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Ich hasse Oma!

Ich weiß nicht, wer Oma ist, doch ich hasse sie.

Oma steht am Beginn der Schlange, die auf den Bus wartet - nie im Sommer, wenn's trocken und warm ist. Nein, nur im Winter steht sie da.

Wegen mir!

Ich steh' nämlich am Ende der Schlange. Etwas zusammengekauert und den Kragen hochgeschlagen, weil der Schneeregen und der eisige Wind mir die Ohren vom Kopf reißen wollen.

Die Schlange ist nicht lang - doch lang genug, dass ich als einziger draußen stehen muss, wenn Oma und die Passagiere vor mir in den Bus gestiegen sind. Irgendwie scheint der Wind noch viel heftiger am Bus vorbei zu blasen, weil ich dort stehe...

Freundlich lächelnd begrüßt Oma den Fahrer und fragt sogleich, wie's den Kindern geht. Ganz unbedarft tut sie das, während sich die ersten Eiszapfen an meinem Bärtchen bilden. Und "Huhu, Frau Lehmann", winkt sie durch den Bus. Dabei fummelt sie mit ihren behandschuhten Händen am Reißverschluss einer großvolumigen Einkaufstasche herum, weil sie sich denkt, sie müsste wohl einen Fahrschein lösen. Ich denke, "Ob ich ihr das Fahrgeld gebe?", denn ich weiß genau, was passiert.

Derweil ist Oma eisern und rüttelt mit dem Nippel ihres Reißverschlusszippels die Einkäufe durcheinander. Dann wird die Tasche abgestellt und Finger für Finger aus den Handschuhen gepellt - ganz behutsam, als könnten die noch mehr zerknittern.

Tja, wohin nun mit den Handschuhen? In die Manteltasche passen sie irgendwie nicht hinein, und die Einkaufstasche ist noch zu! "Können Sie mal halten?" an den Hintermann, presst sie dann mit dem linken Unterarm die Tasche an die Brust und beginnt einen erneuten Versuch, den Reißverschluss zu einer Bewegung zu bewegen.

Ich merke, wie die Beine meiner Jeans hart werden. Die Beinhaare stellen sich auf und beginnen, sich pieksend bemerkbar zu machen, während Oma im eifrigen Bemühen, die Tasche zu öffnen, dem Busfahrer ihren erlebnisreichen Tag schildert und: "Ja, Frau Lehmann, ich komm' ja gleich!"

Während ich einem knatternden Geräusch lausche, das erstaunlicherweise vom Zusammenschlagen meiner Zähne herrührt, scheint sich der Reißverschluss endlich zu bewegen. Ich verzichte auf das Beifall klatschen, weil meine Hände wohl zerbrechen würden.

Ich könnte Oma ja sagen, dass ihre Gelbörse ganz unten in der Tasche liegt, aber sie würd's mir wohl nicht glauben. Während sie meiner unausgesprochenen Vermutung folgt, zähle ich die Wassertropfen, die von der Dachreling in meinen Nacken tröpfeln - 14 sind's, als Oma mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck die Geldbörse hervorzieht. Nun müssen nur noch die Handschuhe in die Tasche ("Danke, junger Mann"), an einen ganz bestimmten Platz. Reißverschluss wieder zu und die Henkel über den Arm gestülpt. "Was kostet das?" - Als ob sich der Fahrpreis seit gestern erhöht hätte. "Mal gucken, ob ich's klein hab..."

"Nein Oma," bin ich versucht zu sagen, "da fehlt ein Groschen!" Aber ich hab' keine Kraft mehr, diesen Gedanken auszusprechen. Ob meine Füße schon schwarz sind?

Hochkonzentriert zählt Oma Geldstück für Geldstück vor; ihr Bemühen, auch in den entlegendsten Falten noch etwas Bares zu finden, erinnert mich an das Auswringen eines trockenen Handtuches. Wieso kann ich eigentlich noch denken - können Gedanken nicht erfrieren?

Natürlich fehlt 'n Groschen! "Ich glaub', ich hab' noch einen im Mantel..." Hm-hm, wie könnt's auch anders sein.

Also Tasche abgestellt, und dann wird in den Manteltaschen gekramt. Erst müssen die 27 Taschentücher raus, dann die alten Fahrkarten. Oh Wunder, ein Fünfpfennigstück.

Und wo ist das zweite? Nicht da! Also Taschentücher wieder rein, die alten Fahrscheine auch und das Fünfpfennigstück (mit dem sie mich wohl morgen wieder fertigmachen wird), Geldbörse aufgeklappt, Kleingeld hinein (Silber links, das andere rechts), Geldbörse zugeklappt und das Geldscheinfach geöffnet - dort steckt er drin, der Unantastbare. Gehässig grinse ich in mich hinein, als sie ihren Zwanzigmarkschein hervorziehen muss.

Als der Fahrer das Wechselgeld vorzählt, überlege ich, ob ich nicht besser mit dem Taxi fahre, das würde mir das Überleben sichern. Doch wer könnte mich zum Taxistand führen?

Oma Klappt das Geldscheinfach zu (natürlich ohne den Zehner hineinzustecken, den sie gerade zurückbekommen hat), öffnet die Geldbörse (Silber links, das andere rechts), schließt die Geldbörse mit einem "Knips", das wie ein Peitschenhieb meinen völlig unterkühlten Körper malträtiert, und öffnet wieder das Geldscheinfach, um den Zehner – nachdem sie ihn sorgfältig geglättet hat - irgendwie in das Gefache zu fummeln.

Und irgendwie kriegt sie's hin. Auch das Verstauen der Börse in der Tasche klappt wider Erwarten gut.

Halt! Die Handschuhe! Ach ja: Tasche nochmal auf, die Handschuhe ("Huch, ich hatte sie doch gerade noch...") gesucht, Tasche wieder zu und Mund auf: "Ach Frau Lehmann...", eine leiser werdende Stimme.

Gottseidank, die Schlange bewegt sich. Als ich dran bin, kriege ich die Monatskarte mit den steif gefrorenen Fingern kaum aus der Tasche gefummelt. "Geht's nicht ein bisschen schneller?" tönt eine Stimme hinter mir.

Ich hasse Oma wirklich.

 

* * *

 

Im Sommer macht das Busfahren richtig Spaß. Ich muss nur vorsichtig sein, wenn's regnet. Und im Supermarkt stell' ich mich immer in die längste Schlange, wenn ich's eilig hab'. Denn in der kürzesten steht garantiert Oma.

Erwähnte ich schon, dass ich sie hasse?

Impressum

Texte: Robert Kühl
Bildmaterialien: JuliSonne, Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2013

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