte, die Ratte zu ignorieren.
"LILYLU!", wisperte es eindringlicher, was schon wieder sehr nach der alten Missi klang.
"Jaja,"; sagte Lilylu, während sie sich im Wasser vom Bauch auf den Rücken legte, "ich hab dich ja gehört. Wie soll mein Tag schon gewesen sein?" Um keinen Preis würde sie Missi etwas von all den Dingen erzählen.
"Du hast einen Ausflug gemacht?"
"Wie kommst du darauf?", fragte Lilylu und fand, daß sie mindestens genau so gut lügen konnte wie Utz.
"Ich hab dich weg fliegen sehen."
Verflixt!, dachte Lilylu. Was sollte sie der Ratte nur erzählen? Aber die wartete anscheinend gar nicht wirklich auf eine Erklärung. Vielmehr meinte sie:
"Mach dir keine Gedanken. Ich weiß schon lange, daß du fliegen kannst."
"Das ist doch Unsinn! Ich kann´s ja erst seit gestern."
"Du konntest es schon immer. Du hast es bloß nie getan."
Vor lauter Staunen vergaß Lilylu mit den Beinen zu wackeln und wäre beinahe unter gegangen. Sie schwamm zum Ufer in Missis Richtung und machte sich plötzlich keinerlei Gedanken mehr über deren häßliches Maul.
"Wie kannst du das wissen? Ich wußte es ja nicht einmal selbst."
"Ich weiß es eben.", was die Elfe wenig hilfreich fand.
"Nun rück´schon raus! Seit ein paar Tagen habe ich das Gefühl, alle Welt weiß mehr über mich als ich selbst."
Missi hatte sich weg gedreht und ging zurück zu ihrem Abflußrohr.
"Du weißt alles, Lilylu. Du mußt dich nur erinnern. Und du w i r s t dich erinnern.", schallte es von ferne aus dem Rohr.
Wütend schlug die Elfe mit der flachen Hand aufs Wasser. Aber irgendwie war sie auch zuversichtlicher. Missi war vielleicht garstig, aber sie hatte noch nie gelogen. Sie kroch ans Ufer schüttelte ihr Kleid und die Flügel bis alles nicht mehr tropfte und dann flog sie in die Nacht und fühlte sich mit einem Mal ganz leicht.
Der Graf war nach seiner Rückkehr
von der Ausfahrt, bei der er Utz erkannt hatte, stundenlang in seinem Arbeitszimmer auf und ab gewandert. Gelegentlich blieb er vor seinem Bücherregal stehen und nahm hier und dort eines der alten Bücher heraus, schaute hinein, schüttelte den Kopf und schob es wieder zurück. Er schimpfte sich einen Toren, daß diese alten Geschichten, sicherlich Kindermärchen, in seinem Kopf so lebhaft waren. All das war ihm vor Jahrzehnten erzählt worden und spielte später, nachdem er erwachsen war, nie wieder eine Rolle. Schon allein der Gedanke, daß er wie selbstverständlich heute mit einer Elfe gesprochen hatte! Unsinn, Unsinn, Unsinn! Und doch fühlte er sich ganz gesund und normal, vielleicht sogar ein bißchen besser als sonst. Irgendwo da in den alten Büchern stünde die Wahrheit, glaubte er. Aber noch immer hatte er nichts gefunden.
Schließlich kam ihm eine Idee: Nicht in den Büchern hier stand die Wahrheit, sondern in den alten Chroniken, die im Stadtschloß geblieben waren. Ob man da wohl einfach hin gehen konnte, jetzt, mitten in der Nacht? Sicherlich sah das komisch aus. Aber er hatte noch alle Schlüssel und die Chroniken waren Leihgaben an die Stadt. Etwas, was man verliehen hatte, gehörte einem ja schließlich noch. Von seiner Unruhe getrieben, machte sich der Graf auf den Weg.
In der Stadt war es still. Die Kirchenglocke hatte längst ihren letzten Schlag getan, um nicht den Schlaf der Erdbacher zu stören, die Hälfte der Straßenlaternen war aus gegangen. So tief in der Nacht war kaum einer unterwegs, der noch Licht gebraucht hätte. Auch der Mond versteckte sich hinter dichten Wolken. Lilylu ruhte sich vom langen Fliegen auf dem Denkmal am Marktplatz vorm Schloß aus, als sie ein dunkles Auto herannahen sah, das dort ordentlich einparkte und seine Lichter löschte. Als sich die Wagentür öffnete, sah sie erst unklar einen Mann, dann erkannte sie, daß es ein alter Mann war und dann wußte sie: Es war der Graf. Sie fragte sich, was er wohl hier suche um diese Zeit. Weder Geschäfte, noch Gaststätten hatten geöffnet.
Der Graf ging geradewegs auf das Schloß zu, das - soviel wußte sogar Lilylu - ihm nicht mehr gehörte. Was tat er dort, mitten in der Nacht?
Neugierig sah sie hinterher und flog ihm schließlich, als sie ihn aus den Augen zu verlieren drohte, durch den Torbogen nach. Es war ihm anzusehen, daß er kein gutes Gewissen hatte. Sehr vorsichtig holte er einen großen Schlüsselbund aus seiner Tasche und schloß eine der Türen des Seitenflügels auf. Lilylu mußte jetzt handeln, wenn sie erfahren wollte, was hier los war. Kurz entschlossen landete sie auf der Schulter des Grafen und fragte ihn:
"Was machst du denn hier?"
Der alte Herr zuckte zusammen und wollte sich, wieder einmal, ans Herz greifen. Aber Lilylu sagte nur:
"Jetzt hör schon auf damit. Ich sag doch, daß du gesund bist."
"Bist du dir da sicher? Noch ein paar von deinen plötzlichen Auftritten kosten mich wahrscheinlich irgendwann wirklich das Leben."
"So schnell stirbt sich´s nicht, "meinte Lilylu leichthin und war der festen Überzeugung, daß Elfen und Grafen sowieso nie starben. Was so nicht richtig, aber wenigstens ein netter Gedanke war. Immerhin hatte sie keine Lust, bei irgendwelchen Todesfällen dabei zu sein, und sie fand das Grund genug, in ihrer Umgebung nicht zu sterben.
Der Graf antworte nur: "Na, du mußt es ja wissen." Nett war das nicht. Er wußte ganz genau, daß sie eigentlich überhaupt nichts wußte. Ihr das unter die Nase zu reiben, war einfach ungezogen.
Während er, leicht ächzend von der ungewohnten Anstrengung des Treppensteigens, zum Turm hinauf stieg, in dem die alten Chroniken lagen, erklärte er ihr, was er hier tat. Für Lilylu war das eine wirklich gute Idee. Aufgeregt umflatterte sie ihn.
Lilylu sass auf ihrem Stein
und wartete auf den Sonnenaufgang. Die Wolken der Nacht hatten sich verzogen, und es konnte ein guter Sonnenaufgang werden. Die Enten lagen noch zusammen gekuschelt am anderen Ufer des Baches im Gesträuch und schliefen. Auch die Fische hockten dösend unter den Steinen. Alles schlief noch und wartete auf den anbrechenden Tag. Während die ersten Lichtstreifen zaghaft aufzogen, dachte Lilylu an die Geschehnisse der Nacht.
Es hatte nicht unbedingt den Eindruck gemacht, als wüßte der Graf so genau, was er suche oder wo er suchen sollte. Ziemlich ratlos war er durch die Regalreihen mit den Chroniken gewandert. Schließlich hatte sich Lilylu mal hier hin und mal dort hin gesetzt und jeweils gemeint, das sähe doch gut aus. Am Ende war er, auf ihr Urteil vertrauend, mit fünf Bänden der Chronik aus ganz verschiedenen Zeiten nach Hause gefahren. Es würde Zeit kosten, sich da durch zu lesen, hatte er gemeint und Lilylu für ihre Hilfe gedankt. Schnelle Ergebnisse waren da wohl nicht zu erwarten.
Derweil zogen erneut Wolken am Himmel auf. Lilylu runzelte die Stirn. "Verschwindet!", sagte sie. Und noch einmal:"Verschwindet!", bis die bekannten rosa Streifen zu sehen waren. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob nicht doch sie selbst die Sonne aufgehen ließ. So viel immerhin wußte sie inzwischen über sich selbst. Sie konnte mehr, als sie bisher gedacht hatte. Sie mußte nur an sich selber glauben.
Utz war zur Schulde gegangen,
ganz normal. Mit der Entschuldigung in der Tasche war alles in Ordnung. Ein bißchen beruhigte ihn diese Normalität. Wenn man nicht am Bach vorbei ginge, könnte man die letzten Tage wirklich für Fieberträume halten. Vielleicht war er ja tatsächlich krank gewesen und hatte alles nur geträumt? Wäre da nur nicht heute morgen dieses kleine Bett in seinem Bücherregal gewesen, das unmöglich von allein da hin gekommen sein konnte. Eigentlich hatte er es noch rasch vor der Schule weg tun wollen. Irgendwohin, wo es der Vater nicht sehen konnte. Schlimm genug, daß er keine Gelegenheit gehabt hatte, es an seinen Platz zurück zu stellen. Hoffentlich merkte der Vater sein Fehlen nicht. Aber wahrscheinlich sah der Vater schon lange nicht mehr in das Fach im Schrank, so lange, wie die Mutter bereits weg war. Und in sein Zimmer kam er ja auch nie.
Utz täuschte sich. Nur kurze Zeit später stand der Vater in seinem Zimmer. Es war, als würde er etwas suchen, das ihm helfen könnte, seinen Sohn zu verstehen. Schon einige Zeit lang hatte er das Gefühl, rein gar nichts mehr über ihn zu wissen. Er stand am Schreibtisch seines Jungen und wunderte sich einmal mehr, was für ein ordentliches Kind er doch hatte. Ein Glücksfall eigentlich, wie gut alles lief, obwohl er wußte, daß er kein besonders guter Vater war. Er hätte mehr mit Utz reden und unternehmen, sich mehr für ihn interessieren müssen. Aber in all den Jahren war er Utz aus dem Weg gegangen, weil er sich vor den Fragen fürchtete, die in den Augen seines Sohnes standen. Warum war die Mutter gegangen? Wo war sie? Er hatte keine Antwort auf diese Fragen, die er einem Kind geben konnte, ohne es gänzlich zu verwirren.
Ratlos setzte sich Utz´ Vater auf das Bett seines Sohnes und strich mit den Fingern über die Bücher. Er sah nicht hin. Er wußte die Titel, denn die meisten der Bücher hatte er ihm selbst geschenkt. Erst als er etwas Weiches in der Hand hielt, das nicht da hin gehörte, drehte er sich um.
Unten klingelte das Telefon. Mit dem Bett in der Hand, das er nur allzu gut kannte, ging er hin. Während er sich meldete, strich seine Hand liebevoll über die kleine Decke.
"Hallo Cousin,", hörte er, "verzeih, wenn ich auf Höflichkeiten verzichte. Wir müssen uns treffen." Er willigte sofort ein. Auch er hatte das Bedürfnis, mit einem erwachsenen Menschen zu reden.
Die beiden Grafen
trafen sich an der Konditorei am Marktplatz. An diesem beliebten Treffpunkt, wo in der guten Hälfte des Jahres Tische draußen standen, weil die Sonne nachmittags dort so schön schien, traf sich die ganze Stadt. Die beiden aber, nachdem sie sich zurückhaltend begrüßt hatten, gingen hinein und suchten sich einen ruhigen Ecktisch. Obwohl der eine nicht vom anderen wußte, was es zu besprechen gab, hatten beide das Gefühl, es wäre gut, unbeobachtet und unbelauscht reden zu können.
