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Ich habe Angst, dass das alles gewesen sein könnte. Ich sehe keinen Fortschritt. Die Tage ziehen an mir vorbei und lassen ein Staunen zurück. Besonders, wenn der Mann, der mein Mann ist, am Wochenende nach Hause kommt und mich fragt, was ich in den letzten Tagen getan habe. Ich kann mich nicht erinnern. An nichts zumindest, das es wert wäre, darüber zu reden.
Ja, gut, ich bemühe mich, zitiere krampfhaft jeden Tag in meine Erinnerung zurück, um lediglich die Bestätigung dessen zu finden, was kaum mehr als eine Ahnung geblieben ist: Ich habe nichts getan, nichts Bedeutendes jedenfalls. Ich sehe zu, wie mein Leben an mir vorbei gleitet und tue nichts, um diesem Zustand abzuhelfen. Das ist der Lauf der Dinge.

Aber: Welcher Dinge?

Ich habe Angst vorm Tod. Ich kann mich nicht erinnern, so etwas früher gehabt zu haben. Immer sah ich den Tod als eine Art Erleichterung an, die mir noch nicht zuteil werden wollte. Immer in schwierigen Situationen, solchen, die scheinbar nicht zu lösen waren, mich auf eine unerklärliche Weise traurig machten und von meiner Umwelt entfernten (wer umgibt sich schon gern mit Melancholie?), sagte ich mir: Na, gut, aber du hast den Tod. Der gehört dir ganz allein. Zwar hast du nur einen davon und musst also sorgsam mit ihm umgehen, aber es ist eine Möglichkeit. Die Letzte, die bleibt.

Denke ich darüber nach, hat sich daran nichts geändert. Doch ich erkenne die Klippen, die zwischen mir uns meinem eigenen Tod liegen. Ich habe nicht eigentlich Angst vor ihm, sondern Angst, dass er zur unrechten Zeit kommt und in einer Weise, die mir die verbleibende Zeit zur Qual macht.
Oh, ich bin im Moment nicht allzu gern auf dieser Welt, aber ich kann mir denken, dass es viel unangenehmere Arten zu leben gibt. Und dann wage ich mir auch nicht vorzustellen, wie das wäre, käme der Tod schon morgen oder auch erst im nächsten Jahr. (Was jedenfalls noch zu früh wäre.) Nicht meinetwegen, denn mir scheint, die guten Zeiten sind vorbei, sondern der Kinder wegen.

Ich könnte heulen, wenn ich mir meinen Sohn vorstelle, so ganz ohne mich. Schon heute, da er sich meines Schutzes bewusst sein kann, ängstigt ihn alles und jedes. Eine Fliege an seinem Bein kann bewirken, dass er aufschreit, als wäre sein letztes Stündlein heran. Wer wird, wenn ich nicht mehr da bin, ihm beibringen, dass er nur nach ihr zu greifen, höchstenfalls nach ihr zu schlagen braucht, damit sie verschwindet? Wer wird ihm überhaupt beibringen, dass das Leben nicht solche Gefahren in sich birgt, wie er vermutet. Ohne mich kann jede Fliege (die er nicht von einer Wespe unterscheiden kann) ihn in Panik versetzen.
Alle Tage befinde ich mich in neuem Zwiespalt. Er weiss so wenig von der Welt, die durchaus allerhand Gefahren in sich birgt, denen auszuweichen ich ihn bislang nur unzureichend in die Lage versetzt habe. Denn jede Sache, die ich ihm bisher - der Not gehorchend - als gefährlich bezeichnete, zog grundlos zehn andere hinter sich her, vor denen er sich ebenso zu ängstigen begann.
Ich bemühe mich anlässlich derart grundloser Tränen und Furchtausbrüche täglich etliche Male auf´s Neue, ihm zu erklären, warum diese Sache tatsächlich gefährlich ist, jene anderen aber ganz und gar nicht. Ich weiss nicht, ob er mir überhaupt zuhört. Fast scheint es, als würde schon der Umstand, mich von - echten oder falschen - Gefahren reden zu hören, ihn so sehr in Schrecken versetzen, dass er nicht in der Lage ist, meiner Rede zu folgen.

