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Dann stelln` wa` uns mal janz dumm…

 

Wipperfürth, ist eine Hansestadt und älteste Stadt im Kreis Oberberg im Regierungsbezirk Köln in NRW. Dorthin verlegten wir unseren Wohnsitz, welch ein Unterschied zur Nordseeküste, es war alles ganz anders, die Leute, die Sprache, die Natur, einfach alles.

Aber der Reihe nach….

Es war Spätherbst 1967, eine Umzugsfirma aus Wilhelmshaven erhielt den Auftrag, den Umzug zu organisieren. Viele meiner liebgewonnenen Gegenstände durften wegen Platzmangels nicht mit. Viele Spielsachen, ein ganzer Karton Siku-Autos wanderte in die Mülltonne. Es war ein Jammer.

Aber das Jammern half nichts, ich sah es wie ein kommendes neues Abenteuer und fuhr im Möbelwagen mit, saß in der Mitte zwischen Fahrer und Beifahrer. Eine stundenlange Fahrt lag vor uns. Der Fahrer rauchte 70 – 90 Zigaretten am Tag, ein Kettenraucher, sogar während seiner Mahlzeiten rauchte er, unglaublich. Wir erreichten Wipperfürth, die Siedlung Düsterohl, im dicksten Schneetreiben, der Schnee blieb aber noch nicht liegen. Das Ausladen konnte beginnen.

Meine Schwester blieb in Wilhelmshaven. Für sie wurde ein Zimmer gemietet, und sie besuchte weiter ihre Schule, in einem Jahr machte sie Abitur.

Ich war zu jung und musste mit nach Wipperfürth. Ein Vorteil sprang für mich dabei raus, ich hatte das erste Mal in meinem Leben ein eigenes Zimmer.

Eine große Eingewöhnungszeit gab es für mich nicht, ich musste in einer Schule angemeldet werden, Wipperfürth, Engelbert-von-Berg-Gymnasium. Das Vorstellungsgespräch verlief ganz anders, als ich mir das je vorgestellt hatte. Mein Aufnahmeantrag wurde abgelehnt. Was war passiert? Ich hatte doch ein gutes Versetzungszeugnis in das neunte Schuljahr, Ablehnung? Einfache Erklärung: In Wilhelmshaven lernte ich ab dem 7.Schuljahr als zweite Fremdsprache Französisch, hier in Wipperfürth herrschte ein anderes Schulsystem, dadurch wurde dies eine Klasse unter mir erstmalig praktiziert. Die neunte Klasse, in die ich normalerweise gehörte, hatte Latein als zweite Sprache, und ab der Neun erst Französisch. Welch eine verworrene Oberbergische Hühnerkacke. Und nun?

Die Alternative hieß Moltke - Gymnasium – Gummersbach, mein Anmeldungsgesuch angenommen, aber nur die Aufnahme in die Klasse 8, also ein Jahr freiwillig zurück. Ich war restlos bedient. Meine Stimmung sackte auf den tiefsten Punkt. Meine Eltern waren froh über die Einschulung, meine Meinung hierzu nahm keiner ernst, mir hörte keiner zu, bzw. ich hatte keinen, dem ich dieses Dilemma mitteilen konnte. Ich blieb genau 14 Tage Schüler des Moltke-Gymnasiums. Die Schule in Wipperfürth teilte mit, dass sie bereit wär, mich in die achte Klasse auf zu nehmen. Kleiner Erfolg, weil dadurch die elende Fahrerei nach Gummersbach endete. Doch wohl fühlte ich mich überhaupt nicht. Es folgte die schlimmste Phase in meiner pubertären Entwicklung.

Meine Lust, zur Schule zu gehen sackte auf den tiefsten Stand. Ich begann die Schule zu hassen und zu schwänzen, Lehrer ärgern, eben halt Blödsinn machen.

Ich rauchte, was viele andere Schüler auch taten. Nachschub an Zigaretten erhielten wir beim „Franz“, einer uralten Wipperfürther Kneipe gegenüber vom Gymnasium. Dort traf sich regelmäßig die gesamte „Elite“ der Schüler. Wir pokerten um Zigaretten, Pfennige und sonstige Errungenschaften. Franz, der Wirt, verkaufte die Zigaretten für einen Groschen, also 10 Pfennig. Hatte man keine Lust zur Schule, ging man zum Franz oder in die „Donnerkuhle“, zu Frau Knieps. Wenn die Lehrer eine Klassenarbeit schreiben wollten und es waren wegen der Bewertung zu wenig Schüler anwesend, konnte es passieren, dass der ein oder andere Lehrer nachschaute, ob der ein oder andere Schüler doch gewillt war, am Unterricht teil zu nehmen,  so versuchte der Lehrer seinen Notenschnitt gerade zu biegen. Unser Englischlehrer, Herr Ganter, war so ein Typ. Er kam in die Kneipe, übersah die Gesamtsituation, gab einen aus und nahm uns in den Unterricht mit. Ich hatte bei diesem Lehrer einmal einen Klassenbucheintrag wegen 43 Minuten langem Austretens, er fand das zu lang.

Spaß machte das Mitwirken bei den Leuten der Schulzeitung. Texte zusammen stellen, das ein oder andere Gedicht veröffentlichen, einige stammten von mir. Ein Gedicht verursachte bei den Lehrkörpern großen Unmut:

 

Wenn wie immer sonst um acht,                        

die Penne ihren Anfang macht,                           

wird nicht lang herum gesponnen,

 frisch geschwänzt ist halb gewonnen.                

Denn die Arbeit, die wir schrieben,                      

wär für mich ne sechs geblieben. 

 Geht man einmal nicht zur Schule,                    

hockt man in der“ Donnerkuhle“,                 

trinkt man dort ein kühles Klares,

so was Hartes ist was Wahres.

Denn die Pauker, diese Nieten,

können uns doch nichts verbieten.

Wer hat was gegen`s Gammlerleben,

lange Haare und daneben,

Nietenhosen, Hippihemden

Und das Moos in Prass verschwenden.

Hat man einen in der Krone,

zieht man`s Hemd aus, oben ohne.

Tanzt man dann quer durchs Lokal

Pötten ist die bessre Wahl.

Beine lang die Kreise schwingen,

lallend wir ein Liedchen singen.

Ist man von der Kur noch sehr benommen,

und glücklich dann zu Hause angekommen,

pennt man eine Rund um die Uhr,

und ist fit für eine neue Tour.

Denn saufen macht das Leben angenehm,

und das Gammeln noch dazu bequem. 

 

Mein Schülerdasein im Wipperfürther Gymnasium endete, ich wechselte zur Realschule nach Hückeswagen in die Restzeit der Klasse 9a.

 

Realschule Hückeswagen

Meine Schulkameraden der Realschule Hückeswagen waren eine reine Chaotentruppe, die Lehrer hatten es besonders schwer. Mein Tischnachbar hieß Ulrich N., 198 cm groß, Chef der Klasse, zu jedem Scheiß bereit. Unsere erste Begegnung bestand aus einer Keilerei, die in der großen Pause im Klassenzimmer ausgetragen wurde. Der genaue Grund dieser Auseinandersetzung ist bis heute nicht geklärt. Die sehr ernsthafte Rangelei endete unentschieden. Er hatte ein blaues Auge, ich eine dicke Wange, die Kleidung beider Kontrahenten war etwas unordentlich, ein Stuhl der Klasse brach auseinander. Wir gaben uns die Hand und die Angelegenheit konnte begraben werden. Bei unserem Klassenlehrer sollten wir nach der großen Pause Geschichtsunterricht haben, er hielt uns über diverse Konflikte und andere Auseinandersetzungen erst einmal einen langen Vortrag. Ein Grinsen ging durch die Reihen, denn dadurch konnte man sich in der Zwischenzeit wichtigeren Dingen, wie vergessene Hausaufgaben, Kartenspielen oder Träumereien hingeben.

Wir Fahrschüler fuhren am Morgen und mittags mit der Eisenbahn, eigentlich ein Bus auf Schienen, genannt Schienenbus oder Triebwagen. Um mitfahren zu dürfen, benötigte man eine Schülermonatskarte, die kostete 4 DM. Viel Geld für einen Schüler, der wenig Geld sein Eigen nannte. Meistens benötigte ich diesen Betrag für andere Dinge, wie andere Mitschüler auch. Schwarzfahren konnte teuer werden, zumal regelmäßige Kontrollen abgehalten wurden. Schüler sind erfindungsreich, so halfen wir uns gegenseitig, denn bei dem Gedränge konnte der Kontrolleur schnell die Übersicht verlieren. So reichte man die Monatskarte durch das schmale Klappfenster über dem normalen Fenster einem draußen stehenden Schüler durch, der konnte mit Karte beim Kontrolleur einsteigen, und alle waren zufrieden, außer ich verpasste ich den Zug, dann war Auto-Stop, also per Anhalter angesagt.

Kaum zu glauben, aber es fand auch richtiger Unterricht mit Klausuren, auswendig lernen, Geographie, Mathematik Geschichte und Deutsch statt. Der Deutschunterricht mit seinem Deutschlehrer war ein Muss für Gedichtliebhaber. Alle Klassiker vom Taucher bis zur Glocke und geistigen Verse gehörten zum Repertoire dieses Deutschfanatikers mit rollendem RRRR.

Ich musste ein Gedicht aufsagen, um meine Deutschnote positiver zu gestalten, wie er immer zu sagen pflegte.

Das Gedicht hieß: Heilig Vaterland, von Rudolf Alexander Schröder. Ich weiß nur noch die ersten Zeilen, aber aufgesagt mit rollendem RRRR.

Oh, Herrrrrrr, Du hast ein Vaterrrrrrrrrland, ein geliebtes Land, ein heiliges Land….

Ich war so in meinem Element, dass ich gar nicht merkte, wie still es in der Klasse blieb, der Lehrer schaute mich mit einem Verzücken an, denn er konnte seine Begeisterung kaum ausdrücken. Nach dem Gedicht sah er mich etwas prüfender an und gab mir eine zwei.

Ich konnte es kaum glauben, meine Mitschüler unterdrückten ihr Lachen, überall gluckste es.

War dem Lehrer das ernst? Es sah so aus.

Einige der Lehrer und Lehrerinnen kauften regelmäßig im Schulkiosk eine Flasche Milch. Der Flaschenverschluss bestand aus Aluminiumfolie, wunderbar zum Präparieren mit Rizinusöl. Ein Mädchen unserer Klasse, Ricarda, war sehr zuckerkrank und musste Insulin spritzen. Sie brachte die nötige (aber gesäuberte) Spritze mit, um das Rizinusöl in die Milch zu bekommen. Das Unternehmen gelang recht ansprechend. Gewisse Lehrer verließen mehr als normal die Klassenräume, um sich wichtigeren Dingen zu zuwenden. Eine Lehrerin ließ sich krankschreiben. Allerdings konnten auch einige Schüler ihre Liebe zur Toilette nicht verleugnen…..

Das Musiklehrer immer alles so ernst nehmen müssen. Zufälligerweise war ich an diesem Unternehmen nicht beteiligt, wurde vom Lehrer aber beschuldigt. Was war geschehen?

Das Klavier hatte jemand im inneren des Klangkörpers auf den Seiten mit Klebebändern verklebt, zur Folge, das Klavier musste neu gestimmt werden, ein ziemlicher Aufwand. Unsere Klasse und ich betraten das Musikzimmer, setzten uns, der Musiklehrer stürmte herein, sah mich, und haute mir eine runter. Ich stand auf, ein Kopf größer als er, und haute ihm eine zurück. Der Lehrer war total perplex, und brüllte mich an, die Stimme überschlug sich, von wegen Folgen, Eltern sollten vorbeikommen, ich wusste überhaupt nicht worum es ging. Bis mich jemand aus der Klasse aufklärte. Ich sagte nur, „das war ich nicht“, zurück kam „glaube ich nicht“……

Ich packte meine Tasche und ging zum Bahnhof, um nach Hause zu fahren. Ich erzählte meinen Eltern von dieser Sache, drei Tage später besuchten mein Vater und ich die Schule, saßen beim Direktor, sprachen mit dem Musiklehrer, und alle hatten sich anschließend wieder lieb.

Nach der Schule wählten wir eine Wegabkürzung über einen naheliegenden Friedhof. Es standen zwei Schubkarren herum. Die leichten Schüler setzten sich in die Schubkarre, Parallelwege ausgeguckt, Startzeichen, und los ging das Rennen über den Friedhof bis zum Tor am anderen Ende. Leider fiel eine Schubkarre um, der Schüler viel heraus und die Karre landete in einem vorbereiteten Grab. Jemand hat dies beobachtet und die Polizei gerufen. Wir verkrümelten uns schnellstens in Richtung Bahnhof.

Am nächsten Schultag musste der Schuldirektor vor allen versammelten Schülern seine Belehrung halten. Keiner wusste, wer die Übeltäter waren….

Zu dieser Zeit gab es noch Mülltonnen aus Blech. Von der Schule zum Bahnhof durch die Stadt verlief die Straße bergab, versehen mit Kopfsteinpflaster. Die Mülltonnen waren gerade geleert worden, und standen, wie bestellt und noch nicht abgeholt, zu zweit, zu dritt oder alleine optisch von oben gesehen in einer Reihe an der abschüssigen Straße. Irgendeine Rangelei oder Geschubse unter Schülern gibt es eigentlich immer, oder schneller laufen, vielleicht auch stolpern. Jedenfalls eine obere Tonne fiel um, kullerte gegen die nächste und wieder die nächste. Es kullerten nachher fünf oder sechs Mülltonnen die abschüssige Strasse hinunter und verursachten einen Höllenkrach. Meine Güte, das wird wohl wieder Ärger geben….

Die Schulzeit in Hückeswagen endete, jeder erhielt sein Zeugnis, um beruflich mit einer Ausbildung weiter zu kommen. Mein Fazit zu dieser vergangenen Zeit ließ das Positive und das Negative gegen einander antreten. Das Negative gewann die Oberhand. Ich stellte fest, dass ich froh war, dieses teilweise unsinnige Oberlehrergehabe nicht mehr hören zu müssen. Das heißt nicht, dass ich etwas gegen das Lernen an sich habe, sondern das teilweise unsinnige „am- Leben- vorbei – Gehabe „ von Lehrkörpern, die ihre Machtpositionen konsequent nutzten,  aber die Realität, das wirkliche Leben aus den Augen verloren, und vergaßen, den Schüler auf das wirkliche Leben vor zu bereiten.

Wie heißt es so schön: Es gibt Menschen, Lehrer und Beamte.

Der schlimmste Tag in meinem Leben

 

Es gab und gibt in meinem Leben sicher noch viel schlimmere Tage jedoch auch viele sehr schöne Tage, aber ich entscheide mich für diese Geschichte:

Ich war 11Jahre alt und besuchte die erste Klasse des Humanistischen Gymnasiums in meiner Heimatstadt. 1953 waren noch längst nicht alle zertrümmerten Häuser wieder aufgebaut und die Schulen ebenso nicht. So hatten wir, wöchentlich abwechselnd mit einer anderen Schule, vormittags von 8-13 Uhr oder von 13-18 Uhr Unterricht . Die Schule lag auf einem kleinen Berg, den ich hinauf und hinunter gehen musste und anschließend lief ich noch ein Stück bis zur Straßenbahn-Haltestelle. Von dort aus fuhr ich etwa zwanzig Minuten mit der Bahn. Von der Haltestelle zu meinem Wohnort führte dann ein Fußweg von einer viertel Stunde, bis ich zu Hause ankam. Insgesamt benötigte ich für den Hin- und Rückweg je eine Stunde.

Es war ein kalter, regnerischer und windiger Abend, als ich an diesem schon dunklen Novembertag Schulschluss hatte. Wie immer waren die Straßenbahnen völlig überfüllt. Ich stand im zweiten Wagen in der Nähe der offen stehenden Tür. Es war so voll, dass ich nicht bis in den Wagen hineingehen konnte. Der Schaffner kam und ich bückte mich um meine Fahrkarte aus der Schultasche herauszuholen.

 

 

 

Genau in diesem Moment fuhr die Bahn in eine Kurve. Es gab nichts, wo ich mich hätte festhalten können. Alles ging so schnell, dass auch die neben mir stehenden Erwachsenen oder der Schaffner nicht in der Lage waren, mich festzuhalten. In hohem Bogen flog ich hinaus und landete mit dem Kopf voraus auf die Straße.

Ich verlor nicht das Bewusstsein und konnte nur nicht sogleich aufstehen. 

Hätte es damals schon so viele Autos wie heute gegeben, ich wäre wohl überfahren worden, denn die Straße ist heute sehr stark frequentiert.

Der Schaffner konnte wohl dem Fahrer ein Signal geben und die Straßenbahn hielt an. Fahrer und Schaffner und ein zufällig anwesender  Kontrolleur liefen herbei und trugen mich von der Straße weg auf den Gehweg. Sie redeten auf mich ein, ob ich mit Hilfe aufstehen könne. Nur eine Straßenlaterne ließ erkennen, dass ich blutüberströmt war. Ich stand wohl unter Schock und sagte, es sei mir nichts passiert, nur der Kopf täte  mir fürchterlich weh.

 

Die drei Straßenbahn - Angestellten berieten kurz, was zu machen sei. Der Fahrer drang auf Weiterfahrt, der Schaffner konnte auch nicht bei mir bleiben, er hatte ja Karten zu verkaufen. So blieb dem Kontrolleur nichts anderes übrig, als mit mir einen Arzt aufzusuchen. Der Schaffner reichte noch meine Schultasche an, die ich selber zu tragen hatte und dann gingen wir los. Hätten mich diese völlig ungeschickt reagierenden Männer noch zwei Haltestellen weiter mitgenommen, dann wären wir wenigstens ganz nah an der Praxis des Arztes gewesen! Der Kontrolleur wusste jedenfalls wo sich die Praxis befand. So aber musste ich diese Strecke auch noch gehen.

Aufgrund meines blutüberströmten Gesichtes und Mantels, kam ich gleich in den Behandlungsraum. Ich durfte mich auf eine Liege legen und nun erst merkte ich, dass meine Nase den stärksten Schmerz auslöste.

Der Arzt untersuchte mich, der Kontrolleur erklärte die Situation und dann erlebte ich den bis dahin schlimmsten Schmerz meines Lebens. Meine Nase war gebrochen und stand schief. „So“, sagte der Arzt zu mir, „du willst doch sicher ein hübsches Mädchen bleiben. Ich zeige dir jetzt einmal wie du aussiehst, wenn ich dir nicht ganz schnell helfe!“

Er nahm einen Spiegel und ich weinte laut auf, denn ich sah ein blutendes Gesicht und eine schief stehende Nase, wie eine Hexe aus dem Kasperletheater.

„Nun, nun, ich helfe dir ja aber du musst eine Minute ganz tapfer sein.“ Der Doktor klopfte mir beruhigend auf den Rücken.

Die Arzthelferin wusch mir erst einmal das Blut aus dem Gesicht. Dann hielt sie meinen Kopf fest und mit einem Ruck brachte der Doktor meine Nase wieder in ihre alte Stellung. Der Schmerz war so fürchterlich, dass ich mich nun auch noch übergeben musste. Ich konnte nicht schreien, sondern nur stöhnen. Die Arzthelferin stand schon mit einer Brechschale neben mir und hielt mir die Stirn fest. Ich weinte und rief nach meiner Mutter.

Ein Telefon und ein Auto hatten wir damals noch nicht und so konnte der Arzt nicht meine Eltern benachrichtigen. Es hätte mich niemand abholen können.

Ich begreife es bis heute nicht: nachdem festgestellt wurde, dass die Nase gebrochen war, zusätzlich mein Kopf und nun auch noch meine Nase entsetzlich weh taten, meinte der Arzt, dass ich aber laufen könnte, die frische Luft würde mir gut tun und in Begleitung des Kontrolleurs wurde ich nach Hause geschickt. Dem Kontrolleur wurde noch ein kleiner Bericht an meine Eltern mitgegeben. Der besagte, dass meine Nase gerichtet sei, die Schwellungen im Gesicht der Kühlung bedürfe und da ich wohl eine Gehirnerschütterung davon getragen habe, sollte ich ein paar Tage ruhig liegen. Der Krankenschein möchte baldmöglichst nachgereicht werden!

Weder Schmerzmittel noch ein Taxi erleichterten mir den Heimweg. Der Kontrolleur wurde auch immer ärgerlicher, da seine Dienstzeit längst vorüber war. Er hatte doch mit Sicherheit den Fahrplan dabei und hätte zumindest mit mir bis zu meiner Haltestelle fahren können!! Nein, wir gingen durch Wind und Regen und Dunkelheit über eine halbe Stunde zu Fuß.

Endlich kamen wir an und meine Eltern waren schon voller Unruhe, wo ich so lange geblieben wäre! Als sie mich sahen, schrien sie vor Entsetzen auf und erst die Erklärung des Kontrolleurs über diesen Unfall und das Schreiben des Arztes ließen sie erst einmal ruhiger werden. Sie hatten noch nicht begriffen, dass ich zu Fuß diese lange Strecke laufen musste.

Ich wurde schnellstens ausgezogen, gewaschen und in ein vorgewärmtes Bett gebracht.

Nun erst hörten sie von mir, welche Qualen ich in den letzten Stunden ausgestanden hatte. Immer wieder musste ich mich übergeben und weinte vor Schmerzen. Die ganze Nacht über wurden meine Schwellungen gekühlt, ein Schmerzmittel verabreicht und langsam konnte ich einschlafen.

Meine Nase ist nie mehr so geworden, wie sie einmal war – klein und wohlgeformt.

Nun stelle ich mir einmal vor, solch’ ein Unfall und die nachfolgende Behandlung eines 11jährigen Kindes würde heute in dieser Art und Weise  bekannt werden!!! Die Medien würden sich überschlagen, ein Rechtsanwalt nähme sich des Falles an, ein Facharzt würde zu Rate gezogen, ein Psychologe mit meinem vorhandenen Trauma beschäftigt und ein Schmerzensgeld mit Sicherheit fällig. Hinzu käme noch eine Anzeige an die Straßenbahn-Gesellschaft!

Damals geschah nichts dergleichen. Alle waren froh, dass ich noch lebte und damit war es gut!

Erinnerungen an meine Schulzeit

 

An meine Einschulung am 3. September 1954 kann ich mich nicht erinnern. Aber am Anfang bin ich wohl gern in die Schule gegangen. Nein, ich bin eigentlich immer gern in die Schule gegangen, aber nicht in jedes Unterrichtsfach. Und ich war eine sehr schüchterne und zurückhaltende Schülerin. Ich konnte mich immer erst melden, wenn ich sicher war, dass meine Antwort richtig ist. Das wurde mir leider immer wieder als schlechte Mitarbeit angekreidet.

 

 

Zu Anfang hatten wir in der damaligen St. Georg-Schule – die heute wieder diesen Namen trägt - sehr nette ältere Lehrerinnen. Meine erste Klassenlehrerin war Frau Jennerjahn. Schon in der zweiten Klasse bekamen wir eine andere Klassenleiterin, die ganz liebe Elsa Böckmann. Eine richtig liebe Omi. Ich meine, sie war eigentlich Handarbeitslehrerin und musste wohl einspringen.

In der Grundschule gab es in meiner Klasse mehrere Mädchen, Marlies und Maria zum Beispiel und noch ein paar andere, die ich sehr gern mochte. Es waren alles Töchter von Ärzten oder anderen Intellektuellen. Ungefähr während der großen Ferien vor der dritten Klasse verschwanden sie nach und nach in den Westen und ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört. Ich vermute, dass auch unsere erste Klassenlehrerin auf diese Weise verschwunden ist.

 

 

 

Dageblieben ist Martin, ein verwöhntes und verhätscheltes Professorensöhnchen und Einzelkind. Irgendwie mochte ich ihn. Vielleicht tat er mir auch Leid, weil er öfter mal gehänselt wurde. Unsere Eltern freundeten sich an und die Freundschaft mit seiner Mutter hält noch heute. Sie ist jetzt über neunzig. Sein Vater ist schon lange tot. Martin habe ich leider doch irgendwann aus den Augen verloren, bin aber mit seiner ersten Frau gut befreundet und weiß dadurch noch heute, was er treibt und wie es ihm geht.

Schon in der zweiten Klasse wurde „gesiebt“ und es hieß, Kinder, die gut genug seien, könnten ab der dritten Klasse auf die Schule für erweiterten Russischunterricht – später Herderschule - gehen und ab da Russisch lernen und würden später automatisch bis zum Abitur kommen.

Martin ging nicht mit auf diese Schule, aber durch die Freundschaft unserer Eltern blieb die Verbindung weiter bestehen. In der Pubertät haben wir uns sogar einmal geküsst, aber mehr ist daraus nicht geworden, obwohl es der sehnliche Wunsch seiner Mutter war, dass er einmal mich oder eine meiner Schwestern heiratet.

Zu Anfang ging das noch ganz gemütlich auf der neuen Schule und mit guten Lehrern. Ich erinnere mich an unseren gut aussehenden weißhaarigen Direktor, Herrn Gutknecht, der leider bald abgelöst wurde, weil er vermutlich nicht in das „rote“ Konzept dieser Schule passte. Oder er ist einfach nur in Rente gegangen.

An die erste Klassenleiterin, Frau Wilkens habe ich keinerlei Erinnerung, sehe nur ihre einmalige Unterschrift auf meinem Zeugnis.

Es muss in der vierten Klasse im Heimatkundeunterricht gewesen sein. Da hatten wir eine richtige kleine Giftnatter als Lehrerin. Sie fragte irgendwann, wer von uns denn zur Christenlehre ginge. Naiv, wie ich war, meldete ich mich brav – natürlich als einziges Kind – und wurde vor der ganzen Klasse von ihr lächerlich gemacht und gefragt, ob ich meinen Gott denn schon mal gesehen hätte.

Ihr Name fällt mir nicht mehr ein, aber das ist wohl auch kein Schaden.

Eine meiner Lieblingslehrerinnen war Marianne K., eine junge Sport- und Mathematiklehrerin, die auch ab der vierten Klasse drei Jahre lang unsere Klassenleiterin war. Sie mochte mich wohl auch ganz gern. Jedenfalls förderte sie mich immer im Sport, so dass ich sogar in der siebten Klasse einmal bei Kreismeisterschaften im Geräteturnen antreten und einen guten Platz erringen konnte.

In der DDR hatten Lehrer es sicher besonders schwer, wenn sie mit der „verordneten“ Gesinnung nicht konform gingen. Aber man hatte ein Gespür füreinander. Als ich die Schule verlassen hatte, haben wir uns sogar richtig angefreundet und ich habe sie und ihren Mann öfter zu Hause besucht.