Sie hatten sich seit bestimmt zwanzig Jahren nicht mehr gesehen und erkannten einander kaum wieder. Denn während der eine die Grafenfamilie stets in der Öffentlichkeit vertrat, interessierte sich der andere nicht für all diese gesellschaftlichen Ereignisse, bei denen man üblicherweise vom Balkon des Stadtschlosses herab irgendwelche hochwichtigen und in Wahrheit stets gleichen Worte sagte. So jedenfalls hatte Utz´ Vater schon in früher Jugend über all das gedacht und sich aus den Grafenangelegenheiten heraus gehalten.
Utz´ Vater war es sehr recht, daß sein Cousin begann, weil er selbst es nicht gewöhnt war, große Reden zu führen.
"Ich weiß nicht recht, wie ich beginnen soll. Aber es geschehen merkwürdige Dinge."
"Was für Dinge?", fragte Utz´ Vater und ahnte doch bereits, wovon der andere Graf sprach.
"Ich habe die alten Chroniken geholt. Aber ich konnte nichts finden. Es ist, als ob darüber nie geschrieben wurde. Dabei haben sie es doch uns allen erzählt. Dir doch auch, oder?"
Natürlich hatten sie auch ihm davon erzählt, aber er wollte dennoch Sicherheit haben, daß sie von der gleichen Sache sprachen.
"Was meinst du?"
"Ach, verzeih! Ich bin ganz durcheinander. Natürlich kannst du nicht wissen, wovon ich rede. " Aber irgendwie wollte ihm das Wort nicht über die Lippen, und so griff er in seine edle Aktentasche und holte ein Buch heraus, klappte es auf und zeigte auf eines der Bilder, die er bereits Lilylu am Vortag gezeigt hatte.
Utz´ Vater nickte.
"Ja, sie haben auch mir davon erzählt. Immer wieder."
"Es ist, als würde Wahrheit in diesen Geschichten stecken."
"Wie kommst du darauf?"
"Ich hatte gestern Besuch." Er deutete auf das Bild. "Von ihnen. Und tu mir den Gefallen, mich nicht für verrückt zu halten. Ich bin ganz klar. Genau genommen hatte ich Besuch von einer von ihnen. Am hellichten Tag. Das kann kein Traum gewesen sein. Und in der Nacht habe ich sie noch einmal getroffen."
"Wie sah sie aus?" Utz Vater war plötzlich sehr aufgeregt.
"Klein."
"Ja, natürlich klein. Aber wie sah sie aus?!"
Der Graf faßte seinen Cousin kurz bei der Hand.
"Beruhige dich! Was ist los mit dir?"
"Wie sah sie aus?!", zischte Utz´ Vater jetzt noch einmal ungeduldig.
"Sie hatte grüne Augen und blonde Haare."
Der Cousin schien sich zu entspannen.
"Und was hat sie gesagt?"
"Sie sagte, ein Hund hätte ihr geraten, den Grafen zu fragen."
"Was für ein Hund? Und was sollte sie fragen?"
"Irgend ein Hund halt. Du weißt doch, sie sollen mit Tieren reden können. Und was sie fragen sollte, hat er ihr nicht erklären können. Aber ich werde das Gefühl nicht los, daß er vielleicht dich gemeint hat. Ich selbst habe über diese Sachen seit Kindertagen nicht mehr nachgedacht."
"Mich?"
"Weißt du etwas über diese Dinge? Du mußt es mir sagen! Ich halte mich sonst bald selbst für verrückt."
Utz´ Vater zögerte. Eine ganze Zeit lang sah er vor sich hin und war sich nicht sicher, wie weit er gehen konnte. Schließlich griff er in seine Jackentasche und holte ein kleines Album heraus. Ein Briefmarkenalbum, in dem nur eine einzige Marke steckte. Er klappte es auf und hielt es dem anderen hin.
"Redest du von so etwas?"
Starr vor Staunen betrachtete der die Marke mit der Elfe auf der schwarzen Hand.
Lilylu sass im Schneidersitz
zu Hause auf ihrem Bett und betrachtete ihre Zehen und Finger, die vom vielen Schwimmen völlig zerschrumpelt waren. Beinahe schien es, als brauche sie ihre Beine nurmehr zum Abspringen und Ankommen. Entweder im Wasser oder in der Luft.
In den beiden letzten Tagen hatte sie kaum geschlafen, war nur unterwegs gewesen. Und jedes Mal, wenn etwas wie Müdigkeit über sie kam, hatte sie sich ins Wasser geschmissen, um hernach gleich wieder auf zu steigen. Sie fühlte sich frisch und stark und meinte, die Zeit der Traurigkeit wäre vorbei. Einmal hatte sie den Gedanken gehabt, bei Utz vorbei zu fliegen. Aber dann hatte sie es gelassen. Die Menschen wußten ja auch nichts. Und, genau genommen, war sie erst traurig geworden, nachdem sie mit ihnen zu tun gehabt hatte.
Sie hörte ein Klopfen und hielt den Kopf lauschend aufrecht. Noch einmal, jetzt lauter. Es schien, als käme das Klopfen von ihrer Tür. Sie stand auf und ging sehr vorsichtig, damit die Treppe nicht knarrte, nach unten. Tatsächlich klopfte es an der Tür. Was noch nie passiert war. Wie auch, wenn keiner wußte, wo sie wohnt? Es klopfte noch einmal. Und nun sagte jemand ganz leise:
"Lilylu, komm spielen."
Sie traute ihren Ohren nicht, ging aber weiter bis sie direkt an der Tür stand.
"Lilylu, ich weiß, daß du mich hörst. Mach auf.", flüsterte die Stimme.
"Wer bist du?"
"Babelu."
"Wer?"
"Ba-be-lu."
"Ich kenne dich nicht."
"Red keinen Unsinn! Natürlich kennst du mich. Mach auf und schau mich an."
Lilylu war sich nicht sicher, ob es richtig war, die Tür zu öffnen. Eigentlich dürfte niemand wissen, wo sie wohnt. Aber ihre Neugier siegte. Sie griff zur Klinke und öffnete die Tür einen winzigen Spalt.
"Da bist du ja endlich.", sagte ein Junge, genauso klein wie sie, der einen grünen Anzug mit kurzen Armen und Beinen trug. Auf dem Kopf hatte er eine Art Jägerhut, der viel zu klein zu sein schien und seine schwarzen Haare kaum verdeckte. Seine Flügel sirrten aufgeregt. Er schob die Tür ganz auf.
"Na, endlich! Ich dachte du machst nie auf. Komm spielen."
Obwohl sie noch immer nicht wußte, wer das da vor ihrer Tür war, fragte sie kein weiteres Mal. Sie trat nach draußen. Es fühlte sich komisch an, neben jemandem zu stehen, der genau so klein war, wie man selber. Noch komischer aber war, daß er so tat, als würden sie sich ewig kennen.
"Komm.", sagte er, während er ihre Hand nahm und zum Flug ansetzte. Lilylu stolperte. Solche Senkrechtstarts waren ihr bisher nur aus Versehen gelungen. Der Junge kicherte.
"Hast du, wieder einmal, geschlafen? Ich glaube, du schläfst zu viel."
Das klang, als wäre er schon seit ein paar Tagen hier und hätte sie beobachtet.
Am liebsten hätte sie ihm gleich all die Fragen gestellt, die ihr die ganze Zeit schon durch den Kopf gingen: Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo ist meine Familie? Und: Gehörst du dazu? Doch der Junge schien gar nicht zu Ernsthaftigkeit aufgelegt. Noch immer oder schon wieder kicherte er und setzte ein weiteres Mal zum Start an, den Lilylu nicht wieder verpassen wollte.
Sie flogen über den Bach und die kleine Grafenwiese direkt auf die Wohnhäuser dahinter zu und landeten auf einer Fensterbank, hinter der ein dicker Mann mit Unterhemd und Sporthose auf einem Sofa lag. Die Bierbüchse hatte er auf seinem Bauch abgestellt, der mit den Resten von Chips aus der Tüte vom Tisch voll gekrümelt war. Er guckte in einen Kasten mit flimmernden Bildern und hatte große, müde Augen.
"Den schicken wir jetzt ins Bett.", sagte Babelu und begann mit wilden Flatterbewegungen, bei denen seine Flügel - vom Straßenlicht beleuchtet - besonders schön glänzten.
"Los, mach mit!", rief Babelu ihr zu und tanzte weiter in der Luft.
Tatsächlich schaute der Mann irritiert durch die Gegend. Ein Wiederschein der Flügel war über die Wand seines nur schwach beleuchteten Zimmers geflogen. Der Dicke erhob sich, sah sich, das Bier in der Hand, um und entdeckte schließlich die beiden vor seinem Fenster. Seine Bewegungen erstarrten. Dann trat er einen Schritt zurück, einen nach vorn, schaute auf das Bier in seiner Hand, schüttelte den Kopf. Schließlich trat er bis nahe an die Fensterscheibe, um besser sehen zu können, und auch Babelu zog sie näher an die Scheibe heran. Einige Sekunden lang sahen sich Elfen und Mensch in die Augen. Lilylu war gar nicht wohl zu Mute. Dieser Mann da war keiner von denen, auf dessen Hand sie gestiegen wäre.
"Stell dich nicht an.", meinte Babelu."Das macht Spaß. Warte, was gleich passiert."
Der Mann schüttelte den Kopf, erst ein kleines Bißchen nur, dann heftiger, dann fiel ihm das Bier aus der Hand. Er drehte sich um und rannte beinahe aus dem Zimmer.
"Jetzt geht er ins Bett, jede Wette drauf.", sagte Babelu großspurig und ließ sich auf die Mauer der Grafenwiese fallen.
"War das nicht lustig?"
Lilylu fand es so furchtbar lustig nicht, Menschen zu erschrecken. Bisher war sie froh gewesen, nicht all zu viel mit ihnen zu tun haben zu müssen.
"Das sind dumme Späße.", meinte sie.
"Gar nicht dumm.", antwortete der freche Elf. "Er wird sich morgen überlegen, ob er wieder so viel Bier trinkt. Vielleicht wird er spazieren gehen und damit etwas gegen seinen dicken Bauch tun. Vielleicht ..."
"Jaja, vielleicht geht morgen die Sonne im Westen auf. Du bist ganz schön eingebildet."
"Gar nicht!", antwortete er nur und ließ seine Beine ganz genau so baumeln wie auch Lilylu es gerne tat. "Du wirst schon sehen. Wir können ja morgen nachschauen."
Für Lilylu klang dieses "morgen" sehr gut. War sie jetzt nicht mehr allein?
Mit einem kleinen Übermut im Herzen balancierte sie auf der Grafenmauer entlang und merkte erst gar nicht, was hinter ihr geschah. Als sie sich umdrehte, saß die Mauer plötzlich voller Elfen und Babelu sagte:
"Sie ist schon in Ordnung. Ein bißchen eingerostet, aber das wird schon wieder."
Die anderen betrachteten sie aufmerksam. Einige kicherten verstohlen hinter der Hand. Andere waren zum Flug aufgestiegen und umschwirrten Lilylu.
