Ich fühle mich einsam, mitten unter all den netten Leuten.
Sie sagen "Grüß Gott!" und haben jederzeit ein paar freundlich-unverbindliche Worte parat, auf die ich selten etwas Passendes zu erwidern weiß. Sie holen ihr Lächeln hervor wie ein Taschentuch und können es ebenso schnell wieder weg stecken. Ich fühle mich dem nicht gewachsen. (Ich beherrsche nicht die einfachsten Spielregeln.) Und bin doch so bemüht, mich einzufügen.
Aber ich habe diese Art Freundlichkeit nicht gelernt. Ich habe gelernt, dass man sich die Leute ansehen muss, mit denen man umgeht, und dass Vorsicht die Mutter der Porzellankiste ist. Mir wurde zwar gesagt, dass man es mit Freundlichkeit weit bringen kann, aber auch, dass andere Sachen einen weiter bringen. Schon möglich, dass ich da was Falsches gelernt habe.
Jedenfalls beginne ich zu glauben, dass manches falsch war von dem, was ich früher für richtig hielt. Damals war es allemal einfacher, die Grenzen klar gezogen. Ich war freundlich zu den Menschen, die ich mochte (Da fiel es mir nicht schwer.) und habe allen Ernstes geglaubt, mehr wäre nicht von Nöten. Im übrigen erlaubte ich mir die Freiheit, entweder sachlich zu sein (man muss seine Nachbarn und Kollegen ja nicht unbedingt mögen) oder aber mich meiner Haut zu wehren.
Jetzt jedoch muss ich erleben, dass mein gewinnendes Auftreten (über das ich nicht verfüge) urplötzlich zum Mass aller Dinge wird. Dabei will ich gar nicht gewinnen, wenigstens nicht durch mein Auftreten, sondern dadurch, dass ich entweder gut bin (bei Bewerbungsgesprächen) oder dass ich Recht habe (bei den Ämtern).
Aber es passt ihnen nicht, dass ich alle Beziehungen auf dieses sachliche Mass reduziere. Vielmehr gewinne ich den Eindruck, dass es nicht die mindeste Rolle spielt, ob ich gut bin oder Recht habe, wenn nur sie das Gefühl haben, ich würde sie nett finden. Sie wollen bestätigt bekommen, dass ich sie allesamt mag, um dann ihrerseits wiederum mich mögen zu können. Es scheint, sie hätten auf dieser Strecke Defizite aufzuweisen.
Gar nicht zu reden von denen, die meinen, kraft ihrer Position in diesem Gefüge einen Anspruch auf meine Freundlichkeit zu haben. Die hegen eine ganz eigenartige Erwartungshaltung: Lächeln aus der Bauchlage.
Ich bin nicht dazu erzogen, vor jemandem auf dem Bauch zu liegen. Schon gar nicht könnte ich mir vorstellen, von da aus nach oben zu grinsen. Denn mehr als ein Grinsen würde es ja doch nicht. Eher komisch als die gewünschte Ehrerbietung. Sie wollen gemocht werden, weil sie sich ihrer selbst offenbar so sicher nicht sind. Und es ist ihnen allemal lieber, mit der freundlichen Lüge als der harten Wahrheit zu leben. Nämlich der, dass Respekt verdient sein will. (Sie müssen sich unter ihresgleichen zu oft beweisen, als dass sie den Luxus der Macht nicht ausnützen würden.) So jedenfalls habe ich das gelernt, sei es so falsch wie auch immer. Es scheint mir schlüssiger. Ohnedies begriff ich den Sinn meines Lebens nie daran, anderen zu Wohlgefühl zu verhelfen. Das, so meinte ich, sei bestenfalls ein Nebenprodukt, aus dem Herzen geboren, wenn es denn so sein soll.
Meine Herzensgefühle interessieren niemanden. Man will mich höflich, freundlich, harmlos und - zu gegebener Zeit - unterwürfig. Wozu ich das Talent nun mal nicht habe.
Stets auf´s Neue staune ich über diesen modernen Satz: "Als Mensch finde ich sie/ ihn ja ganz nett, aber ...", an den sich zumeist eine sich freundlich gebende Kritik anschliesst, welche oft vernichtender ist, als hätte man den Menschen nicht gemocht. Ich verstehe diesen Satz nicht. Noch weniger, wenn er zu anderen als dem Betroffenen gesagt wird. Es ist, als würden diese ganzen Freundlichheimer sich absichern für den Fall, dass solch eine Botschaft weiter getragen würde, an den heran, den sie betrifft. "Aber ... " könnten sie sich dann verteidigen, "ich mag dich doch. Das hab ich auch gesagt."
Ich mag keine Menschen, deren Mängel ich nicht tolerieren kann. Und kann ich sie tolerieren, dann rede ich nicht drüber, dass sie welche haben. Fehler habe ich selbst auch und bin darauf angewiesen, dass es ein paar gibt, die die meinen tolerieren können. Würden sie zu Dritten drüber sprechen, bekäme ich Zweifel an der Toleranz und folglich ein schleichendes Unwohlsein, was diese Beziehung angeht.
Die Freundlichen von heute kennen diese Beschränkung nicht. Weil sie ja irgendwie alle mögen ("so als Mensch"), sprechen sie mit jedem über jeden, fühlen sich aber keinem wirklich nahe und verpflichtet. Die grossen Netzwerke der Neuzeit begründen sich auf der Illusion, dass jeder jeden mag, aber auch jeder im Zweifelsfall durch fünf andere, ebenso freundlich-beliebige ersetzt werden kann.
Die Zeit fliesst und ich stecke in meinen zweifellos altmodischen Vorstellungen von Freundschaft und Liebe, die ich wohl nach meiner Art nicht mehr finden werde, unrettbar fest.
Tag der Veröffentlichung: 20.07.2008
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