Ab der siebten Klasse wehte ein schärferer Wind an unserer „Elite“-Schule. Wir bekamen einen jungen ehrgeizigen Lehrer, Horst H. Er unterrichtete uns in Deutsch und bot außerdem Schwedisch an, wofür ich mich mit Freuden meldete. Sprachen – außer Russisch – haben mir schon immer Freude gemacht und sind mir relativ leicht gefallen.

Herr H. unterrichtete Schwedisch auch an der Volkshochschule. Nachdem ich nach der zehnten Klasse auf Anraten meiner Eltern die Schule verlassen hatte, habe ich Schwedisch und Englisch an der Volkshochschule weiter gemacht und in beiden Sprachen die Abiturprüfung abgelegt.

Dann war da ein sehr nettes Lehrerehepaar, die Schmidtmanns. Bei ihm hatten wir Musik und bei ihr, leider erst in der zehnten Klasse, sehr guten Englischunterricht. Beides gehörte zu meinen Lieblingsfächern. Ab der siebten Klasse habe ich sehr gern im Chor mitgesungen, was zu meinem Glück als „gesellschaftliche Arbeit“ anerkannt wurde, so dass ich mich bei politischen Aktivitäten zurückhalten konnte.

Aber um Russisch kam man auf dieser Schule natürlich nicht herum.

Ab der neunten Klasse war da nach den Sommerferien plötzlich ein russischer Lehrer an unserer Schule, der uns ab sofort unterrichten sollte. Er hatte es nicht leicht mit uns und wir es nicht mit ihm. Anatoli Pawlowitsch sprach kein Wort Deutsch! Die Vorlauten in unserer Klasse nutzten das schamlos aus und warfen ihm so manch unfeines Wort an den Kopf. Als es ihm zuviel wurde, merkte er sich die Ausdrücke und fragte dann in der Pause seine Kollegen, was sie bedeuteten….

Irgendwie wurden wir nicht recht warm mit Anatoli P. und er auch nicht mit uns, obwohl er eigentlich ein netter Kerl war. Manchmal tat er mir sogar Leid, wenn es wieder mal drunter und drüber ging und niemand ihm zuhörte.

Ich glaube, er ist nur ein Jahr geblieben.

Herr H. hat unsere Klasse von der siebten bis zur zehnten Klasse begleitet. Er war mir rein äußerlich nicht besonders sympathisch. Obwohl er noch sehr jung war, hatte er schütteres farbloses Haar und war sehr blass. Nicht unbedingt mein Typ. Aber sein Unterricht war gut. Und er hatte eine wunderschöne Schrift, wie ich sie noch von keinem Mann gesehen habe. Die Klasse ist ihm nie auf der Nase herum getanzt. Obgleich er nur zehn Jahre älter war als wir, hatten alle Respekt vor ihm.

Mit ihm haben wir an den obligatorischen Wandertagen immer schöne Ausflüge und auch Klassenfahrten gemacht.

Viel später wurde ich einmal zu einem Klassentreffen eingeladen – dreißig Jahre nach dem Abitur, obwohl ich das gar nicht mitgemacht hatte. Ich bin hingefahren und war entsetzt – lauter alte Leute! Horst H. war auch da. Er war noch mit Abstand der Jugendlichste von allen. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er als einziger Jeans trug.

Plötzlich Königin

 

Es war 1982 und ich war in der dritten Klasse. Eine sehr große Klasse mit über dreißig Kindern. Unsere Klassenlehrerin, Frau Oelrich, wollte ein Musik-Theaterstück mit uns aufführen, sie wählte „Schneewittchen“ aus. Wir waren erfüllt von aufgeregter Vorfreude über diese willkommene Unterbrechung des Schulalltags. 

Neben dem Schauspiel sollten wir Kinder auch singen und musizieren, jeder sollte den Part erhalten, der am besten zu ihm passte, versprach unsere Lehrerin. Leider erkrankte ich gerade in der Woche, als die Rollen verteilt wurden! Und so wurde aus mir statt des ersehnten Schneewittchens (deren Rolle ich als Blondschopf allein wegen meiner Optik nicht erhalten hätte) ein Kaninchen, das mit Schneewittchen durch den Wald hoppeln durfte.

 

Dies traf mich zuerst tief, vor allem, da ich nun keinen Sprechtext hatte (denn ich habe schon immer gerne geredet). Aber ich fügte mich (kaum murrend) in mein Schicksal und stürzte mich in die Kaninchenrolle, nervte meine Mutter mit dem Hasenkostüm, in dem ich ununterbrochen durch unser Haus hoppelte und sie löcherte: „Sehe ich gut aus? Ist das gut so?“

Der Tag der Aufführung rückte näher, die Generalprobe war absolviert. Am heißersehnten Nachmittag füllte sich die Aula nach und nach mit Kindern, Eltern, Großeltern und Lehrern. Frau Oelrich konnte nicht verbergen, dass sie fast aufgeregter war als wir Kinder, die immer wieder kichernd und mit klopfenden Herzen durch den Vorhang auf die vollbesetzten Reihen lugten. 

Bis auf zwei Kinder, die sich krank gemeldet hatten, war an diesem Nachmittag die ganze Klasse in die Aula eingefallen, hatte sich verkleidet und schminken lassen.  Nun wirbelten wir vor lauter Aufregung hinter dem Vorhang herum, als das Unfassbare geschah: Nicole, die böse Königin (auch im wirklichen Leben kein besonders nettes Mädchen), erbrach sich mitten auf die Bühne. Kreidebleich im Gesicht lief sie weiter und aus ihrem Mund ertönte ein schriller Dauerschrei. (Was umso grotesker aussah, als sie schwarz geschminkte Lippen und dunkel umrandete Augen hatte). Sie erbrach sich ein zweites Mal, diesmal auf den Vorhang. 

Meine Klassenlehrerin stöhnte auf, sie stand direkt neben mir. Besorgt war ihr Blick, als sie die weinende Nicole aus ihrem Kostüm schälte, sie tröstete und umzog und von der Bühne hinunter zu ihren Eltern führte. Im Publikum hatte sich eine fragende Unruhe ausgebreitet. Alle hatten mitbekommen, dass die Hauptdarstellerin unpässlich war und ausfiel, denn Nicole hatte beim Verlassen der Aula wie eine Sirene geheult und ihre Eltern angekeift. Noch vor der Tür war ihr Zetern zu vernehmen. 

Erschrocken umringten wir Kinder Frau Oelrich, die sich die Haare raufte. „Was machen wir denn jetzt?“ „Wir wollen so gerne unser Stück aufführen. Bitte!“  „ Geht`s nicht auch ohne Nicole?“  Die Kinder bombardierten unsere Lehrerin mit Fragen. Da fiel Frau Oelrichs Blick plötzlich auf mich, um dort einen Moment zu verharren. Ich bemerkte es nur am Rande, war ich doch tief in die Sorge verstrickt, nun doch nicht mein mühsam geprobtes Hasenhoppeln vorführen zu können. „Uschi! Komm mal her.“ 

Ich trat mit klopfendem Herzen vor, wusste ich doch nicht, was ich gerade falsch gemacht hatte und blickte zu ihr auf. „Willst Du die böse Königin spielen?“  Mein Herz blieb stehen und mein Mund stand offen. Die Hauptrolle! Wie kam sie gerade auf mich? (Im Nachhinein eine klare Sache: Ich war der unerschrockene Klassenkasper und sehr spontan!)  Ich fühlte mich plötzlich losgelöst von mir selbst und sah mich nicken. Frau Oelrich steckte sofort ihren Kopf aus dem Vorhang und rief: „Einen Moment bitte, es geht gleich los!“ 

Sie wandte sich mir wieder zu. „Prima, dann schlüpf hier rein.“ Sie reichte mir Nicoles Kostüm (auf dem – wovon ich mich schnell noch überzeugte - Gott-sei-Dank keine Kotze klebte). „Anja, hol mir die Schminkstifte!“ Jetzt ging alles rasend schnell. Sie malte mir so fahrig im Gesicht herum, dass mein Gesicht weitaus gruseliger aussah als das von Nicole, aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt glücklicherweise nicht. „Aber Frau Oelrich!“, raunte ich ihr zu, als das Publikum voller Erwartung verstummte und Tobias vor dem Vorhang die Ansage machte. „Ich kann doch den Text gar nicht!“  Sie strich mir über die Wange. „Natürlich kennst Du ihn! Sprich ihn einfach so, wie Du meinst! Toi, toi!“ Damit schob sie mich aus dem Vorhang, denn schon war ich dran. 

 

 

 

Wie ich die ganze Chose hinter mich brachte, weiß ich nicht mehr im Einzelnen. Aber es waren ein paar kräftige Lacher aus dem Publikum dabei. Eine Szene werde ich nie vergessen: Als der Jäger nicht auftauchte, weil Frau Oelrich entgangen war, dass er zur Toilette gegangen war. „Jäger!“, rief ich. „JÄGER!“, etwas lauter. „WO -BLEIBT - DER - JÄGER!“  Ein leichtes Kichern breitete sich aus. Ich musste improvisieren, schritt nach vorne an den Rand der Bühne und versuchte eine dramatische Pose ein zu nehmen: „Ja, ihr Leute, so ist das mit den Untergebenen: Wenn man sie am dringendsten braucht, ist keiner zur Stelle.“ 

 

Die ersten Lachsalven ertönten. Ich blies mir den Pony aus dem Gesicht, den mir die Krone ständig hineindrückte. Noch immer war kein Jäger zu sehen. „Aber auch das werde ich wie eine große Königin ertragen. Undankbares Volk!“  Wieder Lachen. In diesem Moment schob Frau Oelrich mit hochrotem Kopf den aufgelösten Jäger durch den Vorhang. Ich erfasste sofort, dass er gleich anfangen würde zu heulen, legte ihm einen Arm um die Schulter und flanierte mit ihm über die Bühne: „Na, na, keine Angst, Jäger, ich werde Dich schon nicht hinrichten lassen, bloß weil Du zu spät kommst - jedenfalls nicht, wenn Du mir Schneewittchens Herz bringst!“ Wieder schütteten sich die Zuschauer aus vor Lachen, aber der Jäger war wieder in der Spur.

Als ich am Ende vor dem Spiegel tot zu Boden sank, stieß ich mir noch den Kopf an und schrie laut „Aua!“, aber es war geschafft. Wir Kinder verschwanden unter Applaus hinter dem Vorhang und warteten darauf, dass Tobias uns einzeln und in Gruppen hervorrief, damit wir uns verbeugen konnten.  

Da ich als letzte dran sein würde, hatte Frau Oelrich ausreichend Zeit mich zu drücken und zu herzen. „Du bist einfach unglaublich!“ war das schönste Kompliment, das meine Lehrerin mir je machte und meine Wangen glühten vor Stolz. „Die böse Königin gespielt von Nicole – nein, äh von Uschi!“, verhaspelte sich Tobias und ich trat heraus. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, das Bad im Applaus, das Füße stampfen und die „Zugabe-Rufe!“. 

Als die Eltern und Lehrer in der ersten Reihe aufstanden und mir zu lächelten, hätte ich vor Freude beinahe begonnen zu weinen! Ich hob die Arme und winkte ihnen zu, hörte gar nicht mehr auf, mich zu verbeugen, bis Frau Oelrich mich endlich zurück in die Reihe der Darsteller zog, die sich inzwischen alle aufgestellt hatten.

Dieser Nachmittag war eine entscheidende Weiche in meinem Leben: Ich spielte weiter Theater bis hin zum Abitur, studierte u.a. Darstellendes Spiel und bin heute die „Theaterfachfrau“ an unserer Grundschule. Ich will den Kindern dieselbe Freude und das wachsende Selbstbewusstsein vermitteln, das ich damals verspürte. Und ich glaube, es macht ihnen Spaß!

"Affentheater"

 

Als ich damals zur Schule ging, wurde der Schulranzen von uns "Affen" genannt. Der Ausdruck stammte aus dem 1. Weltkrieg. Die Soldaten nannten Ihre Rucksäcke so, und die wiederum wurden in der Amtssprache Ranzen genannt. Vorbild dafür waren die Affen im Urwald, die ihre Jungen stets mit sich herumtragen.

Ich schnallte mir also morgens meinen Affen auf den Rücken, ließ meine Hühner in den Garten und ging in die Schule.

Unser Lehrer war ein alter Mann, er war hässlich und seine Ohren ungleichmäßig. Ein Ohr war höher angeordnet als das andere. Sein Gesicht war fleckig und voller Warzen. Seine Ansichten, höchst altmodisch.

Das störte mich wenig, Gesichter sagten mir nichts und durch seine Schönheitsfehler hatte ich die Möglichkeit, ihn immer zu erkennen. Altmodisch waren meine Eltern auch, damit konnte ich umgehen. Kurzum, im Gegensatz zu meinen Klassenkameradinnen: Ich mochte ihn!

Ich kam in die Klasse und merkte, dass die anderen Mädchen über den Lehrer schwätzten. Sie benutzten das Wort: „Opa“ des Öfteren und achteten darauf, dass ich nichts mitbekam. Alle wussten, dass ich Herrn Jeschke mochte.

Nach den Pausen war es immer laut in der Klasse, drum stand eines der Mädchen „Schmiere“ an der Tür, und wenn er kam sagte sie: „Opa kommt!“ Mit seinen schiefen Ohren hörte der alte Mann aber sehr gut. Also entging es ihm nicht. Seit dem Tag nannte er die Schülerin, die an der Tür gelauert hatte „Großtöchterchen“.

Längst hatte der Schuldiener die Glocke geläutet und er war immer noch nicht da. Außer mir, schien niemand erstaunt darüber zu sein. Die anderen Mädchen hofften schon, dass der Unterricht ausfiel, als ein Lehrer aus der Nachbarklasse herein kam. Er versorgte uns mit Aufgaben und ließ die Klassentür offen. Hin und wieder kam er und schaute nach uns. Nun erfuhr auch ich, dass Herr Jeschke krank war.

Am nächsten Morgen, wussten alle, dass Herr Jeschke sehr krank war, und deshalb auch nicht mehr kommen würde. Die ganze Klasse träumte von einem Schuljahr ohne Lehrer.

Punkt acht Uhr ging die Klassentür auf, und ein ganz junger Mann kam ins Klassenzimmer. Er stellte sich vor: „Mein Name ist Koschinski, ich bin ab sofort Euer neuer Klassenlehrer.“ Je länger ich ihn anschaute, desto mehr erinnerte er mich an Herrn Ritzekalla. Sein ganzes Benehmen, seine Bewegungen, ich war mir fast sicher, es war Herr Ritzekalla!

"Rizekalla" hatte sich einst bei uns als Soldat vorgestellt, der gegen Ende des Krieges bei uns übernachtete. Er wohnte drei Tage in meinem Zimmer, nahm an den Mahlzeiten teil und verschwand durchs Fenster, ohne die Rechnung zu bezahlen.

Ja, das würde meine Mutter sicher interessieren. Ich überlegte ob ich es ihr erzählen sollte. Aber meine Mutter hatte überall erzählt: „Anneliese lügt wenn sie den Mund aufmacht!“ Deshalb glaubte mir ja niemand. Aus diesem Grund sagte ich auch nichts.

Nach der großen Pause kam der neue Lehrer mit mehreren älteren Schülern, und schleppte nagelneue Lesebücher in die Klasse. Die Bücher stapelte er im Wandschrank, den er mit einem Schlüssel verschloss. Er selbst hatte eines der Bücher.

Nun muss ich dazu sagen, dass seit meinem ersten Schuljahr, Schulbücher Mangelware waren. Die erste Fibel mussten alle Mütter von einem einzigen Exemplar in ein Heft abschreiben. Dabei war allein der Besitz eines Schulheftes schon eine Seltenheit. Der Vater meiner Freundin hatte damals aus der Fabrik Journalhefte für den Zweck „mitgehen“ lassen. Danach hatten wir zu vier oder fünf Schülern, ein gemeinsames Lesebuch.

Jetzt sollte es also neue Lesebücher geben, für jeden eines, das war für uns was ganz Besonderes. „Also“, begann Herr Koschinski, „morgen bekommt ihr alle ein Lesebuch, ihr müsst dafür fünfzig Pfennig und zwei Zigarren mit in die Schule bringen.“ Die fünfzig Pfennig waren ein Problem, denn gerade war die Währungsreform vorbei. Die Leute hatten alle kein Geld und die Hausfrauen drehten ihre Geldbeutel dreimal um, bevor sie ihn aufmachten. Auf den Sparbüchern wurde eine Null gestrichen, wer vorher 100 Mark gespart hatte, konnte jetzt nur noch 10 DM ausgeben.

Auf Deutsch gesagt, fünfzig Pfennig waren damals sehr viel Geld.

Ich fand mich damit ab, dass ich das Geld nicht bekommen würde. Fragen wollte ich aber trotzdem.

Als ich mittags heimkam, war mein Vater noch da und ich erzählte ihm von dem neuen Lehrer und dem Schulbuch.

„Wie heißt denn dein neuer Lehrer?“, wollte er wissen. „Koschinski, sieht aber aus wie Herr Ritzekalla“, sagte ich ein wenig vorsichtig. Das einzige was er dazu sagte war: „Es gibt eine Redensart: Koschinski war ein Pole, vom Scheitel bis zur Sohle.“ Die Angelegenheit wurde auf den Abend verschoben. Ich würde also das neue Buch bekommen.

Mein Vater fuhr mit seinem Fahrrad wieder zur Arbeit, und gleich darauf hatte es meine Mutter plötzlich sehr eilig. Sie zog einen Mantel über und eilte aus dem Haus. Sie hatte genau zugehört und die Tatsache, dass ich fünfzig Pfennig wollte, versetzte sie in Alarmbereitschaft. Bei unserem Kaufmann war eine Verkäuferin, deren Schwester mit mir in eine Klasse ging. Zu ihr eilte sie. Gisela, so hieß das Fräulein, sollte ihre Schwester fragen ob ich die Wahrheit gesagt hatte. Nie im Leben wollte sie mir die fünfzig Pfennig geben. Als Gisela um drei Uhr wieder zur Arbeit fuhr, klingelte sie bei uns und berichtete, dass ihre Schwester die gleiche Geschichte erzählt hatte. Trotzdem, sie änderte ihre Meinung nicht, von ihr würde ich kein Geld bekommen!

Ich verließ mich ganz auf meinen Vater, er würde mich nicht in Stich lassen. Am Abend kam er und seine Laune war gut. Nach dem Essen holte er ein kleines Schächtelchen aus der Schublade. „Schau“, sagte er, „hier habe ich dir zwei normale Zigarren.“ Er steckte sie sorgfältig in das Kästchen. Dann zog er aus seinem Zigarrenetui noch zwei Sumatra Zigarren. „Dieses sind besonders teure Zigarren, und wenn der Lehrer auf die fünfzig Pfennig verzichtet, gibst du ihm die. Wenn er die fünfzig Pfennig trotzdem will, steckst du die teuren Zigarren wieder ein und gibst im die billigen und die fünfzig Pfennig.“ Meine Mutter kreischte: „Ich habe kein Geld, von mir kriegt sie es nicht!“ Vater hatte mir das Geld schon zugeschoben, und ich packte alles sorgfältig in meinen Affen.

Ja, der junge Herr Lehrer kam am nächsten Tag gleich zu Sache. Er hatte sich eine Liste angefertigt, und rief eine nach der anderen auf. Komisch, alle hatten deswegen Streit zu Hause gehabt, aber alle hatten das Geld sowie die zwei Zigarren. Die Liste war nach dem Alphabet, und ich kam ziemlich zum Schluss an die Reihe. Auf seinem Pult türmten sich schon die Zigarren und die Fünfzig-Pfennig-Stücke. Auf meinen Handel ließ er sich nicht ein. Er wollte zwar sehr gern die guten Zigarren, die ich aber schnell wieder wegsteckte, aber auf die fünfzig Pfennig mochte er auch nicht verzichten. Ich gab ihm das Geld und nahm das Kästchen an mich. Dabei beobachtete ich, wie seine Augen auf dem Schächtelchen klebten. Schadenfroh steckte ich die Schachtel wieder in meinen Ranzen und das Buch, das ich ja nun erworben hatte.

Anschließend hatten wir noch eine Stunde Rechnen und nach der Pause mussten wir singen. Da wir nach der großen Pause nicht mehr an unseren Affen mussten, merkte ich nicht, dass der nicht mehr da war.

Herr Koschinski hatte seine Zigarren gut verpackt und war als erster aus dem Klassenzimmer verschwunden. Ich ging wie die anderen Mädchen auf den Flur, meinen Mantel anzuziehen. Dann ging ich zurück an meinen Platz um meinen Affen zu holen.

Meine Hand griff ins Leere. Ungläubig bückte ich mich und schaute unter die Bank. Das konnte doch nicht sein, da war nichts! Die anderen Mädchen stürmten aus dem Klassenzimmer, während ich mich heulend auf meinen Platz setzte. Nicht auszudenken, wenn ich ohne meinen Ranzen nach Hause kam. Lilo, die Bäckerstochter kam zu mir und fragte: „Hat dir jemand was getan?“ „Nein“, war meine Antwort, „mein Affen ist weg.“ Komm wir suchen das Klassenzimmer durch“, munterte Lilo mich auf, „der kann doch nicht weg sein!“

Systematisch gingen wir von einem Platz zum anderen schauten in jede Ecke, unter der Tafel und auch dahinter. Wir sahen auch unter dem Pult nach und auf dem Flur. Dann hatte es Lilo eilig, sie musste zum Bus. Weinend ging ich nach Hause. Es könnte ja sein, dass die Mädchen mir einen Streich gespielt hatten. Nach dem Essen wollte ich noch einmal zur Schule gehen und suchen.

Mein Vater kam mir entgegen. „Wo bleibst du denn so lange, und wo um Himmels Willen ist dein Ranzen?“

Schnell erklärte ich ihm was passiert war und er riet mir, noch einmal nachzusehen, wenn ich gegessen hätte. Wenn ich ihn dann immer noch nicht gefunden hätte, dann sollte ich zu ihm in die Fabrik kommen. Er versprach, dann mit mir in die Schule zu gehen.

 

Ich traute mich kaum ins Haus. Das Handgelenk meiner Mutter war beängstigend locker. Da ich nun ohne Affen kam, und auch das neue Buch nicht zeigen konnte, stempelte sie mich lautstark als Lügnerin ab.

Aber das war ich ja gewöhnt. Es machte mir auch nichts mehr aus, vielmehr grübelte ich nach, wo der Affen geblieben sein konnte. Auch schoss mir der seltsame junge Lehrer und der Ritzekalla immer wieder durch den Kopf. Dann sah ich wieder den Berg Geld, und den noch größeren Haufen Zigarren vor meinen Augen. Er hatte so lüsternd nach den teuren Zigarren gesehen. Nein das war Blödsinn, ein Lehrer macht das nicht. Trotzdem fragte ich meine Mutter: „Der Ritzekalla, war der Lehrer?“ Vorwurfsvoll sagte sie: „Herr Ritzekalla, bitte, aber davon will ich nichts mehr hören!“

Ihre Theorie war folgende:

Ich hatte den Schulranzen absichtlich nicht mitgebracht. Nun hatte ich einen Grund, noch einmal in die Stadt zu gehen, um dort für die Zigarren und das Geld etwas zu kaufen. Ganz klar, denn ich war ja immer unehrlich. Ihr Gerede kränkte mich, mir war zum Weinen zumute.

Als ich an der alten Fabrik vorbei kam, wo die vielen Kinder wohnten, mit denen ich nicht spielen durfte, kam gerade Ulla heraus. „Wohin gehst du?“, rief sie mir nach.

„In die Schule, meinen Affen suchen!“ Obwohl ich ein striktes Verbot hatte, mich mit den Kindern abzugeben, fragte ich sie, ob sie Zeit hätte, mit mir in der Schule, nach meinem Affen zu suchen.

Ja, sie hatte Zeit und Lust und ging gern mit. Wir gingen den Umweg über die Eckstraße, wegen meiner Mutter. Von Nahem konnte sie nichts sehen, aber von Weitem sah sie wie ein Habicht. Geduldig suchte Ulla mit mir das Klassenzimmer gründlich durch. Wir ließen keine Ecke aus, und suchten auch den Flur und die anderen Klassenzimmer ab. Kurzum das ganze Gebäude. Dann gingen wir zum Schuldiener und fragten ihn, ob er den Ranzen gefunden hatte. Er schimpfte mit uns, weil wir uns ungefragt im Schulhaus herumtrieben. Außerdem musste er den Konferenzraum fegen, weil da heute noch Lehrerversammlung sei. Wir verließen fluchtartig das Schulgebäude denn wir hatten Angst, vom Rektor erwischt zu werden.

„Was jetzt?“, fragte Ulla. Nach kurzem Überlegen kam es von mir: „Jetzt muss ich zu meinem Vater, in die Fabrik.“ Nein dahin wollte sie nicht mit, denn die meisten Frauen aus dem alten Fabrikgebäude arbeiteten dort, und mein Vater war dort der Werkmeister. „Dann musst du jetzt allein weiter“, sagte sie und trennte sich am Marktplatz von mir.

Mein Vater machte noch einen Rundgang durch die Werksräume, dann übergab er die Aufsicht an seine Vertretung. Er ging nun mit mir zur Schule. Als ich ihm sagte, dass da heute Lehrerbesprechung sei, fand er es ganz günstig. Da wollte er sich den Koschinski mal vorknöpfen.

Zuerst schlichen wir ins alte Schulgebäude. Und ich zeigte ihm mein Klassenzimmer. Er ließ es sich nicht nehmen genau alles durchzusehen. Er sah auch in alle Schränke, sofern sie nicht verschlossen waren. Beim Wandschrank wollte mein Vater wissen was darin sei. „Da waren die neuen Bücher drin, aber jetzt ist der Schrank leer“, wusste ich zu berichten. „Und warum ist er dann abgeschlossen?“, wollte er wissen. Weil ich keine Antwort wusste, und der Ranzen nicht zu finden war, ging mein Vater zielstrebig in den Neubau, Richtung Rektorat. Mir zitterten die Knie, vor dem Rektor hatte ich Angst, warum wusste ich aber nicht.

Der Rektor ordnete mehrere Blätter und war dem Anschein nach im Begriff, in das Lehrerzimmer zu verschwinden. Über unseren Besuch war er nicht erfreut. Vater berichtete von den neuen Büchern, die wir mit fünfzig Pfennig und zwei Zigarren bezahlt hatten und von meinem Ranzen, der plötzlich verschwunden war. Der Rektor war wie vom Blitz getroffen, von einer Bezahlung der Schulbücher wusste er nichts. Wie eine Gewitterwolke verschwand er im Lehrerzimmer, nachdem er uns zum Warten aufgefordert hatte.

Es dauerte gar nicht lange, da kam er wieder zurück. „Ich habe mit dem Herrn Koschinski gesprochen, er sagt, sie sollen mal überprüfen, ob ihre Tochter die Wahrheit sagt.“ Dann drehte er sich um, um in dem Konferenzraum zu verschwinden.