"Hallo Lilylu, schön, dich zu sehen.", sagten die einen, andere streichelten ihr nur die Hand oder den Kopf.
So warm und glücklich war Lilylu noch nie zu Mute gewesen.
"Du kannst doch den Jungen nicht allein lassen. Er ist erst elf." Der Graf schüttelte erregt den Kopf.
"Warum nicht? Er ist schon elf und sehr selbständig. Hab´s ja gerade erst getan."
"... und gleich hat der Junge die Schule geschwänzt."
Utz´ Vater senkte den Blick. Sein Cousin hatte Recht. Wahrscheinlich mutete er Utz viel zu viel zu.
"Und was soll ich tun? Wirst du allein fahren?"
"Ich denke gar nicht daran, auf dich zu verzichten! Der Junge kommt inzwischen zu mir. Da sind genug Leute, die auf ihn achten können."
"Ja, natürlich. Und morgens und mittags läuft er die fünfzehn Kilometer Schulweg."
"Red keinen Unsinn. Ich lasse ihn hinbringen und abholen. Er geht ins Gästezimmer und basta!"
Der alte Herr schien wild entschlossen, die Dinge so zu regeln, wie er es für richtig hielt.
Erstaunlicherweise stellte Utz´ Vater fest, daß es ihm gefiel, die Verantwortung einmal abgeben zu können, zu sehen, daß alles auch ohne sein Zutun lief und eigentlich viel besser. Denn natürlich war es besser, wenn sein Sohn, sehr selbständig zwar, aber doch noch ein Kind, gut aufgehoben wäre, während sie nach Afrika fuhren.
Obendrein fand er es merkwürdig, allerdings auf eine schöne Art merkwürdig, daß er und sein Cousin nach zwanzig Jahren, in denen sie sich nichts zu sagen hatten, so selbstverständlich miteinander umgingen. "Blut ist eben doch dicker als Wasser.", kam ihm in den Sinn. Was er immer für einen blödsinnigen Spruch gehalten hatte. Und vielleicht lag es ja auch gar nicht am Blut, sondern daran, daß sie beide zur gleichen Zeit vom gleichen Thema außer Atem gehalten wurden. Er warf einen letzten Blick auf die Briefmarke, deren Herkunftsland er seinem Cousin erst auf einer Karte hatte zeigen müssen, ehe er das Album zu klappte und wieder in seine Jackentasche schob.
Utz hatte dem Vater zunächst nicht ernsthaft zugehört, auch wenn er fand, daß dessen Reisepläne neuerdings sehr kurzfristig bekannt wurden. Erst als die Schlüsselwörter "Afrika" und "auswärtige Unterbringung" fielen, merkte er auf.
"Afrika?", fragte er aufgeregt wie alle Jungen, die es gern abenteuerlich hatten,"Was willst du in Afrika?"
"Es geht um eine Briefmarke.", antwortete der Vater vorsichtig.
"Aber deswegen muß man doch nicht hinfahren. Dafür gibt es doch Kataloge."
"Nein, dieses Mal reicht das nicht.", sagte der Vater nur und erklärte Utz nun, wo er während dieser Zeit untergebracht würde.
"Bei deinem Cousin?", fragte Utz ratlos. "Den kenne ich doch gar. Und du selbst hast ewig nicht mehr mit ihm gesprochen."
"Wir haben uns getroffen. Er wird mit fahren, also gar nicht da sein."
Am liebsten hätte Utz seinem Vater einen Schubs gegeben, damit der endlich anfinge, richtig zu reden. Immer nur diese Bruchstücke, obwohl Utz ahnte, daß hinter all diesen sachlichen Mitteilungen eine Wahnsinns-Geschichte steckte. Aber er wußte, der Vater würde kein Wort mehr sagen als unbedingt nötig. So, wie er das immer tat.
Der Vater redete tatsächlich nicht weiter, sondern begann, Utz eine Tasche mit Kleidung für einige Tage zu packen, während er Utz aufforderte, seine Schulsachen zusammen zu räumen. Zwar sei es nicht so schlimm, wenn er etwas vergäße, weil der Fahrer ihn jederzeit herfahren könne, aber besser wäre es schon, wenn man das großzügige Angebote des Cousins nicht überstrapazieren würde.
Utz wurde nun wirklich nervös und fragte sich, ob er nicht noch schnell zu Lilylu gehen solle, um ihr Bescheid zu geben, wo sie ihn finde könnte. Dann jedoch verwarf er den Gedanken. Das müßte bis morgen warten. Er fände schon einen Grund, nach der Schule kurz in die Stadt zu müssen. Schließlich war dieses Jagdschloß vor der Stadt kein Gefängnis. Wenigstens hoffte er, daß es sich nicht als ein solches erweisen würde.
Lilylu konnte sich nicht erinnern, wie sie in ihr Bett gekommen war. Putzmunter sprang sie aus ihrem Bett und sah sich in allen Ecken ihres Häuschens um. Aber da war nicht ein Zipfel, nicht der Hauch von einer anderen Elfe. Es war, als hätte es die Elfen der letzten Nacht gar nicht gegeben. Trotzdem fühlte sie sich beschwingt und hüpfte die Treppe hinunter in der Gewißheit, wenigstens draußen jemanden zu treffen. Sie sprang von Stein zu Stein bis sie auf ihrem Sonnenaufgangs-Stein angekommen war und setzte sich in Erwartung des Ereignisses froh nieder.
Erst beim Blick auf den Himmel wurde ihr klar, daß es heute keinen Sonnenaufgang geben würde. Schwere Wolken hingen am Himmel. Ein Wunder, daß es noch nicht regnete. Und plötzlich war sie sich nicht einmal sicher, ob es nicht sowieso viel zu spät für einen Sonnenaufgang gewesen wäre, wenn es denn einen gegeben hätte. Geduldig wartete sie auf den nächsten Schlag der Kirchturmuhr. Die schlug tatsächlich bereits neun Mal. Viel zu spät!
Ohje! Lilylu hatte verschlafen. Was kein Wunder war, als ihr einfiel, daß sie schon ziemlich lange nicht mehr geschlafen hatte. Sie fragte sich, wie die anderen vielen Elfen mit diesen nächtlichen Ausflügen klar kamen. Lagen die jetzt etwa in ihren Betten und kümmerten sich nicht darum, ob man den Sonnenaufgang sah oder nicht? Und, wenn ja, wo standen diese furchtbar vielen Betten? Oder lagen sie irgendwo draußen im Wald auf dem Moos oder in leeren Vogelnestern? Wo denn schläft so eine Elfe normalerweise, wenn sie keine solch nette Wohnung hatte wie Lilylu?
Sie hatten in der vergangenen Nacht viel Spaß gehabt, waren durch die Gegend geflogen, hatten hier und dorthin geschaut und allerhand Ulk veranstaltet. Aber je mehr Lilylu nachdachte, umso unsicherer wurde sie. Wenn das wirklich ihre Familie war ... würden sie dann so einfach wieder gehen, ohne auch nur ein Zeichen zu hinterlassen? Oder war sie nur zu ungeduldig? Vielleicht mußte sie nur bis zum Abend warten und alles wäre so wie gestern?
Und gleich fragte sich Lilylu, ob sie wirklich wollte, daß alles so war wie gestern. Sie hatten Spaß gehabt, nun gut, und es war ein unbeschreibliches Wohlgefühl gewesen, nicht mehr allein zu sein. Aber keine von Lilylus Fragen hatte eine Antwort gefunden. Nicht eine. Die meisten von ihnen kannte sie nach wie vor nicht einmal beim Namen. Richtig vorgestellt hatte sich eigentlich nur Babelu.
Je mehr Lilylu über die Geschehnisse nachdachte, umso unsicherer wurde sie sich. Was, wenn alles nur ein schöner Traum gewesen war?
Der Graf, den Utz bis dahin nur wenige Male aus der Ferne gesehen hatte, wurde ihm als "Onkel Ludwig" vorgestellt. Das klang merkwürdig, weil Utz doch bis dahin nie irgendwelche Verwandte außer seinen Eltern und diesem komischen Erbonkel gehabt hatte, dessen Namen er trug. Onkel Ludwig also. Entgegen allen Befürchtungen stellte sich dieser neue Onkel als netter, alter Mann heraus, der ihn wie einen erwachsenen Gast behandelte.
"Das ist Helene, unsere Köchin.", deutete er auf eine runde, ältere Frau mit grauen, hoch gesteckten Haaren, die ihm freundlich die Hand zur Begrüßung her streckte.
"Und da haben wir Werner, unseren Hausmeister, Fahrer, Butler ... Werner ist hier im Haus "der Mann für alle Fälle". Ich habe noch nie ein Problem erlebt, das er nicht hätte lösen können." Während der Graf das sagte, senkte Werner den Blick und man konnte nur mit großer Anstrengung erkennen, daß ihm ein stolzes Lächeln übers Gesicht lief.
"Und das ist Maogoscha, unser Hausmädchen."
Maogoscha gefiel Utz sofort. Genau wie die Köchin trug sie eine weiße Bindeschürze über einem blauen Rock. Aber der Rock war viel kürzer, vielleicht eine Spur zu kurz. Sie lachte ihn verschmitzt an und sah aus wie die große Schwester, die er sich immer schon gewünscht hatte. Ihre Sprache klang hart, als sie ihn begrüßte:
"Herrrrzlich willkommen!", sagte sie. Beinahe schien es, als würde sie sich freuen, daß ein bißchen Jugend ins Haus kommt.
Maogoscha war es auch, die ihm sein Zimmer zeigte, während der Vater und "Onkel Ludwig" (das wollte ihm noch nicht so recht über die Lippen gehen) sich zu irgendwelchen Reisevorbereitungen zurückzogen. Beim Weg durch das Haus kam Utz aus dem Staunen nicht heraus. Alles hier sah schon sehr nach Schloß aus: dicke Teppiche lagen überall, sogar im Treppenhaus, und an den Wänden waren Textiltapeten, die ein wenig höher in kunstvollen Gipsleisten endeten. Maogoscha erklärte ihm, dies seien "Stukkaturen". Und wie sie es sagte, klang es, als hätte dieses Wort mindestens vier "K"´s. Noch ehe sie in seinem Zimmer ankamen, hatte Maogoscha, die die ganze Zeit über fröhlich alles erklärte, ihm auch mitgeteilt, daß sie aus Polen kommt, einen Bruder in seinem Alter habe ("Er ißt und wächst wie ein Bär.", hatte sie gesagt.) und daß ihr Name eigentliche Maogorchata sei, den aber hier in Deutschland anscheinen niemand aussprechen könne. Um die Schwierigkeit ihres Namens zu erklären, schrieb sie, in seinem Zimmer angekommen, ihren Namen auf: MALGORZATA stand da. Und am Ende setzte sie über das L noch einen Schrägstrich. Das, erklärte sie, würde aus dem L so etwas ähnliches wie ein O machen.
Utz war froh, daß es in diesem Haus nicht nur Helene und Werner gab, die sicherlich sehr nett, aber eben auch schon ziemlich alt waren, sondern auch noch Maogoscha, upps: Malgorzata.
Bereits am frühen Abend saß Lilylu am Bach. Sie wartete, und ihre Blicke gingen immer wieder hinauf zum Himmel, wo sie gelegentlich meinte, das Sirren von Elfenflügeln zu hören. Aber da war nichts. Lilylu sah die Enten am Bachufer schlafen gehen. Später sah sie, wie die Tauben sich in den Bäumen zur Ruhe setzten. Sie hörte die Kirchenglocken acht, neun und zehn schlagen. Sie sah, wie jede zweite Strassenlaterne um elf aus ging.