Tatsächlich bemühe ich mich, solche wichtigen, gleichwohl scheinbar vergeblichen, Gespräche mit meinem Sohn dann zu führen, wenn der Mann

nicht da ist. Er (der, wie ich mir habe sagen lassen, selbst kein sehr mutiges Kind war, kann nicht verstehen, dass jemand noch weniger mutig sein kann als er selbst) er also begegnet derlei Situationen (sowohl den Angstschreien meines Sohnes, als auch meinen nachfolgenden Versuchen, ihn zu trösten und über die Gefahrlosigkeit der Sache aufzuklären) mit einer solchen Ungeduld, wie ich sie nie bei ihm für möglich gehalten hätte. Er schimpft ihn Angsthase und hat ihm äussersten Falle (denn er hasst Hysterie und die Ängste unseres Sohnes nehmen zu Zeiten schon hysterisch zu nennende Formen an) auch schon zu Handgreiflichkeiten gegriffen. Um unserem Sohn klar zu machen, dass - selbst dann, wenn der Mut nicht kommen will - es sich lohnt, wenigstens Selbstbeherrschung zu zeigen, weil es noch eine Reihe sehr viel naheliegendere Gefahren in Form der väterlichen Hand gibt.

Ich mag diese Art der Argumentaion nicht. Sie bringt unseren Sohn nicht weiter und ist obendrein nicht sonderlich nervenschonend, da allsogleich erneutes Geschrei ausbricht. (Manchmal hoffe ich, dass er doch endlich bestimmte Selbsterkenntnisprozesse durchmachen möge, die ihn in die Lage versetzen, solche elementaren Empfindungen wie Stolz zu verspüren. Mit seinen sieben Jahren ist er nicht mehr zu jung dafür. Sein noch zu entwickelnder Stolz brächte ihn, so hoffe ich, dahin, dass er von allein zur Selbstbeherrschung findet.)
Oh nein, ganz gewiss will ich ihn seiner Kindheit nicht berauben, die ja zu einem guten Teil auch daraus besteht, dass er so reagiert, wie ihm gerade zumute ist. Ich weiss, dass im gleichen Moment auch seine Arglosigkeit verschwände, die ich so sehr an ihm liebe. Nicht nur ich übrigens. Es ist, als habe er - im Gegensatz zum Rest der Menschheit - noch nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen. Ohne die Gewissheit freilich, noch im Schutz des Gartens Eden zu sein. Wer weiss, vielleicht könnte er diese Gewissheit noch haben, hätten wir ihm nicht immerfort aus irgendwelchen aktuellen Anlässen heraus klar gemacht, dass alles keineswegs so sicher ist, wie er es gern hätte. Ich übrigens auch.

Es wär mir lieber, könnte ich ihm die Sicherheit bieten, derer er offenkundig so sehr bedarf.So aber tun sich Hürden vor ihm auf, die ich dadurch abzubauen bemüht bin, dass ich hin zur Selbständigkeit erziehe.
Mit zitterndem Herzen schickte ich ihn vor Jahren zum ersten Mal allein hinunter in den Sandkasten und war nur froh, dass ich - da ich, um ihn nicht zu kompromittieren, nicht selbst mit gehen konnte - wenigstens meine Tochter irgendwo in seiner Nähe wusste. Heute, da sie mit ihren inzwischen dreizehn Jahren nicht mehr zum Mitgehen zu bewegen ist, habe ich keine Ruhe, sobal er fort ist.
Und wirklich geschieht auch jedes Mal, fast täglich, irgendeine Geschichte, die ihn so verwirrt, dass er heulend nach oben kommt und nicht dazu bewegt werden kann, wieder hinunter zu gehen.
Ich weiss noch, wie er monatelang nur im Kindergarten an die frische Luft kam oder an meiner Hand, weil er sich einbildete, dass eine Horde jugendlicher Rüpel über ihn herfallen würde, sobald er den Fuss vor die Tür setzt.