Inzwischen bereute ich es, nicht aufgepasst zu haben, als die Lehrer über den Flur gingen. Wenn Koschinski wirklich Ritzkalla war, Vater hätte es gemerkt, er erkannte jedes Gesicht wieder, was er schon einmal gesehen hatte. Wir suchten nun den Schuldiener, und fanden ihn im alten Schulhaus.

Nur weil ich nicht allein war, entging ich seinen Flüchen. Schließlich begleitete uns der Mann in unsere Klasse. Er öffnete die Tür, und wir gingen hinter ihm in den Klassenraum. „Was suchen Sie?“, fragte er mürrisch. „Einen Schulranzen hellbraun, aus Leder“, antwortete mein Vater für mich. „Meinen Sie den?“, fragte der Schuldiener und zeigte auf meinen Affen, der genau mitten unter der Tafel stand.

Auf die Stelle hatte ich schon x-mal geguckt, wo kam der her? Mein Vater ging an den Wandschrank, in dem jetzt der Schlüssel steckte. Er war leer, so wie ich es gesagt hatte. Ich schaute in den Affen und war froh, dass das Lesebuch drin war. Mein Vater nahm den Ranzen und schaute hinein. „Ja, das Buch ist da, aber wo ist das Schächtelchen mit den Sumatra Zigarren?“ Der Schuldiener beteuerte sie nicht zu haben. Komischer Weise glaubte ich ihm.

„Das hat noch ein Nachspiel“, drohte Vater, „morgen Mittag komme ich wieder!“

Ich verstand ihn nicht, er hatte Zigarren genug, warum regte er sich auf?

Am nächsten Morgen waren wir wieder ohne Lehrer. Herr Koschinski kam nicht. Wieder wurde die Tür aufgelassen und der Lehrer der Nachbarklasse versorgte uns mit Aufgaben.

Plötzlich hörten wir Schritte auf der Treppe, und kurz darauf betrat Herr Jeschke das Klassenzimmer.

Weil Herr Koschinski sich aus dem Staub gemacht hatte, verzichtete mein Vater auf den erneuten Besuch beim Rektor. Wir hielten es mit „Opa Jeschke“ aus, bis das Jahr um war, und er hielt es mit uns aus. Dann kam die große Überraschung.

Am letzten Schultag verlangte Herr Jeschke die Lesebücher. Sie seien Eigentum der Schule. Ich regte mich nicht auf, denn ich war auf alles gefasst. Die anderen Mädchen machten ein fürchterliches Theater und betonten: (Es klingt mir heute noch im Ohr) Für die Bücher haben wir 2 Zigarren und fünfzig Pfennig bezahlt, die geben wir nicht mehr her!

Am Ende gab jedes sein Buch her.

Meine Mutter sah sich bestätigt darin, dass ich wieder mal gelogen hatte. Mein Vater allerdings fragte: „Du bist aber schon sicher, dass der Lehrer Koschinski hieß, und nicht Ritzekalla?“ Ich antwortete genau das, was ich immer schon vermutet hatte: „Ritzekalla ist Koschinski, Koschinski ist Ritzekalla!“ Mutter hörte den Namen und fragte: „Was ist mit Herrn Ritzekalla, wo ist der?“ Vater und ich gingen hinaus und schüttelten uns vor Lachen.

Nicht nur meine Mutter, auch 55 Schüler, (so groß waren unsere Klassen damals) waren auf ihn reingefallen!

Zähmung einer Widerspenstigen

 

1954 wechselte ich von der Volksschule zur Realschule in Werne, die erst neu errichtet worden war. Für Jungen gab es zwar schon ein Gymnasium, aber für Mädchen schien das damals noch nicht so nötig zu sein – so nach der Auffassung, die heiraten ja sowieso bald, wieso solch eine aufwändige Schulausbildung. Allerdings bestand die Möglichkeit, mit einem guten Zeugnis nach der Quarta in die Untertertia auch ins Gymnasium in Lünen zu wechseln.

 

Da für mich mit 13 Jahren mein Berufsziel, Medizin zu studieren, um später die Praxis meines Großvaters zu übernehmen, bombenfest stand, war es selbstverständlich, dass ich dann ab Ostern 57 das Lyzeum in Lünen besuchte. Anfangs hatten wir noch Schichtunterricht, weil das neue Gebäude noch nicht fertig war und wir uns mit den Jungen das alte Gebäude teilen mussten. Eine Woche vormittags, die nächste nachmittags – bis das neue hochmoderne, tolle Schulgelände fertig war. Diese Schule war einfach sagenhaft und steht heute als Gesamtschule teilweise unter Denkmalschutz.

 

 

Ich war nicht nur vom Ambiente begeistert, auch der Unterricht gefiel mir und ich hatte ja schließlich ein hohes Ziel – bis… ja, bis es sich von einer Minute zur anderen in Luft auflöste. Unglücklicherweise wurde ich im Mai Zeugin eines Telefonates, das mein Großvater mit einer Vermittlungsstelle für Urlaubsvertretungen führte. Er wollte im Sommer sechs Wochen seine Ferien auf einem Segelschiff verbringen und brauchte für diese Zeit einen HNO-Arzt für seine Praxis. Es wurden ihm wohl einige Vorschläge gemacht, auf jeden Fall hörte ich ihn antworten: „Nee, auf gar keinen Fall. Wenn überhaupt, kommt mir nur ein Mann als Vertreter in meine Praxis. Eine Frau als HNO – unmöglich, das geht überhaupt nicht!“

 

Damit war das Gespräch beendet und zugleich platzte mein Zukunftstraum wie eine Seifenblase. Für mich hieß das im Klartext: der will mich gar nicht als Ärztin haben. Natürlich habe ich ihn damals nicht darauf angesprochen, ich wollte mich ja nicht verraten. Viele, viele Jahre danach habe ich ihm das mal erzählt und er klärte mich auf, dass er hauptsächlich wegen der Knappschaftspatienten (Werne hatte damals eine Zeche) keine Frau wollte. Zumal ein Vierteljahr zuvor in Bergkamen ein Arzt von einem Zechenarbeiter angeschossen wurde, weil der Doktor ihn nicht krankschreiben wollte.

 

Das alles wusste ich damals natürlich nicht und mir war klar: Abitur, Studium, Praxisübernahme – kann ich abhaken. Wozu also noch anstrengen, warum überhaupt noch Schule, wofür denn noch lernen? Und meine innere Verweigerung bekam noch ordentlich Futter durch meine Freundin Ute, die als Sitzenbleiberin ohnehin keinen Bock auf Schule hatte. Der Sommer war wunderschön, wir verbrachten ihn zusammen weitgehend in der Eisdiele oder am Ufer der Lippe. Das Geld für die monatliche Busfahrkarte setzten wir in Freizeitvergnügen um, die Strecke hin und zurück trampten wir und hatten auch das Glück, immer sehr schnell mitgenommen zu werden.

 

Ute war mir nicht nur altersbedingt voraus, sondern auch hormonell und kurvenmäßig. Entsprechend kleidete sie sich auch und setzte ihre Reize gekonnt ein. Mich, die noch etwas platte, unterentwickelte Freundin nahm man halt gnädigerweise auch mit.

Natürlich ging das nicht lange gut. Unsere Herbstzeugnisse waren katastrophal und unseren Eltern wurde dringend nahegelegt, uns doch wieder schnellstens in die Realschule zu schicken. So geschah es dann auch. Ich stieg also in meine alte Klasse wieder ein und Ute wurde in ein Internat verbannt. Ich habe sie nie wieder gesehen.

 

Den Rest des Schuljahres war ich nur auf Krawall gebürstet. Habe mich aber wohl intuitiv nur für andere vehement ins Zeug gelegt, so dass man mir eigentlich nichts direkt anhaben konnte. Wenn ich nur annähernd der Meinung war, eine Mitschülerin würde ungerecht behandelt, ging ich auf die Barrikaden.

 

In diesem halben Jahr fing ich mir damit zwei „Tadel“-Einträge ins Klassenbuch ein und diverse „Vorstellungsgespräche“ bei unserem Direx. Der behandelte mich allerdings immer recht freundlich und verhinderte so immerhin einen dritten Tadel. Er schien meine „Untaten“ offensichtlich irgendwie anders einzustufen. Mein Zeugnis enthielt nicht nur den Vermerk „nicht versetzt“, sondern auch den herrlichen Zusatz „Brigitte empfindet die Unterrichtsstunden wohl eher als unangenehme Unterbrechung der Pausen!“

 

Also rutschte ich eine Stufe runter und durfte die Untersekunda gleich nochmal abarbeiten. Wozu ich zuerst gar keine Lust hatte, ich wollte von der Schule gehen. Aber mein Herr Papa kannte seine Tochter wohl besser. Nachdem meine Mutter ihn, ohne mein Wissen, von meiner schulischen Pleite offensichtlich telefonisch informiert hatte, bekam ich von ihm einen Anruf. Mit schlotternden Knien ging ich in Erwartung einer fürchterlichen Standpauke ans Telefon und erlebte eine Überraschung.

 

Mit seiner gewohnt liebevollen Stimme begrüßte er mich und meinte: „Weißt Du, ich habe die Schule auch gehasst, das verstehe ich nur zu gut. Und um Deine Zukunft musst Du Dir wirklich keine Sorgen machen. Ich habe schon mit Daddy (mein Großvater väterlicherseits) gesprochen. Er braucht dringend Hilfspersonal in seiner Großwäscherei in Bad Ems, vor allem in der Bügelabteilung. Der nimmt Dich sofort und Du kannst dann natürlich bei Frau Sommer wohnen. Das wäre doch ideal, nicht wahr?“

 

Habe ich darauf irgendwas geantwortet, ich weiß es nicht mehr, aber mir wurde schlecht: ich hasste Bügeln, ich hasste diese Frau Sommer, die ich ein Jahr zuvor bei einem Besuch dort kennenlernte und sofort als Nebenbuhlerin meine geliebten Oma in Berlin ausmachte. Mir wurde schlagartig klar: Nein, das will ich auf keinen Fall, ich will hierbleiben, ich will wieder in den Schule, ich will lernen, ich will alles tun – damit ich nicht nach Bad Ems, nicht bügeln und nicht zu Frau Sommer muss.

 

Hinter meinem Rücken müssen die Erwachsenen sich köstlich amüsiert haben, denn die Nummer meines Vaters war mit Sicherheit abgesprochen, alle wussten garantiert, dass diese Option das Allerletzte war, was ich wollte. Ich habe es damals nicht gemerkt und es für bare Münze genommen. Es war genau die richtige Attacke gegen meine Verweigerungshaltung. Als würde ich eine dreckige Hülle ablegen oder mich häuten, schlug meine Stimmung um und ich bettelte förmlich darum, weiter zur Schule gehen zu dürfen. Natürlich entsprach man meinem Wunsch.

 

Die neuen Mitschülerinnen, die gerüchteweise natürlich einiges über meine unrühmliche Vergangenheit kannten, fanden das eher gut und wählten mich gleich mal zur Klassensprecherin, was sicher nicht unbedingt üblich ist. Nun hätte ich meine rebellische Ader fast legal austoben können, aber nun… nun hatte ich keine Lust mehr. Ich hatte Bock auf Schule und Lernen.

 

Auch meine Freizeit füllte mich ab dieser Zeit  im positiven Sinne voll und ganz aus. Da mein Bestreben, als Hupfdohle die Bretter dieser Welt zu erobern, schon mit 11 Jahren jäh mit dem vernichtendem Urteil einer Dortmunder Ballettschule zum Opfer fiel, tanzte ich trotzdem weiter so vor mich hin.

 

Tante Ruth, Freundin meiner Mutter, setzte mich immer wieder als Hilfe für ihre Kinderkurse ein und mit knapp 14 meinte sie, ich solle jetzt mal in die Kurse der Standard- und Lateinamerikanischen Tänze wechseln. Das machte mir einen ungeheuren Spaß und entsprechend übungsintensiv bin ich eingestiegen und war damit voll und ganz ausgelastet. Sie war es auch, die meine Mutter davon überzeugte, mir die Tanzerei trotz der miserablen Schulnoten nicht zu verbieten.

 

Irgendetwas änderte sich: ich fühlte mich auf eine angenehme Art und Weise gefordert und wurde ebenso gefördert, dann „erwischte“ ich auch noch einen sehr begabten und erfahrenen Tanzpartner. Mit ihm durfte ich bald die ersten Turniere der Jugendmeisterschaften bestreiten, zum Teil sogar mit guten Erfolgen. Und fürs Herzchen stand mir auch gar bald ein lieber Freund zur Seite.

 

Diese Entwicklung ist für mich heute mitentscheidend für meine Veränderung. In der neuen Klasse hatte ich schnell einen guten Anschluss und eine neue Freundin dazu. Und diese neue Freundin, Tochter unseres evangelischen Pfarrers, war die Rebellin in unserer Klasse, die ich nun des Öfteren wieder auf den Teppich runterholen musste. Sie war ausgerechnet in den Sohn einer erzkatholischen Familie verknallt und beide Familien standen Kopf. Na, wenn das kein tolles Areal für meine Vermittlungs- und Schlichtungsarbeit war….

 

Schlussendlich sogar erfolgreich, denn meine Frage an den Papa Pastor, ob seine Tochter die Schmach erst noch durch eine Schwangerschaft verdoppeln müsste, sie dann eventuell heiraten „müssten“, bekehrte ihn schlagartig und die zwei heirateten knapp 2 Jahre später und sind noch heute zusammen….

 

Alles in allem: ich wurde eine begeisterte Schülerin, freundete mich sogar mit der, von mir ein Jahr zuvor übel beleidigten, Musik- und Deutschlehrerin an und brachte die Schule in Schwulitäten, da sich meine Noten zum Teil um drei und vier Noten verbesserten, zum Beispiel von einer satten 5 auf eine gute 1 in Deutsch. Sogar in Mathe kam ich von der sechs auf ein Befriedigend – oh Wunder, eine Traumnote für mich! Eine solche massive Notenveränderung zum Positiven war nur sehr selten – ich denke, andersrum kam es wohl schon öfter vor. Auf jeden Fall musste die Schule eine Genehmigung durch eine übergeordnete Verwaltungsbehörde einholen.

 

Leider hat mir das Jahr Rebellentum und Lernverweigerung die Aufnahme ins Aufbaugymnasium in Dortmund gründlich versaut – denn natürlich war der Notendurchschnitt der letzten drei Jahre entscheidend für die Zulassung. Das Abitur habe ich dann fünfzehn Jahre später neben Haushalt und Kindern wesentlich mühsamer dann aber doch endlich geschafft. Das hätte ich einfacher haben können – aber was soll’s – vermutlich habe ich diesen Umweg gebraucht. 

Schule im Krieg

 

 

Als ich 1941 eingeschult wurde, dauerte der Zweite Weltkrieg bereits zwei Jahre. Noch merkten wir als Kinder nicht allzu viel davon. Der Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung  hatte noch nicht richtig begonnen.

Für uns Kinder, die wir auf dem rechten Ufer der Weser in der kleinen ostwestfälischen Kreisstadt wohnten,  in der ich als Kind zu Hause war, begann  der Morgen vom ersten Schultag an mit einem weiten Schulweg über die Weser von unserem Außenbezirk bis in die Innenstadt. Das Schulgebäude in unserem Stadtteil war für militärische Zwecke beschlagnahmt. Man hatte dort eine Versorgungseinheit der deutschen Wehrmacht  untergebracht. So mussten alle Kinder, die auf dem östlichen Weserufer wohnten, jeden Tag mit der Straßenbahn oder auch zu Fuß den weiten Weg in die Innenstadt zurück legen, der über zwei Brücken führte. Die erste Brücke verband  den Werder mit der Stadt und die zweite führte über die Weser in die Innenstadt.

 

Dort, im Gebäude der Domschule, einer ehemals katholischen Schule, die auf dem Gelände des 1000 jährigen Mindener Doms lag, hatten wir Hafenschüler vom rechten Weserufer nun Unterricht.

 

 

Dom und Domschule

 

Konfessionsgebundene Schulen gab es während der Zeit des dritten Reiches ja nicht. Religion als Schulfach war gestrichen und der Unterricht wurde bei freiwilliger Teilnahme durch die Kirchen außerhalb der Schulen erteilt.

Die Domschule war ein sehr altes Ziegelstein Gebäude, durch welches immer ein leichter Modergeruch wehte. „Als ob im Keller einige Zentner fauler Kartoffeln lagern“. Meinte unsere Turnlehrerin einmal.

Wir Kinder versuchten natürlich unseren langen Schulweg möglichst ab zu kürzen. Eine Möglichkeit dazu war der Weg durch den Kreuzgang des Domes, von dem aus man den Platz vor der Schule schnell erreichen konnte.

Leider haben dann einige unserer Jungens dort Fenster, die zu einem Seitengebäude des Domes gehörten, aus Übermut zerbrochen. Von dem Tage an wurde uns der Durchgang durch den Kreuzgang untersagt, und wir mussten den Umweg um das Domgelände herum machen.

Den Schulhof teilten wir uns mit den Schülern der Pestalozzischule, so hieß  zu der Zeit die Hilfsschule, heute würde man Sonderschule dazu sagen. Diese Schüler wurden in einem noch älteren Gebäude unterrichtet, das ebenfalls auf dem Domgelände lag. Es war eines der ältesten Schulgebäude der Stadt überhaupt.

Es war klar, dass es zwischen den Jungen von zwei so verschiedenen Schulen des Öfteren auf dem Schulhof zu Schlägereien kam. Die aufsichtsführenden Lehrer hatten dann Mühe, die Streithähne zu trennen.

Auf dem Schulhof stand eine etwas baufällige alte Holzhütte, in welcher Altmetall gelagert wurde, das wir Schüler sammeln mussten. Alles, was in unseren Elternhäusern und in der Nachbarschaft an alten Metalldosen und metallenen Gegenständen, die nicht mehr benötigt wurden zu finden war, konnten wir dort abliefern. Es wurde dann gewogen, und in eine Karte, die jeder Schüler bekam, wurde  eingetragen wie viel Menge er abgeliefert hatte. Besonders begehrt waren  leere Zahnpastatuben und andere Gegenstände aus Aluminium. Das schien wohl besonders kriegswichtig zu sein. So konnten selbst wir Kinder unser Scherflein zum erhofften Endsieg beitragen.

Für die besten Sammler von Altmetall gab es Preise, meistens Bücher, oder auch Schreib – und  Malblöcke. Oder auch Stifte und Buntstifte.  Wir bemühten uns natürlich alle, möglichst viel Altmetall zusammen zu tragen, um einen der begehrten Preise zu gewinnen. Denn viele Lernmittel die im Unterricht benötigt wurden, begannen ja gleich nach Beginn des Krieges knapp zu werden. Und die Lage wurde nicht besser.

Ab 1943 kam der Krieg dann auch für die Zivilbevölkerung immer näher. Es wurden immer häufiger Bomben vor allem über den Großstädten abgeworfen. Meine Heimatstadt liegt an einer sehr wichtigen Bahnlinie, die von West nach Ost führte. Viele Gütertransporte mit Kriegsmaterial aus dem Ruhrgebiet wurde auf dieser Linie bis tief nach Russland hinein transportiert. Außerdem gibt es in der Stadt noch das Wasserstraßenkreuz, mit dem Übergang von Weser zum Mittellandkanal. Ebenfalls ein wichtiger Transportweg für Güter aller Art. Und in der Stadt führen zwei wichtige Reichstrassen, heute Bundestrassen über die Weser.  Es war also nur eine Frage der Zeit, wann ein Ort, der an so kriegswichtigen Verkehrswegen lag, Ziel feindlicher Bombenangriffe sein würde. Ende 1943 war es dann so weit. An einem späten Abend, ohne vorherige Warnung durch Fliegeralarm fielen in der Oberstadt die ersten Bomben und es gab die ersten toten Zivilisten.

Wir Kinder waren an dem Abend allein zu Haus, in der Obhut unserer Mitbewohner. Meine Mutter war im Kino, es lief dort ein besonderer Film, welcher, habe ich vergessen. Sie war allein, weil mein Vater wegen eines Einsatzes zu der Zeit nicht zu Hause war.

Die Detonation der Bomben war bis in unseren etliche KM entfernten Außenbereich der Stadt zu hören. Wir rasten alle voller Angst in den Keller, wussten nicht was passiert war und hatten natürlich Angst um unsere Mutter.  Der Hausmitbewohner versuchte draußen zu erfahren, was passiert sei. Und in zwischen kam dann auch meine Mutter völlig aufgelöst nach Hause. Sie hatte zusammen mit anderen Kinobesuchern nach der Vorstellung  auf dem Marktplatz gestanden, und auf die Straßenbahn gewartet, als plötzlich, wie aus heiterem Himmel und ohne Vorwarnung direkt über ihnen in der Oberstadt die ersten Bomben über unserer Stadt detonierten.  Es brach natürlich eine Panik unter den Menschen aus.  Niemand wusste, was da geschah.  Es hatte ja nicht einmal Alarm gegeben.

Für uns Kinder bedeutet dieser erste Angriff auf die Innenstadt das erste Mal schulfrei wegen Bomben. Es sollten noch viele schulfreie Tage folgen.

Von diesem Tage an gab es immer häufiger  Fliegeralarm und dem ersten Angriff folgten weitere, deren Ziel das Wasserstraßenkreuz war.

Hauptleidtragende dieser Angriffe war ein Dorf, vor den Toren von Minden, das ebenfalls auf dem rechten Weserufer lag, in unserer Nachbarschaft direkt an der Kanalüberführung.. Nach jedem Angriff erhöhte sich die Zahl der toten Zivilpersonen, vor allem Frauen und Kinder. Die Opfer dieser Angriffe ruhen heute auf einem gesonderten Gräberfeld auf dem größten Friedhof der Stadt. Als Mahnung an alle, welche den Krieg immer noch für eine Lösung ihrer politischen Ziele halten.

In der ersten Zeit kamen die Flieger meistens in der Nacht. Die Familie versammelte sich dann zusammen mit unseren Hausmitbewohnern, einem Ehepaar mit einer Tochter, im Luftschutzkeller. Meine Eltern hatten einige Etagenbetten besorgt,  mit Strohsäcken als Matratzen Ersatz. Dort konnten wir 4 Kinder und auch die Tochter unserer Mitbewohner versuchen, während des Aufenthaltes im Luftschutzkeller etwas zu schlafen. Denn manchmal dauerte so ein Alarm mehrere Stunden. Nur, das Schlafen gelang uns kaum. Wir waren viel zu aufgeregt.

Aus dem kleinen Volksempfänger, den mein Vater ständig abhörte, tönte die Stimme von „Primadonna meldet“ und dann kamen die Berichte über die Flugbewegungen der feindlichen Bomber Verbände. Meistens flogen sie Angriffe  auf die Städte im Ruhrgebiet und auf Berlin. Oder auf die Hafenstädte, Bremen, Hamburg und Wilhelmshaven. Später, als der Krieg andauerte, griffen sie auch am Tage an, wenn wir bereits in der Schule waren.

Jedes Mal, wenn die Sirenen mit einem lang anhaltenden Ton Voralarm ankündigten, wurden alle Kinder unserer Schule  nach Hause geschickt. Und wir mussten dann die 5 oder für manche Kinder auch 8 KM durch menschenleeren Straßen  nach Hause  laufen. Denn die Straßenbahn fuhr ja bei Voralarm nicht mehr. Und die meisten Menschen hatten bereits die Schutzräume aufgesucht. Es kam auch häufig vor, dass der  Hauptalarm ausgelöst wurde, bevor einige von uns, die den weitesten Weg hatten, ihre Zuhause erreicht hatten. So liefen denn  viele Kinder vom rechten Weserufer, ich war zu der Zeit nicht einmal 10 Jahre alt, mutterseelenallein durch die menschenleeren Straßen zu den Schutzräumen, wo die Familien voller Angst auf uns warteten. Aber, wer machte sich darüber schon Gedanken zu der Zeit außer unseren Familien?

Dann kam der Tag, als zum ersten Mal der Bahnhof in Minden angegriffen wurde. Wir wohnten sehr dicht an der Bahn und das bedeutet, dass wir mitten in dem Bombenhagel saßen, aber wie durch ein Wunder nicht getroffen wurden.

Von da an suchten meine Eltern mit uns einen besonders sicheren öffentlichen Keller auf, die Kasematten eines alten Preußen Forts, dass etwa 5 Gehminuten von meinem Elternhaus entfernt lag. Unser Wohnhaus hätte einem Bombentreffer mit Sicherheit nicht stand gehalten.

Wenn wir nun aus der Schule wegen Voralarm vorzeitig nach Hause geschickt wurden, verkürzte ich mir meinen Weg zu dem Fort, dass gleich an der Bahn lag, auf der anderen Seite und lief über die vielen Schienen der Hauptstrecke Berlin - Köln. Ein gefährliches Unterfangen für ein Kind von gut 8 Jahren. Aber es war niemand da, der es mir hätte verbieten können. Und ich konnte meinen Heimweg dadurch  um etwa 2 KM abkürzen.

Im Winter 1943 wurden dann die Kohlen so knapp, dass die Schule nicht geheizt werden konnte.

 Wir bekamen Kohleferien. Mussten aber an einigen Tagen der Woche in der Schule erscheinen und bekamen Hausaufgaben erteilt. Es war schon eine verrückte Zeit.

Sobald es wieder wärmer wurde, begann dann für uns zu nächst ein halbwegs normaler Unterricht, wenigstens solange es keinen Fliegeralarm gab. Im Winter des Jahres 1944 gab es dann wieder die berühmten Kohleferien. Mein Bruder und ich wurden wegen der Sicherheit für einige Zeit ausgelagert zu Verwandten auf dem Land  Aber sobald die Schule wieder begann, mussten wir wieder nach Minden zurück. Und das Spiel zwischen Unterricht und nach Hause laufen bei Alarm begann für uns Kinder von Neuem.

Bis dann der Morgen des 28.März 1945 anbrach. Ich weiß noch, dass ich an dem Morgen nicht in der Schule war, denn ich bin bei Voralarm mit meinen Eltern zum Fort in den Schutzraum gegangen. Dort, in dem öffentlichen Luftschutzkeller gab es einen Bereitschaftsraum für den Sicherheits- und Hilfsdienst, dem auch mein Vater als Arzt angehörte. Die Aufgabe dieser Männer war es, sich nach den Angriffen um Verletzte zu kümmern und die Straßen wieder auf zu räumen und auch die Toten zu bergen.