Und nichts geschah. Aber auch gar nichts! Die Stadt legte sich schlafen. Und während die Stadt ganz ruhig wurde, wurde Lilylu immer aufgeregter. Das konnte doch nicht alles gewesen sein!
Lilylu fasste einen Entschluss: Sie musste mit Utz reden. Ja! Vielleicht wusste er ja genau so wenig über Elfen wie sie selbst, aber er war ein Freund, sogar ein bisschen so wie ein Bruder. Ganz unbedingt musste sie mit ihm reden, damit er ihr half, ihre Gedanken zu sortieren. Vielleicht war ja alles nur ein Traum gewesen? - Und wenn schon! Wenn da schon keine anderen Elfen waren, gab es doch wenigstens noch Utz.
Lilylu machte sich auf den Weg und flog durch die Nacht. Der Mond, nur noch eine schmale Sichel, schien gelegentlich durch dicke Wolken. Aber meistens war es stockdunkel. Besonders, als Lilylu in den Wald kam.Trotzdem fand sie das Jagdhaus leicht. Sie musste nicht lange nach Utz´ Fenster suchen, nachdem sie sich einen Kiesel vom Weg geholt hatte.
Aber auf ihr "Klickklickklong" reagierte keiner. Schließlich, als sie sich an die Finsternis gewöhnt hatte, sah sie, dass da keiner war, der reagieren konnte. Utz´ Bett war leer.
Verstört umschwirrte sie das Haus und stellte fest, dass nirgendwo jemand war.
Traurig sass Lilylu an Utz´ Fenster, schaute in den dunklen Wald und fühlte, wie ihr etwas Nasses in die Augen stieg. Noch nie war ihr das passiert. Immerzu wischte sie, und immerzu kam dieses Nasse nach. Bis Lilylu begriff, dass sie weinte.
Das Leben im Schloss war schön und aufregend zugleich. Nicht, dass irgend etwas Besonderes passieren würde, aber Utz fand es schon grossartig, dass da immer jemand war. Plötzlich wurde viel mehr gesprochen. Beim Frühstück, Mittagessen, Abendbrot und auch zwischendurch. Helene verwöhnte ihn wie eine Oma, Malgorza neckte ihn wie eine Schwester und Werner war so eine Art gütiger, immer hilfsbereiter Großvater, der nicht viele Worte machte.
Fast hätte Utz über all dem Glück Lilylu vergessen. Schon zwei Tage war er hier im Schloss und genoss das gute Essen und die Freundlichkeit seiner neuen "Familie", ehe ihm Lilylu wieder einfiel. Es fiel ihm ein bißchen schwer, Werner nach der Schule darum zu bitten, daß der ihn in die Stadt bringen sollte. Immerhin brauchte er einen Grund. Und möglichst keinen gelogenen, denn keiner seiner Hausgenossen hatte es verdient, belogen zu werden.
Nach der Schule also, als Utz in das große schwarze Auto einstieg, das ihm unter seinen Schulkameraden gleichermaßen spöttische wie neidische Kommentare eingebracht hatte, sagte er zu Werner:
"Ob wir wohl vorher noch in die Stadt fahren können?"
Werner brummelte nur und drehte sich nicht einmal um, so daß Utz gar nicht wußte, ob dies nun ein "Nein" oder ein "Ja" gewesen war. Aber er schlug den Weg in die Stadt ein und steuerte zielgerichtet, ohne weiter zu fragen, den Marktplatz an.
" Ist das in Ordnung so?", fragte er dann.
Statt einer Anwort rief Utz schon halb im Aussteigen:
"Bin gleich wieder da!"
Er rannte über die eine Brücke am Bach entlang zur anderen, wo man leicht hinab klettern konnte. Es war ihm egal, ob Leute nach ihm sahen und sich wohl fragen mochten, was der Junge dort unten will. Behende sprang er von Stein zu Stein und hoffte nur, Lilylu würde irgendwo auftauchen.
Lilylu, die vom vielen Weinen ganz rote, dicke Augen hatte, bemerkte ihn erst gar. Als sie ihn jedoch sah, wäre sie am liebsten aufgeflattert und hätte ihn gleichzeitig vor Freude drücken und ihm eine runterhauen wollen. Er kam daher, als wäre nichts, obwohl sie sich die Augen beinahe ausgeweint hatte, weil niemand mehr da war, nicht einmal Utz.
"Da bist du ja!", rief er und hätte sich im selben Moment beinahe selbst auf den Mund gehauen, weil doch nun unweigerlich jemand schauen und sich fragen mußte, wen er so freudig begrüßte. Aber keiner beachtete ihn, nicht einmal - so schien es - Lilylu.
Er sah sie an und entdeckte die roten Augen.
"Bist du krank?"
"Elfen werden nicht krank.", antwortete sie trotzig. "Höchstens aus Sorge, weil ihre Freunde verschwinden, ohne sich zu verabschieden."
"Du hast recht. Ich wollte gestern schon kommen. Aber es war nicht so einfach. Es ist so viel passierte." Ein bißchen freute sich Utz, daß sie ihn einen "Freund" nannte, denn er war noch nie jemandes Freund gewesen.
"Ich kann dir das jetzt auch gar nicht alles erzählen. Aber vielleicht kommst du zu mir, damit ich es dir später alles in aller Ruhe ..."
Er konnte seinen Satz gar nicht zu Ende sprechen, denn Lilylu fiel ihm ins Wort.
"Das habe ich schon getan. Aber da war keiner!"
"Ja, eben, deswegen bin ich ja da. Um dir zu sagen, daß ich im Moment nicht im Jagdhaus wohne, sondern im Schloß."
Die Elfe vergaß vor lauter Staunen ihren Ärger.
"Beim Grafen?"
"Ja."
"Was tust duuu beim Grafen."
Es klang ein wenig hochmütig, wie sie das sagte, so daß es Utz nicht schwer fiel, auch ein bißchen hochmütig zu sein.
"Ich bin auch ein Graf, schon vergessen? Der Graf ist Verwandtschaft."
Tatsächlich war Lilylu dieses "von" in Utzens Namen entfallen, weil er sich ja auch nie wie ein Graf benommen hatte. Wie eigentlich benahmen sich Grafen? Ganz sicher wateten sie nicht in Gummistiefeln durch Bäche oder so. Der alte Graf allerdings war ganz gut im Grafsein.
Wahrscheinlich hätte sie sich noch mehr von dieser Art Gedanken hingegeben, wäre nicht Utz schon wieder aufgesprungen und hätte im Weggehen gesagt:
"Ich muß jetzt ... Kommst du nachher vorbei?"
Natürlich würde sie kommen, auch wenn sie jetzt keine Antwort gab. Offenbar waren ganz aufregende Dinge geschehen, die sie auf keinen Fall verpassen wollte.
Wieder zurück im Schloß, warf Werner einen kurzen Blick auf Utz´nasse Hosensaumen, sagte und fragte aber auch jetzt nichts.
Lilylu konnte kaum den Abend erwarten, denn erst bei Dunkelheit war es ihr möglich, ungesehen zu Utz zu fliegen. Schliesslich wurde die Neugier so groß, dass sie beschloss, das Risiko einzugehen. Tagsüber draussen gewesen war sie ja schon oft. Die Menschen auf der anderen Seite des Baches bemerkten sie nie. Aber sie nahm an, mit dem Fliegen würde es eine andere Sache sein. Es war schwer einzuschätzen, ob sie nach oben schauen würden oder die vermeintlichen Vögel dort oben unbeobachtet liessen. Hier und da hatte Lilylu schon Menschen gesehen, besonders die sehr alten und die sehr jungen, wie sie Vögel beobachteten. Kurzum: Am Tag los zu fliegen, war eine nicht ungefährliche Sache.
Sie schlich also über die Ufersteine bis unter den nächsten höheren Baum, an dem sie - immer auf der vom Wasser abgewandten Seite des Stammes - Stück um Stück von Zweig zu Zweig nach oben flatterte. Im dichten Blattwerk angekommen, sah sie die Menschen so klein wie sie selbst war und traute sich los zu fliegen.
Es war eine abenteuerliche Sache, ganz anders als der Ausflug zu Utz, denn das Grafenschloss befand sich sehr viel weiter ausserhalb. Sie liess jede Menge Häuser, Strassen, Felder und Bäume hinter sich, ehe sie den weissen Kieselweg des Schlossparkes vor sich sah.
Erschöpft liess sie sich auf dem Fenstersims sinken, von dem aus sie zum ersten Mal den alten Grafen gesehen hatte. Heute war das Zimmer leer und sah trotz des Kronleuchters wie ein ganz normales Zimmer aus.
Lilylu atmete tief durch, ein Mal, zwei Mal, und machte sich auf die Suche nach Utz.
Wieder einmal flog sie die Fenster ab und wollte schon verzweifeln. Da wurde ihr klar, dass so ein Schloss nicht nur eine Vorder-, sondern auch eine Rückseite hat. Sie umflog es und - zum Glück! - fand Utz, wie er an einem Tisch sass, die Schulbücher vor sich. Allerdings schrieb oder las er nicht, sondern unterhielt sich mit einer jungen Frau, fast noch einem Mädchen, die halb auf seinem Tisch saß und mit dem linken Fuss Kreise und Vierecke in die Luft malte.
Beide sprachen angeregt, was Lilylu mit einer Mischung aus Neid und Eifersucht erfüllte. Hätte sie richtig zaubern können, wer weiss, was Lilylu mit der jungen Frau angestellt hätte. So aber stampfte sie nur zornig mit ihrem kleinen Fuss auf den harten Stein der Fensterbank, froh, dass man sie drinnen nicht hören konnte.
Es dauerte eine ganze Zeit bis die Frau den Raum verliess. Noch ehe Utz sich wieder konzentriert über seine Bücher setzen konnte, hörte er das inzwischen bekannte "Klickklickklong".
Lilylu staunte nicht schlecht, als sie von der Afrikareise hörte. Gleichzeitig war sie enttäuscht, weil Utz so wenig, eigentlich gar nichts, über den Grund der Reise wusste.
" Hat dein Vater denn gar nichts gesagt?"
" Naja, es sei wegen einer Briefmarke, hat er behauptet. Aber das glaubt doch kein Mensch, dass jemand wegen einer Briefmarke eine so weite Reise macht."
" Vielleicht", Lilylu hob sehr gescheit den Zeigefinger, " wenn sie sehr wertvoll ist?"
" Eine sehr wertvolle Briefmarke kann man nicht einfach so holen. Da gibt es Zollbestimmungen, den Schutz von Sammlerzeugs und all so was.", erwiderte Utz altklug.
Denn der Vater hatte ihm dies und das erzählt. Eigentlich waren Briefmarken so ziemlich das Einzige, worüber der Vater mit Utz ungezwungen, manchmal sogar richtig begeistert, reden konnte. Und so hatte Utz, wenn er mit seinem Vater reden wollte, sich angewöhnt, ihn irgendwas über Briefmarken zu fragen und dabei allerhand erfahren.
Merkwürdig fanden Utz und Lilylu ebenfalls, dass der Vater und der Graf sich einfach so getroffen hatten. Nach zwanzig Jahren trifft man sich doch nicht so einfach ohne Grund! Was war das nur für ein Grund? Und - viel interessanter noch! - wie wurde man sich nach Jahren der Uneinigkeit plötzlich so schnell wieder einig?