Und ich weiss auch, was es damit auf sich. Es ist, als schlügen zwei Herzen in seiner Brust. Oder vielleicht ist es nur der häufig fehlgeschlagene und deswegen für mich so bedauernswerte Versuch, nun endlich ein richtiger Junge zu sein.
Wir waren das nicht, die ihm beibrachten, was das ist, so ein richtiger Junge. Er scheint da andere Quellen zu haben. Keine sehr hilfreichen, wie ich glaube.

Wenn es ihn ankommt, kriegt er eine heillos grosse Klappe und scheut sich nicht, sich mit Älteren anzulegen, denen es gegen den Stolz geht, sich von so einem Knirps auch nur die kleinste Frechheit sagen zu lassen. Mit Schrecken und gleichzeitig Bewunderung beobachtete ich als er vier Jahr alt war vom Fenster aus, wie er auf einen vielleicht Neunjährigen einschlug.
Bereit, hinunter zu rennen, um mein Kind vor dem Totschlag, wenigstens aber dem Loch im Kopf zu bewahren, sah ich mit an, wie dieser Neunjährige, der mehr als einen Kopf grösser war als unser Sohn, fassungslos auf dieses Würmchen blickte, das sich erfrechte, nach ihm zu schlagen. Ich sah auch, wie die kalte Wut in ihm hoch kroch. Nicht dieser Schläge wegen, die ihn wohl kaum gekratzt haben dürften, sondern weil seine ebenso alten Freunde sahen, dass er nichts unternahm.
Ich hörte, wie er meinem Sohn böse drohte und kalkulierte gleichzeitig, dass ich im Ernstfall ganz sicher viel zu spät unten ankäme. Ich hätte sofort losgehen, losrennen müssen, um noch irgend etwas verhüten zu können. Aber ich stand wie fest gewachsen, starrte gebannt auf die Geschehnisse.

Mein Sohn hatte Glück, mehr nicht, denn die Fassungslosigkeit des Neunjährigen machte einer Art Fairness Platz, die ihm eingab, dass er sich schliesslich nicht mit einem solchen Winzling, dem er haushoch überlegen war, allen Ernstes schlagen konnte. Mit einer eher laschen Bewegung schubste er den Kleinen in den Sand, der damals wohl zum ersten Mal erstaunt darüber war, dass geschlagene Leute zurück hauen.
Das war das erste Mal, dass ich hoffte, mein Sohn würde sich diese Heulerei verkneifen. Ihm war ja nicht wirklich etwas passiert, und er hätte auf diese Weise, aus welchen Gründen auch immer, der neue Held des Sandkastens sein können. Stattdessen wich die Bewunderung in den Blicken seiner Altersgenossen, die im Gegensatz zu ihm die Gefahr deutlich erkannt hatten, dem befremdeten Erstaunen darüber, dass der so offenkundige Sieger nun mit einem Mal losheulte. Die anderen begriffen, dass es ein Sieg gewesen war, eine nicht zu erwartende Kapitulation des Stärkeren, denn es ist bei einem Neunjährigen nicht zwingend mit so viel Fairness zu rechnen, wie dieser hier sie aufgebracht hatte.


Überhaupt vermag ich nicht, mir vorzustellen, wie der Mann

im Falle meines vorzeitigen Todes seiner väterlichen Pflichten habhaft würde. Denn Voraussetzung für meine Gedanken an einen vorzeitigen Tod ist die, dass dieser Tod stattfindet bevor er

stirbt. (Jede andere Variante verdränge ich aus meinem Kopf. Stürbe er vor mir, würde ich zwar leben, wäre zum Weitermachen verdammt, schon der Kinder wegen, wenigstens bis sie gross sind, aber ich wäre in Wahrheit nur eine wandelnde Hülle, die darauf wartet, endlich ihren Geist aufgeben zu dürfen. )
Unser Sohn sagte mir, dass ich niemals sterben dürfte und tröstete mich (oder doch eher sich selbst) damit, dass ich irgendwann gesagt hatte, dass noch etliche andere vor mir dran seien. Er zählte Namen von Leuten auf, die er wahrscheinlich schon heute für sein eigenes Leben für verzichtbar hält und denen der Tod nach seiner Ansicht, wenn schon nicht vermeidbar, eher zustünde als mir, die ich bei Weitem noch nicht alt genug zum Sterben sei.