Es war schon gegen Mittag, als die Sirenen ertönten. Warum ich zu Hause war, erinnere ich heute nicht mehr. Da es noch keinen Hauptalarm gegeben hatte, hielt ich mich zusammen mit einigen Männern vor dem Gebäude draußen aus. Es war ein wundervoller sonniger Frühlingstag. Daran kann ich mich noch genau erinnern. Plötzlich ertönte am Himmel über uns das bekannte Brummen der 52er Bomber. Ein Geräusch, so unverwechselbar, dass ich es noch heute in den Ohren habe. Noch bevor wir alle in wilder Hast den Keller erreicht hatten, drang über die Weser bis zu uns das Geräusch fallender Bomben, gefolgt von heftigen Detonationen.

Scheinbar unbemerkt hatten sich die Bomber genähert und es folgte ein Großangriff auf die Innenstadt meiner Heimat. Die Innenstadt wurde an diesem Tage fast vollständig ´zerstört. Auch der Dom und unsere Schule wurden Oper dieses Großangriffs.  Es gab viele Tote an diesem Tage in Minden!

 

 

Für uns Schüler bedeutet das, wir hatten nun überhaupt keine Schule mehr. Wir waren verwaist.

Als am 8. Mai die Kapitulation Deutschland erfolgte, übernahmen die Alliierten unsere alte Hafenschule, in der bis dahin Angehörige der Wehrmacht residiert hatten. Auf Betreiben von kommunalen Verwaltungsbeamten der deutschen Übergangsverwaltung gaben die Besetzer die Schule dann aber bereits im Laufe des Jahres 1945 wieder an die Stadt zurück und für uns Schüler  begann endlich ein geregelter Unterricht, der nicht von ständigem Fliegeralarm unterbrochen wurde.

Es begann eine völlig neue Zeit. Einige Lehrer, auch unser Schulrektor, wurden aus dem Schuldienst entlassen, wegen ihrer Zugehörigkeit zur NSDAP. Junge Lehrer kamen nach und nach zurück von der Front, aus der Gefangenschaft und wurden auf die Schulen verteilt. Es konnte sein, dass an unserer Volksschule auch Lehrer unterrichteten, die eigentlich für ein Gymnasium oder eine Realschule ausgebildet waren. Es war eine unglaublich verrückte Zeit, wenn ich heute so zurück denke. Eine alte Ordnung war aus den Fugen geraten.

Schulbücher hatten wir nicht mehr. Alle Bücher aus der verhassten Nazizeit wurden eingezogen und verboten. Neue Bücher mussten erst gedruckt werden. Jedes Buch musste durch die britische Militärregierung, Minden gehörte zur britischen Besatzungszone,  bewilligt werden. Ich habe noch eines dieser Schulbücher, „Deutsche Lyrik“ ein Bändchen mit Gedichten. In dem Buch kann man dann lesen:

 „Behelfsausgabe. Herausgegeben vom deutschen Lehrerverband Berlin, Comenius-Verlag, Berlin“ Und weiter steht dort auf dem Titelblatt:

„In unveränderter Form veröffentlicht im Auftrage des Obersten  Befehlshabers der Alliierten Streitkräfte.“

Im Vorwort ist dann in englischer und deutscher Sprache zu lesen:

 

Erstens: das vorliegende Buch gehört zu einer Reihe von Schulbüchern, die auf Anordnung des britischen Oberbefehlshabers veröffentlicht werden. Es dient zum Behelfsgebrauch in den deutschen Schulen, die sich in dem von seinen Truppen besetzten Gebiet befinden .

 

Zweitens: dieses Buch wurde gewählt nach gründlicher Untersuchung vieler Schulbücher, die in Deutschland vor der Machtübernahme durch den  Nationalsozialismus in Gebrauch waren. Es ist von Deutschen geschrieben und wird  hiermit ohne jedwede Textänderung neu gedruckt.

 

Drittens: Die Tatsache des Neudrucks bedeutet nicht, dass dieses Buch vom erzieherischen oder anderen Gesichtspunkt völlig einwandfrei ist. Aber unter den gegebenen Umständen ist es das geeignetste Buch, und es ist zu benutzen, bis Deutschland selbst bessere Schulbücher hervorbringt.

 

Das kleine Bändchen, dessen ungebleichtes Papier von schlechter Qualität ist, hat sich inzwischen braun verfärbt. Als erstes  Gedicht ist dort Johann Wolfgangs Goethes „Der Türmer“ zu lesen:

 

Zum Sehen geboren,

zum Schauen bestellt,

dem Turme geschworen

gefällt mir die Welt!

 

Und so begann dann die zweite verrückte Zeit meiner Schuljahre. Der Krieg mit Bombenterror war zwar beendet, aber nun begannen die Not-  und Mangeljahre erst richtig. Der Wohnraum war ebenso knapp in den durch Bomben verwüsteten Städten, wie alle anderen  Güter des täglichen Bedarfs. Wohnungsämter und Bezugsämter verwalteten alles und regelten auch die Vergabe von Wohnraum an die Flüchtlinge, die aus dem Osten nach Westen strömten. Die Deutschen mussten damals sehr eng  zusammen rücken.

In unserer Klasse hatten wir neue Mitschüler, Flüchtlingskinder, die oft Schlimmes erlebt hatten.

Es gab nicht nur keine Schulbücher, es gab vor allem auch keine vernünftigen Hefte, Stifte und alles, was man so im Schulunterricht benötigt. Die Hefte, die wir bekamen waren aus holzigem minderwertigen Papier, und die Federn kratzen dort und hinterließen Tintenflecken. Und die Federn gingen durch die vielen Holzstücke auch kaputt und waren genau so knapp. Es war  alles recht schwierig damals.

Aber Not macht erfinderisch. Und so hatte der Leiter des Bundesbahn Maschinenamtes, das in unserem Nachbarhaus untergebracht war, die zündende Idee, mal im Keller seines Amtes nach alten verfallenen Formularen suchen zu lassen. Und richtig, es fanden sich große Mengen von nicht mehr benötigten Formularen, die nur auf einer Seite bedruckt waren, und aus bester Papierqualität bestanden. Die wurden auf DIN A 5 zurecht geschnitten auf der Papierschneidemaschine und mit Heftern zu Blocks zusammen gefügt. Damit wurden dann die eigenen Kinder und auch wir Nachbarkinder versorgt. So konnten wir einige Zeit dank dieser Blöcke aus sauberem glatten Papier ohne Tintenkleckse schreiben.

Ein weiteres erwähnenswertes Kapitel ist die bekannte Schulspeisung. Die wir deutschen Schulkindern dem sozialen Engagement der amerikanischen Quäkerbewegung verdankten. Deswegen wurde die Schulspeisung auch gerne als „Quäkerspeise“ bezeichnet.

Soweit meine Erinnerung an die verrückten ersten 5 Jahre meiner Schulzeit. Einer Zeit voller Brüche, voller Einschnitte und gravierender Ereignisse.

Schüler von heute können sich bestimmt nicht vorstellen, was dazu gehörte, in einer solchen Zeit einen einigermaßen geregelten Schulunterricht für Kinder einer ganzen Stadt zu organisieren.

Das Lernpensum haben wir trotz der Unruhe irgend wie geschafft. Es ist vor allem dem persönlichen Engagement unserer Lehrer, unserer Eltern und auch der kommunalen Vertreter der damaligen Zeit zu verdanken, dass aus unserer Schülergeneration  in all den Wirren des Krieges und der Nachkriegszeit doch eine lebenstüchtige Generation wurde, die ihr Leben gemeistert hat.

Vieles könnte ich noch aus der Zeit berichten.  Etwa über das berühmte Heilkräuter Sammeln, dass bei uns Kindern sehr beliebt war. Und das Suchen von Kartoffelkäfern um die Kartoffelernte zu schützen. Auch dafür wurden Schüler eingesetzt. Aber darüber haben ja auch schon andere erzählt.

Meine Altersgenossen haben ja in etwa alle das gleiche erlebt.

Eines steht für mich jedenfalls fest: die Schulzeit der letzten Kriegsjahre und der ersten Jahre danach, war wohl die turbulenteste Zeit die man sich für Schüler denken kann. So etwas gab es nie wieder.

Mit der Währungsreform und der Gründung der BRD hier in den drei Westzonen zogen nämlich wieder Ordnung und Disziplin im Lande ein. Es wurde alles geregelt nach und nach und das Improvisieren hatte ein Ende. Damit verschwand aber wohl auch der Antrieb für viel  pädagogische und auch kommunale Eigeninitiative.

Beinahe würde ich sagen, das Leben und die Schule wurden von Tag zu Tag eine Spur langweiliger und eintöniger. 

Ferien auf einem Gestüt

 

Es muss wohl so das Schuljahr 1953/54 gewesen sein, als es in der Schule plötzlich summte und brummte wie in einem Bienenstock.

Blitzschnell sprach es sich herum, die Leute sind da, die Leute sind da. Wir wussten sofort, worum es ging, diese Leute schickten uns im Zuge der Kinderlandverschickung klassenweise in den Sommerferien auf Bauernhöfe. Angefangen vom fünften Schuljahr bis zum achten Schuljahr wurden die Kinder zur Erholung aufs Land geschickt.

Wir mussten auf den Bauernhöfen wohl etwas mithelfen, aber sonst hatten wir schon richtig Ferien.

Und was für die allermeisten das wichtigste war, das Essen auf den Bauernhöfen war immer gut und reichlich.

Jetzt saßen ganz sicher alle Schulkinder gespannt wie die Flitzebogen in ihren Bänken und fieberten der Nachricht entgegen, wohin sie wohl geschickt wurden.

 

Endlich ging auch unsere Klassentür auf und der dicke Rektor kam gewichtig mit aufgeblasenen Backen in unsere Klasse, im Schlepptau zwei Männer und eine Frau.

Eine noch junge Frau, dachte ich so.

Der sehr dicke Rektor stellte die Leute vor und der ältere der beiden Männer erzählte in knappen Worten, was uns auf seinem Hof erwartete. Ich hatte sofort ein aufgeregtes Kribbeln in der Magengegend, das wäre genau das Richtige für mich.

Dann stellte er noch die junge Frau als seine Tochter und den Mann als seinen Sohn vor.

 

Der Rektor zog mit einem Ruck die Landkarte von Nordrhein-Westfalen herunter und bellte in die Klasse: „Wer weiß, wo das Münsterland liegt?“ Meine Hand schoss blitzschnell  in die Höhe, für einen Aufenthalt auf einem Bauernhof vergaß ich sogar meine Angst vor dem Rektor. Der Dicke rief mich nach vorne, je näher ich kam, umso mulmiger wurde es mir vor dem Rektor. Der sah mich grimmig aus seiner imposanten Höhe an, als wolle er sagen, wage es bloß nicht, etwas Falsches zu sagen.

 

Aber ich konnte das Münsterland auf der Karte zeigen und die junge Frau fragte mich, ob ich auch wüsste, wo die Stadt Warendorf liegt? Klar wusste ich es und strahlte wie ein Tannenbaum voller Kerzen. Ich zeigte mit dem Zeigestock auf den Punkt, unter dem Warendorf stand. Warendorf liegt etwas seitlich von Münster, ringsherum gab es viel grünes Land und nur wenige Städte und Dörfer.

Die zwei Männer und die junge Frau lachten freundlich und dann ging es ruckzuck. Alle Schülerinnen und Schüler bekamen einen Zettel, auf dem stand, wann wir wo abfahren und wohin und an welchem Bahnhof wir abgeholt werden. Tschüss und weg waren sie. Ich dachte noch so bei mir, die junge Frau war richtig nett und in Ordnung.

Schon knallte der Stock auf die Tischplatte, ich zuckte zusammen und der Lehrer blaffte mich an: „Träumen kannst Du in den Ferien.“

 

Erfreulich schnell vergingen die letzten Tage, dann waren die Ferien da! Mit einem braunen, alten und abgeschabten Koffer in der Hand ging es zum Bahnhof. Der Bahnsteig war brechend voll und ein ohrenbetäubender Lärm prallte mir entgegen. Ein Gewimmel wie in einem aufgeregten Ameisenhaufen.

Ältere Schüler hielten Papptafeln hoch, auf denen die Waggonnummer stand. Ich fand meine Nummer und meine Kumpels aus der Klasse. Schnell hatte sich um mich eine Gruppe gebildet und aufgeregt wurden die tollsten Vermutungen angestellt.

Liese weinte schon wieder, sie weinte eigentlich immer und wie immer die Nase voll Rotz.

Die Jungens aus meiner Klasse bedrängten mich, los erzähl mal, wie ist das auf einem Bauernhof. Du kennst doch Bauernhöfe vom arbeiten bei Ernten, Runkeln verziehen und so. Ich gab mein Wissen zum Besten, alle staunten mich an, ist ja gar nicht so schlecht.

Der Zug kam, die Lokomotive stieß riesige Mengen von Rauch, Qualm und weiße Dampfwolken aus und irgendwie waren dann alle im Zug und es ging los.

Der Zug fuhr durch den Dortmunder Bahnhof, dann folgte Lünen, die Bahnfahrt verging schnell, denn hunderte Kinder tobten durch die Gänge. In Münster mussten wir in einen richtigen Bummelzug umsteigen. Ein größerer Junge meinte etwas herab lassend, der hält ja an jeder Milchkanne. Liese weinte schon wieder.

Das letzte Stück Bahnfahrt ging durch weites grünes Land, hier und da mal ein Bauernhof oder ein einsames Haus. Manchmal blinkte ein Teich im Sonnlicht auf. Jede Menge Kühe auf den Weiden und über allem schwebte ein Storch.

 

In Warendorf wurden wir von großen Leiterwagen abgeholt, die kannte ich von der Getreide und Heuernte. Schnell waren wir auf den Wagen verstaut und jeder erhielt ein Butterbrot und was für eins! Zwischen zwei dicken Brotscheiben waren genauso dick die Wurstscheiben. Das war so etwas von Klasse und ruckzuck herrschte Ruhe, alle mampften still vergnügt vor sich hin.

 

Es war wohl schon Abend, als wir auf dem Bauernhof ankamen. Ich sah mich etwas erstaunt um, komischer Bauernhof. Ich kannte Bauernhöfe ganz anders.

Links ein langer, sehr langer Stall mit Pferdeboxen, aus dem einen oder anderen Fenster guckten Pferde heraus. Rechts ein langer Stall, Scheune, Heuschober, Geräteschuppen. Am Kopfende ein großes, ein sehr schönes Wohnhaus. Mit einem großen Eingangstor und vielen Fenstern, an jedem Fenster waren Blumen zu sehen.

Zwischen dem Pferdestall und dem Wohnhaus ragte ein massiger Turm in den Himmel.

 

 

Auf dem großen Hof waren lange Tischreihen aufgestellt und viele Frauen brachten jetzt große Töpfe, aus denen es ganz toll roch. Wir alle saßen sehr schnell an den Tischen und dann wurde nur noch gegessen. Mann, war das lecker, die Suppe, die Würstchen, das Brot dazu und die Limonade. Ich hatte schon zwei Würstchen gegessen und keiner schimpfte, sagenhaft.

Irgendwann waren dann doch alle satt und der ältere Mann, den wir schon aus der Schule kannten, erzählte uns dann, dass dies ein Gestüt sei und es daher sehr viele Pferde gab. Immer zwei von uns kümmern sich während unserer Ferien um ein Pferd.

Oberhalb der Pferdeboxen können wir schlafen. Zum Essen wird immer diese Glocke geschlagen. Dann fragte er noch, ob alles klar wäre und zeigte dann auf den Mann, der auch in unserer Schule war, das ist mein Sohn und euer Chef. Dann winkte er die junge Frau heran und sagte, dass sie seine Tochter sei und uns hilft, wenn wir Fragen haben.

Unser Chef und seine Schwester winkten uns zu dem großen Gebäude und gingen mit uns hinein. Pferde, so weit mein Auge gucken konnte. Links Pferde, rechts Pferde, ganz links, ziemlich hinten, sah ich ein schneeweißes Pferd und ich wusste sofort, dass ist mein Gaul.

 

Ich spürte ein zaghaftes Zupfen an meinem Ärmel und sah in das verheulte und verrotzte Gesicht von Liese. Mit großen, ängstlichen Augen sah sie mich an, nimmst Du mich mit?

Ich sah das kleine dünne Mädchen etwas ablehnend an, weil ich eigentlich mit meinen Kumpels zusammen sein wollte.

Warum ich, fragte ich etwas barsch?

Du bist immer nett zu Deiner Schwester. Jetzt war ich platt, also gut, kommt mit, ich will das weiße Pferd haben. Iss gut, kam es von Liese und lief mit mir los. Der weiße Gaul sah uns schon neugierig entgegen, seine Ohren spielten und er schnaubte uns entgegen.

 

„Ist das Pferd böse?“ Kam es bange von Liese.

„Nee, der Gaul ist nur neugierig.“ Kam es etwas ungeduldig von mir, Mensch, was mache ich bloß mit Liese?

Ich sah eine Futterkiste und holte zwei, drei Möhren heraus. Gab Liese eine davon, los geb sie dem Pferd, sagte ich.

„Wie denn?“ kam es ängstlich von dem dünnen Mädchen.

Der Gaul hatte die Möhre entdeckt und aus der Hand von Liese gezogen. Liese sah erstaunt auf ihre leere Hand, der hat gar nicht gebissen. Ich dachte bloß, was werden das für Ferien!

 

Neben der Pferdebox ging eine schmale Leiter hoch zum Heuboden und ich strahlte, das war Klasse, was ich da sah. Der Heuboden war wie die Pferdeboxen durch Zwischenwände getrennt, so dass immer zwei Kinder eine Box oberhalb der Pferdebox für sich hatte. Ich sah jede Menge dicke, saubere Decken, dass wird ein feines Bett!

Liese jammerte, ich habe noch nie im Heu geschlafen. Ich nahm ein Büschel duftendem Heu und wischte Tränen und Rotz aus Lieses Gesicht, ich bau uns ein ganz prima Bett! Warte mal ab.

Liese setzte sich auf die Holzkiste und ich baute links ein Bett und rechts ein Bett, mit den dicken Decken bändigte ich das Heu, für das Kopfkissen wickelte ich viel Heu in eine Decke und als Liese das sah, meinte sie hoffnungsfroh, da werde ich bestimmt gut schlafen.

Na, Mensch, da war ich aber froh!

 

Mitten in der Nacht, es war stockdunkel in dem Pferdestall, ging es auf einmal mit huui, huuuuiiiii, huhu los und zwei, drei weiße Flattergestalten huschten durch die Gänge. Ich sah aufgeschreckt zu Liese herüber, die saß behaglich in ihrem Heubett und kicherte vor sich hin.

Ich war baff und das Mädchen lachte mich an: „ Das machen meine Brüder auch immer.“

Wie man sich doch täuschen kann, Liese hatte keine Angst und lachen konnte sie auch.

 

Sehr früh wurde ich von der Glocke geweckt, Liese schoss wie gestochen hoch, was`sn los, fragte sie schlaftrunken.

Frühstück lachte ich das dünne Mädchen an. An den Wassertrögen konnten wir uns waschen, das Wasser war kühl und schmeckte prima.

Während des Frühstücks erklärte uns unser Chef, was unsere Aufgaben waren. Ich überschlug es im Kopf, dafür müsste der Vormittag reichen.

Wenn wir unsere Arbeit erledigt haben, können wir tun und lassen, was wir wollen. Na, das war doch mal ein Wort.

Ein paar Sticheleien kamen von meinen Kumpels wegen Liese, aber das war schnell vorbei. Lieses Augen glänzten, keine Tränen, kein Rotz an der Nase und ihre Fragen konnte ich alle beantworten.

 

Wir holten unseren Gaul aus der Box und brachten ihn auf die Koppel. Mit der Schubkarre fuhren wir den Mist aus der Box, spritzten alles gut sauber, füllten den Trinktrog mit frischen Wasser und schütteten Rübenschnitzel und anderes Zeug in den Fresstrog, noch frisches Heu dazu, fertig!

Liese half prima mit, kein heulen mehr, die Nase blieb trocken und sie konnte richtig lachen.

Wir gingen zur Koppel und unser Gaul kam sofort angetrabt. Liese lachte, der kennt uns schon!

Jetzt hieß es striegeln, Liese links, ich rechts vom Gaul, dass gefiel unserem Gaul wohl, er blieb ganz still stehen. Beim Striegeln stellte ich fest, dass unser Gaul ein Mädchen war, Liese fragte mich, woher ich das wüsste, ich zeigte ihr den Unterschied zu einem Hengst. Ach so, sagte das Mädchen, dass hat unser Hund auch. Nach dem wir mit dem Striegeln von unserem Pferd fertig waren, stromerten wir auf dem weitläufigen Gelände herum. Was es hier alles zu sehen gab. In drei abgetrennten Gattern wurden Pferde trainiert. Männer hatten die Pferde an langen Leinen und riefen den Pferden Kommandos zu.

In anderen Gattern saßen Reiter auf den Pferden und ritten Figuren mit den Pferden, ritten mal schnell und dann wieder im Schritt oder Trab, am spannendsten war es bei den Reitern, die mit den Pferden über Hindernisse sprangen. Ich war genau so erstaunt wie Liese, die Pferde konnten ganz schön hoch springen!

 

Die Glocke läutete und aus allen Ecken kamen die Kinder, es war ein Mordsspektakel, es gefiel wohl allen richtig gut. Wieder kamen Töpfe ohne Ende voll dampfender Suppe. Erbsen mit Eisbein!

Ich dachte, schöner als Weihnachten.

Liese haute rein wie Ferkels Wilms.

Nach der Mittagspause mussten wir unser Pferd am Zügel mehrmals um die Koppel führen. Ich sah unseren Chef oben im Heuschober, wie er uns genau zu sah.

 

Die ersten Tage vergingen wie im Flug, langsam hatten wir schon etwas Routine und dann erfuhren wir von der jungen Frau, dass wir, wenn wir möchten, auch auf den Pferden reiten dürfen. Das war ja Klasse, auch wenn wir nur im Schritt reiten durften und der andere das Pferd am Zügel führen musste.

Ich sah Liese an, die machte einen richtig fröhlichen Eindruck und irgendwie sah sie auch nicht mehr so dünn aus.

 

Tatsächlich wollte Liese am nächsten Morgen unbedingt auf den Gaul reiten. Sie stellte sich auf die Futterkiste und ich stellte das Pferd direkt daneben. Liese kletterte auf den Rücken, griff in die Mähne und ich führte das Pferd zur Koppel. Das Mädchen jubelte vor lauter Freude. Unserem Gaul gefiel es wohl auch, denn er wieherte fröhlich.Eine Menge Kinder guckten sehr erstaunt zu uns herüber.

Mit einem leichten Klaps schickten wir unser Pferd auf die Koppel und gingen in den Stall zurück, um den Mist aus der Box zu räumen.

Dabei entdeckte Liese das Namensschild von unserem Pferd oben an der Boxenwand. Flocke hieß unser Pferd.

Futter und Wasser wurden aufgefüllt und anschließend wurde Flocke gestriegelt. Das Pferd kam auf Lieses rufen sofort angetrabt und ließ sich striegeln, wir brauchten Flocke noch nicht einmal fest binden, wie viele andere Pferde.

Nach getaner Arbeit stromerten wir wieder auf dem Gelände herum, dabei entdeckten wir einen kleinen Teich mit ganz klarem Wasser.

Schnell hatten wir uns ausgezogen und sprangen mit Hurra Geschrei in das kühle Wasser.

 

Die Glocke tönte, Mittagessen!

 

Nach dem Essen holten wir Flocke von der Koppel, um sie herum zu führen. Diesmal durfte ich auf Flocke reiten. Liese sah zu mir hoch, Du machst das besser als ich. Ich konnte Liese beruhigen, dass ist nur, weil ich schon öfter bei den Bauern auf Pferde gesessen habe.

Das verstand Liese und war beruhigt.

 

Sonntag machten wir auf dem Leiterwagen einen Landausflug zu einem kleinen Weiher, das war nichts dolles, aber die Picknickkörbe waren umso besser! Die super leckeren Brote nahmen kein Ende, Äpfel gab es und Kirschen und die leckere Limonade.

 

Die Hälfte unserer Ferien war vorbei und die Leute von dem Gestüt hatten für uns und für alle eine Feier vorbereitet. Mit Sackhüpfen, Eierlaufen, Versteckspielen, Wettrennen.

Die Leute von dem Gestüt zeigten uns dann ganz tolle Sachen mit ihren Pferden. Die Pferde stiegen hoch und liefen nur auf den Hinterbeinen oder ein Reiter mit zwei Pferden, ein Fuß auf jedem Pferd. Hindernisspringen und zum Schluss ein richtiges Pferderennen. Mann, war das ein Schau!

 

Flocke schnaubte jetzt schon laut vor der morgendlichen Glocke, das Pferd wollte seine morgendliche Möhre haben. Nach dem immer noch guten Frühstück brachten wir Flocke auf die Koppel, stolz saß Liese auf dem Pferd. Anschließend wurde Flockes Box gereinigt, Futter und Wasser nachgefüllt. Als uns Flocke kommen sah, kam sie schon angetrabt und stupste uns an, als wolle sie uns sagen, nun fang schon an. Flocke mochte das striegeln sehr.

 

Beim Mittagessen erfuhren wir, dass wir am Freitag nach Haus fahren, unsere Zeit ist um. Wir alle waren prima Mädchen und Jungs, vielen Dank an alle.

Bisschen bedröbbelt gingen wir an unsere Arbeit, so schnell geht die Zeit vorbei. Liese sagte leise: „Und die Schule dauert immer so lange.“

 

Wir bekamen alle noch ein Fresspaket geschenkt und mit den großen Leiterwagen ging es wieder zum Bahnhof und der Zug brachte uns zurück in den Kohlenpott, alles sah hier so grau und dreckig aus, nach dem vielen Grün im Münsterland.

 

Liese hatte seitdem nie mehr eine Rotznase! 

Erwischt

 

Es war im Jahr 1972 und ich war 15 Jahre alt, mitten in der Pubertät.

Renitent bin ich nicht gewesen, aber ich wollte natürlich mit den anderen mithalten. Wir trugen damals hautenge Cordhosen mit Schlag und den obligatorischen Parka. Eigentlich sahen wir alle gleich aus. Boots gehörten auch dazu. Manche mit Fransen – cowboystiefelähnlich. Wir waren cool.

Heimlich trafen wir uns nachmittags in dunklen Ecken, um zu rauchen. Eine Schachtel kostete am Automaten 1 DM. Da waren 10 Stück drin. Ich war in der 9. Klasse und fühlte mich so erwachsen. Schon damals konnte ich dem Rauchen nichts abgewinnen, aber ich wollte dazu gehören. Ich habe nie wirklich damit angefangen, keinen Hasch ausprobiert und auch aus Alkohol machte ich mir damals wenig. Mich stört rauchen aber nicht, ich mag den Rauch sogar ganz gern schnuppern. Wir sind heute eine Nichtraucherfamilie, aber nun zur eigentlichen Geschichte.