Während Utz und Lilylu über diese Frage nachdachten, ertönte unten ein tiefer Glockenton.
Utz erläuterte: "Das ist der Essensgong. Wenn ich jetzt nicht ´runtergehe, steht gleich Irgendwer in der Tür und ..."
" Jaja, dann wird man mich sehen.", fiel ihm Lilylu ins Wort. Sie fand es langsam ganz schön lästig, sich immerfort verstecken zu müssen, wenn irgendwelche Menschen auftauchten. Und ausserdem ... etwas zu Essen hätte sie jetzt auch nicht schlecht gefunden. Seit diesem Frühstück bei Utz stellte sie sich gelegentlich vor, was alles für Leckereien sie vielleicht bisher verpasst hatte.
Sie brauchte nichts zu sagen. Utz sah ihr an, was sie dachte, und sagte beim Hinausgehen:
" Ich sehe mal zu, was sich machen lässt."
Seltsamerweise war es ausgerechnet der stille Werner, der Utz entschieden beistand, als dieser ankündigte, sein Essen mit nach oben nehmen zu wollen.
" Ich muss noch ziemlich viele Hausaufgaben machen und habe jetzt gar keinen Hunger. Aber nachher kriege ich bestimmt welchen.", hatte Utz gesagt. Und dabei hatte er gehofft, nicht allzu viele Erklärungen abgeben zu müssen.
" Aber Jungchen", erwiderte Helene, " das macht doch nichts. Dann kommst du eben nachher und ..."
" Nichts da!", war ihr Werner ins Wort gefallen. "Der Junge soll sich an die Zeiten halten. Denk dran, dass heute deine Lieblingsserie im Fernsehen kommt. Irgendwann hat jeder mal Feierabend."
Der Gedanke an die Lieblingsserie ließ Helene schon ein wenig an ihrem eigenen Angebot zweifeln. So beharrte sie nicht weiter, als Utz behauptete, es wäre schon alles in Ordnung und sie solle sich die Mühe nicht machen.
Ausgerüstet mit einem prall gefüllten Tablett kam Utz bei Lilylu an, die sich nicht genug tun konnte mit ihrer Begeisterung über solch ein reichhaltiges Essen. Während sie über den gefüllten Tisch spazierte, hier nach einem Eckchen Schwarzbrot griff und dort ein Stück von der Hähnchenbrust abriss, sagte sie schmatzend:
" Ich habe nachgedacht. Wenn dein Vater und der Graf ..."
" Onkel Ludwig!", warf Utz dazwischen.
" Wie auch immer. Wenn die beiden sich so schnell wieder verstanden haben, muss das daran liegen, dass sie sich für die gleiche Sache interessieren. Briefmarken können das nicht sein. Die sammelt dein Vater schon immer. Dann hätten sie sich bereits vor Jahren vertragen. Es ist doch komisch, dass sie sich ausgerechnet jetzt treffen. Ich meine, nachdem ich beim Grafen war."
" Onkel Ludwig.", sagte Utz.
" Nun hör schon auf!" Lilylu ging zu Utz´ Glas, kippte es stehend ein wenig an und nahm einen Schluck Orangensaft. Dann wischte sie sich den Mund ab.
" Und wenn es wirklich mit mir zu tun hat?", fragte sie dann.
Utz konnte ihrem Gedankengang nicht folgen. "Und was hat mein Vater mit dir zu tun?", wollte er wissen.
" Denk doch nach! Mit mir natürlich nichts. Aber was ist mit deiner Mutter? Was weißt du über sie? Wo kam sie her? Wo ist sie hin gegangen? Warum hast du nie mehr von ihr gehört? Warum hat sie dich nicht mit genommen, als sie weg ging? Mütter machen das sonst." Und, als sie sah, wie Utz´ Blick sich verdunkelte: "Jetzt hör schon auf, dich wie ein Baby zu benehmen. Denk einfach mal wirklich richtig nach." Und nach einem weiteren herzhaften Biss in ein Stück Hähnchenbrust: "Man sollte wirklich viel mehr essen ... äääh, nachdenken. Wie ist das nun mit deiner Mutter gewesen? Als sie deine Mutter war, muss sie groß gewesen sein. Aber irgendwann auch so klein wie ich. Und, genau genommen, hab ich das mit dem Fliegen erst probiert, seit ich ihr Bild sah. Und was ist mit den Möbeln im Kleiderschrank? Waren das ihre?"
Hätte Lilylu nicht nach einem Stück Käse gegriffen und, während sie es interessiert begutachtete, einen Moment lang geschwiegen, wäre Utz wohl nie mehr zu Wort gekommen. So fragte er:
" Du meinst also, das Thema zwischen den beiden sind Elfen? Warum aber gerade jetzt? Beim Grafen ..."
"Onkel Ludwig!", platzte Lilylu dazwischen und grinste mit vollen Backen.
" Beim Grafen", wiederholte Utz, " wissen wir, dass er durch dich auf das Thema gekommen ist. Was aber ist mit meinem Vater? Für ihn ist das kein aktuelles Thema. Meine Mutter ist schon seit Jahren weg."
" Naja,", meinte Lilylu, "darauf habe ich auch grad keine Antwort." Aber nach einem kurzen Zögern: "Aber vielleicht doch? Ist dein Vater nicht genau so traurig wie du? Du bist das wegen deiner Mutter. Und er? War er immer so? --- Also wenn ich eine Elfe wäre, ... naja, ich bin eine und weiss, wovon ich rede. Dann wäre mir dein Vater viel, viel zu traurig und zu langweilig. Der würde mich nicht interessieren. Nichts als Traurigkeit und Briefmarken ... Vielleicht war er ja früher anders?"
" Traurig bin ich auch. Hast du eben selbst gesagt. Trotzdem bist du hier."
Lilylus Wangen wurden noch röter, als sie es vom guten Essen schon waren.
" Kann schon sein.", meinte sie nach einer Weile, "aber bei dir ist da noch viel mehr als Briefmarken."
" Ja, ich weiss, hier gibt´s so gutes Essen.", grinste er.
" Du bist wirklich, wirklich richtig doof!", grinste Lilylu ebenfalls und biss in ein Stück frischen Paprika, dass es spritzte.
" Aber mal wieder ernsthaft.", fing Utz beim Zusammenräumen der Essensreste auf dem Tablett erneut an. " Nehmen wir also an, mein Vater und Onkel Ludwig interessieren sich beide für Elfen. Was wollen sie denn dann in Afrika? Sind sie überhaupt dort? Oder wo sind sie, wenn nicht da? Ich habe noch nie von Elfen in Afrika gehört. Aber wirklich nicht!"
" Wir wissen beide nicht genug über Elfen. Jawohl, ich auch nicht, obwohl ich eine bin. Vielleicht g i b t es Elfen in Afrika, aber es spricht keiner drüber? Hier gibt´s ja doch auch welche und keiner spricht drüber. Siehst du ja an mir! Ich kriege jeden Tag ein Brötchen vom Bäcker, aber ich habe ihn noch nie gesehen und er wahrscheinlich mich auch nicht. Trotzdem legt er´s mir hin. Und der Graf ...", sie zögerte einen Moment, aber Utz warf diesmal nicht "Onkel Ludwig" ein, " ... war zwar erstaunt, ist aber nicht gerade in Ohnmacht gefallen. Er hat an mich g e g l a u b t. Er wusste also, dass es so etwas wie mich gibt."
Utz, der gerade nichts zu sagen wusste, hatte das Gefühl, sie kamen gut voran.
" Weisst du was?", plapperte die Elfe plötzlich aufgeregt. " Wir sind doch hier beim Grafen. Lass uns in sein Zimmer gehen und in die Bücher schauen, die er mir gezeigt hat. Oder ist das abgeschlossen?"
Natürlich wurde in so einem Schloss nie etwas abgeschlossen. Jeder verliess sich auf das gute Benehmen der anderen. Manche Räume konnte man betreten und manche eben nicht. Malgorzata, die gelegentlich zu Utz kam, schon weil sie da sauber machte, klopfte immer erst an. Helene kam nie nach oben, weil sie Probleme mit dem Treppensteigen hatte, und Werner nur, wenn etwas zu reparieren war. Abends aber, das wußte Utz, chattete Malgorza mit ihrer Familie oder meistens ihrem Freund. So betrachtet, musste man mit niemandem rechnen, der feststellen konnte, ob man gutes Benehmen hatte oder nicht. Ausserdem: Es musste ja kein Zeichen von schlechtem Benehmen sein, wenn man nach einem Buch suchte ...
Utz kam sich ein wenig wie ein Einbrecher vor, als er über den Flur zum Zimmer des Grafen schlich. Lilylu fand das albern, wie er die Schultern einzog, um sich etwas kleiner zu machen. Als ob man so einen grossen Kerl übersehen könnte! Während sie neben ihm her flatterte, zischte sie ihm ins Ohr:
" Sei ganz entspannt! Wenn du dich so aufführst, weiss gleich jeder, dass du etwas Verbotenes vor hast. Schlimmer wäre es, wenn die Leute mich sehen. Du d a r f s t doch hier sein."
Natürlich hatte sie Recht. Utz streckte sich durch und bemühte sich, ganz normal zu laufen. Am Treppengeländer angekommen, warf er einen Blick nach unten, von wo man Helenes Fernseher hören konnte. Er sah einen schwachen Lichtschein von der Lampe am Eingang, die noch brannte. Aber sonst war da nichts.
Utz war noch nie im Zimmer des Grafen gewesen. Er drückte die schwere, geschwungene Messingklinke und konnte es nicht vermeiden, dass das Schloss, wenn auch nur leise, quietschte. Wieder sah er sich um, und natürlich war da noch immer niemand anders als Lilylu und er selbst. Schnell schlüpften sie durch die spaltbreit geöffnete Tür und Utz bemühte sich, die Tür ohne Quietschen zu schliessen, was nicht ganz gelang, während Lilylu bereits zielgerichtet zu dem grossen Bücherregal schwirrte. Erst jetzt wurde ihnen klar, dass es inzwischen draussen dunkel geworden war. Durch die breite Fensterfront kam bestenfalls ein Hauch von Licht, der es jedoch nicht erlaubte, irgendwelche Buchtitel zu lesen.
" Wir hätten eine Taschenlampe mitnehmen sollen.", bedauerte Utz.
" Hast du eine?", fragte Lilylu.
" Zu Hause; hier natürlich nicht."
" Siehst du. Wir machen einfach das Licht an."
Utz zeigte nach oben zum Kronleuchter.
" D a s etwas?", denn so viel immerhin hatte er sehen können. " Da kannst du gleich unten Bescheid sagen, dass wir hier sind."
Lilylu, die inzwischen auf dem Schreibtisch gelandet war, antwortete:
" Nein, aber das hier." Sie zeigte auf die kleine Schreibtischlampe, die - wie sie vom Besuch beim Grafen wusste - nur einen schmalen Lichtkegel warf.
Utz betätigte den Schalter. Und wirklich warf die Lampe nur ein schwaches Licht, das den übrigen Raum kaum erhellte. Es reichte aus für Lilylu, die wusste, wonach sie suchte.
" Hier," zeigte sie mit dem Finger auf ein Buch in der Reihe, "nimm das."
