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Pauls Augen

Merkwürdig, im Grunde hätte mich das alles überraschen müssen. Aber im Grunde wundere ich mich nur. Und ich genieße. Es tut mir gut. Manchmal kommt ein leichter Gedanke hoch, der mich an so was wie Schuldgefühle erinnern will. Aber diesmal nicht, diesmal fühl’ ich mich stark. Denn es ist gut.

Ein wehmütiges Gefühl beschleicht mich, wenn ich mich zurückerinnere an das, was seine Augen in mir auslösten. Aber auch an das, was sein Lächeln, seine Gestik, seine Stimme bewirkten - und lächelnd erinnere ich mich an seinen knackigen Po.

Anfangs verschwendete ich kaum einen Gedanken an ihn. Ich lebte ja in einer Beziehung – nicht unbedingt glücklich, weil mein Lebensgefährte eigene Wege ging, aber der Gedanke an einen „Neuen“ beschäftigte mich nicht wirklich. Eigentlich schon allein aus dem Grund nicht, weil Beziehung mich niederzudrücken schien. Und Paul war ganz weit entfernt, tauchte erst überhaupt nicht auf in meinen Gedanken.

Beeindruckt hat er mich durchaus, als ich ihn das erste Mal sah. Die erste Teambesprechung, an der ich teilnahm. Er war zwar der Chef, benahm sich jedoch nicht so. Paul stellte sich nicht in den Vordergrund, war jedoch „präsent“, und er ging aufmerksam um mit den Menschen, die ihm gegenüber saßen. Auch mit mir. Vielleicht sogar einen Tick aufmerksamer, um mich als „Neue“ besser einbeziehen zu können. Jedenfalls nahm er mir einen großen Teil meiner anfänglichen Befangenheit, und ich fühlte mich aufgenommen, angenommen und Tage später sogar irgendwie gleichberechtigt. Ich fühlte mich also rundherum wohl.

Die neuen Kollegen waren nett, und wenn Paul vorbei kam, ging er nicht, ohne eine Bemerkung für mich zu hinterlassen. Ich habe oft gelacht wegen ihm. Irgendwie schien er mich zu mögen, und als meine Kolleginnen das nach und nach mit süffisanten Bemerkungen quittierten, empfand ich das irgendwie lustig - aber irgendwie schmeichelte es mir auch. Zumindest musste ich mit schmunzeln darüber. Und seine Mails an mich enthielten stets eine kleine Geste.

Nein, er war wirklich und einfach nur nett. Es ging mir besser in jenen Tagen, er war so was wie ein kleiner „Lichtblick“, den ich zunächst genoss, und auf den ich mich später sogar schon auf dem Weg ins Büro freute, denn er nahm mich raus aus meinem Alltag.

Aber Paul war zu jung für mich. Wohl so gut 15 Jahre trennten uns. Trotzdem trieb eigentlich der Schalk mich manchmal in Was-Wäre-Wenn-Gedanken: Wie es wäre, mit ihm zu lachen. Oder Rad zu fahren. Am Strand spazieren zu gehen. Mit ihm zu reden, ganz allein. Ich ertappte mich sogar dabei, dass ich während einer Besprechung versuchte, eine Nase voll von seinem Duft zu erhaschen, um zu riechen, wie er roch… Ja, er war wirklich ein Mann, der mir eine Sünde wert gewesen wäre, wäre ich jünger gewesen, dachte ich manchmal lächelnd. Er hatte eine sehr kluge, warme, aufmerksame und herzliche Art. Es war nicht so, dass ich mich hingezogen fühlte zu ihm, aber irgendwie beeindruckte er mich auf eine feine Art.

Manchmal machte es mich selbst ein wenig ratlos, wenn ich bemerkte, wie oft ich an ihn denken musste. Mit Freunden und sogar meinem Lebensgefährten sprach ich über ihn, weil er wirklich so bemerkenswert war. Aber klar, meinem Freund ging das wie üblich am Arsch vorbei, aber das war ja auch nicht wichtig. Morgen konnte ich wieder ins Büro…

Irgendwann veränderte sich das alles. Wieder ein Meeting, wieder wilde Diskussionen, aber über diesem kleinen Durcheinander „schwebten“ irgendwie seine Stimme, sein lächelnder Mund und seine Augen. Ich war ein wenig unkonzentriert, doch als er sich verabschiedete schien er bemerkt zu haben, dass ich ihn die ganze Zeit unbewusst beobachtet hatte. Jedenfalls schaute er mich an, ganz plötzlich und ganz offen, so dass ich mich richtig erschrak. Und dieser Blick galt nur mir. Ein Blick war das, der mir heiß durch die Brust schoss, in meinem Magen krampfte und eine warme Welle in den Kopf schickte. Nur ein ganz kurzer Blick war das, aber er schien so viel zu erzählen.