 

Es war eine Klassenfahrt geplant. Damals war die Stadt noch großzügig und so konnten wir für 10 Tage nach Oberstdorf reisen. Für die Eltern kostete das nicht viel und selbst die, die kein Geld hatten konnten mit. Das wurde stillschweigend übernommen und dringend nötig. In meiner Wohnsiedlung wohnten viele Familien, die kinderreich waren und dementsprechend wenig Geld zur Verfügung hatten. Fast alle arbeiteten bei Blaupunkt, ein großer Arbeitgeber, der in unmittelbarer Nähe sein Werk hatte. Die Zeiten waren hart, aber die Kinder hatten mehr Freiheiten, denn die Eltern waren kaum zu Hause. Viele arbeiteten in Gegenschicht, so auch meine. Wir machten Unsinn, hatten aber auch viel Verantwortung für die jüngeren Geschwister. Unsere Eltern wollten, dass es uns mal besser geht und wir spürten das, auch wenn wir es nicht zeigten. Wir waren keine wirklichen Nachkriegskinder, aber trotzdem musste gespart werden.

 

Meine Klasse fieberte dieser Fahrt entgegen und endlich war es so weit. Die Reise ging über die A7 Richtung Süden. In Dinkelsbühl haben wir übernachtet und am nächsten Morgen erreichten wir bald unsere Jugendherberge. Ich kann mich gut erinnern, dass ich nie satt wurde. Ob es wirklich so wenig gab oder ich immer Hunger hatte, weiß ich nicht mehr.

 

Unser Begleitpersonal waren der Klassenlehrer und die Sportlehrerin. Für sie (die Sportlehrerin) habe ich lange geschwärmt. Ich weiß heute noch wie sie aussah, schlank mit blonden langen Haaren und blauen Augen. Unser Klassenlehrer war sehr beliebt. Er konnte sich durchsetzen und hatte immer ein offenes Ohr für unsere Nöte.

Das Tollste an dieser Jugendherberge war jedoch der Partykeller. Es gab für die 10 Tage zwar ein festes Programm, aber abends durften wir dort tanzen. Ich erinnere mich an Alice Cooper und School's  out und Elton Johns Crocodile Rock. Do you wanna touch me von Gary Glitter habe ich immer noch im Ohr.

 

Ein Klassenkamerad wurde genau in dieser Zeit 16 Jahre alt und er durfte eine Zigarette rauchen. Wir waren alle neidisch. So in der Öffentlichkeit und vor den Lehrern, das war großartig. Natürlich wurde er damals ermahnt, nur diese eine Zigarette zu rauchen, denn es war zwar mit 16 Jahren offiziell erlaubt, trotzdem galt das dort nicht, denn die Eltern mussten zustimmen. . Ich denke oft an ihn, er hat sich im folgenden Jahr wegen einer Liebesgeschichte umgebracht.

Wir anderen rauchten heimlich. Hinter der Jugendherberge gab es einen Garten und dort standen wir dichtgedrängt bei Kälte und Regen. Irgendwann sind wir leichtsinnig geworden und haben auf dem Klo geraucht. Während ich genüsslich einen Kringel in die Luft blies ging die Tür auf und unser Lehrer stand in der Toilette. Wir waren zu fünft, drei Jungen, zwei Mädel und es wurde schlagartig mucksmäuschenstill. Ich weiß genau, dass die Sorte, die wir rauchten Ernte 23 hieß, die Schachtel war orangefarben. Sie wurde konfisziert. Eine lange Standpauke folgte und wir hatten alle Sorge, dass er es unseren Eltern erzählen würde. Heute mag es eine Kleinigkeit sein, damals setzte es harte Strafen. Taschengeldentzug und Stubenarrest. Manche bezogen Prügel, die Zeiten waren anders.

 

 

Der Rest der Reise verlief ereignislos. Ich dachte kaum noch daran und wir wanderten täglich, fuhren auf die Zugspitze und erkundeten das Walsertal. Selbst die Rheinfälle bei Schaffhausen haben wir besichtigt. Da das Reisen für Familien mit Kindern kaum möglich war,  genossen wir diese 10 Tage im September.

Zu dieser Zeit schwärmte ich für einen Jungen aus meiner Klasse und auf der Rückreise saßen wir zusammen im Bus. Heimlich haben wir Händchen gehalten, aber über einen Kuss ist es nie hinausgegangen. Ich habe kurze Zeit später meinen Mann getroffen, da waren alle anderen unsichtbar.

Der Schulalltag hatte uns bald wieder, Klassenarbeiten standen an. Mir ist das Lernen nie schwer gefallen, aber ich war faul. Einzig Geschichte liebte ich abgöttisch und die Sprachen mochte ich auch gern. Die Rauchergeschichte hatte ich schon völlig verdrängt.

Wochen später bekamen wir die Abrechnung der Klassenfahrt. Es war Geld über und das wurde ausgezahlt. Während unser Lehrer es verteilte bemerkte er beiläufig, dass er die Fünf, die er damals erwischt hatte, noch gesondert sprechen wollte. Wir trotteten zum Lehrerzimmer und er verkündete mit einem leichten Grinsen im Gesicht, dass wir die Summe spenden sollten. Das wäre unsere Strafe. Alt – aber nicht vergessen. Ich atmete schon auf, da sagte er ergänzend.

„Ihr könnt gleich zu Sparkasse gehen, den Einzahlungsbeleg möchte ich allerdings sehen.“

Schade - er hatte wohl meine Gedanken gelesen. Gesagt getan, er hatte unseren Eltern nichts erzählt und damit konnte ich jetzt gut leben. Ich glaube, es waren damals 10 DM. Damit war die Sache erledigt, dachte ich jedenfalls.

 

Wochen später komme ich von der Schule nach Hause. Meine Großmutter und meine Mutter standen in der Küche und schauten mich an. Ich wurde misstrauisch, was war los.

Auf dem Tisch lag eine aufgeschlagene Zeitung. Oma zeigt darauf und sagte fast ein wenig feierlich:“ Wir hätten nie erwartet, dass du von deinem Taschengeld etwas spenden würdest. Wir sind stolz auf dich.“

Fassungslos schaute ich in die Zeitung. Damals waren die Spender mit Namen gelistet und ich las den meinen.

Ich habe diese Sache Jahre später aufgeklärt. Immer wieder wurde sie dann bei Familienfeierlichkeiten erzählt und gelacht. Jede Familie kennt solche Geschichten, die zur Belustigung sorgen und in Endlosschleife gehen.

Zu meinem damaligen Lehrer habe ich heute noch eine gute freundschaftliche Beziehung. Wir sehen uns ab und zu. Die Zigaretten habe ich nie wieder bekommen. Hat er sie selber geraucht? Ich weiß es nicht.

Schulbeginn in schwierigen Zeiten

 

Während des 2. Weltkrieges wurden in Deutschland 1943 alle Schulen geschlossen. Nachdem der Krieg am 8. Mai 1945 zu Ende war, fing für alle Schulkinder im Herbst 1945 die Schule wieder an. Auch ich wurde als I – Männchen eingeschult. Eine Schultüte gab es nicht, denn es war ja nichts da. In der Versorgung gab es erhebliche Engpässe. Schulhefte gab es in den ersten Schuljahren auch nicht. Einen alten Lederranzen der zwar schon ziemlich abgenutzt war, hatte ich von meinem Cousin bekommen, aber ich trug ihn ganz stolz zur Schule. Darin befand sich eine Schiefertafel mit einem Schwämmchen, einem Lappen und einem Griffel. Unsere erste Hausaufgabe fiel mir sehr schwer. Wir sollten ein kleines  lateinisches „i“ auf die Tafel schreiben, d. h. mehr malen als schreiben.

Einen Kindergarten hatte ich während der Kriegsjahre nicht kennen gelernt, auch die waren alle geschlossen. Ich hatte also Null Kenntnisse. Und die Hausaufgabe fiel mir sehr schwer. Meine Mutter wischte alle meine „i`s“ wieder weg, ich fing immer wieder von vorne an. Und es gab die ersten Tränen bei mir. So hatte ich mir eigentlich meinen ersten Schultag nicht vorgestellt. Doch irgend wann hatte ich es dann geschafft, meine Tafel war voller „i`s“.

Am Anfang wurden wir von einem Schulgebäude zum anderen geschickt. Die Schulen waren nach dem Krieg in einem desolaten Zustand. Es ergaben sich erhebliche Raumprobleme. Die Schulwege waren oft weit. Es wurden Notunterkünfte gesucht.

Ich kann mich erinnern, dass ich für zwei Tage einen Schulweg von ungefähr 1 Stunde Fußweg hatte. Aber schließlich und endlich nach ein paar Wochen besuchte ich die Volksschule, das war zu der Zeit noch die Bezeichnung für die heutigen Grundschulen, in der ich bis zum Frühjahr1949, bis zum Übergang zur damaligen Mittelschule blieb. Ich brauchte 20 Minuten bis zur Schule. Das erste Schuljahr begann im Herbst 1945 und endete am 31. März 1946. Das Zeugnis beinhaltete keine Noten, nur einen Text. Ich hätte einen guten Anfang gemacht. Es wäre mir nichts zu viel. Immer gleichmäßig und angenehm, ein liebes Kind. Das war alles.

Mit der Verpflegung haperte es zu der Zeit. Es gab ja nichts. Deshalb war die Schulspeisung, die es ab 1946 für 1.20 RM je Woche gab, eine echte Hilfe. Das Essen war entweder eine Erbsensuppe, eine Fleischsuppe mit ein paar Nudeln drin oder eine Haferschleimsuppe, die ich bis heute noch nicht mag. Am liebsten aß ich die Fleischsuppe. Allerdings konnte man die Fleischstückchen und Nudeln zählen. Einen Topf und einen Löffel mussten wir von zuhause mitbringen. Wenn man schlau war, stellte man sich am Ende der Schlange an, denn der Speck in der Erbsensuppe und das Fleisch in der Fleischsuppe hatte sich am Boden abgelagert, und so konnte man wesentlich gehaltvoller essen. Für manche Kinder war das die einzige warme Mahlzeit am Tag. Erst 1950 wurde die Schulspeise eingestellt.

 

 

Protestanten und Katholiken waren streng getrennt. Auf unserem Schulhof standen zwei Schulgebäude. Eine Schule für die Katholiken und eine für die Protestanten, Wir trafen nur in der Pause auf dem Schulhof zusammen und es war nichts Ungewöhnliches, dass manchmal eine Prügelei zwischen den Katholiken und den Evangelischen stattfand und die Lehrer dazwischen gehen mussten.

 

In dem Winter 45/46 war der Kohlenmangel ein großes Problem. In den Fenstern fehlten zum größten Teil noch die Scheiben, Fensterglas war bis Dezember 1946 für Schulen nicht zu bekommen, Kinder und Lehrpersonal saßen mit Mänteln, Mützen und Handschuhen  in den Klassen. Da auch damals schon kein Unterricht ausfallen durfte, gab es „verkürzten Unterricht“ - d. h. wir mussten nach kurzem Aufenthalt in der Schule nach Hause gehen.

Da mein Vater im Bergbau beschäftigt war, brauchten wir zuhause nicht frieren, Wir bekamen so viel Kohle, dass wir noch einige Zentner schwarz verkaufen oder tauschen konnten. Meine erste Klassenlehrerin, die mir das gute Zeugnis schrieb, wusste das und winkte mich eines Tages zu sich ans Pult und bat mich, zu Hause bei meinen Eltern einmal nachzufragen, ob sie ihr nicht einen Sack Kohlen bringen könnten, selbstverständlich geschenkt. Mit dieser Aufgabe wurde dann mein Bruder, 10 Jahre älter als ich, betraut, der meiner Lehrerin in einer Karre fluchend einen Sack Kohlen brachte. Fluchend, weil es ein langer Weg bis zu ihr war. Im nächsten Schuljahr bekam ich dann eine andere Lehrerin, die ich bis zum Ende des vierten Schuljahres auch behielt

Ich gehörte zu den drei Klassenbesten. Ich ging gerne zur Schule. Das Lernen machte mir Spaß und ich hatte zwei Schulfreundinnen gefunden. Wir drei haben viel zusammen unternommen.

 

Im Frühjahr 1949 bestand ich die Aufnahmeprüfung zur Städtischen Knaben- und Mädchen-Mittelschule in Essen-Steele. Damals musste man, wenn man  eine weiterführende Schule besuchen wollte, noch eine Aufnahmeprüfung ablegen. Aus meiner Klasse waren wir zu dritt, die eine weiterführende Schule besuchen wollten und aus finanziellen Gründen konnten; denn die weiterführenden Schulen kosteten Geld. Da in meiner Klasse fast nur Arbeiterkinder waren, kam für sie eine Mittelschule oder gar ein Gymnasium nicht in Frage. Wir drei waren eine Ausnahme.

 

Zu der Zeit besuchten Jungen und Mädchen noch nicht gemeinsam das Gymnasium. Die Jungen gingen zum Gymnasium und die Mädchen besuchten das Lyzeum. Auch  die Mittelschule war streng nach Jungen und Mädchen getrennt. Wir waren zwar in einem Gebäude untergebracht, aber wenn wir Mädels morgens Schule hatten, mussten die Jungen nachmittags zur Schule. In der nächsten Woche war es dann umgekehrt. Wenn wir nachmittags Schule hatten fiel am Samstag der Unterricht aus. Aber die weiterführenden Schulen waren schon ein wenig fortschrittlicher, denn Katholiken und Protestanten waren nicht nur auf einer gemeinsamen Schule, sondern auch noch in einer Klasse, nur der Religionsunterricht war getrennt.

 

 

 Die Prüfung bestand aus einem Diktat, einem Aufsatz und Rechenaufgaben. Das Diktat war aus unserem Lesebuch und hieß „Die beiden Pflugscharen“ Das  Aufsatzthema sollte ein Erlebnis sein. Ich ließ meiner Phantasie freien Lauf und nahm die Überschrift „Wie ich mir mein Kleid zerrissen habe.“ Es war eine frei erfundene Geschichte.

Als ich nach der Prüfung nach Hause kam, schlug ich sofort mein Lesebuch auf, um nachzusehen, ob ich in dem Diktat Fehler gemacht hatte. In der Volksschule waren meine Diktate immer fehlerfrei. Und oh Schreck, ich fand 2 Fehler. Ich weinte bitterlich und war der Meinung, dass ich durchgefallen wäre.

 

Mutlos fuhr ich am nächsten Tag mit der Straßenbahn von Essen-Kray nach Essen-Steele, überzeugt davon, dass ich die Prüfung nicht bestanden habe. Wir mussten uns auf dem Schulhof aufstellen und die Rektorin verlas die Namen, derjenigen Schüler/innen, die auf Anhieb die schriftliche Prüfung bestanden hatten. Ja, welch eine Erleichterung, als auch mein Name aufgerufen wurde. Die beiden Mitschüler aus meiner Klasse mussten noch eine mündliche Prüfung absolvieren, die sie dann auch bestanden. Allerdings haben beide nach zwei Jahren die Schule wieder verlassen. Ich weiß nicht, ob freiwillig, oder ob sie gehen mussten. Ab 1951 wurde die Mittelschule in Realschule unbenannt. Ich wurde am 29. März 1955 mit dem Abschlusszeugnis entlassen. Ich hatte das Ziel der Realschule erreicht. Aber bis dahin war es noch ein weiter Weg.

 

Bei der Abschlussfeier in der Aula, bekam ich feuchte Augen und wischte mir heimlich ein paar Tränen fort. Ich bin gerne zur Schule gegangen. Der Abschied von meinen Klassenkameradinnen fiel mir schwer. Mit einigen hatte ich noch ein paar Jahre Kontakt. Aber irgendwie trennten sich dann unsere Wege. Ab und an gab es mal ein Klassentreffen. Das letzte fand 1985 - dreißig Jahre nach unserer Schulentlassung statt.

Vierzig fehlende Tage

 

An meinen Einschulungstag im Jahr 1968 habe ich gar keine Erinnerungen mehr, nur das mir meine Patentante extra für diesen Tag ein Kleid in Rosa genäht hat. Da ich ein Sandwichkind bin hat man auch prompt den Fotoapparat vergessen. Dieses Foto gibt es nur, weil der Fotograf das Kind verwechselt hat und sicher habe ich auch keine zwei Schultüten erhalten, dafür einen roten ledernen Schulranzen.

 

 

Die ersten zwei Schuljahre vergingen und ich freute mich auf die Sommerferien, denn meine Eltern bauten gerade ein eigenes Haus.

 

Endlich Sommerferien und dann passierte es gleich am ersten Tag, beim Spielen wurde ich von einem Auto erfasst, besser gesagt, ich stolperte über die Bordsteinkante und fiel ins heran nahende Auto hinein. Mein Bruder lief schreiend nach Hause, um meine Mutter zu informieren. Auf dem Weg ins Krankenhaus bin ich wohl im Krankenwagen aufgewacht, ein Mann sagte nur zu mir “Schlaf  ruhig weiter“. Das nächste Mal erwachte ich in einem Raum mit riesigen Säulen, bin dann aber wieder weg gewesen.

 

Richtig wahrgenommen habe ich erst wieder meine Mutter, welche an meinem Bett saß und sich mit einem Arzt unterhielt. Einige Tage vergingen, als ein Zahnarzt an meinem Bett erschien. Er sollte mir den abgebrochen Zahn, der wie eine Spitze im Mund stand,  entschärfen. Man hielt mich mit zwei Mann fest, aber ich glaube mein Geschrei hörte man noch drei Etagen über mir, denn er begann ohne Betäubung den Zahn zu begradigen. (Sicher könnt ihr euch vorstellen was passiert, wenn ich nur Zahnarzt höre).

 

Kurz vor Schulbeginn wurde ich endlich aus dem Streckverband des gesplitterten Oberschenkelhalsbruches nach fast endlosen sechs Wochen erlöst. Das Erste was ich unternahm, als die Ärzte und Schwestern aus dem Zimmer gegangen waren, war, raus aus dem Bett. Da ich aber nicht auf dem linken Bein stehen konnte, hüpfte ich auf dem rechten durchs Zimmer. Sofort ging das Gezeter der älteren Frauen im Zimmer los. 

 

Meine Freude, endlich dieses elende Bett zu verlassen, dauerte aber nur einige Minuten und mein Bein wurde sofort wieder auf einer Schiene fixiert und  etwas hoch gelagert.

Ich weiß noch, dass ich dabei Rotz und Wasser geheult und ein ziemliches Theater veranstaltet habe, denn ich wollte doch so gerne beim Theaterstück, welches wir für die Erstklässler vor den Ferien einstudiert hatten, mitwirken. Mein kleiner Bruder wurde ja eingeschult.

 

Die Schule begann. Am Nachmittag besuchte er mich voller Stolz mit seinem neuen Ranzen, den er gar nicht abnehmen wollte. Er versuchte mich zu trösten und meinte, dass meine Vertretung im Theaterstück grottenschlecht gewesen sei.

 

 

Obwohl am nächsten Tag gar kein Besuchstag war, staunte ich nicht schlecht, als meine Klassenlehrerin Frau Lange ins Zimmer trat. Sie erzählte mir, dass mich alle grüßen und überreichte mir Bilder, welche meine Klassenkameraden (innen) für mich gemalt hatten.

Damit ich nach meinem Krankenhaushalt nicht den Anschluss verliere, wollte sie mich öfters besuchen.

Ungefähr zwei Wochen später wurde ich  endlich von der Fixierung befreit und durfte mit kleineren  Gehübungen beginnen. Ich bekam so eine Art Frühstadium von dem heutigen Rollator, für mich war es damals eine Art Gehfrei mit Rollen, diesen benutzte ich, wenn niemand hinsah, als Roller.

Schelte erhielt ich dann, wenn sie mich dabei erwischten, wie ich damit durch den Flur der Station oder auf den Weg zum Schwesternzimmer flitzte.

In dem kleinen Krankenzimmer, in dem ich untergebracht war, standen zwar fünf Betten und ein Waschbecken, aber es gab keinen Tisch. So durfte ich mich im Schwesternzimmer an den Tisch setzen, um meine Aufgaben zu machen.

Die Schwestern und Ärzte, welche ihren Dienst verrichteten, schauten mir über die Schulter. Sie halfen oder erklärten mir, wenn ich etwas nicht verstanden habe.

Ich weiß noch genau, dass mein Lieblingsarzt Dr. Finger mit mir ständig das kleine Einmaleins übte. Egal wo ich ihn traf, er fragte mich ständig ab oder stellte mir Rechenaufgaben, welche ich dann lösen sollte.

Vier Wochen nach Schulbeginn wurde ich dann entlassen und die Schwestern sagten zu mir, dass sie schon aufs nächste Jahr freuten, wenn ich wieder bei ihnen wäre, denn dann sollten die so genannten Nägel in meinem Bein wieder entfernt werden.  

Zu meiner Freude hatte meine Mutter einige Tage später eine Party für mich und meine Freunde veranstaltet.

Ich fühlte mich wie im siebten Himmel und unheimlich glücklich mit meinen Freunden nach so langer Zeit wieder zu spielen.

 

 

Am Montag sollte ich zum ersten Mal wieder die Schule besuchen, meine Eltern hatten schon Gedanken gemacht, wie ich dort hinkomme, da ich noch nicht so weite Strecken laufen sollte.

 

Doch am Samstagabend bekam ich hohes Fieber und der Arzt stellte fest, dass ich Scharlach hätte. Ich wurde unter Quarantäne ins Schlafzimmer einquartiert und die Einzige, die dort hinein durfte, war meine Mutter. Nachdem es mir etwas besser ging habe ich die gemeinsame Zeit mit ihr genossen.

 

Nach insgesamt vierzig fehlenden Unterrichtstagen begann für mich wieder der Schulalltag und ich freute mich riesig darauf.

Englisch fällt heute aus!

 

Man sagte uns nach, wir wären eine schreckliche Klasse gewesen. Disziplin gab es bei uns nicht, sollte man den Aussagen der Lehrer glauben. Angeblich konnte man uns nur mit strenger Hand unterrichten. Nur ein Spaß konnte die Ruhe, bei uns in der Klasse, für den gesamten Tag stören und ein Lernen unmöglich machen.

Die hatten doch keine Ahnung. Die hatten keine Ahnung, dass mich die Disziplin in dieser Klasse so gar nicht interessiert hat. Dass ich jeden Tag mit einer riesigen Angst in die Schule gefahren bin, immer in Erwartung des nächsten groben Scherzes, den man mit mir abzog.

 

Nachdem meine Mutter mit unserer Klassenlehrerin geredet hat und diese doch tatsächlich eine Ansprache vor der Klasse deswegen gehalten hat, ist die ganze Sache nur noch schlimmer geworden. Das wusste nur keiner. Ich wollte es durchstehen. Irgendwann würde meine Schulzeit schon zu Ende gehen...

 

„Guten Morgen!“ Frau Müller hatte die Klasse betreten, bereit den langweiligsten Englischunterricht abzuhalten, den man sich vorstellen konnte. Trocken und streng nach Lehrplan, einfaches Vokabeln lernen und gleich auf zur nächsten Lektion. „Warum ist denn die erste Bankreihe schon wieder leer? Rika, wir hatten doch gesagt, dass du in meinem Unterricht hier vorne sitzt.“

 

Die Spannung in dem Moment war förmlich mit den Händen greifbar. Alle starrten mich an. Sie kannten es nicht, dass ich mal etwas nicht machte, was ein Lehrer gesagt hat.

„Ja, Frau Müller, das hatten wir. Aber ich reagiere auf den extremen Kreidestaub da vorne zu sehr. Ich hatte vermehrt Asthmaanfälle und mein Arzt meinte, dass das durchaus an dem Kreidestaub liegen kann.“

Wie sie höhnten, meine so genannten Klassenkameraden. Ich würde mich anstellen und ich würde mich auf der Krankheit ausruhen. Auf der letzten horrormäßigen Klassenreise allerdings, wollte mich niemand mit im Zimmer haben, aus Angst mir mal helfen zu müssen.

 

„In Ordnung Rika, du setzt dich jetzt hier vor, wir halten dann hoffentlich eine Englischstunde ab und wenn dein Arzt das wirklich gesagt hat, kann er dir das sicher auch bescheinigen. Und jetzt hier vor und Ruhe in der Klasse!“

Wamm, das hatte gesessen. Wie ein geprügelter Hund, zog ich mit Sack und Pack und unter dem Gejohle der anderen in die erste Bankreihe. Total sauer, gekränkt und eingeschüchtert, saß ich da und hatte null Interesse mehr am Unterricht. Der komplette Tag war für mich gelaufen. Ganz besonders die Folgestunden, als die anderen dafür sorgten, dass ich in der ersten Bankreihe sitzen bleiben musste. Nicht nur an diesem Tag, sondern auch an den zwei folgenden Tagen.

 

Das Wochenende im Anschluss war der totale Horror für mich. Ein Asthmaanfall jagte den nächsten und ein Ende fand das Ganze erst, als wir den Notarzt nachts da hatten, der mir Cortison direkt in die Vene gespritzt hatte.

Diese Behandlung putschte mich nicht nur für ein paar Stunden auf, sondern sollte anderthalb Wochen vorhalten. Ich war ein neuer Mensch.

Und dieser neue Mensch wollte sich an Frau Müller rächen. Ich würde nicht nur ihr einen Denkzettel verpassen, sondern diesen Assis in meiner Klasse auch zeigen, dass ich nicht so war, wie sie mich hingemobbt hatten. - Ich, Rika Wächter, hatte einen Plan.

 

Oma hatte einmal wieder einen ihrer Nähanfälle. Das war der positive Punkt, die Oma direkt im Haus mit wohnen zu haben. Man konnte immer mal wieder etwas von ihr abstauben. In diesem Fall war es ein Fetzen Stoff. Ein Fetzen alter Stoff, denn er musste zerreißbar sein.

„Kind, was hast du denn vor?“ Oma war ganz verdattert. Sie dachte wahrscheinlich wirklich, ich hätte meine Leidenschaft für Handarbeiten wieder entdeckt.

„Ach Oma, das ist was für die Schule. Quasie für meine Englischlehrerin.“

Ich erntete von Oma einen seltsamen Blick. Sie konnte mit meiner Aussage wohl nicht wirklich was anfangen, aber das machte erst einmal nichts. Ich griff wortlos zur Schere und schnitt den Stoff leicht an. Dann folgte eine Reißprobe. - Es gab einen herrlichen Ratsch und meine Oma rollte mit ihren Augen. „Ich glaub nicht, dass du was Gutes im Sinn hast.“, sagte sie nur.

„Das hab ich auch nie behauptet.“, war meine knappe Antwort. Ich schnitt noch ein zweites Mal in das größere Stück Stoff und war dann wieder aus dem Raum.