Er zog das Buch heraus, nahm es mit zum Schreibtisch. Auf der ersten Seite stand: "Die Geschichte der Grafen zu Erdbach ist untrennbar verbunden mit dem Elfengeschlecht zu Erdbach ..."
Die Elfe zappelte ungeduldig.
" Nun blätter´ schon weiter!" Sie interessierte sich mehr für die Bilder. Jetzt, da sie andere Elfen getroffen hatte (oder war es nur ein Traum?), hoffte sie, jemanden wieder zu erkennen.
Beide beugten sich über das Buch. Beide gingen näher heran, um besser sehen zu können. Beide berührten sie das Buch, als würden sie so besser sehen können. Und ... beide erschraken fürchterlich, weil es draussen einen lauten Donnerschlag gab, dicht gefolgt von einem Blitz, der unmittelbar neben dem Fenster einzuschlagen schien.
Sie stürzten zum Fenster, vor dem es stürmte und erneut Donner und Blitz einander in kurzen Abständen folgten.
Utz wunderte sich:
" Hast du etwas gehört?"
" Blöde Frage! Natürlich. Es blitzt und donnert."
" Erst einmal h ö r t man Blitze nicht. Und zweitens meinte ich, ob du vorher etwas gehört hast."
" Wie: vorher?" Lilylu verstand nicht.
" Gewitter kommen irgendwo her. Das kann man hören. Aber da war nichts."
Utz hatte Recht. Lilylu hätte sich gewundert über seine Klugheit, wäre da nicht ...
... eine Stimme im Hintergrund gewesen, die - genau so grillenzart wie Lilylus - sagte:
" Ein ziemlich gescheiter Junge, den du her gebracht hast, Lilylu. Er könnte einer von uns sein."
Erschrocken drehten sich beide um, konnten jedoch zunächst nichts sehen. Trotzdem antwortete Lilylu aufs Geradewohl:
" Nicht ich habe i h n her gebracht, sondern er mich." Suchend sah sie sich um, bis sie Babelu in den Buchreihen entdeckt hatte, wo er genau an der Stelle sass, an der das Elfenbuch nun fehlte.
Sie flog zu ihm hin.
" Und vielleicht i s t er ja einer von uns. Das gerade versuchen wir ja heraus zu finden."
Utz, der die Geschehnisse mit erstaunt geöffnetem Mund beobachtet hatte, trat näher heran.
" Das ist Babelu.", erklärte die Elfe dem Jungen, der nur kurz nickte und sich selbst mit "Utz." vorstelllte.
" Weisst du,", fragte er den Elf, "was da draussen los ist?" Er wies mit dem Arm in Richtung Fenster. Alle drei schauten hinaus und sahen, wie sich die Bäume unter dem Sturm bogen.
Babelu nickte und flog auf in Richtung Fenster, wohin ihm die beiden folgten.
" Das passiert, wenn sich Menschen- und Elfenwelt begegnen."
Der Junge dachte kurz nach, schüttelte dann den Kopf und meinte:
" Dann müsste ja, seit Lilylu und ich uns kennen, Dauergewitter sein."
Babelu drehte sich in seine Richtung:
" Du verstehst nicht. Lilylu lebt in der Menschenwelt. Das Buch," er zeigte zum Schreibtisch," ist das Tor zur Elfenwelt ... wenn eine Elfe dabei ist."
Nun war es an Lilylu, den Kopf zu schütteln.
" Aber ich habe doch schon zusammen mit dem Grafen hinein gesehen."
" Wirklich zusammen?"
Lilylu versuchte sich zu erinnern. Tatsächlich, wurde ihr klar, hatte der Graf das Buch zu ihr herum gedreht, weil sie sich nicht so nahe an ihn heran traute.
Babelu nickte wissend.
" Siehst du? Das Buch weiss, ob Elfe und Mensch einander vertrauen."
" Aber das Tor," fragte Utz, " wo i s t denn nun das Tor zur Elfenwelt?"
Das fragte sich auch Malgorza, die - im Lärm von Donner und Sturm unbemerkt - eingetreten war und zugehört hatte. Sie hatte das Tablett aus Utz´ Zimmer holen wollen und sich auf die Suche nach ihm begeben, als sie ihn dort nicht fand. Nun stand sie hier, ein paar Meter von den Dreien entfernt, und beobachtete die Geschehnisse mehr als verwundert.
" Das Tor ist überall, wo eine Elfe und ein Mensch sich absichtlich berühren."
Es war, als hätte Babelu eine Einladung ausgesprochen. Und so brauchten Lilylu und Utz keine grossen Worte, als sie sich die Hände zum sportlichen Abschlag entgegen hielten. Malgorza, die die Sache hatte kommen sehen, war herangetreten und wollte Utz noch festhalten. Aber es war zu spät: Nachdem sie einen grünleuchtenden Tunnel durchquert und einen mächtigen Wind um sich herum gespürt hatten, fanden sie sich unter einer freundlich warmen Sonne auf einer mit Blumen übersäten Wiese wieder. Sie alle waren durch den Sturm auf den Po gefallen: Lilylu, Utz, Babelu und ... Malgorza.
Die drei schüttelten ihre von der windigen Reise durcheinander geratenen Knochen zurecht. Dann bemerkten sie Malgorza und fragten wie aus einem Munde:
" Wie kommst d u denn her?"
" Dumme Frrrage! Genau so wie ihrrr. Ich wollte ihn," sie wies auf Utz, "festhalten."
Babelu wusste die Erklärung.
" Wenn er," auch Babelu wies nun auf Utz, "kein Vertrauen zu dir hätte, hätte das nicht funktioniert."
Wie es schien, drehte sich in der Elfenwelt vieles um Vertrauen.
" Ich heisse Malgorzata.", sagte das Zimmermädchen, das einen kurzen Moment lang überlegte, ob man Elfen die Hand schütteln soll.
" Malgorza.", schob Utz hinterher, der wusste, wie schwer sich manche mit diesem Namen taten.
" Hallo, ich bin Babelu.", sagte Babelu und lächelte freundlich.
Lilylu, die sich die Entdeckung ihrer Welt zusammen mit Utz ein wenig anders vorgestellt hatte, nickte kaum sichtbar und sehr hoheitsvoll, ohne ein Wort zu sagen. Was tat dieses komische Mädchen wie eine Lebensretterin?! Anscheinend wusste sie sehr wenig von Utz. Ansonsten hätte sie ihn nicht davon abhalten wollen, in die Elfenwelt zu gehen.
" Lilylu freut sich auch, dich kennen zu lernen.", meinte Babelu spöttisch, "Sie kann das nur nicht so zeigen.", schickte er mit einem frechen Grinsen hinterher.
Lilylu warf ihm einen wütenden Blick zu. Und vielleicht ... wäre ihr auch noch irgendeine nicht weniger freche Bemerkung eingefallen, wenn nicht gerade eben wieder ein starker Sturm aufgekommen wäre gefolgt von etwas, das eine Spur der Verwüstung um sie herum hinterliess. Es war, als wäre jemand, den man nicht sehen konnte, im Kreis um die Vier herum gesaust und hätte all die schönen Blumen und Grashalme mit Macht umgegraben. Zurück blieb nurmehr aufgewirbelte Erde, aus der hier und da ein geknickter Halm oder eine abgebrochene Blüte heraus schaute.
Es war ein Bild des Elends. Besonders die Tatsache, dass sie bei genauerem Hinsehen auch getötete Regenwürmer und Schmetterlinge mit zerstörten Flügeln fand, bewegte Lilylu sehr.
Utz hingegen hatte gemeint, in der Elfenwelt sei alles nur schön und sanft und konnte nicht verstehen, was um ihn herum passiert war.
Malgorza war die Einzige, die zu all dem Worte fand.
" Naaanuuu? Was ist denn hierrr passierrrt?", sagte sie und schüttelte den Kopf, um ihre aufgewirbelten Haare wieder zu richten.
Nur Babelu schaute zwar ebenso erschrocken wie die anderen , nicht jedoch erstaunt in die Runde.
" Es wird allerhöchste Zeit, etwas zu unternehmen.", stellte er entschlossen fest. Und damit wurde klar, dass er solch eine Sache nicht zum ersten Mal erlebte.
" Du hast das schon einmal gesehen?", fragte Lilylu.
" Das passiert dauernd, schon seit einer ziemlich langen Zeit. Wir haben ständig damit zu tun, alles wieder in Ordnung zu bringen. Aber das ist nicht das einzige Problem. Die Elfen fangen an, sich zu streiten. Sie sind unzufrieden und manche sogar richtig böse. Unsere Welt ist nicht mehr das, was sie einst war."
" Aber wer m a c h t denn das?"
" Das sind die Gorgetts."
" Wer?". Es war, als hätten Lilylu, Utz und Malgorza das gleichzeitig gefragt. Keiner von ihnen hatte je von den Gorgetts gehört.
" Die GORGETTS!" Babelu klang ziemlich ungeduldig, als müsste jeder diese seltsamen Wesen kennen, von denen man in der Menschenwelt in Wahrheit noch nie gehört hatte.
Malgorza fand als erste Worte:
" Du kannst es noch zehn mal sagen", stellte sie fest, "trotzdem wissen wir nicht, werrr oder was die Gorrrgetts sind."
Babelu schlug sich mit der Hand vor den Kopf.
" Natürlich nicht. Aber hier sind sie so allgegenwärtig, dass ich einen Moment lang meinte, jeder müsse sie kennen." Er holte tief Luft und begann zu erklären.
" Die Gorgetts sind ein Volk weit jenseits der Berge. " Er wedelte ein paar Mal mit dem Arm, als er dieses "weit" sagte, was wohl eine sehr grosse Entfernung beschreiben sollte. "Ihr Menschen würdet sie Trolle nennen. Aber in Wahrheit sind sie viel böser noch als Trolle. Wir kannten sie früher nur aus Erzählungen. Denn es war ihnen nicht möglich, die Grenze zum Elfenreich zu überwinden. Doch irgendwie mussten sie es geschafft haben. Wir haben also eine Abordnung an die Grenze zu den Gorgetts geschickt, um das Loch zu finden. Aber da war nicht ein einziger von ihnen. Ganz sicher waren sie nicht über diesen Weg gekommen. Schliesslich begriff einer von unseren Alten, dass sie einen Weg in die Welt der Menschen gefunden hatten. Und von da aus war es ein Kinderspiel, hier her zu kommen."
Ohne zu überlegen behauptete Lilylu:
" So ein Unsinn! Ich habe nie einen g e s e h e n!"
" Hast du eben einen gesehen?", fragte Babelu." Sobald sie ihr Land verlassen, werden sie unsichtbar. Gesehen hat sie noch keiner, der nicht im Gorgett-Land war. Aber man kann es erkennen, dass sie d a sind: Es passieren seltsame, böse Dinge."
" Und was habt ihrrr getan?" Malgorzas Frage klang wie ein Vorwurf.