Natürlich hatte ich mich in der Gewalt. Niemand hatte diesen Blick bemerkt, und auch, dass ich vor der Tür erstmal nach Luft schnappen musste, kriegte niemand mit. Aber es war ein merkwürdiges Gefühl, diesen Blick an meinen Arbeitstisch zurück zu tragen. Ich kann’s kaum beschreiben, aber es war irgendwie ein Gefühl von Süße, von Wärme und merkwürdigerweise von Trauer – aber ein Gefühl, dass sich, nachdem es meinen Magen verlassen hatte, warm im ganzen Körper ausbreitete. Es rauschte in den Ohren, und meiner Konzentriertheit war das an jenem Tag überhaupt nicht förderlich.

Auch mit nach Hause nahm ich diesen Blick. Mein Kopf raste und ratterte, um zu ergründen, welche Bedeutung dahinter stecken könnte. Und auch die Gefühle, die damit einher gingen, waren noch alle da. Und die machten mich einerseits unruhig, denn so richtig wusste ich nicht, wie ich zu Hause und allein damit umgehen sollte. Alles, was ich anfasste, legte ich wieder aus der Hand, und eigentlich nichts konnte ich zuwege bringen. Das machte mich zwar ein wenig ratlos, aber spannend war es doch. Fast froh war ich, als mein Freund nach Hause kam, weil er mich ablenken würde. Andererseits stellte ich schnell fest, dass er dann doch irgendwie störte. Was war nur los mit mir?

Der Abend kam mir sehr lang vor, bis wir endlich zur üblichen Zeit ins Bett gingen. Wie üblich hatten wir uns das Übliche gesagt, die übliche Fernsehsendung gesehen und die üblichen Berührungen getauscht – er massierte meinen Fuß und ich kratzte ihm den Rücken. Dann lagen wir wie üblich nebeneinander, er sagte wie üblich „’nacht, Schatz,“ drehte sich um und schlief bald ein. Ich selbst lag noch lange wach. Aber die Unruhe war gewichen, ich konnte jetzt in Ruhe fühlen, ich spürte Leichtigkeit und Wärme mich umgeben, und es war nicht mehr verwirrend, sondern irgendwie „gut“. Ganz entspannt schlief ich ein an jenem Abend.

Doch am Morgen erwachte ich mit der Erinnerung an diesen Blick. Wieder wurde mir warm, aber diesmal war das Gefühl toll, beschwingend, moussierend. Ich war sofort hellwach. Sonst musste ich morgens immer noch ’n Stündchen im Bett vor mich hinlullern, während mein Freund in der Küche saß, den ersten Kaffee trank und die erste Zigarette rauchte. Das war seine Art, den Tag zu beginnen. Doch heute war ich richtiggehend froh über dieses Ritual. So konnte ich noch ein wenig baden in den Empfindungen, die mich so ausfüllten und über die ich mich jetzt so freute. Auch Frühstück und Abschied waren dann wie üblich, und als er aus dem Haus war, ging ich als erstes an meinen Rechner, um die eMails zu checken. Herzklopfen – und dann doch nach viel zu langer Zeit die Info über keine empfangene Mail. Aber ich war nicht enttäuscht. Im Gegenteil, ich genoss es, dass es immer heißer wurde, denn ich würde eine bekommen, da war ich sicher. Und darauf freute ich mich.

Die erste Mail kam eine Stunde, nachdem ich im Büro war. Es war eine schöne Mail, obwohl er mich weiterhin sietzte und es eigentlich um eher produktionstechnische Dinge ging. Aber sie fühlte sich anders an, diese Mail. Und ich antwortete ihm ein wenig persönlicher als sonst. Und ein wenig aufgeregter als sonst. Und auch anders als sonst kam diesmal schnell eine Mail zurück. Er hatte es bemerkt und darauf reagiert. Darüber freute ich mich sehr. Und als ich nachmittags die nächste Mail bekam, ging ich wieder einen kleinen Schritt auf ihn zu.