 

Am nächsten Tag, gleich in der ersten Stunde, war Englisch angesagt. Allen meinen Klassenkameraden war die Lust ins Gesicht zu geschrieben und die Augen wurden groß, als ich gut gelaunt in den Raum kam, mich freiwillig in die erste Bank setzte und meine Sachen zurecht legte.

„Ey sag‘ mal, wir hatten uns schon auf die übliche Streiterei gefreut.“, meinte einer.

Ein anderer Schüler motzte: „Ist das Asthma weg oder warum verträgst du den Kreidestaub plötzlich so gut.“

Ich stellte meine Tasche neben meinen Tisch, legte das Stück Stoff bereit und fing an, die Kreide verschwinden zu lassen. Ein Stück allerdings, legte ich auf das tiefste Ablagefach, was diese Tafel zu bieten hatte. Knapp über dem Boden, direkt neben dem Schwamm war ein perfekter Ort. Die restliche Kreide verfrachtete ich in den Lehrmittelschrank.

„Was soll das denn werden?“ Die Neugier hatte gesiegt und man vergaß glatt, dass man doch normalerweise gemein zu mir ist.

Ich grinste. „Ganz einfach, ich habe weder Bock auf Kreidestaub noch auf die Gemeinheiten von der Müller. Ich denke, die heutige Stunde geht recht schnell vorbei.“

 

Meine Mitschüler fingen schon wieder an zu lachen. Nur ein Mädchen wollte wissen, was ich vor hatte. Natürlich stellte sie diese Frage in ihrem typisch hochnäsigen Ton, den ich aber in dem Fall mal überhörte. Denn ich war mir sicher, wenn der Plan gelingen würde, wäre ich zumindest für heute mal ein vollwertiges Klassenmitglied.

„Überlasst das mal mir. Dann wird die Überraschung umso besser.“

„Die spinnt doch!“, wiegelte ein Junge ab und begab sich auf seinen Platz.

 

Keinen Moment zu früh, denn in dem Moment kam auch Frau Müller schon in den Raum. Sie trug ihren engsten langen Rock, der sogar die Konturen ihrer Unterhose sichtbar machte. Perfekt für meinen Plan.

„Good morning, children!“ begann sie sofort ihr Programm, stellte ihre Tasche ab, legte das Klassenbuch an seine angestammte Kante und begann sich suchend umzusehen. Das war mein Einsatz. Klammheimlich griff ich das Stück Stoff und hielt es unter dem Tisch rissfest bereit.

Frau Müller sah das einzige Stück Kreide, welches noch bereit lag, krempelte ihre Ärmel hoch und bückte sich dann schwungvoll danach. Das war mein Signal, denn in dem Moment, als sie sich schwungvoll bückte, zerriss ich genauso schwungvoll das Stück Stoff. Es gab einen herrlichen Ratsch und er verfehlte seine Wirkung nicht.

Frau Müller fuhr schlagartig wieder hoch, hielt ihre Hände an ihren Po und bekam einen hochroten Kopf. „Sorry“, stammelte sie. „Ich muss da mal ein Missgeschick ausbügeln. Seid bitte still.“, sprach es und war auch schon aus dem Raum. 

Eine Weile herrschte Schweigen im Raum. Genau so lang, bis auch der Dümmste in dem Haufen begriffen hatte, was denn da gerade passiert war.

Ich stand auf, legte sämtliche Kreide wieder an ihren angestammten Platz und präsentierte der Klasse dann die zwei Stofffetzen. „Ich denke mal, Englisch fällt heute aus.“, sagte ich nur.

 

Das Gejohle war groß, meine Banknachbarin von der letzten Bankreihe half mir höchstpersönlich, meine Sachen wieder nach hinten zu schaffen und ich musste allen erklären, was ich denn da jetzt genau gemacht hatte.

Englisch fiel aus für diesen Tag und ich hatte einen Tag mal keine Probleme mit meinen Mitschülern.

 

Ein wirklich herrliches Erlebnis!!!

 

 

 

 

In Memorian

Viele Erinnerungen an die Schulzeit verblassen mit der Zeit. Einiges relativiert sich auch, wenn man aus dem Blickwinkel eines Erwachsenen auf Geschehnisse zurückblickt, die man als Schüler ganz anders empfunden hat. Aber wenn ich an Herrn J., meinen Mathelehrer aus der Mittelstufe des Gymnasiums denke, relativiert sich gar nichts. Dann keimt in mir immer noch diese Wut und vor allem Fassungslosigkeit auf, dass solche Menschen als Lehrer auf Schüler losgelassen worden sind. Ich kann mich an einzelne Szenen noch so gut erinnern, als wären sie gestern passiert und nicht vor mittlerweile 25 Jahren. Und das nicht nur, weil ich noch Tagebuchaufzeichnungen aus dieser Zeit besitze, sondern weil sie sich mir einfach eingebrannt haben.

 

Ich besuchte die Mittelstufe in den späten 80er Jahren. Der ganz autoritäre Stil von früher war also schon länger passé; so „offen“ wie heute war das Lehrer-Schüler-Miteinander aber auch noch lange nicht. Ich ging gerne zur Schule, war eine gute Schülerin und eher ruhig und zurückhaltend. Das muss ich mal vorausschicken, da man ansonsten im Folgenden den Eindruck bekommen könnte, ich wäre schon immer renitent und aufsässig gewesen, was ich definitiv nicht war. Aber dieser Lehrer hat mich dermaßen auf die Palme gebracht, dass ich mich teilweise selbst nicht wiedererkannt habe.

Wir bekamen Herrn J. also in der 8. Klasse als Mathelehrer zugeteilt. Diejenigen aus meiner Klasse, die in der 7. Klasse Latein als zweite Fremdsprache gewählt hatten und ihn schon seit einem Jahr als Lateinlehrer hatten, stöhnten auf: „Oh nein, nicht den Joschi!“ („Joschi“ war der Spitzname dieses Lehrers, den man tunlichst nicht in seiner Gegenwart verwenden sollte.) Er war bekannt als der strengste Lehrer, einer vom „ganz alten Schlag“.

 

Der es besonders den Schülern schwer machte, die in seinen Unterrichtsfächern nicht gut waren. Ich hatte allerdings Französisch als zweite Fremdsprache gewählt, daher hatte ich bis dato noch nicht das Vergnügen mit ihm gehabt. Mir reichte auch schon sein Anblick: Er erinnerte stark an die Büsten von antiken Philosophen und hob sich von der Masse der Lehrer stets durch sein Auftreten ab – er „schritt“ förmlich durch die Schule (ausschließlich allein, nie in Begleitung von Kollegen), wobei er immer den Blick nach oben gerichtet hatte.

 

Er lebte seine Arroganz und Hochnäsigkeit also schon in der Art seines Auftretens aus, die stets eine Aura von „Hier bin ich, der König – werft euch in den Staub, ihr Untertanen!“ verbreitete. Auch war eine seiner Grundthesen weitläufig bekannt, da er sie gern bei jeder Gelegenheit anbrachte. Diese besagte, dass es für ihn unverständlich sei, warum so viele Mädchen heutzutage das Gymnasium besuchen würden, da dieses Ausmaß an Bildung ihnen doch gar nicht zuträglich sei, weil sie sich auf ihre gottgegebene Rolle als Hausfrau und Mutter konzentrieren sollten. Soviel dazu. Ich betone noch einmal: Ende der 80er Jahre!

 

Aber ich ließ das Ganze mal auf mich zukommen. Ich war schon damals so, dass ich unvoreingenommen an neue Dinge heranging und mir stets erst ein eigenes Urteil bilden wollte. Was sollte auch schon großartig schief laufen? Ich war sehr gut in Mathe, eine ruhige Schülerin und hatte noch nie Probleme mit irgendeinem Lehrer gehabt. So schlimm könnte es schon nicht werden.

Wurde es auch erst einmal nicht. Davon abgesehen, dass mir Herr J. allein vom Anblick schon unsympathisch war, machte er sich erst einmal nicht großartig unbeliebt. Klar, er war sehr streng, forderte ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit und duldete absolut keinen Widerspruch, aber da unsere Klasse gemeinhin als sehr „brav“ bekannt war, gab es erstmal keine nennenswerten Probleme. Ich muss zugeben, dass ich es sogar mochte, dass er mit seinen Steckenpferden Latein und Griechisch auch gerne nebenbei immer ein paar Geschichten um berühmte Philosophen und Staatsmänner aus der Antike zum Besten gab, wofür ich mich ebenfalls sehr interessierte.

 

Meine beste Freundin Nicole, die ihn schon vom Lateinunterricht kannte, warnte mich vor: „Das macht der immer so, am Anfang schleimt der sich bei den Schülern ein. War in Latein genauso. Irgendwann zeigt der sein wahres Gesicht.“

Und das kündigte sich nach ein paar Monaten dann auch allmählich an. Es war offensichtlich, dass er Spaß daran hatte, schlechte Schüler zur Schau zu stellen, sich vor der Klasse über sie lustig zu machen. Er war dazu übergegangen, etwa einmal in der Woche einen Schüler nach vorne an die Tafel zu ordern, der dann eine recht komplexe Aufgabe von ihm bekam und sie vor der Klasse lösen musste; dafür trug Herr J. auch eine Benotung in sein kleines rotes Büchlein ein.

Erstaunlicherweise holte er sich immer eher die schlechten Schüler nach vorne, manchmal auch das „Mittelmaß“. Auf jeden Fall lief das fast immer darauf hinaus, dass die Aufgaben von dem entsprechenden Schüler nicht gelöst werden konnten, was von Herrn J. mit reichlich Sticheleien und Spötteleien begleitet wurde und mit einer notierten 5 oder 6 in seinem Büchlein endete. Was er natürlich auch mit großer Theatralik zum Besten gab. Die typischen „Opfer“ für diese Vorführungen von Herrn J. hatten mittlerweile richtig Angst vor den Mathestunden und dieser öffentlichen Demütigung.

Als er eines Tages wieder Sandra zu sich nach vorne an die Tafel rief, die ihren letzten „Auftritt“ vor gar nicht allzu langer Zeit gehabt hatte (und die wir nach der Stunde trösten mussten, weil sie bitterlich weinend auf ihrem Tisch lag), wagte ich es, unaufgefordert aufzustehen. Herr J. zog es nämlich vor, dass man aufstand, wenn man mit dem Lehrer sprach. Etwas verwirrt schaute er in meine Richtung.

Ich fragte: „Herr J., warum holen sie sich eigentlich immer nur Schüler zum Benoten nach vorne, die nicht so gut in Mathe sind?“

Herr J. schaute mich irritiert ob meiner ungefragten Einmischung an und entgegnete: „Weil ich denen so die Möglichkeit geben möchte, sich auch einmal eine gute Note abzuholen und sich so zu verbessern. Und nun setz dich.“

Ich merkte im Hinsetzen noch an: „Aber irgendwie klappt das so doch nicht ...“

Von da an wurde es immer schlimmer. Herr J. fing an, die Schüler vorne an der Tafel persönlich zu beleidigen und gab Aussprüche wie „Blödheit vergeht nicht von alleine“ und „So dumm kannst doch nicht einmal du sein“ von sich.

Eines Tages rief er Bärbel wieder zu sich nach vorne – unsere schlechteste Matheschülerin. Man sah ihr das Unbehagen schon an und als sie an der Tafel stand, mit den ersten Ansätzen der Formel schon nicht klarkam und Herr J. seinen Auftritt als Spötter wieder einmal sichtlich genoss, fing Bärbel direkt an zu weinen. Sie stand dort an der Tafel, schluchzte immer wieder laut auf, obwohl sie versuchte, das zu unterdrücken und dicke Tränen kullerten ihr die Wangen runter. Die ganze Klasse guckte betreten schweigend vor sich hin, mir schnürte es vor Mitleid fast die Kehle zu und ich hätte am liebsten mitgeheult. Anstatt dass Herr J. jetzt einfach mal Ruhe gegeben hätte, setze er noch einen drauf und tönte theatralisch: „Du bist so dumm – du bist es nicht wert, von diesem Erdball getragen zu werden. Geh mir aus den Augen!“

 

 

Während die gesamte Klasse sich in noch betreteneres Schweigen hüllte und Bärbel hilflos vorne in der Klasse stehen blieb, ging mir die Hutschnur hoch. Ich stand so schwungvoll von meinem Stuhl auf, dass dieser fast umgekippt wäre und sagte empört: „Wie können Sie sich so etwas herausnehmen?!? So etwas dürfen Sie doch nicht zu einem Schüler sagen ...“

Herr J. wandte sich mir ruckartig zu, zeigte mit dem Finger auf mich und schrie mich an: „Wie kannst du es wagen, mir zu widersprechen? Schweig!“

Ich schwieg aber nicht, sondern beharrte darauf, dass ich solche Aussprüche absolut unverschämt fände und dass Bärbel ein ganz toller Mensch sei, deren Wert sich garantiert nicht an mathematischen Fähigkeiten bemessen lassen könnte.

Als Herr J. mich daraufhin des Klassenraumes verwiesen hat, war ich ganz froh, die Klasse verlassen zu können, da mir mittlerweile heiße Tränen der Wut in den Augen brannten und ich Herrn J. nicht auch noch diese Genugtuung gönnen wollte. Ich hörte im Hinausgehen noch, wie Nicole anfing, mich zu verteidigen und kurz darauf musste sie den Klassenraum auch verlassen. Da standen wir beide wütend und doch recht bedröppelt auf dem Flur (bei uns war noch nie jemand aus der Klasse geflogen) und beschlossen, dass wir jetzt in die Pausenhalle abhauen würden. Zu dem Arschloch in den Klassenraum wollten wir ganz bestimmt nicht mehr!

Bärbel kam später zu mir in die Pausenhalle und sagte kleinlaut: „Danke Saskia. Dass du versucht hast, mich in Schutz zu nehmen.“

 

Später sahen Nicole und ich, dass wir beide einen Eintrag ins Klassenbuch bekommen hatten, auch eine Premiere. Dort stand:

a)    Saskia benimmt sich ungehörig.

b)    Nicole ist ungezogen.

Das war dann auch der Auftakt zu vielen weiteren Eintragungen ins Klassenbuch, die folgen sollten. Und sie hatten immer den gleichen Wortlaut; manchmal stand ich alleine dort, ab und zu von der ungezogenen Nicole begleitet.

Die nächste Episode ließ keine zwei Wochen auf sich warten. Dieses Mal war Andreas dran, fast das gleiche Szenario wie bei Bärbel, nur konnte er das Schluchzen unterdrücken, die Tränen liefen aber auch. Das endete mit dem Ausspruch: „Ich weiß gar nicht, was du auf dieser Schule überhaupt willst. So dumm wie du bist, reicht es bei dir doch sowieso nur zum Straßenkehrer.“

 

Tja, ich mischte mich wieder ein, konnte mir eine Standpauke anhören von wegen man müsse Respekt vor dem Lehrer haben, worauf ich erwiderte: „Respekt muss man sich verdienen – und das schaffen Sie mit solchen Aussprüchen bei mir bestimmt nicht!“, und von da an war unsere Feindschaft besiegelt. Ich lief völlig auf Konfrontationskurs und ging bei der kleinsten fiesen Bemerkung von Herrn J. hoch, er verwies mich daraufhin immer direkt des Klassenraumes. Beim zweiten Mal bin ich auch sofort wieder abgehauen, was Herrn J. wohl so gar nicht passte, als er mich nach 10 Minuten wieder in die Klasse rufen lassen wollte.

 

Daher sollte ich von da an außen immer die Türklinke herunter drücken, damit er innen sehen könnte, dass ich noch da stünde. Nachdem ich einmal dämlich klinkendrückenderweise eine Viertelstunde vor der Klasse gestanden hatte, bin ich danach dazu übergegangen, einen der vor der Klasse an der Garderobe hängenden Turnbeutel an die Klinke zu hängen und einen anderen vor die Tür zu legen, damit diese nicht aufgeht. Und mich dann auf die Fensterbank zu setzen, bis Herr J. mich wie gewöhnlich kurz vor Stundenende von einem Schüler in die Klasse rufen ließ, damit ich die Hausaufgaben notieren konnte.

 

Was in diesem Zusammenhang ganz witzig war: Unsere Klassenlehrerin Frau P. konnte Herrn J. auch nicht ab. Wie auch, passte sie doch so gar nicht in sein Frauenbild „Heimchen am Herd“! Frau P. war eher der Typ Alt-68er und Kampfemanze, gut drauf, wenn auch als Lehrerin ein wenig ... sagen wir mal „schludrig“. Sie hatte meinen ersten Eintrag ins Klassenbuch auch spöttisch lächelnd zur Kenntnis genommen: „So, Saskia benimmt sich also ungehörig ... meint der gute Joschi.“ Ja, sie benutzte auch den von ihm so verhassten Spitznamen! Und sie wusste, dass ich regelmäßig von ihm vor die Tür gesetzt wurde. Eines Morgens, als ich schon direkt zu Beginn der Mathestunde rausgeflogen war und auf der Fensterbank im Flur saß, hastete sie (wie immer zu spät) über den Flur und warf mir nur ein aufmunterndes „Na Saskia, wieder Mathe bei Joschi?“ entgegen.

 

Kurze Zeit später stand bei uns eine Klassenfahrt in Form von „Pädagogischen Tagen“ an. In der Parallelklasse wurde ein Schüler davon aufgeschlossen, da er drei Einträge im Klassenbuch hatte. Ich hatte mittlerweile schon mehr als drei eingesammelt und war doch ein wenig beunruhigt. Daher ging ich zu Frau P. und fragte nach, ob die Gefahr bestünde, dass ich deswegen nicht mitkommen dürfte.

Da lachte Frau P. laut auf und sagte: „Saskia, da mach dir mal keine Sorgen. Wir beide wissen, dass man das absolut nicht ernst nehmen kann! Oder sollte ich lieber „den“ sagen?“ Ich hätte sie knutschen können ... Und sie merkte noch an, ob ich nicht versuchen könnte, Joschi etwas mehr zu ignorieren. Sie wüsste zwar, dass das total schwer wäre, aber es wäre für mich im Endeffekt doch auch besser. Dann habe ich ihr erst einmal genauer erzählt, was für mich die Auslöser waren. Bisher wusste sie nur von gewissen Auseinandersetzungen, aber Joschis wortgetreue Aussprüche bezüglich der Dummheit einzelner Schüler und wie er sich offensichtlich daran weidete, wenn diese weinend dastanden, war ihr nicht bewusst.

Sie starrte mich fassungslos an: „Das gibt’s doch gar nicht ...“

Ich weiß nicht, ob und inwiefern da eventuell etwas im Kollegium in den Gang gesetzt wurde - auf jeden Fall warf Herr J. von da an nicht mehr mit diesen persönlichen Beleidigungen um sich. Natürlich schaffte er es trotzdem, vereinzelt Schüler bei seinen Vorführungen zum Weinen zu bringen.

Ich flog daher seltener aus der Klasse, da ich mich nicht mehr so oft dazu gezwungen sah, für einzelne wehrlose Schüler Partei zu ergreifen, aber es fanden sich auch andere Anlässe.

So zum Beispiel eines Tages, als wir direkt vor der Mathestunde eine Deutscharbeit geschrieben hatten. Wie immer kam Frau P. zu spät zum Unterricht, sodass wir die Pause noch mit durchgeschrieben haben und alle noch unsere Pausenbrote in der Hand hielten, als Herr J. zur Mathestunde erschien.

Ein kurzer Befehl: „Die Brote in die Tasche! Sofort! Der Unterricht hat begonnen.“

Irgendwer versuchte eine Erklärung: „Wir haben gerade eine Arbeit geschrieben und hatten keine Pause ...“, was Herrn J. natürlich nicht interessierte. Er insistierte noch einmal darauf, dass die Brote zu verschwinden haben und keiner mehr einen Bissen nehmen dürfte, was Nicole löste, indem sie sich ihr restliches halbes Brot in den Mund stopfte und hektisch dagegen ankaute. Herr J. sah das, kam zu unserem Tisch gestürmt und zeigte anklagend mit dem Zeigefinger auf Nicole: „Hast du mich nicht verstanden? Ich habe das verboten!“

Nicole, deren Mund wirklich übervoll war, versuchte es mit einem kaum verständlichen „Aber ich habe Hunger“ aus vollen Backen, worauf Herr J. anfing, hektisch mit dem Zeigefinger rumzufuchteln und auf unseren Tisch zu zeigen: „Spuck es aus – spuck es sofort aus!“

Nicole guckte entgeistert und nuschelte: „Aber ich kann doch nicht ...“

Herr J. war mittlerweile puterrot im Gesicht angelaufen und schrie nahezu hysterisch: „Ich befehle es dir!“, und mit jeder Silbe von „Spuck-es-aus!“ deutete er ruckartig auf den Tisch vor uns. Auf den Nicole dann auch kurzerhand den riesigen halbdurchgekauten Batzen spuckte. Ich weiß auch nicht warum, aber ich fand die ganze Szene so absurd, dass ich anfangen musste zu lachen, während die ganze Klasse nur entsetzt guckte. Daraufhin richtete sich der Zeigefinger auf mich und Herr J. brüllte: „Und du! Du machst das jetzt weg!“

Ich entgegnete: „Das mache ich ganz bestimmt nicht“, und wollte eigentlich schon aufstehen, da ich mir sicher war, dass das Ganze sowieso damit enden würde, dass er mich wieder aus der Klasse wirft. Aber dieses Mal endete es damit, dass ich meinen Eltern ausrichten sollte, sie sollten sich unverzüglich mit ihm in Verbindung setzen, er würde sie beide sprechen wollen. Auf meinen wirklich berechtigten Einwand, ob auch meine Mutter ausreichen würde, da meine Eltern getrennt lebten, rastete er vollkommen aus.

Naja, was soll ich dazu jetzt großartig sagen? Meine Mutter war immer recht desinteressiert und daher auch noch nie auf Elternsprechtagen oder Elternabenden auf dem Gymnasium gewesen. Ihr hatte ich bislang auch kaum etwas von meinen Turbulenzen mit Joschi erzählt; eher meiner Schwester, die Freundinnen hatte, deren Geschwister auch auf dem Gymnasium waren und daher schon viel Klage über Joschi gehört hatte. Daher versuchte ich meine Mutter zumindest kurz ins Bild zu setzen über meinen Mathelehrer, hatte aber wenig Hoffnung, dass dabei etwas Vernünftiges rauskommen würde.

Als ich an dem Mittag aus der Schule kam, als meine Mutter das Gespräch mit Joschi hatte, empfing sie mich gleich mit: „Also Kind, ich weiß gar nicht, was du immer hast. Der Herr J. ist doch so ein netter Mann! Du musst dich nur etwas mehr zusammenreißen.“ Ich wäre vor Wut am liebsten ausgerastet und hätte meiner Mutter sonst was an den Kopf geknallt – verbal und gegenständlich! Dass meine Mutter doch tatsächlich so wenig Verständnis für mich aufbringen konnte! Hinterher habe ich mitbekommen, dass meine Mutter und meine acht Jahre ältere Schwester sich lautstark gestritten haben und meine Schwester ihr unter anderem vorwarf, warum sie sich so wenig für mich engagieren würde. Sie wüsste doch ganz genau, dass ich ein liebes und vernünftiges Mädchen sei, dass garantiert nicht grundlos irgendwelche Lehrer provozieren würde.

Wenn ich jetzt im Nachhinein darüber nachdenke, ist es mir absolut unbegreiflich, wie ein Lehrer sich so ein Verhalten gegenüber Schülern rausnehmen konnte; zu der Zeit. Heute würden die Eltern auf die Barrikaden gehen. Vor allem war Bärbel, wie beschrieben eins seiner Lieblingsopfer, die Tochter einer Lehrerin, die auch auf unserem Gymnasium unterrichtete. Allerdings eine, die in den Augen von Joschi keinen Pfifferling wert war: eine geschiedene Frau (das war schon die größte Schande), von der er einmal abfällig bemerkte, es gäbe an der Schule ja sogar Lehrkräfte, die sich nicht einmal Socken leisten könnten und ihre ungewaschenen dreckigen Füße in alten Latschen präsentieren würden. Eindeutig auf Bärbels Mutter gemünzt, da diese von der absoluten „Öko-Fraktion“ war und als einzige barfuß in Ökolatschen herumlief.

 

Da mir die Wörter leider ausgehen, muss ich auf einige Szenen mit Joschi verzichten, es gäbe noch viele:

... als er mich einmal auch mit einer besonders kniffligen Aufgabe an der Tafel vorführen wollte und dabei hoffnungslos gescheitert ist, da unser Mathegenie Volker (mein bester Kumpel schon aus Grundschulzeiten) darauf bestand, dafür hätte ich aber eine 1+ verdient – das hätte er so nicht hinbekommen

... als er mir auf dem Zeugnis eine 4 geben wollte, obwohl ich nur Einsen geschrieben hatte (erstaunlich bei der wenigen Zeit, die ich effektiv im Klassenraum verbracht habe!) und Frau P. das aber zu verhindern wusste

... als ich einmal aus Protest nach ein paar Sekunden ein leeres Klassenarbeitsheft abgegeben habe

... als er mich ernsthaft in missionarischer Absicht für seine Theaterspielgruppe gewinnen wollte, da er in mir die ideale Verkörperung von Eva aus Adam und Eva sah

... als ich Latein nur als 3. Fremdsprache gewählt habe, nachdem mir versichert wurde, dass er diesen Kurs nicht übernehmen würde ...

 

Aber es tat gut, das Ganze mal im Rückblick niederzuschreiben!

Wo, bitteschön, liegt Wagadugu?

 

An jenem Morgen, der mich mal wieder in die Bredouille brachte, kam ich nach längerer Krankheit zu spät zur ersten Schulstunde. Ich war unentschlossen gewesen, ob ich überhaupt gehen sollte. Meine Mutter hatte gemeint, es sei besser, noch ein bis zwei Tage zu Hause zu verbringen. Doch ich langweilte mich, fühlte mich wieder recht stabil und so zog ich los, allerdings durch mein Zögern etwas verspätet.

Als ich den Klassenraum betreten und eine Entschuldigung gemurmelt hatte, meinte meine Französischlehrerin mit einem Schmunzeln: „Ah, Enya, tu as rêvé de Ouagadougo?“  Ich war völlig verwirrt, verstand nicht, was sie meinte. „Du hast von Wagadugu geträumt...“ - Was sollte das? Nie gehört, dieses Wort. Hanna zupfte an meinem Ärmel und legte den Finger auf die Lippen, murmelte „später“. Also ließ ich es gut sein und verdrängte meine Verwunderung.

 

In der anschließenden großen Pause stürmten meine drei Freundinnen Hanna, Renate und Sigrun auf mich ein, eine verschworene Gemeinschaft, die mir hier begegnete. “Du musst einfach mitmachen, Enya, bitte“, bat Sigrun fast flehentlich. Es dauerte eine Weile, bis ich annähernd kapierte, was da los war.