Nachdem der Sturm so überhaupt nicht aufhören wollte, fing Werner an, sich ein wenig Gedanken zu machen. Er rüttelte zunächst an der Haustür, die aber ordnungsgemäss von innen abgeschlossen war. Der Schlüssel steckte noch. Dann ging er durch alle Räume. Zuerst in die Küche, wo Hund ihn bereits aufgeregt empfing und von da ab keinen Schritt mehr von seiner Seite wich. Dann klopfte er leise an Helenes Zimmer, aus dem er lautstark den Fernseher rauschen hörte. Offenbar war durch den Sturm das Programm unterbrochen, was aber Helene nicht störte, die in ihrem Sessel eingeschlafen war. Werner deckte sie fürsorglich zu, machte den Fernseher aus und schloss leise die Tür. Auch aus Malgorzas Zimmer schien noch Licht, aber auch hier reagierte niemand auf sein Klopfen. Werner öffnete leise die Tür und fand ein leeres Zimmer vor, was ihn sehr wunderte. Wo konnte das Mädchen um diese Zeit sein?
Er wurde unruhig, als er - einer Eingebung folgend - zu Utz ging und auch dort niemanden fand. Was heckten die Kinder nur aus? Bei seiner Suche nach den beiden sah er sehr schnell den schwachen Lichtstreif unter der Tür des Arbeitszimmers vom Grafen. Verärgert drückte er die quietschende Klinke nieder und wollte schon lautstark zu schimpfen anfangen, aber viel schneller als er war Hund im Zimmer und bellte laut und wütend. Wobei nicht klar war, was eigentlich Hund anbellte. An der Stelle, wo er stand und den Kopf aufrecht in die Luft streckte, als stünde dort ein Feind, war ... nichts. Übrigens war im ganzen Zimmer niemand, obwohl man erkennen konnte, dass noch vor kurzem jemand hier gewesen war. Die kleine Tischlampe brannte noch und daneben lag ein aufgeschlagenes Buch. Alles sah sehr nach raschem Aufbruch auf.
Aber wohin waren die beiden gegangen. Und, vor allem, wie? Dass Utz und Malgorza hier gewesen waren, schien für Werner klar wie nur was. Wer auch sonst hätte das Licht angemacht und das Buch aufgeschlagen haben können?
Werner schaute hinein und sah bunte Bilder von zarten Elfen. Was sollte das? Hatten sie den Sturm zum Anlass genommen, sich Märchen zu erzählen? Und, wenn das so war, warum hatten sie so plötzlich damit aufgehört?
Werner ging durch´s ganze Schloss, was ein hübsches Stück Arbeit war, am Ende sogar in den Keller. Aber da war niemand im Haus als er und die schlafende Helene, die er schliesslich weckte.
" Wach auf, Helene." flüsterte er zunächst, wurde dann aber lauter und musste sie sogar sogar schütteln. "Die Kinder sind weg."
" Welche Kinder? Unsere Kinder wohnen doch schon lange nicht mehr zu Hause.", sagte sie, verschlafen, wie sie noch war, und errötete sogleich. Einstmals hatte sie von Ehe und eigenen Kindern geträumt, war dann aber beim Grafen gelandet. Und einstmals, als sie beide noch sehr viel jünger waren, hatte sie auch von Kindern mit Werner geträumt, der sich jedoch nicht für Frauen zu interessieren schien.
Es war ihr peinlich, bei diesem Gedanken von Werner ertappt zu werden. Der aber, so mit dem aktuellen Problem beschäftigt, dachte nicht weiter über ihre Bemerkung nach.
" Bist du jetzt wach?", fragte er nur.
" Welche Kinder?", fragte Helene nun noch einmal. " Wir haben doch nur eins im Haus. Und was ist mit dem Hund? Warum bellt er unentwegt? Das tut er doch sonst nicht. Ist etwas passiert?"
" Nunja, wenn Malgorzata nicht noch ein Kind ist ... Keine Ahnung, was der Hund hat. Wenn man einmal davon absieht, dass beide weg sind. "
" Vielleicht machen sie noch einen Spaziergang?"
Ganz entschieden war Helene noch nicht ganz munter.
" Hast du mal nach draussen gesehen?", fragte Werner und zeigte aus dem Fenster. " Nicht gerade Wetter für einen Spaziergang. Davon abgesehen sind alle Türen verschlossen. Von innen. Ich hab´s nachgeprüft. Ich wüsste nicht, wie sie da raus gekommen sein sollten. Auch die Fenster waren zu, alle. Es wäre auch ganz schön blöd, aus dem Fenster zu steigen, wenn es Türen gibt."
" Ach, was. Vielleicht wollen sie uns einen Streich spielen und haben sich nur irgendwo versteckt. Genug Plätze zum Verstecken gibt es hier ja."
Sicherlich konnte Werner nicht ausschliessen, dass die Kinder doch irgendwo im Schloss versteckt waren. Aber warum sollten sie einen solchen Blödsinn tun? Nicht einmal Malgorza war noch so kindisch, dass sie sich bewusst versteckt hätte.
Werner hatte eine letzte Idee, die er, die Treppe erneut besteigend, immer besser fand. Oben in Utz´ Zimmer angekommen, hielt er Hund eines von dessen Karohemden unter die Nase und sagte: " Such den Jungen! Such das Herrchen!"
Der Hund schien ganz genau zu wissen, was man vom ihm verlangte. Er rannte los und kratzte schliesslich an der Tür zum gräflichen Arbeitszimmer, wo er - nachdem Werner die Tür geöffnet hatte - erneut ganz aufgeregt zu bellen anfing. Noch immer war da nichts. Und Werner mochte auch nicht an Geschichten von alten Schlössern glauben, in denen es hinter Bücherregalen versteckte Geheimgänge gab. Er kannte das Schloss, das so alt auch noch nicht war, sehr genau und wusste, dass an die Wände dieses Arbeitszimmers nichts anderes als andere Wände anschlossen. Es gab keinen Platz für geheime Gänge, wenigstens nicht hier. Trotzdem musste der Schlüssel für die merkwürdigen Geschehnisse hier zu finden sein. Er ging nochmals zum Schreibtisch, wo noch immer das aufgeschlagene Buch lag, und blätterte zu dessen Anfang zurück. Das Buch war erschienen im Jahr 1786 in einer Auflage von nur zwanzig Stück, gedruckt von der Gräflichen Druckerei. Es begann mit:
" Die Geschichte der Grafen zu Erdbach ist untrennbar verbunden mit dem Elfengeschlecht zu Erdbach." und klang gar nicht wie ein Märchenbuch. Vielmehr sprach die geringe Zahl der Drucke dafür, dass damals nur sehr wenige, ausgewählte Personen das Buch lesen konnten und sollten. Recht betrachtet, reichte die Anzahl der gedruckten Exemplare gerade einmal für die Grafenfamilie selbst.
Werner wurde nun sehr unruhig und hatte das Gefühl, es sei höchste Zeit, den Grafen über die Ereignisse zu informieren.
" Ich finde, du übertreibst." Helene verstand Werners Aufregung nicht ganz. Natürlich war es merkwürdig und inzwischen auch ärgerlich, dass die Kinder nicht zu finden waren. Aber deshalb gleich den Grafen in ein paar tausend Kilometer Entfernung verrückt machen? Vermutlich gäbe das Ärger.
" Wahrscheinlich wollten die Kinder nur einen Scherz machen und sind dabei in irgendeinem Schrank eingeschlafen. Du hast nur nicht richtig nachgesehen."
Natürlich, das war Werner klar, konnte er noch unter sämtlichen Betten und in allen Schränken des Hauses nachsehen. Aber er mochte nicht an so viel Dummheit bei den Kindern glauben. Im Grunde waren sie ja doch beide ziemlich vernünftig. Zudem war da noch der Hund, der lediglich im leeren Arbeitszimmer angeschlagen hatte, statt irgendwo hin zu gehen und die Kinder zu finden.
" Du kannst reden, was du willst", antworte er deshalb, setzte sich an den Computer und schrieb dem Grafen eine e-Mail.
Graf Ludwig, der in diesen Tagen merkte, dass die Knochen alt werden, auch wenn man im Kopf jung bleibt, streckte sich stöhnend auf seinem Hotelbett aus.
" Hoffentlich meldet sich bald der Reiseführer. Mir tut zwar jetzt schon alles weh. Aber ich bin auch froh, wenn wir angekommen sind."
Der Cousin, der bereits schlaffertig in seinem Bett lag, legte sein Briefmarkenbuch beiseite und meinte:
" Du weisst doch, dass hier nicht alles so einfach geht. Er muss erst ein Flugzeug organisieren, dann ein Fahrzeug. Und wahrscheinlich kommen wir auch mit dem Auto nicht bis ganz hin. Kannst du noch reiten? Bei mir ist das Jahrzehnte her, dass ich das letzte Mal auf einem Pferd sass."
" Du hast ja recht. Aber ich frage mich, ob er mit den Banden nicht übertrieben hat. Vielleicht wollte er nur etwas mehr Geld ´rausschinden?"
Utz´ Vater zuckte die Schultern.
" Jedenfalls wissen wir in Europa viel zu wenig von all dem, was hier so passiert. Da vertraut man besser jemandem, der hier lebt. Vermutlich müssen wir froh sein, überhaupt jemanden gefunden zu haben, der uns hin bringen will. Erinnere dich an den Hotelmanager, wie der geschaut hat, als wir ihm sagten, wohin wir wollen. Er schien uns für verrückt zu halten. Anscheinend hält er auch unseren Reiseführer für verrückt, weil der es wirklich machen will."
Ludwig stattdessen erinnerte sich an die Begegnung mit dem Reiseführer in der Hotellobby. Der hätte gut einem von diesen Abenteuerfilmen entstiegen sein können. Unrasiert, verschwitzt und auch etwas dreckig betrat er mit einem heruntergebrannten Zigarrenstummel in der Hand die Lobby und kam zielsicher auf sie beide zu. Nachdem er gehört hatte, wohin sie wollten, hob er missbilligend die Brauen und fragte, ob sie sich das auch gut überlegt hätten. Dann schilderte er alle möglichen Gefahren, die auf sie warten könnten und fragte sogar, ob sie in der Lage seien, ein Lösegeld zu bezahlen, wenn sie entführt würden.
" Die Stämme in den Bergen rauben und entführen nicht, weil sie Verbrecher sind, sondern weil sie arm sind. Sie wollen also keine Millionenbeträge. Aber sie sind auch nicht so blöd, sich mit ein paar Dollar abspeisen zu lassen. Besonders dann nicht, wenn jemand so wie Sie", er wies auf Ludwig in seinem am Flughafen neu erstandenen hellen Safarianzug, "so offenkundig reich aussieht. Tun Sie sich selbst den Gefallen und kaufen Sie sich etwas anderes. Hier", er schob eine Karte über den Tisch, "gibt´s vernünftige gebrauchte Klamotten. Und gehen Sie ein bisschen in die Sonne. Sonnencreme nicht vergessen! Allerdings nicht mit Lichtschutzfaktor 100. Sie sollen b r a u n werden und nicht blass oder rot. Ja, und hören Sie mit der Rasiererei auf. Spätestens wenn wir unterwegs sind, werden sie merken, dass man das Wasser t r a g e n muss, wenn man welches haben will. Körperpflege ist dann Luxus."
In diesem Moment hatte sich Ludwig gefragt, ob es richtig war, was sie da taten. Tatsächlich hatte er sich eine angenehme Reise in die Sonne vorgestellt und die Grösse und Trockenheit Afrikas unterschätzt. Als Europäer konnte man sich wahrlich kaum vorstellen,
dass es auf diesem Planeten Flecken gab, die zu bereisen noch ein Abenteuer war.
Während er noch grübelte, ob es gut gewesen war, dem Cousin diese Reise vorzuschlagen, machte es am offen stehenden Laptop leise "Pling". Er hatte eine Nachricht.