Aufregend war das, wie ein „gefährliches“ Spiel. Naja, ich wollte ja nicht wirklich was von ihm, aber gespannt war ich schon, womit er mich beim nächsten Mal überraschen würde. Es war einfach toll. Und irgendwie schien ich jünger geworden zu sein, denn manchmal fühlte ich das Mädchen in mir. Ich spürte mich leben. Und Paul war’s, der es mich wieder spüren ließ. Dadurch war er mir zwar nicht nah, aber „weg“ war er auch nicht mehr. Ich wusste, er würde oben in seinem Büro sitzen und in der ihm eigenen ruhigen Art genauso über meine Worte schmunzeln, wie ich über die seinen.

Unser Mailverkehr in den nächsten Tagen nahm zu. Sogar private Bemerkungen flossen ein, kleine Hinweise, und schließlich beschlossen wir sogar das Du. Es war halt einfacher so.

Ich mochte ihn nicht mehr missen, „meinen“ Paul. Keine Ahnung, wohin uns das führen würde, aber das war ja auch egal. Die Gefühle waren schön. Und sie wurden immer schöner, immer wärmer und immer aufregender. Ich wurde immer ungeduldiger, fast kam es mir vor, wie eine kleine Sucht.

Morgens wurde ich immer ungeduldiger im Warten darauf, dass mein Freund die Wohnung verließ. Ich freute mich richtig auf diesen Moment, denn ich wusste, das eine Mail auf mich wartete.

Der Gedanke, das, was wir per Mail austauschten, auch persönlich erleben könnten, kam mir nur mit der üblichen Vorsicht, wurde aber schnell zu einem Wunsch, für den ich mich allerdings zunächst schalt. Doch er weckte Sehnsucht in mir. Es war ein schöner Gedanke, ein schöner Wunsch, ihm einmal persönlich seinen Blick erwidern zu können, seine Stimme nur für mein Ohr bestimmt zu hören oder seine Hand zu fühlen. Daran, von ihm in den Arm genommen zu werden, mochte ich gar nicht denken. Auch nicht daran, ihn zu riechen. Und ich dachte es doch.

Andeutungen gab es genug in seinen Mails. Sie waren zwar kurz, doch erzählte er von sich. Erzählte von seinen Hobbies, seinem Leben, seinen Urlauben und seinem Alltag. Nur warum traute er sich nicht, mich zu fragen? Nur ein Spaziergang. Oder eine Tasse Kaffee irgendwo. Es war nicht so, dass ich darauf wartete. Aber fehlen tat es mir durchaus. Ich hätte mich dann ja immer noch entscheiden können. Außerdem wäre es ja nur Kaffeetrinken gewesen. Oder ein Spaziergang.

Der Gedanke, ihn selbst zu fragen, schien mir selbst sehr phantastisch. Das war nicht meine Art. Aber es war ein stimulierender Gedanke. Die Idee verursachte ein leichtes Kribbeln, und als ich an jenem Tag – es war ein Samstag, und mein Freund hatte glücklicherweise im Büro zu tun - das erste Mal meinen Rechner einschaltete, war ich körperlich erregt. Sogar die Finger zitterten ein wenig.

 

Seine Mail wie immer sehr herzlich und sehr warm. Ein herrlicher Morgengruß. Kaum konnte ich atmen, als ich mich an die Antwort machte. Ich wusste, heute war der Tag, und ich zeigte ihm, wie ich mich über ihn freute. Zurück kam jedoch auch wieder nur Freude, und eine Bemerkung zum herrlichen Sommerwetter – nur keine Einladung. Auch keine Andeutung. Aber das war nicht schlimm, er traute sich wohl nicht ob seiner Sensibilität. Und dann fasste ich mir ein Herz, schrieb ihm einen für mich unglaublichen Satz: „Das Wetter ist so schön, dass man heute eigentlich an den Strand fahren müsste, um einen Spaziergang zu machen …“

 

Impressum

Texte: Robert Kühl
Bildmaterialien: Sergejs Rahunoks, Fotolia.com
Tag der Veröffentlichung: 16.05.2013

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