 

Am Vortag, im Geografieunterricht bei Herrn Schmidt, von uns nur Schmidtchen genannt, waren Referate verteilt worden. Er liebte es, wenn wir zu einem Thema möglichst authentisch, in kleinen Episoden referierten und zwar das, was man nicht unbedingt in einem Schulbuch findet. Lebensnaher, anschaulicher Unterricht nannte er es und wir fanden, dies sei eine willkommene Abwechslung in den manchmal recht langweiligen Stunden.

Als wir Deutschland und Europa behandelt hatten, war das alles noch machbar gewesen. Es hatte Vorträge von spannenden Urlauben gegeben, Städtebeschreibungen, alles, was man so erleben konnte. Dass dabei so manch skurrile Familienepisode präsentiert wurde, schien Schmidtchen nicht zu stören. Aber nun waren wir bei Afrika und wer konnte hierüber schon authentisch berichten? Zur damaligen Zeit war man nicht so flexibel und weitschweifend, was das Reisen anging.

Es wurde Obervolta (heute Burkina Faso) mit seiner Hauptstadt Ouagadougou behandelt. Wie Sigrun auf diese aberwitzige Idee kam, konnte ich nie ergründen, aber sie rief plötzlich laut in die Klasse, als Schmidtchen versuchte, Referentinnen für Westafrika zu rekrutieren: “Enya! Sie war da mal!“ “In Wagadugu?“ Unser Lehrer und alle Schülerinnen schauten verwundert, doch Sigrun beharrte auf ihrer Aussage, der ich nichts entgegensetzen konnte, da ich abwesend war. “Ja, ihr Onkel ist da irgendwie beruflich unterwegs.“ Schmidtchen freute sich und meinte, er werde mit mir sprechen, sobald ich wieder in der Schule erscheinen würde.

 

Nun war es natürlich nicht so, dass ich Wagadugo (wo, verdammt liegt das?) jemals gesehen hätte.

Mein Onkel war zu der Zeit Presseattaché in Äthiopien und lebte seit längerem mit seiner Familie in Addis Abeba. Es war schon eine Weile her, ich hatte ihn für einige Tage besuchen dürfen, war mit seiner Frau, die in Deutschland einiges zu erledigen hatte, hingeflogen. Aber die Zeit war zu kurz gewesen, um Land und Leute kennen zu lernen. Ich wohnte während dieser wenigen Tage bei meinem Onkel, der ein schönes Haus mit Garten am Rande der Stadt hatte. Von dieser kurzen Stippvisite eignete sich nichts für einen Vortrag. Wagadugu entzog sich völlig meiner Kenntnis und nun hatten meine lieben Freundinnen behauptet, ich sei da gewesen, könne etwas beisteuern zum Unterricht, das lebensnah und authentisch sei. Schmidtchen, in seiner Begeisterung, hatte es wohl schon im Kollegium verkündet, wie sonst hätte meine Französischlehrerin davon wissen können?

Ich war fassungslos.

„Sagt mal, spinnt ihr? Was habt ihr euch dabei gedacht?“

Betreten und mit leiser Verzweiflung schaute ich meine drei Freundinnen an. Wir saßen auf dem Pausenhof unter dem Lindenbaum in einer abgeschiedenen Ecke des Schulhofes.

„Mensch Enya, sei nicht sauer“, meinte Hanna und legte den Arm um meine Schulter. „Es ist einfach so passiert.“ “Ach!“, rief ich, „einfach so...“ Ich sprang auf, entwand mich ihrem Arm und funkelte sie an.

„Was denkt ihr, soll ich jetzt machen?“ Renate, die sowieso immer alles sehr locker nahm, zuckte die Achseln und sagte: „Mach es einfach, halte dieses Referat, dir wird schon was einfallen. Und in Afrika warst du doch wirklich.“ “Jaaa!“, schrie ich, aber in Addis, hörst du! In Addis und nicht in Wagadugu....Und wo, bitte, liegt das überhaupt?“ In diesem Moment läutete es, die Pause war zu Ende.

Von überall her strömten die Mädchen verschiedenster Altersstufen an uns vorbei, hinein ins Schulgebäude. Renate, Hanna und Sigrun folgten dem Strom. Als ich keine Anstalten machte, mitzukommen, blieb Hanna stehen. “Nun mach. Du bist heute schon mal zu spät gekommen.“ Aufmunternd blickte sie mich an. Aber ich winkte nur ab, setzte mich auf die Bank und ließ Hanna ziehen.

 

Meine Gedanken kreisten. Wozu sind Freunde da? Was erwarten wir von ihnen? Loyalität, Unterstützung, aber vor allem Ehrlichkeit, Freunde können einem auch sagen, was falsch läuft, wir müssen nicht immer groß vor ihnen dastehen.

Wir gehen mit ihnen durch Dick und Dünn... Halt, hier stockten meine Gedanken. Wo fing es an, dieses durch „Dick und Dünn“- Gehen, wo konnte oder musste man Grenzen setzen? In dieser Sache blieb mir irgendwie der Schwarze Peter...so oder so... Mann, war die Tinte dick, in der ich saß. Sie würden es korrigieren müssen, meine drei Freundinnen, einfach sagen, dass sie sich geirrt hätten.

 

Ich hatte nicht mit ihrem Widerstand gerechnet. Inzwischen wusste ich ein wenig mehr über dieses Wagadugu, denn ich hatte Bücher aus der Bücherei besorgt. Es war die Hauptstadt von Obervolta und lag im Westen Afrikas, also meilenweit von Addis Abeba entfernt.

Ausgeschlossen, dass ich mir hierzu etwas aus den Fingern saugen könnte. “Aber es wäre ein herrlicher Spaß“, meinte Hanna, „Schmidtchen glaubt doch eh alles. Er war bestimmt nie dort. Du musst einfach nur quatschen, das kannst du ja gut.“ Nee, Quatschen ist eine Sache, aber sich mit erfundenen Stories hier angreifbar zu machen, eine andere. Ich schüttelte den Kopf. “Aber du kannst deine Erdkundenote verbessern“. Renates Einwand ließ mich nachdenklich werden.

Mit der Geografie stand ich auf Kriegsfuß und im Halbjahreszeugnis hatte ich einen Vierer geerntet, nicht unverdient, wie ich zugeben musste. Wäre es machbar? Dann war da noch dieser Gedanke, Schmidtchen ein wenig an der Nase herumzuführen. Er überschlug sich immer in seiner Begeisterung, was auf uns eher peinlich als motivierend wirkte. Er hatte doch tatsächlich einmal die Nachgeburt seines jüngsten Sohnes mit in die Schule gebracht, was wahre Ekelbekundungen und Entsetzen bei uns Achtklässlerinnen ausgelöst hatte.

 

Nach einer Stunde Bedenkzeit willigte ich ein. "Aber ihr müsst helfen, ihr besorgt mir Unterlagen über dieses Wagadugu.“ Eifriges Nicken und Schulterklopfen, dann stürzten wir uns in die Arbeit. Es war nicht einfach, Internet gab es nicht, wir waren auf Bücher angewiesen. Das Zeitfenster war klein, ich hatte eine Woche.

 

Meinen kleinen Vortrag bastelte ich aus spärlichen Informationen über die Hauptstadt zusammen, konzentrierte mich auf die „Eingeborenen“, die Mossi, die dort als bevölkerungsreichste Ethnie lebten und fand das alles sogar ziemlich spannend.

Von meinem Onkel hatte ich ein paar Kunstgegenstände aus Afrika und ich suchte eine Art Blasrohr und eine mit Schriftzeichen verzierte Vase aus, die auch der Kunst der Mossi zugeschrieben werden könnte, um sie beispielhaft in meinem Referat zu zeigen.

Zugegeben, ich war mehr als nervös, als der Tag gekommen war und ich denke, mein ansonsten eher sprudelnder Redefluss trieb etwas stockend und träge dahin. Herr Schmidt unterbrach dauernd mit Fragen, die meine Fantasie forderten und an mein schlechtes Gewissen rührten.

Der weiße Stecker - da liegt Wagadugu!

 

Ich berichtete über kleine Dörfer, in denen die Mossi in Lehmhütten wohnten, erzählte von ihrem Oberhaupt, dem Naaba und erfand junge Männer, die im Schatten einer Hütte Blasrohre schnitzten und sie mit Perlen bestückten. Meine „Kunstgegenstände“ wurden gebührend bewundert. Dann wollte ich berichten, dass die Mossi mehrere Frauen haben durften – das fand ich interessant und erwähnenswert - und ich leitete dies ein mit dem Satz:

„Die Mossimänner brauchten auch viel Ausdauer....“ Schmidtchen unterbrach sofort: „Ja, nicht wahr, sie sind wunderbare Läufer!“ Er klatschte in die Hände vor Freude. Ich war irritiert. „Nein, ich meinte eher eine andere Art von Ausdauer. Sie hatten bis zu vier Frauen....“

Brüllendes Gelächter aus den Bankreihen ließ mich grinsen und ich sah, wie nun mein Lehrer irritiert schaute, es im ersten Moment gar nicht begriff. Doch dann nickte er und bekam rote Flecken am Hals. “Oh ja....das ist eine interessante Information....“ Hanna rief: „Das müssten die Männer hier erst mal bringen!“ Das erneute Gelächter bestätigte mich. Ich wurde lockerer, beschrieb das Hochplateau, durch welches wir (fiktiv natürlich) mit einem Bus gefahren waren und erfand seltsame Haustiere der Mossi, von denen ich den Namen zum Leidwesen meines Lehrers „vergessen“ hatte.

Am Ende hatte mein Vortrag wohl nicht viel länger als zwanzig Minuten gedauert. Für die Klasse war dies mit Sicherheit kein großer Lernzuwachs gewesen, dafür aber das Vergnügen auf unserer Seite umso mehr.

Lediglich meine Freundinnen und ich wussten eine ganze Menge über Wagadugu und vor allem über die Bevölkerung der Mossi, denn wir hatten wirklich viel gelesen. Herr Schmidt war begeistert, die Klasse hatte sich amüsiert und ich war noch mal davon gekommen.

Allerdings sprach mich meine Französischlehrerin an, sie habe von dem kleinen Vortag gehört. Ob ich nicht auch in Französisch mal.... Zum Glück schaffte ich es, sie zu überzeugen, dass meine nicht vorhandenen Sprachkenntnisse den Inhalt platt machen würden. Sie schmunzelte und akzeptierte mein Nein. Ob sie etwas ahnte von dem Fake? Ich habe es nie erfahren. Erstaunlicherweise stand im Versetzungszeugnis eine Zwei in Geografie und obwohl ich natürlich glücklich war darüber, fand ich es irgendwie ungerecht. 

Zwischen zwei Welten

 

Seltsamerweise erinnere ich mich nicht an meine Einschulung. Ich kann mir zwar vorstellen, wie der Ablauf gewesen sein musste, aber ich habe im Kopf kein Bild von mir selbst. Meine Eltern begleiteten mich nicht – soviel weiß ich. Vermutlich ging ich am ersten Tag zur Schule mit meinem älteren Bruder, der schon in der dritten Klasse war, und hatte einen Strauß Blumen dabei – für die Lehrerin. So etwas wie Schultüten gab es nicht. Es wäre auch sonderbar, wenn ich erzählen würde, ich hätte irgendwelche Geschenke bekommen – nein, das gab es auch nicht.

Wie dem auch sei, die Schule öffnete mir das Tor in eine andere Welt, eine wundervolle Welt, in der es interessant war, in der es Neues zu entdecken gab, in der ich Spaß hatte und mich wohlfühlte. Sie war der krasse Gegensatz zu dem, was ich von zu Hause kannte, und somit geriet ich gleich am Anfang in einen Konflikt. Ich musste mich entscheiden, entweder für die eine Welt mit Bibel oder für die andere ohne Bibel. Zwei Gesichter zeigen, sowie viele es taten, war nicht in meiner Natur.

Ich war mir sicher, dass Gott nicht existiert. Diese Gewissheit war zwar intuitiv, aber sehr früh entstanden als das logische Produkt meiner Erfahrung – man bete soviel man will, Gott hilft nicht, also gibt es ihn auch nirgendwo. Das deckte sich mit dem, was uns auch in der Schule erzählt wurde. In meiner neuen Welt gab es keinen Himmel und keine Hölle, ich musste nicht beten und die Bibel lesen. Im Gegenteil, es war verboten, Gott zu ehren, und das, was zu Hause eine Sünde war, war in der Schule erwünscht, nämlich Bücher lesen, fernsehen, ins Kino gehen und tanzen.

Weil mir diese Welt so gut gefiel, war ich auch überzeugt, dass alles in ihr richtig ist, dass Kommunisten die Besten und für die ganze Menschheit die Vorbilder sind. Ja, ich ahnte, dass meine Eltern diese Ansichten nicht teilten, aber sie hatten uns Kindern nicht erklärt, warum; sie hatten nie über die Vergangenheit und das, was sie erleiden mussten, gesprochen ... Ein großes, ein schwieriges Thema, und es ist auch gar nicht meine Absicht, mich darin zu vertiefen. Ich will nur das Widersprüchliche verständlich machen, mit dem ich als junger Mensch zurechtkommen musste.

Es ist ja nicht so, dass ich dachte – meine Eltern sind bösartig, oder falsch, oder ungebildet, weil sie an Gott glaubten. Ich verstand schon, dass sie anders nicht konnten, dass sie mit Gott viel Hoffnung verbanden. Sie glaubten an Gott, weil sie überzeugt waren, dass es ihn gibt. Ich glaubte an Gott nicht, weil ich überzeugt war, dass es ihn nicht gibt. Mir war bewusst, dass keiner der beiden Seiten das Gegenteil jemals beweisen konnte.

Die Lehrer mochten das stille, fleißige, oft in Gedanken versunkene Mädchen. Warum auch nicht? Ich war gut im Lernen, und mit meinem ersten Aufsatz hatte ich bewiesen, dass in mir sogar literarische Fähigkeiten steckten. Es wunderte mich allerdings schon damals, warum ich die Einzige in der Schule war, die gut schreiben konnte, denn ich wusste – so ein großes Talent hatte ich nun auch wieder nicht. War es vielleicht so, dass die anderen Schüler im Schreiben nicht frei waren, in Stereotypen dachten, sich zu sehr an die Aufgabe, an das Thema klammerten, wogegen ich von Anfang an meine eigenen Gefühle und Gedanken in die Texte einbrachte?

Weil ich viel las, wodurch mein Wortschatz immer umfangreicher wurde, und ein gutes Gespür für einen harmonischen, fließenden Text hatte, gelang es mir mühelos, aus meiner Arbeit ein kleines herausragendes Kunstwerk zu gestallten – zur Freude und Begeisterung meiner Lehrer. Ich glaube, auch die Rechtschreibung war in mir eingebaut noch bevor ich geboren wurde, denn Fehler machte ich in der russischen Sprache nie. 

Jetzt ist es aber höchste Zeit, zu dem zu kommen, was ich in dieser Geschichte eigentlich erzählen will. Zu meiner großen Dummheit, die ich in der dritten Klasse begangen hatte.

 

Wie man aus dem oben Aufgeführten herauslesen kann, war ich eine kleine Patriotin, zumindest so lange, bis mir die Zweifel kamen. Das geschah erst im erwachsenen Alter. Da ich die eine Welt ablehnte, hatte ich mich zwangsläufig der anderen zugewandt, in der Annahme, dass es die einzig gute und gerechte sei. Dass sie viel schlimmer und verlogener war, als die erste, konnte ich als Kind nicht ahnen.

Schon die Erstklässler in der Sowjetunion wurden für politische Zwecke rekrutiert, wenn man das so sagen darf. Sowie die meisten anderen, war ich ein "Oktoberkind" und trug stolz das dazugehörige Abzeichen – ein rotes Sternchen mit dem Abbild des kleinen Wladimir Uljanow.

In der 3. Klasse folgte dann die nächste Stufe, und wir Kinder sind der Reihe nach gefragt worden, wer bereit wäre, in die Organisation der Jungen Pioniere einzutreten. Ich stimmte sofort zu, denn das war mir von den Eltern zu diesem Zeitpunkt nicht untersagt. Einige der Mädchen jedoch beantworteten die Frage nicht, senkten die Köpfe und fingen an zu weinen. Die Instruktion der Eltern war wohl eindeutig. (Zu besserem Verständnis möchte ich anmerken, dass fast alle Kinder in der Grundschule deutscher Nationalität waren, und fast alle Eltern (wie auch meine) – Baptisten).

Ich konnte es nicht fassen! Warum wollten sie nicht? Es war doch toll, zu den Pionieren zu gehören und für die Heldentaten bereit zu sein! Immer bereit! Außerdem fand ich es sehr aufregend und total schick – ein rotes Halstuch demnächst tragen zu dürfen. Zu Hause erzählte ich meinen Eltern, wie die Mädchen geweint hatten. Vater zuckte mit den Schultern und sagte darauf: "Ist doch albern, da muss man doch nicht gleich weinen."

Das bekräftige mich nur noch mehr in meinem inneren Gefühl, und ich beschloss, es "ihnen" so richtig zu zeigen. Instinktiv spürte ich, dass ich dafür eine gute Waffe besitze (dass es in Wirklichkeit sogar eine gefährliche Waffe werden konnte, wurde mir erst viel später klar). Also überlegte ich nicht lange, setzte mich hin und verfasste ein Schreiben, in dem ich meiner Empörung freien Lauf ließ.

Ich weiß nicht mehr, was ich da alles zusammen brachte, leider. Es wäre sehr interessant, das jetzt lesen zu können, aber dieser Brief ist auf ewiglich irgendwo in den Ritzen der Zeit verschwunden und sein Inhalt aus meinem Gedächtnis vollständig gelöscht. Nur an meine Vorgehensweise erinnere ich mich, und die war nicht gut – nein, ganz und gar nicht gut. Denn ich hatte den glorreichen Einfall, meinem Text mit: "Die Untergrund-Gruppe der Jungen Pioniere" zu unterschreiben (oder so ähnlich in deutscher Übersetzung). 

Ich war sogar noch pfiffiger – ich benutzte Druckbuchstaben! ... aber dann doch wieder sehr dumm, weil ich angefangen hatte, ganz normal zu schreiben, und erst als ich die ersten Buchstaben aufs Papier brachte, kam mir die Idee mit der Druckschrift. Was macht die schlaue Rosa? Sie überklebt einfach das angefangene Wort mit einem Papierstreifen und schreibt drüber weiter! Warum? War ich so faul, um ein anderes Blatt zu holen, oder ging mir das Papier aus? Ich weiß wirklich nicht mehr, was so alles in meinem Kopf vorging, mit 10 Jahren müsste man doch schon etwas mehr Grips haben. Als ich fertig war, faltete ich mein Werk, wartete den passenden Moment ab und legte es einem der Mädchen in die Schultasche.

Ich hatte wohl nicht damit gerechnet, dass sie den Brief weiterleitet ... direkt an die Lehrerin. Wahrscheinlich hoffte ich, die Verweigerer werden ihren Fehler einsehen und doch noch Pioniere werden wollen.

So kam die Lawine ins Rollen. Es dauerte nicht lange, und ich wurde in das Lehrerzimmer zitiert, wo ich den Brief vor die Nase gehalten bekam: "Hast du das geschrieben?"

Ich wollte es abstreiten, aber dann sah ich, dass der Papierstreifen entfernt war und zum Vorschein meine unverkennbare Handschrift kam. Es war zwecklos, zu lügen. Die Erwachsenen befragten mich mit ernsten Mienen, was das für eine Untergrund-Gruppe sei und wer alles noch dazugehöre. Zu meinem Glück hat man ziemlich schnell erkannt, dass so eine Gruppe gar nicht existierte, dass ich die Einzelgängerin war, sozusagen. 

Sie waren nicht hart mit mir umgegangen, aber ich hatte noch die Reaktion meiner Eltern abzuwarten, davor fürchtete ich mich am meisten. Man entließ mich nach Hause mit der Auflage, meinen Vater in die Schule zu schicken. Er war erstaunt: "Was hast du denn angestellt?", erhielt aber keine vernünftige Antwort von seiner schuldbewusst dreinblickender Tochter und machte sich auf den Weg in die Schule.

 

Als er zurückkam, sah ich an seinem finsteren Gesicht, dass er nicht gerade frohgestimmt war. Nachdem er sich mit Mama kurz beraten hatte, riefen die beiden mich zu sich und nahmen mich ins Kreuzverhör, dem ich nicht lange standhalten konnte; das Ergebnis – ich brach in Tränen aus.

Völlig unerwartet – so etwas kannte ich von ihm gar nicht – zog Vater mich in seine Arme und streichelte mir beruhigend über den Kopf: "Ist ja gut, ist ja gut. Jetzt weine doch nicht. Aber versprich uns, dass du so etwas nie wieder tust." Ich versprach, heftig mit dem Kopf nickend und schluchzend. Dann sagte mir mein Vater Folgendes:

"Und wenn du unbedingt deine Meinung jemandem sagen willst und es schriftlich tust, dann hab' auch den Mut, mit eigenem Namen zu unterschreiben."

Das saß. Plötzlich rückte meine Aktion in ein ganz anderes Licht. Ich begriff, was ich da angerichtet hatte, wie falsch, und vor allem, wie feige es war. Ich schämte mich in Grund und Boden, und dieses Erlebnis hat sich in meinem Gedächtnis als eins der peinlichsten abgespeichert.

Das Gute jedoch – es war mir eine Lehre, und Vaters Worte haben Einiges dazu beigetragen.

 Das rote Tuch hatte ich nicht lange um den Hals binden dürfen – noch im selben Schuljahr machten meine Eltern unerwartet auf Streng und verboten es mir, aus einem mir damals unbekannten Grund. Vermutlich ist es in der Baptisten-Gemeinde beschlossen worden, dass alles, was in die kommunistische Richtung ging, das Werk des Teufels war. 

(Eine Bemerkung: Den Baptisten im Dorf war es nicht erlaubt, sich zu versammeln und Gottesdienste abzuhalten, dafür müssten sie erst ihre Gemeinde offiziell registrieren lassen, was sie lange nicht tun wollten, weil sie befürchteten, dass die Behörden sie dann kontrollieren würden. Sie trafen sich heimlich, jedes Mal bei einem anderen Mitglied. Irgendwann – viel später – lenkten sie doch ein und bekamen dann auch die Genehmigung, ein Gemeindehaus zu bauen und einzurichten).

Somit hatte ich ein Problem, denn als Pionier war ich verpflichtet, das Halstuch in der Schule zu tragen. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu tricksen – ich ging brav aus dem Haus ohne Halstuch, band es aber vor der Schule um. Die gleiche Prozedur wiederholte ich, nur in umgekehrter Reihenfolge, wenn die Schule aus war.

So endete, kaum dass sie begonnen hatte, meine politische Karriere. Es versteht sich von selbst, dass mir später von den Eltern ebenso untersagt wurde, in den Komsomol einzutreten (deutsch: „Kommunistischer Jugendverband“). Besonders böse drum war ich allerdings nicht.

Die 3. Klasse + die 1. Klasse (die Reihe vorne sitzend)

Rosa Schütz – ganz rechts stehend – ohne Halstuch (da war es mir schon von den Eltern verboten)

Ein Jahr in einem Internat

 

 

Nach meiner Schulzeit schickten mich meine Eltern für ein Jahr in ein Internat, welches von katholischen Schwestern eines Franziskanerordens geleitet wurde. Hier sollte ich vor meiner Berufsausbildung eine ausgezeichnete Allgemeinbildung und eine gute Haushaltsführung kennen lernen.

Dieses eine Jahr hat mein weiteres Leben sehr geprägt..

Meine Familie lebte nach streng religiösen Grundsätzen und so war mir der Tagesablauf in diesem katholischen Internat nicht fremd. Dreißig Mädchen, die etwa 18 bis 20 Jahre alt waren, kamen aus gutbürgerlichen Gesellschaftsschichten, um hier alle nötigen Kenntnisse der feineren Haushaltsführung kennen zu lernen.

So waren hier auch einige Töchter aus reichen Bauernhöfen.  

Einmal, es war während eines theoretischen Unterrichtes in Ernährungslehre, konnte eine dieser Mädchen eine Frage nicht richtige beantworten und gab deshalb erst gar keine Antwort.

Nach mehrmaliger Ansprache der Schwester Ethelburga und weiterem beharrlichem Schweigen der Schülerin, rief die Schwester ärgerlich :  „Warum gibst Du mir denn keine Antwort ? DU BIST WOHL STIERIG !!!“

Die fünf Bauerntöchter erstickten fast vor unterdrücktem Lachen und wurden alle zur Strafe eine Weile aus dem Raum geschickt. Wir anderen, unaufgeklärt wie man damals eben war, verstanden nichts und die gescholtenen Mädchen gaben auch nie eine Erklärung für ihren Heiterkeitsausbruch.  

Die Schwestern waren streng, aber sie brachten uns wunderbare Sachen bei und förderten Kunst und Kultur. So fuhren sie mit uns zur Weltausstellung nach Brüssel, reisten mit uns in den Elsass und wir lernten auf dieser Reise die deutschen Dome in Mainz, Worms, Speyer und Freiburg kennen.

 

 

Museen, Konzerte und  Ausstellungen der verschiedensten Kunstrichtungen wurden uns ebenfalls angeboten. Hier habe ich besonders den Isenheimer Altar von Matthias Grünewald in Colmar und den geschnitzten Altar von Tilman Riemenschneider im Breisgau in Erinnerung.

 

 

Wir schliefen alle in einem großen Schlafsaal, der in dreißig kleine Schlafplätze, abgetrennt durch rosafarbene, schön gearbeitete Vorhänge, gestaltet war. Hier standen ein Bett, ein Nachtschränkchen, ein Hocker und ein Kleiderschrank. Da ich zu Hause mit drei Schwestern ein Zimmer teilte, erschien mir dieser Schlafraum als ein erstes, ganz alleine mir gehörendes Zimmer. 

Am Morgen um halb sieben ging eine Schwester mit einer kleinen Glocke durch die Gänge des Saales und rief: „Gelobt sei Jesus Christus!“ - Wir antworteten, noch etwas schläfrig: „ In Ewigkeit. Amen.“ Dabei warfen wir das Oberbett über das Fußende des Bettes und damit bauschte sich der Vorhang am Ende der Schlafstatt auf und somit konnte die Schwester von außen sehen, dass wir aufgestanden waren.

 Um sieben Uhr nahmen wir am täglichen Gottesdienst teil, den ich besonders schön fand, weil die Schwestern gregorianische Gesänge anstimmten. Der Wohlklang dieses Gotteslobes in den Kirchen ist mir bis heute der liebste.