" Wir haben allerhand getan.", meinte Babelu, der fand, dass so ein Menschenkind nicht das Recht hatte, irgendwie vorwurfsvoll zu sein. "Zunächst einmal sind wir alle zurück ins Elfenreich gegangen. Und dann haben wir unsere Grenze verschlossen."
"Na, prrrima! Und die Menschen mit dieser Sache allein gelassen..."
" So weit ich sehen kann, kommen die Menschen damit ganz gut klar. So sehr, dass sie sich nicht einmal fragen, was mit ihrer Welt los ist."
Leider, so musste Malgorza zugeben, hatte der Elf recht. Die Menschen waren offenbar sehr anpassungsfähige Wesen. Sie sahen, wie schlimme Dinge in ihrer Welt geschahen, waren eine Zeit lang traurig und machten dann genau so weiter wie zuvor. Sie sagten so Sachen wie: "Man kann ja doch nichts tun." oder "Das ist halt Schicksal." oder auch "Diese Dinge passieren eben." Aber sie unternahmen nichts, ja, fragten sich nicht einmal, ob "solche Dinge" wirklich passieren mussten. Und meistens, so fiel Malgorza jetzt auf, glaubten sie, an den Sachen selbst Schuld zu sein, weswegen sie nur ungern lange darüber nachdachten. Einer von ihnen, den Menschen, hatte Mist gebaut. Das war nun einmal so. Menschen machten Fehler.
Jetzt stellte sie sich die Frage, was von den üblen Dingen in der Welt tatsächlich die Menschen verursachten und was die Gorgetts.
Utz jedoch, der das alles zwar sehr interessant fand, begann sich zu fragen, was seine Mutter mit dieser ganzen Geschichte zu tun hatte. Und er fragte sich auch, was es mit Lilylu auf sich hatte. Hatte man sie in der Menschenwelt vergessen?
Das fragte sich auch Lilylu. Sie mochte nicht an ein Volk glauben, das sie einfach so im Stich liess, ganz allein.
" Ich kann das alles nicht so gut erklären.", meinte Babelu mit einem Seitenblick auf die jetzt sehr, sehr traurig aussehende Lilylu. "Ich bringe euch zu unseren Ältesten. Die wissen besser Bescheid."
Er flatterte voraus und wies Lilylu hier auf eine Blume, dort auf eine farbenprächtige Libelle hin, damit ihr traurig-beschwerliches Flattern hinter ihm her ein bisschen besser gehen mochte. Und wirklich begann Lilylu, nachdem sie den von den Gorgetts verwüsteten Kreis hinter sich gelassen hatten, Gefallen an ihrer Welt zu finden. Lilylu auch war es, die aus den Augenwinkeln heraus immer öfter ein grünglitzerndes Flattern von Elfenflügeln hinter Zweigen und Büschen wahrnahm. Da waren andere Elfen, die sehr vorsichtig nachschauten, was denn diese fremde Elfe und die Menschen hier taten. Utz und Malgorza, die nichts von all dem zu bemerken schienen, konnten sich nicht genug tun, die Vielzahl der bunten Blumen und freundlich murmelnden Bachläufe zu bewundern, an denen sie vorbei kamen. Alles war von einer sanften Vielfalt und Farbenpracht.
Schliesslich liessen sie den Birkenwald, durch den sie gegangen waren, hinter sich und betraten eine Lichtung, die vom Wald umrahmt war. Hier steckte Babelu Daumen und Zeigefinger in den Mund, rollte seine winzige Zunge nach hinten und gab einen erstaunlich lauten Pfiff von sich.
Das war offenbar das Signal für all die Elfen, die sie bereits vorher heimlich umschwirrt hatten, nun offen hervor zu kommen und sich einen Platz in der Nähe eines morschen Baumstumpfes zu suchen, der sich in der Mitte der Wiese befand. Beim Nähertreten sahen die Ankömmlinge, dass aus einem Loch im Baumstumpf ein paar sichtlich alte Elfen kamen und an einem Tisch, der dort stand, Platz nahmen. Einer von ihnen, mit einem komisch hohen, spitzen Hut und grauem, langen Bart stand vor dem Tisch und erwartete sie.
Der Moment hatte etwas Feierliches, wenigstens für Lilylu, die nun zum ersten Mal ihrem Volk gegenüber trat. Und wirklich war es zuerst Lilylu, die der alte Elf ansprach.
" Komm her, mein Kind. Es ist gut, dass du wieder bei uns bist."
Sanft landete Lilylu neben ihm und liess sich umarmen.
" Und auch ihr Menschen", sagte er dann in Utz´ und Malgorzas Richtung, "seid herzlich willkommen! Setzt euch, damit ich besser mit euch reden kann."
Woraufhin sich die beiden auf die Wiese direkt vor dem Baumstumpf setzten und sich so in ungefährer Augenhöhe des Ältesten befanden.
" Viel Zeit ist vergangen, seit ich zum letzten Mal einen Menschen sah. Ich fürchtete schon, der Kontakt zu den Menschen würde ganz abbrechen müssen. Denn wir mögen sie, weil sie uns so unähnlich nicht sind. Von kindlichem Gemüt und immer an Neuem interessiert, haben sie viel mit uns gemeinsam." Er nahm Lilylus Hand, die er die ganze Zeit über gehalten hatte, hob sie hoch, dass sie aussah wie eine Siegerin am Ziel und sprach weiter. "Nur diesem Kind hier haben wir es zu verdanken, dass der Kontakt nicht abgebrochen ist." Ein Murmeln ging durch die Elfenreihen.
" Mit unglaublichem Mut hat sie sich, ganz allein, den Merkwürdigkeiten einer von Gorgetts verseuchten Menschenwelt gestellt."
Die Lichtung war erfüllt von einem Geräusch, das nach schwirrenden Flügeln klang, obwohl alle Elfen im Gras sassen. Erst nach genauem Hinschauen erkannte Utz, dass dieses Geräusch der Widerhall des wilden Händeklatschens der Elfen rundum war.
" Obwohl", sprach der Älteste weiter, " sie ihren Auftrag nicht kannte, sich nicht einmal an ihre Heimatwelt erinnern durfte, hat sie ihr reines Herz bewahrt und damit den Kontakt ermöglicht."
Offenbar war dies zu viel der Aufregung, als dass die Elfen auf der Wiese auf ihren Plätzen hätten bleiben können. Fast alle flatterten auf, klatschten in die kleinen Hände und einige von ihnen taten das, wovon Lilylu vor Tagen bereits geträumt hatte. Sie kamen näher. streichelten ihr Kopf, Arme und Schultern und manche umarmten sie sogar. Der Älteste war zurück getreten und liess der Begeisterung seines Volkes ihren Lauf.
Erst als sich nach ein paar Minuten das Treiben noch immer nicht beruhigt hatte, hob er beide Arme über seinen Kopf, überkreuzte sie wie um einen Schlussstrich zu ziehen. Und wirklich liessen die Elfen nun von Lilylu ab.
" Das ist erst der Anfang.", sagte der Älteste. "Noch immer wissen wir nicht, wie den Gorgetts beizukommen ist. Wir sind ein im Grunde schwaches Volk, das neben ein paar besonderen Fähigkeiten nichts anderes als seine Neugier und Liebe hat. Mit Hilfe dieser Menschen", er wies auf Utz und Malgorza, "hoffe ich, dass wir einen Weg finden werden, den Gorgetts Einhalt zu gebieten."
Malgorzata, die sich plötzlich erinnerte, dass sie - eigentlich - schon erwachsen war, fragte sich mittlerweile, ob sie nicht vor dem Computer einfach eingeschlafen war. All das konnte doch nicht wirklich geschehen! Und selbst wenn es so war, schalt sie sich, war das doch ein ganz typischer Kindertraum. Heimlich kniff sie sich in den Arm, was im Traum nicht hätte weh tun dürfen. Aber es t a t weh. Und so schlussfolgerte sie, dass dies, leider, kein Traum war und fragte sich, was wohl all diese Elfen rundum von ihr und Utz erwarten mochten. Sie waren doch nur ganz gewöhnliche Menschen.
In Erwartung einer Nachricht des Reiseführers öffnete Ludwig, neben dem Tisch stehend, das Mail-Postfach. Bereits der Blick auf den Absender der Mail sorgte jedoch für eine Überraschung. Werner, so wusste der Graf, würde nur im äussersten Notfall schreiben. Nur, wenn es ein Problem gab, für das er die Verantwortung nicht allein übernehmen konnte. Und solche Probleme gab es nicht viele. Der Graf setzte sich und las.
" Wir müssen die Sache abblasen.", meinte er, am Ende der Mail angekommen.
" Die Kinder sind verschwunden." Und dann erzählte er seinem Cousin, was Werner von den Geschehnissen berichtet hatte.
Utz´ Vater, der sein Buch beiseite gelegt und sich im Bett aufgerichtet hatte, stand nun ganz auf, ging ein paar Mal nachdenklich hin und her und antwortete dann:
" Ich glaube, es wäre verkehrt, zurück zu fahren. Wir können dort nichts ausrichten. Aber vielleicht hier."
Beinahe schien es, als würde das alte Unverständnis zwischen ihnen wieder aufkommen.
" Wie kannst du so etwas glauben? Es ist d e i n Sohn, der verschwunden ist! Ich sollte Werner benachrichtigen, dass er die Polizei einschaltet."
" Ja, verstehst du denn nicht?", war die Antwort." Es geht los."
Hätte Ludwig nicht eine solch gute gräfliche Erziehung gehabt, wäre ihm sehr nach einer Antwort wie "Jaja, in deinem Kopf geht´s jetzt los." oder etwas Ähnlichem gewesen. Stattdessen schüttelte er nur unverständig den Kopf.
" W a s geht jetzt los?"
Der Cousin griff nach seinem Bademantel. Er hatte das Gefühl, die Geschichte im Schlafanzug zu erzählen, wäre irgendwie nicht richtig. Dann setzte er sich zu Ludwig an den Tisch, öffnete die dort stehende Weinflasche, goss etwas davon in zwei Gläser ein. Eines davon schob er auf die andere Seite des Tisches. Schliesslich gab es nichts mehr, was er hätte tun können. So begann er also:
" Erinnerst du dich? Damals, als wir noch Kinder waren ... nunja, du warst keines mehr, aber hin und wieder bei Zusammenkünften hast du auf uns alle aufgepasst ..."
Ungeduldig fuhr Ludwig dazwischen: "Was - um Himmels Willen! - hat das jetzt mit deinem Sohn zu tun?!"
" Weisst du noch, dass ihr mich öfters suchen musstet?"
" Aber natürlich weiss ich das! Du warst ein nerviger, kleiner Bengel. Bloss ..."
" Damals hat alles angefangen ..."
Am Ende der Erzählung war die Weinflasche leer. Der nun ruhig gewordene Ludwig schüttelte nur immer wieder ungläubig den Kopf.
" Ich glaub das nicht.", murmelte er ein paar Mal vor sich hin. Aber es war klar, dass sein Cousin vielleicht merkwürdig, aber nicht verrückt war.
" Du hast ...? Du warst ...?"
" Ja, ich habe... und ich war..."
Es schien, als wären diese Dinge gar zu merkwürdig, um sie noch ein weiteres Mal auszusprechen.
(Fortsetzung folgt ...)
Texte: Design © NoXxLynXx
Tag der Veröffentlichung: 12.08.2008
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