Die Kunst besteht darin, nicht zu viel zu erwarten. Wir gehen durch´s Leben und erwarten stets den großen Wurf, während wir die kleinen Dinge übersehen. So leben wir ein Leben, das besser sein könnte - auf nichts anderes warten wir -, wenn wir nur zuließen, daß es besser ist. Die Dinge sind nicht wirklich schlecht; wir machen sie dazu.
Ich bemühe mich. Wenn das Wochenende kommt, beginnt der leidige Einkauf. Im Gegensatz zu allem, was man Frauen so nachsagt, gehe ich nicht gerne einkaufen. Aber ich arbeite an diesem Unwillen.
Verlasse ich die Firma, gleichgültig, wie das Wetter ist, tue ich so, als sei ich im Urlaub. Schließlich, was anderes als ein kurzer Urlaub ist so ein Wochenende? Ich sage nicht: Ich m u ß dieses oder jenes tun, sondern ich sage mir, daß es ein Spaß sein wird, in die Stadt zu gehen und zu bummeln, während alle anderen im Gedanken schon bei der nächsten Sache sind.
Ich sehe mich um. Ich sehe eine Horde von alten Frauen. Busreisende, die aus ihrem letzten Rest von Leben noch eben so viel herausholen wollen, wie halt drin ist. Nicht viel: Städte sehen, seien sie provinziell wie auch immer (ohnedies lieben wir im Alter mehr die Ruhe als die großen Dinge; wir haben gelernt, daß alles, was sich groß gibt, nur eine größere Aufmachung dessen ist, was auch im Kleinen stattfindet, nur eben nicht so laut und grell), mit Menschen zusammen sein, auch wenn wir mit d e n e n d a früher um keinen Preis etwas hätten gemeinsam machen wollen (wir haben nicht mehr die große Auswahl; die einen haben sich aus dem Geschehen zurückgezogen, die anderen können nicht mehr und wieder andere haben sich in den Tod davongemacht). Einfach nur draußen sein und das Gefühl haben, noch nicht Tod zu sein. Aber der Tod steckt bereits in uns, von Anbeginn an. Nur, daß wir ihn jetzt näher fühlen. Er spricht zuweilen zu uns, mit leiser Stimme, kaum hörbar. Aber wir wissen, daß er da ist. Das erschreckt uns. Weil es uns bewußt macht, was alles wir versäumt haben werden, wenn er denn kommt und uns mitnimmt.
Immer glauben wir, wir würden etwas versäumen. Gehen wir dorthin, glauben wir, es wäre besser da gewesen; entscheiden wir uns für die eine Sache, fürchten wir, die andere wäre vielleicht richtiger gewesen. Wir haben nicht gelernt, uns zu bescheiden, weil da immer noch mehr sein muß. Am Ende ist kein Platz mehr für dieses Mehr, dann ist einfach Schluß und vieles ungesagt und ungetan und jede Menge Leben ungelebt, weil wir alleweil darauf gewartet haben, daß alles anders und besser wird.
Am Ende kriechen wir am Krückstock, mit einem Blindenabzeichen an der Brust durch eine fremde Straße in einer fremden Stadt zwischen Menschen, die wir nicht wirklich mögen, und denken, wir könnten dem Tod ein Schnippchen schlagen, indem wir nicht da sind, wo er uns sucht.
Er weiß immer, wo wir sind. Und nichts Ungetanes ist nachholbar.
Auch diese Franzosen, die ich zuvor sah, machten mich nicht fröhlicher. Sie gingen durch den Park, hastig, als würde ihr Bus sie dalassen, wären sie nicht rechtzeitig da, und ich fühlte mich unter ihren Augen ein bißchen wie ein Affe im Zoo. Ich als Bestandteil ihrer Weltläufigkeit erträumenden Touristikseligkeit. Aha, so sehen die Menschen da also aus. In Wahrheit sehen die Menschen hier wie da nicht anders aus, und Reisen bringt uns uns selber nicht näher, sondern sorgt bestenfalls für einen Abstand zwischen uns und dem Alltag, mit dem wir partout nicht umgehen können. Wir meinen, wenn wir woanders sind, werden auch wir selber anders. Aber in Wahrheit sind wir immer wir, wo auch immer wir sind. Wir nehmen uns ja mit. Die Reise als Flucht vor uns selbst, dem Alltag und der Gewöhnlichkeit funktioniert nur kurzzeitig und illusionär.
Ich bleibe, wo ich bin, und bilde mir die Reise nur ein. Ich schaue auf das Bekannte mit fremden Augen, die solcherart geschärft tatsächlich nicht das Gleiche sehen, wie jene, die nur ihren Alltag absolvieren. Ich bin nicht in Eile, weil Eile keine Sache wirklich forciert. Die Dinge dauern, solange sie nun einmal dauern. Das Warenstorno meines Vorgängers auf Grund eines fehlerhaften Strichcodes geht nicht schneller, wenn ich ungeduldig hin und her zappele. Wir reden ein paar Worte. Aber während ich im Urlaub bin denkt er schon an die nächste Sache, die er zu versäumen fürchtet, und ist ganz woanders.
Die Menschen sind oft woanders, nicht bei der Sache. Sie wundern sich, wenn sie hernach nie wirklich wissen, wo sie waren, was sie getan haben. Sie waren da und auch immer schon wieder weg. Gleichzeitig hier und dort, nie bei der Sache.
In der Furcht, etwas zu versäumen, versäumen sie alles.
Ich arbeite an dem Unwillen, den Einkaufen für mich mit sich bringt. Ich spreche mit Menschen, ich lächle, ich bin entspannt. Das Wetter ist schön und mein Heimweg mit den schweren Einkaufstaschen nicht weit. Ich bemühe mich zu leben. Jetzt und hier.
Texte: erphschwester
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2008
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