Ich habe darauf verzichtet, ihm die letzte Wahrheit, die, vor der ich selbst Angst habe, zu eröffnen. Nämlich, dass Sterben nur zum kleineren Teil eine Frage der Gerechtigkeit oder des Alters ist. Dass vielmehr Überleben nicht einmal eine Kunst, sondern nur ein Glück ist, meistens.

Ich habe meine Zweifel, dass der Mann

unserem Sohn gerecht werden könnte, schon allein der Probleme wegen, die ihn offenkundig anders sein lassen als andere. (Ich erlaube mir, trotz aller Schwierigkeiten, die es bei ihm, aber bei anderen Kindern nicht gibt, an wirklichen Beeinträchtigungen zu zweifeln. Meine Tochter, die als völlig normal entwickelt gilt, hatte jedenfalls noch nie das Bedürfnis, mit mir über den Tod zu reden.)
Unser Sohn braucht Geduld, Verständnis und mehr Zuwendung als andere Kinder in seinem Alter. All so ´was, was ich dem Mann

nach einem harten Arbeitstag (und das sind sie mehr oder weniger alle) nicht mehr zutraue.
Zwar liebt er seinen Sohn neuerdings (das war nicht immer so), aber er hat auch das verstärkte Bedürfnis aller Eltern (aller Väter), aus seinem Sohn das zu machen, was er selbst nie werden konnte. Er versteht nicht, dass sein Sohn schon ein fertiges Wesen ist. Eines, das zwar vieles zu lernen hat, aber doch fertig ist. (Ich hoffe, dass er noch Stolz, Selbstbeherrschung und - für manche Situationen - Mut lernt.)
Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, dass der Mann

unsere Tochter so beschützen könnte, wie ich es gerade in ihrem Alter für nötig halte. Vor falschen Freunden, Rauschgift, ungewollten (oder dummerweise zu früh gewollten) Schwangerschaften. (Ich selbst hatte mit sechzehn das erste Mal den Wunsch, ein Kind zu haben, und bin dem nur sehr knapp entgangen.)

Und ich habe Angst davor, dass der Mann

sich eine neue Frau nehmen könnte. Ich meine, ich würde es ihm nicht verübeln; er ist nur wenig über Dreissig. Aber ich fürchte, dass diese Frau unsere Kinder nicht ebenso lieben würde wie ich. (Ich kann mir hunderte von Malen sagen, dass das mit der bösen Stiefmutter nur ein Märchen ist.)

Und dennoch, trotz all meiner Sorgen, die bei genauerer Betrachtung gar nicht zulassen, dass ich vor der Zeit sterbe (Es ist nie die richtige Zeit,), kommen mir immer wieder Gedanken an den Tod. Nicht so imaginär, in Form eines Irgendwann. Sehr plastisch sehe ich vor mir, wie das sein wird. Eines Tages wird sich eine von den unangenehmen Empfindungen in meinem Körper ( Zwicken, Kneifen, Übelkeit, plötzliche Leere im Kopf) dermassen ausweiten, dass ich nicht mehr anders kann, als zum Arzt zu gehen (wahrscheinlich werde ich hin getragen). Der Arzt wird mich untersuchen und nichts finden. Und das wird dann mein Todesurteil sein. Denn weil er meine Beschwerden nicht ernst nehmen wird, kann er das Krebsgeschwür (den Schlaganfall, Herzinfarkt), das da in meinem Körper lauert, nicht finden.
Er wird Gewissensbisse bekommen, weil er eines Tages, nachdem er sich harmlos bei meinem Mann nach mir erkundigte, erfahren wird, dass ich gestorben bin. Das heisst, die Gewissensbisse wird er erst dann bekommen, wenn er erfährt, woran ich gestorben bin und das mit den Symptomen in meinem Krankenblatt vergleicht. Denen, die er nicht ernst genommen hat.

Aber für mich wird es dann zu spät sein.

Impressum

Texte: erphschwester
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2008

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