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Ein Indianer kennt keinen Schmerz


Den ganzen Tag hatte ich es gespürt. Mittags fing es leicht an zu drücken unter der Sohle, und wie ein Geschwür schien sie zu wachsen, die Blase. Ich kam während der Geschäftszeit aus den Schuhen nicht heraus, und so konnte sie sich entfalten, wurde größer und größer. Dabei hatte ich das Gefühl, je mehr ich sie ignorierte, desto mehr baute sie sich auf. Aber ich bin ja nicht umsonst ein Mann - ein Indianer kennt keinen Schmerz.

Obwohl... ein wenig tat es schon weh. Aber der Fuß wurde ein wenig verkantet, und so klappte es mit dem Laufen trotz dieser Einschränkung ziemlich gut. Es waren ja nur noch ein paar Stunden bis zum Feierabend, in denen ich die hämischen Bemerkungen meiner Kollegen ertragen musste. Was wussten die schon von Tapferkeit.

Der Heimweg gestaltete sich schwierig, weil durch die einseitige Belastung mittlerweile der ganze Fuß schmerzte. Zunächst dachte ich daran, ein Taxi zu nehmen, entschloss mich aber dann doch, mit zusammengebissenen Zähnen an der Bushaltestelle auszuharren. Zu Hause angekommen, fühlte mich deshalb zwar ein wenig angegriffen, aber ich war auch stolz darauf, es geschafft zu haben.

Auf der Couch sitzend zog ich den Schuh behutsam aus, um den Fuß nicht noch mehr zu schädigen. Unter Vermeidung eines Blutstaus bettete ich ihn sodann auf ein Kissen, das ich zur Unterstützung seiner Ruhestellung auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. Ein wenig erschöpft lehnte ich mich dann zurück, um die nächsten sinnvollen Schritte zu durchdenken.

Die schwierigste Aufgabe war es wohl zunächst, den Strumpf vom Fuß zu entfernen. Ich könnte ihn vom Fuß schneiden. Das könnte ich aber auch der fachlichen Kompetenz der Sprechstundenhilfe meines Hausarztes überlassen - oder sollte ich gleich sinnigerweise einen Chirurgen konsultieren?

Das Damoklesschwert einer Krankmeldung schwebte über meinem geistigen Auge. Aber auch der gefährliche Weg, den es brauchte, dort hin zu kommen. Also entschloss ich mich zunächst zur Eigentherapie, so unvernünftig das auf den ersten Blick auch erscheint. Aber ein Indianer kennt ja keinen Schmerz.

Als ich die Socke vom Fuß zog, war ich mir der Gefahr bewusst, die Haut in Streifen abzuziehen. Doch wider Erwarten ließ der Strumpf sich entfernen, ohne Schaden anzurichten. Etwas lindernd wirkte dann die Luft, die die Sohle frei umfächelte. Ich konnte wieder ein wenig klarer denken.

Ein Blick auf die Wunde war wohl kaum möglich. Zunächst grauste es mich davor, und ich wollte Fuß und Bein durch das Heranziehen nicht noch über Gebühr beanspruchen und einen eventuellen Krampf riskieren. Der Schlafzimmerspiegel war eine gute Idee. Ganz vorsichtig stand ich deshalb auf, hinkend bewegte ich mich zum Schrank im Flur, in dem ich das Bügelbrett wusste. Dieses benutzte ich dann als Krücke, um den Weg ins Schlafzimmer bewältigen zu können, wo ich mich dann langsam auf das Bett gleiten ließ. Lang ausgestreckt quälte ich mich in eine Position, aus der ich die Unterseite des Fußes in der Spiegeltür des Schlafzimmerschrankes betrachten könnte.

Auweia! Was für’n großes Ding. Weltrekord wahrscheinlich. Verwunderlich, dass ich damit überhaupt noch in der Lage gewesen war, mich fort zu bewegen.

Was sollte ich nur tun? Laut um Hilfe rufen? Mit meiner Mutter telefonieren? Nee, die würde wieder versuchen, mich mit Fencheltee und geriebenem Apfel zu kurieren. Eine Freundin oder einen Freund mit meiner Verwundung belasten? Meine Geschwister in Angst und Schrecken versetzen?

Nein, es würde nichts nützen, mein Leid auf andere zu übertragen. Ich würde da wohl selbst durch müssen. Es würde zwar entsetzlich, das alles allein durchzustehen, doch auch dieses Opfer wollte ich gerne noch bringen für die Menschen, die ich liebte. 

Solcherart selbst zum Märtyrer erhoben gewann ich wieder ein wenig Kraft, die nächsten Schritte zu bedenken.

Aufstechen war der nächste Gedanke. Doch das Risiko einer Blutvergiftung schien mir unangemessen hoch. Aber auch ein unbehandeltes Dahinsiechen schien nicht dire richtige Lösung zu sein.

Ein Fußbad, für dessen Vorbereitung ich fast zwei Stunden brauchte, verschaffte ein wenig Linderung. Während der zwölfeinhalb Minuten in handwarmem Wasser, die ich dem Fuß gönnte, schnitt ich ein Bettlaken in breite Streifen, um mir selbst Verbände anlegen zu können. Danach tupfte ich den Fuß vorsichtig ab, ließ den Rest an der Luft trocknen, und trotz des wilden Schmerzes, der brennend meinen ganzen Körper zu durchtosen schien, schaffte ich es, ein wenig Salbe auf die Verwundung aufzutragen. Dann wechselte ich das T-Shirt, das völlig durchgeschwitzt war.

Es gestaltete sich ziemlich schwierig, die Lakenlappen ohne fremde Hilfe um den Fuß zu schlingen. So war es schon weit nach Mitternacht, als ich endlich mit Hilfe meines Bügelbretts ins Schlafzimmer wanken konnte, um wohlverdiente, heilsame Ruhe zu finden. Starke Schmerztabletten sollten mir dabei helfen.

Als ich erwachte, horchte ich in mich hinein, ob ich ein Brennen im Bein verspürte. Nein. Und auch bei näherer Untersuchung zeigte sich kein roter Streifen, der sich an ihm hinaufzog. Ein tiefer Seufzer löste sich aus meiner Brust. Ich hatte überlebt!

Der Blick über den Spiegel zeigte, dass diese Riesenblase, die mich gestern noch schier auffressen wollte, sich zu einem schlaffen Hautlappen zurück gebildet hatte. Ich stand auf und versuchte die ersten Schritte – erst mit, dann sogar ohne Bügelbrett. Ohauehaueha, ich konnte wieder gehen! Wenn auch nur eingeschränkt, da der ganze Fuß noch schmerzte, doch wurde ich so zuversichtlich, selbst den Weg zur Arbeitsstätte bewältigen zu können.

Den Gedanken an eine Sandale am unbedeckten, rekonvaleszenten Fuß gab ich schnell auf, draußen hatte es geschneit. Also die weichsten Socken herausgesucht und die weitesten Schuhe, die ich hatte.

Im Büro angekommen fiel es natürlich sofort auf, wie schleppend ich den Fuß hinterher zog. Doch auf die teilnahmsvollen Fragen meiner Kollegen erwähnte ich nur eine kleine Blase, ohne etwas von meinem Leidensweg zu erzählen. Schließlich: Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Es tat mir wohl, so tapfer gewesen zu sein.

Hoffentlich hielt das Schicksal nicht noch einen Rückfall für mich in petto.

Impressum

Texte: Robert Kühl
Bildmaterialien: Dron, Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2013

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