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Der Sturm wütete, es war heftiger, als Paul es in den zehn Jahren seines Lebens je erlebt hatte. Eigentlich war es Sommer, doch vor wenigen Minuten hatte es begonnen, der Wind steigerte sich mehr und mehr und Regen pladderte wie aus Kübeln auf die Erde herab. Der kleine Junge konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, so sehr zerrte der Sturm an ihm. Er befand sich in einer gefährlichen Lage. Links von ihm der Fluss mit der reißenden Strömung, rechts der Wald in dem, wie Paul wusste, unheimliche Gestalten ihr Unwesen trieben.
Eine starke Böe riss an ihm, trieb ihn Richtung Fluss, aber besser als gegen den Wald. Paul rutschte aus und griff nach einem Strauch. Einige der Zweige knackten und brachen, doch es hielt. Er richtete sich wieder auf und wurde nach ein paar Schritten wieder zu Boden geworfen. Der Sturm heulte, Paul glaubte Stimmen zu hören und erinnerte sich an die Warnung seines Vaters: „Geh bei Sturm nie ins Freie, denn wenn die Stimme des Windes dich je erreicht, bist du an jenem Tage dem Tode geweiht.“
Er bekam panische Angst und fing an zu weinen. Er lief schneller und schneller, seine Füße verloren auf dem matschigen Untergrund ständig den Halt. Um nicht zu fallen klammerten sich seine Finger bei jedem Schritt in einen Busch. Für kurze Zeit ließ der Wind nach, Paul entspannte sich etwas.
Dichter Nebel kam auf.
In diesem erkannte der Junge eine dunklen Schatten, eine große Gestalt. Er schrie und lief los. In dem Moment brach der Sturm wieder los. Mit doppelter Wucht traf er den Jungen. Der fand auf dem Lehmboden keinen Halt mehr und rutschte aus. Seine Hände suchten vergeblich nach festem Griff, doch sie fanden nur Matsch. Er merkte bestürzt, dass er auf einem Überhang lag. Hektisch krabbelte er von der Kante weg, doch der Wind packte ihn abermals.
Er schleuderte ihn zurück. Der Regen wurde stärker, der Nebel verschwand - nirgendwo eine Gestalt.
Halb lag Paul auf dem Überhang, seine Beine hingen schon über dem Abgrund. Er versuchte aufzustehen, stemmte sich hoch und hörte es knirschen. Es klang als ob sich Erde löste. Und das tat sie auch:
das Überstehende Stück brach ab. Paul schrie um Hilfe, doch der Wind riss ihm die Worte vom Mund, hören würde ihn wohl keiner. Er fiel nur wenige Meter tief, dann traf er auf das Wasser, es schlug über ihm zusammen, begrub ihn unter sich. Er strampelte mit seinen Beinen, gelangte an die Luft und wurde von der nächsten Welle überrollt. Er schluckte Wasser, kam wieder hoch. Doch diesmal konnte er Luft holen, bevor er wieder unterging. So kämpfte er eine Weile mit dem Fluss und trieb immer weiter.
Immer mehr Wasser füllte seine Lunge, immer weniger Kraft konnte er aufbringen um sich über Wasser zu halten. Seine Arme wurden lahm, seine Beine taub, vor seinen Augen verschwamm alles und klar denken konnte er auch nicht mehr. Er merkte, wie die Strömung stärker wurde, wie er mehr und mehr herumgewirbelt wurde. Er riss die müden Augen auf, erkannte eine Stromschnelle. Mit aller Macht hielt er sich über Wasser, ein Wirbel erfasste ihn, drehte ihn um sich selbst. Ein stechender Schmerz schoss durch seinen Körper– er war gegen einen Fels geprallt. Seine Finger griffen danach und rutschten ab. Ein weiterer Stein tauchte vor ihm auf, Paul trieb direkt auf ihn zu. Er streckte die Arme aus, um den Stoß abzufangen und wurde auf den Stein geschleudert. Seine linke Hand schmerzte und brannte. Sie schwoll schnell an und bald konnte er seine Finger nicht mehr bewegen. Ihm wurde kalt, kälter, als man es sich vorstellen kann. Der Regen pladderte auf ihn nieder, jede Welle nässte ihn mehr und auch der Wind wärmte ihn nicht. Seine Schmerzen nahmen zu, doch er beachtete sie kaum. Viel mehr sorgte er sich darum, von dem Sturm zurück ins Wasser geweht zu werden. Nach einiger Zeit legte sich der Sturm. Bodenlose Müdigkeit überfiel den Jungen und verdrängte die Angst. Ihm wurde alles egal nur der Kälte entkommen, das wollte er. Seine Finger spürte er kaum noch, seine Zehen schmerzten als würden sie verbrennen. Er hörte eine Stimme.
Nein viele Stimmen.
Er hörte sie lachen und singen, sie riefen nach ihm, sie gaben ihm Wärme.
Er wollte zu ihnen. Es wurde dunkel um ihn.
Doch etwas war anders. Ein Wärme schien aus seinem inneren zu kommen, sie breitete sich aus, verdrängte die Kälte.
Es war schön, eine Erlösung.
Er schloss die Augen und gab sich ihr hin.
Die Schmerzen verschwanden.
Als ein grelles Licht plötzlich in seine Augen stach und er sie öffnete, sah er direkt in die Sonne. Um ihn herum war es trocken und weich. Blumen blühten auf der Wiese und es roch nach frischem Heu. Als Paul sich umsah wurde ihm klar, er hatte geträumt.
Oder auch nicht?

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.06.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Familie, weil sie mir Wärme gibt

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