Der Tag verging mit den verschiedensten Tätigkeiten: Von feinsten Handarbeiten, leckersten Gerichten und ihren Zubereitungen, dem Gestalten eines festlichen Tischschmuckes, dem Verhalten bei Tisch und Gesprächsführungen bei Gesellschaften, der Pflege eines guten Haushaltes, Übungen zur Wäschepflege und guter Allgemeinbildung, nichts, was wir später nicht gebrauchen konnten, wurde uns beigebracht.  

Die Schwestern achteten darauf, dass wir auch miteinander gut auskamen und ich habe nie irgendwelche Bösartigkeiten oder Streitigkeiten erlebt. Sämtliche Schwestern waren freundlich, aufrichtig, fröhlich und eine Schwester, die noch ganz  jung war, habe ich wie eine Freundin empfunden, der man alles anvertrauen konnte. 

Da mir dieses Jahr dort so gut gefallen hat, ist mir auch bis heute eine ganz besondere Vertrautheit mit christlichen Bräuchen und Verhaltensweisen erhalten geblieben. Prägend für mein Leben in christlicher Gemeinschaft waren für mich die ersten zwanzig Jahre, die mir durch eine intakte Familie und eine gute Ausbildung geschenkt wurden.

Alles umsonst!

 

Meine Schulzeit begann 1974 und eigentlich hatte ich viel Freude an der Einschulung und den ersten Jahren, denn dank älterer Schwester war ich schon sehr weit! Die Lesefibel konnte ich vorwärts und rückwärts lesen, besser gesagt wohl eher auswendig. So war mein Einstieg mühelos, der Weg wie bei allen Kindern mal besser, mal schlechter aber doch gut. Eigentlich war Schule schön, bis zu meinem Wechsel 1978 auf das privat bischöfliche Kardinal von Galen Gymnasium.

 

 

Meine Empfehlung durch die Grundschullehrerin Frau Schumann lautet Realschule, aber das war meiner Mutter nicht genug. Die Noten waren recht gut, auch wenn es sicher besser gegangen wäre. Sie war der festen Meinung, ich sei sicher nur zu faul und müsse dringend gefordert werden. Oben drauf kam ein weiterer wichtiger Grund für das Gymnasium, hatte ich doch wahrhaftig als 6 Jährige den Wunsch geäußert Tierärztin werden zu wollen. Genau das bedurfte ihrer fachmännischen Hilfe.

Somit war der Plan für die Mama perfekt und sie machte mir das Objekt ihrer Begierde langsam aber sicher schmackhaft. 

 

Weigerte ich mich zu Beginn noch heftig, ließ die Gegenwehr schnell nach. Eine Schule in der Sport auf so fantastische Art und Weise gefördert wurde, war mein persönlicher Traum!! Offiziell bestätigt gab es vier Wochenstunden Sport mehr, als auf den anderen Schulen. Obendrauf etliche Sport AG´s und viele der berühmten USC Volleyballerin kamen von dort, denn auf dieser Schule war ihr Trainingsort. Das Tüpfelchen auf dem i, zwei Mal im Jahr eine Sportwoche!!! 7 Tage Sport in allen Bereichen, Wettkämpfe gegen die Parallelklassen.....Herz was willst du mehr!! Das war mein Wunschtraum und so landetet ich als Protestantin auf dem katholischen Gymnasium in der sogenannten C-Klasse. Das bedeutete nicht Drittklassigkeit, sondern das wir mit Latein anstatt Englisch beginnen würden.

 

Am Anfang fühlte ich mich deswegen gehoben - ausgezeichnet, gab es zwei Klassen mit Englisch und nur eine mit Latein. Dieses Gefühl etwas Besonderes zu sein sollte sich irgendwann ändern.

Aber von vorne erzählt, zu Beginn lief alles gut, war ich anerkannt. Diesen Umstand verdankte ich wohl auch der Tatsache das einmal im Monat mein Name in der Zeitung stand. Das brachte mir bei meinen Klassenkameraden eine gewisse Hochachtung ein. Seit meinem vierten Lebensjahr war ich bei der Leichtathletik, ab dem sechsten kam Schwimmen dazu. Mit den damals zehn Jahren trainierte ich schon 4-5 Mal die Woche und war beinah jedes Wochenende auf einem Wettkampf.

 

So kam schließlich auch mein Name öfter in die Zeitung. Durchtrainiert dominierte ich dann auch im Sportunterricht. Die anderen Fächer liefen so einigermaßen, aber Latein machte mir von vorne herein Schwierigkeiten. Mein Großvater, mit dem wir in einem Haus wohnten, half mir täglich so gut er konnte diese Defizite auszumerzen. Mit einer Engelsgeduld übte er mit mir Vokabeln und Grammatik. So ging es gut, bis er anfangs 1980 schwer erkrankte und damit mein persönlicher Absturz begann.

Ich verlor nach und nach das Interesse an der Schule, machte die Hausaufgaben nicht und ließ alles schleifen. Da meine Eltern beide berufstätig waren, bemerkte niemand etwas.

 

Anerkannt war ich dort weiterhin aber nur wenn ich für die Schule einen Titel holte. Sonst gingen meine Gefühle und Erfahrungen mehr und mehr in die Richtung ich sei unerwünscht. Zum einen war es sicher die Religion, gehörte ich nicht der passenden Konfession an. Damit gehörte ich schon einmal zu einer geduldeten Minderheit von 8 Schülern aus der ganzen Stufe die 86 Kinder zählte. Dazu wurde mir schnell klar, dass ich andere Defizite aufwies, denn ich spürte oftmals eine Ablehnung, die ich erst als Erwachsene einordnen konnte.

Es war eine Sache des Standes, waren doch die Kameraden Söhne und Töchter von Ärzten, Apothekern, leitenden Angestellten oder Pädagogen etc.. Mit diesem Gefühl im Bauch, nicht wissend, was Sache ist, bzw. wie ich es ändern konnte, versuchte ich meine Prioritäten so zu setzen, dass sie für mich stimmten. Mein Sport war wichtig und die Genesung vom Opa.

Alles Andere, gerade was die Schule betraf, lies ich schleifen. Mein Opa schaffte es nicht sich zu erholen und verstarb in der zweiten Jahreshälfte 1980. Da war ich an dem Punkt angelangt, dass mein schulischer Abstieg richtig Fahrt aufnahm. Latein wurde zu böhmischen Dörfern, Mathematik zu einer Last und mein Klassenlehrer zu einer Herausforderung. Mein Winterzeugnis war besorgniserregend und im Sommer gab es dann den Knall – sitzen geblieben!!

 

Für meine Mutter die bis dahin größte Schmach, die sie mich spüren ließ. Auf die schallenden Ohrfeige mit dem Handrücken, folgte ein Monolog über meine Faulheit, mein Unvermögen und ein Stapel Verbote, als Abschluss eine erneute Ohrfeige und dann wurde ich mit drei Tagen Verachtung und Missachtung gestraft. Es traf mich hart, doch gleichzeitig war ich im pubertären Alter bockig genug, wollte von der Schule, weil ich mich dort sowieso nicht wohl fühlte.

Doch da feierte meine Mutter dann ihren größten Erfolg! Ohne Englisch kam ich nicht von der Schule runter, die mir mittlerweile so total verhasst war. Ein Abgang auf die Hauptschule hätte sie nur über ihre Leiche geduldet und auf einer Realschule hätte ich nicht mithalten können. Zwei Jahre Englisch aufholen....keine Chance!!

So war es an mir die Hinterbacken zusammen zu kneifen und wütend weiter zu machen! Ich haderte mit der Schule, meiner Mutter und der Welt! Ich suchte nach einer Strategie und fand eigentlich nicht wirklich einen Weg. Ich schwankte zwischen dem Wunsch erkannt und anerkannt zu sein und der Wut von der Welt nicht geliebt zu werden.

Sport war weiterhin der Teil, den ich mit Bravour meisterte. Neben den mittlerweile fünf Trainingseinheiten pro Woche im Schwimmen, angefeuert vom Ehrgeiz der Mama, gesellten sich eine Basketball AG, Volleyball im USC und Badminton zu meinen Aktivitäten dazu. Die Bewegung, Sportgeist, Ehrgeiz war mir Freude und Erfolgsrezept, gab mir die Anerkennung durch die Titel und Presse. Manchmal war Sport auch nur ein Ventil gegen Trauer und Wut.

 

Allerdings war es mir heilig, womit es mir dann zum Verhängnis wurde. Diese Begeisterung lieferte meiner Mutter ein probates Mittel mich zu erpressen. Langsam fing ich an sie zu hassen, denn jetzt drohte sie mir mit Sportverboten, wenn ich nicht allmählich anfing meine Noten zu verbessern. Meine Wut ging in den Sport und ich verbesserte mich noch mehr, was sie stolz machte und ihren Wunsch nach Titeln erhöhte! Anders herum waren schlechte Noten ein rotes Tuch, so versteckte ich sie, fing an zu lügen das sich die Balken bogen und fälschte ihre Unterschrift unter miserablen Arbeiten.

 

In meinem Alter war mir schon bewusst, dass es ein Bumerang würde, aber es offenbarte sich mir kein anderer Ausweg. Wenn ich den Strafen entgehen wollte und den Tagen an denen ich wegen meiner Faulheit und Dummheit ignoriert würde, musste ich mein Unvermögen verstecken. Die Schule war ein Klotz, ich wollte nichts mehr dafür tun, aber irgendetwas musste mir einfallen, wie ich es abfedern konnte. Verzweifelt suchte ich nach Lösungen meine Note aufzubessern, klar wissend ich kann die Defizite nicht ausbügeln.

 

An einem regnerischen Tag kam mir plötzlich eine Idee für das verhasste Fach Erdkunde. Mein Klassenlehrer Herr Kaspar (der übrigens auf dem Einschulungsfoto ganz links zu sehen ist) war auch durch die Ehrenrunde nicht verschwunden, nein ich erbte ihn mit meiner Niederlage mit und er klebte an meinen Sohlen! Mein Vorteil ihn immer noch zu haben, - ich kannte ihn und konnte ihn berechnen! Er legte kolossalen Wert auf die Heftführung, Ordnung, Sauberkeit. Das mir ebenfalls verhasste Rollsystem würde mich in der nächsten Woche auf die erste Position bringen. Erste Reihe, direkt vor dem Pult und da witterte ich meine Chance.

 

Ich bat unsere Klassenbeste mir für diesen schlechten Tag ihr Erdkundeheft zu überlassen, was sie sehr gern tat, denn sie war nicht nur eine Streberin, sie war auch nett dabei. Da meine Eltern berufstätig waren, konnte ich nach der Schule ungesehen am Esstisch sitzen und los legen. Fast fünf Stunden brauchte ich damals, aber dann war mein Erdkundeheft der Superlative fertig! Alle Überschriften farblich unterstrichen, Landkarten groß auf Butterbrotpapier abgepaust und eingeklebt, Diagramme mit dem Lineal exakt gezeichnet und vor allem, alle Texte mit Füller in Schönschrift geschrieben.

 

Mein Zustand nach vollbrachter Arbeit glich Glückseligkeit, denn ich war sicher dieses Heft brachte mir ein „sehr gut“ ein. In mir war ein Frohlocken, war ich doch absolut sicher, auf diese Art eine schlechtere Note auf dem Zeugnis zu verhindern! Diese Momente der Zufriedenheit gaben mir Raum für Glück, schoben die Versagensangst beiseite und ließen mich aufatmen.

Da wusste ich noch nicht, dass mir dieses Heft eine Menge Ärger einbringen würde.

 

Der Montag kam, die Sitzordnung getauscht und ich war auf der Pole Position, Reihe eins, direkt am Pult. Der Tag war, wie viele im Herbst, total verregnet und so hatten wir Regensachen oder Schirme dabei. Unter meinem Tisch steckte ein kleiner Taschenschirm, billiger Knirpsersatz in karminrot.

 

Nach der großen Pause kam Erdkunde bei Herrn Kaspar und ich freute mich sehr auf diese Stunde. Auch wenn die Hefte noch nicht eingesammelt wurden, so würde er mein Heft sehen, wenn er wie immer halb auf dem Pult saß, genau oberhalb von meinem Tisch! Ich hatte die pure Vorfreude in mir und war stolz auf meine Arbeit. Im Klassenraum angekommen, schlug ich sogleich mein Heft auf der Doppelseite auf, die am schwierigsten von der Gestaltung gewesen war.

Einerseits eine sauber gezeichnete Karte mit Legende, nebst wohl geschwungenen, farbigen Kurven und darunter exakt mit Lineal gezirkelten Diagrammen. Die gegenüberliegende Seite zierte ein dazugehöriger, sauber mit Füller geschriebener Text, hervorgehoben mit farbigen Unterstreichungen bei den wichtigen Schlagwörtern. Gezielt schob ich dieses Kunstwerk an die obere Tischkante, damit der Lehrer gar nicht anders konnte als es zu bemerken. 

 

Eine weitere Tatsache der Pole Position war, der dort sitzende passte auf! Die Lehrer befanden sich nun direkt vis-à-vis und wir konnten uns und unser Tun nicht verbergen, also waren wir meist aufmerksam. Nun hatte ich schon ca. 20 Minuten den Ausführungen des Herrn Kaspar gelauscht, als er unvermittelt los donnerte! Frank unser Klassenclown saß hinten und nutze das wieder einmal schamlos aus. Er gab seine Witze und Anekdoten zum Besten und flirtete gleichzeitig auf seine Art mit Ulla. Das sah so aus, dass er sie mit Papierkügelchen, abgefeuert durch eine leere Farbstifthülle die als Blasrohr fungierte, ziemlich heftig traktierte. Dieses entging natürlich nicht der Aufmerksamkeit eines Lehrers und schon gar nicht der von Herrn Kaspar, der sofort lautstark und vehement gegen solch ein Fehlverhalten wetterte.

 

Aus meiner heutigen Sicht würde ich behaupten der Mann litt unter Jähzorn, damals war es schlicht und ergreifend furchterregend. Nicht nur das, es war mein Schicksalstag an dieser Schule.

Herr Kaspar litt leider unter einem, wie soll ich sagen... „Sprachfehler“. Er lispelte oder wie sagt man noch, stolperte über den spitzen Stein. Wenn er, wie in dieser Situation erbost war, wurde seine Aussprache feuchter und das hielt mit der Anspannung meist noch eine Weile an. Natürlich spöttelten wir Schüler hinter vorgehaltener Hand darüber, aber es war Allen bewusst, dass er nichts dafür konnte. Die in der ersten Reihe rutschten situationsbedingt etwas zurück, wichen dem Malheur einfach aus und scherzten dann später über nässenden Unterricht.

Auch dieses Mal waren meine Freundin und Sitznachbarin Martina und ich zurück gerutscht und nahmen die Situation als gegeben hin, bis.....ja genau, bis ich mein Heft erblickte! Panisch nahm ich wahr, dass die feuchte Aussprache mein Heft getroffen hatte. Fast fünf Stunden Arbeit, mit dem Ziel es richtig in Szene zu setzen und meine Note zu verbessern....nun hatte es Speichelflecken die meine Tinte auflöste und verschwimmen ließ.

 

Panik stieg auf! Nie würde mir Herr Kaspar glauben, er sei derjenige welche, der diese Schmiererei angerichtet hat. Es würde glasklar auf mich zurück fallen und meine Note in den Keller sausen lassen. Wo war der Ausweg?? Allein zu sagen, er habe mit seiner Aussprachen mein Heft angespuckt und verschmiert.....nein das war nicht drin! Auf keinen Fall!! Aber wenn er es sieht...vielleicht....liegen lassen..... wegnehmen... Es war ein sekundenlanger Kampf im Kopf, der mir vorkam wie Minuten und dann geschah alles unbedacht und spontan. Ich räusperte mich, bat Herrn Kaspar kurz um Aufmerksamkeit und spannte schlicht und ergreifend den kleinen roten Knirps auf, hielt ihn über das Heft und schwieg.

 

 

Das führte zu einem allgemeinen Schweigen bei dem wir die sprichwörtliche Nadel hätten fallen hören, bevor Herr Kaspar explodierte! Reflexartig schnappe ich mein Heft, steckte es in meinen Schulrucksack und verschanzte mich hinter dem Schirm, der mit seiner Farbe signaltechnisch seinen Anteil hatte.

Nach seinem verbalen Ausbruch brachte mich Herr Kaspar, mit puterrotem Kopf und wütende Tiraden ausstoßend, zum Direktor. Mir wurde Respektlosigkeit vorgeworfen, Fehlverhalten, mangelnde Erziehung und vor allem wurde mir verübelt, dass ich mich über eine Schwäche einer Lehrperson lustig gemacht hatte. Es gab einen Tadel und wie ich nachher dachte, ein weiteres Brandzeichen auf meiner Stirn, die mich zum verhassten und weiter nicht passenden Objekt machten. 

Das Verhalten meiner Mutter war auch sonnenklar! Es setzte mehrere Ohrfeigen, die schmerzten, aber nicht halb so schlimm waren wie das Andere! Ich wurde eine ganze Zeit lang ignoriert, sie ließ mich genau wie die Lehrer spüren, dass ich wertlos sei, nutzlos und faul. Die Schule wurde nach dem Tag für mich zum Spießrutenlauf. Ich quälte mich durch, schaffte das große Latinum in der zehnten Klasse und ging ohne Abitur! Meine Mutter stellte die Bedingung welche Ausbildungsform in Frage kommt, denn nur eine kaufmännische Ausbildung konnte das Versagen mildern. Wenn das nicht klappte, müsse ich auf der Schule bleiben.

Eigentlich hätte mir dieser Deal egal sein können, war ich doch schließlich mittlerweile 18 Jahre alt, aber ich wollte so gern ihre Anerkennung und so nahm ich eine Ausbildungsstelle zur Einzelhandelskauffrau an. Wie alles zuvor, war auch genau diese kaufmännische Ausbildung schlecht gewählt. Sicher hatte ich die Bedingung einer kaufmännischen Laufbahn erfüllt, doch nach außen war ich nur die kleine Verkäuferin. Alle meine Bemühungen waren irgendwie umsonst!!

 

Was soll ich sagen, es war ein riesiger Absturz, wollte ich doch mit sechs Jahren Tierärztin werden!

 

Gewitterunke

 

Es war noch in den frühen Schultagen irgendwann in der ersten Hälfte der 1980er Jahre. Da entdeckte der Verfasser dieser Zeilen seine Begabung als Wetterfrosch. Zumindest verstand er es, ziemlich genau vorherzusagen, wann Gewitter das Dorf und seine Schule heimsuchen könnten.

Dazu hatte er nicht in die berüchtigte Kristallkugel geschaut, sondern schlicht und ergreifend den Himmel beobachtet. Besonders, wenn Gewitter angesagt wurden, versuchte er aus dem Zug der Wolken zu lesen, ob ein Gewitter herüber kam. Freilich alles noch aus dem Auge eines Schulbuben, der von den Wetterzusammenhängen nur wenig mehr verstand,  als dass es vier Jahreszeiten gab, die alle unterschiedliches Wetter hatten.

Das Wetter für die Gegend vorauszusagen, war schwierig, denn im Westen gab es nicht nur die Staatsgrenze der DDR zur BRD, sondern auch den Ratzeburger See, eine ziemlich aktive Wettergrenze, die gerne mal Gewitter in 2 Hälften spaltete. Das ist auch heute noch nicht viel anders, nur dass die Gewitter kräftiger geworden sind.

Doch damals schafften es nur die Kräftigsten unter den Unwettern, die von Westen und Südwesten heranzogen,  den See zu überwinden und auch die östlich des Ratzeburger Sees gelegenen Gegenden, wie eben mein Dorf und seine Schule, zu erreichen.

An eine Begebenheit, die mit diesen Dingen zu tun hat, erinnere ich mich noch recht genau.

Ich glaube, es war einer der Wandertage, die den Schulalltag unterbrachen und uns Kinder mit der Heimat genauer vertraut machen sollten. In welcher Klasse ich war, weiß ich nicht mehr genau. Es dürfte vielleicht die zweite oder dritte Klasse gewesen sein.

Wohin uns der Weg an diesem schöne Tag genau hingeführt hatte, weiß ich nicht mehr, aber wir befanden uns bereits auf dem Rückweg und das Dorf in Sichtweite.

Damals ging es noch, die Straße bequem zu nutzen, denn es gab nur wenig Verkehr, nicht zuletzt auch dadurch bedingt, dass man sich hier im sogenannten Sperrgebiet befand, einer Zone nahe der Staatsgrenze, die nur mit einem gültigen Passierschein oder mit einem Eintrag im Personalausweis betreten werden durfte. An den Straßen gab es Kontrollstellen mit Schlagbäumen, Verwandtenbesuch bedurfte des schon erwähnten Passierscheins, beim ABV (Abschnittsbevollmächtigter) zu beantragen.

Doch das nur nebenbei bemerkt. Als Kind interessierte einen schließlich nur das Ergebnis und allenfalls die freien Straßen beim Wandertag.

Wir kehrten also zurück von unserer Wanderung und ich beobachtete wie so oft in jener Zeit den Himmel., fasziniert durch das Spiel der Wolken.

War es am Vormittag wirklich schönes sonniges und recht warmes Wetter gewesen, so zogen jetzt vermehrt Wolken auf und wurden dabei zusehends dunkler. Es war kaum zu übersehen, dass ein Ungemach drohte. 

 

Ich weiß nicht mehr, ob die verderblichen Wolken aus dem Südwesten oder Westen kamen, aber sie kamen und vermehrten sich rasend schnell am Himmel.

 

Ich, ganz der Wetterfrosch, meinte natürlich sofort, dass die Wolken herüberziehen würden, natürlich inklusive Regen. Ob ich auch das mögliche Gewitter erwähnt habe, weiß ich nicht mehr.

Aber für wahr wurden meine Worte nicht genommen. Man glaubte mir nämlich nicht.

 

Doch ich sollte recht behalten. Denn kaum waren wir im Ort angekommen und begaben uns zur wohlverdienten Schulspeisung, die sich damals in einem großen Gebäude mit Festsaal und Gaststätte, eine Art Palast der Kultur, wie er in den größeren Dörfern in der DDR gleich den Städten üblich war, befand, begann es aus den dunklen Wolken zu regnen und wohl auch zu gewittern.

Es war damals ein ziemlicher Platzregen gewesen und wir waren heilfroh, trocken geblieben zu sein. Unterwegs wären wir klitschnass geworden.

Da hatte ich natürlich einen gewissen Ruf als Unke weg. Und es ist nicht gelogen, wenn ich offen zugebe, auch mal mit dem Gedanken gespielt zu haben, Meteorologie zu studieren. Das Schicksal hat es dann anders entschieden.

 

Die Schulzeit und diese kleine Begebenheit sind bereits lange Geschichte, doch Begegnungen mit ungewöhnlichen Gewittern hatte ich seitdem immer wieder. Und auch das Wetter und seine Entwicklungen faszinieren mich nach wie vor. Doch das gehört in eine andere Geschichte.

Das Puddingabitur

 

Ich hatte mir durch strikte Lernverweigerung in der Realschule die Aufnahme ins Aufbaugymnasium in Dortmund gründlich verbaut, denn der Notendurchschnitt der letzten drei Jahre war entscheidend für die Zulassung, also musste eine Notlösung her. Mein Verlobter Hajo plädierte für die Höhere Handelsschule, denn ich sollte ihm, nach seiner Vorstellung, als Bürokraft in seiner Industrievertretung zur Seite stehen. Mein Wunsch, das Abitur zu machen oder gar zu studieren, war eh nicht in seinem Interesse.

Doch das mit der HH wurde leider nichts, denn die Anmeldezeit und die Aufnahmeprüfung waren längst vorbei, durch die Warterei auf die Absage aus Dortmund war zu viel Zeit verstrichen. Da hatte meine Mutter eine „tolle“ Idee: Gitta soll lernen, eine gute Hausfrau zu werden! Und wo könnte sie das am besten? Natürlich auf einer Frauenfachschule, da kann sie dann ihr „Puddingabitur“ machen, hahaha!

Wurde ich überhaupt gefragt? Ich weiß es nicht, hatte in dem Alter eh noch nichts zu sagen. Wenn ich zugesagt hatte, auf jeden Fall in absoluter Unkenntnis, was da auf mich zukam. Die Schule war in Münster, eine Frauenoberschule, die von der Diakonie geleitet wurde, mit angeschlossenem Internat.

Die Anfahrt mit dem Zug von Werne nach Münster war eine durchgehende Strecke, nur von meinem Zuhause erst zum Bahnhof in Werne zu kommen, bedeuteten schon mal gut zwanzig Minuten mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Die Bahnfahrt dauerte eine gute Stunde und der Bus bis zur Schule brauchte auch noch einmal etwa 30 Minuten.

Das hieß, dass ich mich morgens spätestens gegen halb 6 Uhr auf den Weg machen musste, um pünktlich kurz vor 8 Uhr vor Ort zu sein. Ich hatte großes Glück, dass eine meiner früheren Mitschülerinnen aus der Realschule auch diese Schule besuchte und – ich glaube, ohne sie wäre ich, als passionierte Langschläferin, nicht sehr oft in dieser Schule angekommen.

 

(Diese Schule, ich merke gerade beim Schreiben, wie ich mich innerlich verkrampfe, war für mich ein einziger Horror – und ich hatte eigentlich alle Erinnerungen gelöscht. Die Geschichten von genoveva und moireach brachte sie mir wieder überdeutlich ins Gedächtnis. Und da für den heutigen 19. Tag jemand ausgefallen ist, habe ich mich hingesetzt und versucht meine wenigen Erinnerungen aufzuschreiben.)

 

Nun gut, das Schulgelände war eng, der Eingang war nur wenige Meter von der Straße entfernt, ein richtiger Pausenhof war nicht vorhanden. Gegenüber gab es einen richtig niedlichen „Tante Emma-Laden“ und in dem residierte Willi. Willi werde ich nie vergessen, ein Riesenkerl in meist braunen Cordhosen und karierten Hemden und einer immer freundlichen Laune. Täglich hatte er pünktlich zu den großen Pausen von zwanzig Minuten knackige heiße Brühwürstchen mit einem frischen Brötchen und nach Wahl eingelegte Gurken oder frisches Sauerkraut aus dem Fass im Angebot. Natürlich auch süße Teilchen wie Pudding- oder Mohnschnecke, Apfel- oder Marzipantasche, belegte Brötchen mit knatschrotem Lachsersatz und Gurke auf Mayonnaise, Mortadella oder frischem Gouda. Himmlisch!

(Auf der Bildersuche stellte ich fest, dass es diese Frauenoberschule nicht mehr gibt und das Gebäude jetzt als Altenheim dient – den Glasvorbau gab es damals auf jeden Fall nicht…)

 

Der Unterricht war im Prinzip leicht, neben Deutsch, Geschichte, Religion, dem Wahlfach Englisch, gab es Chemie, Biologie, Ernährungslehre, Säuglingspflege, Haushaltsführung, Musik, Handarbeit und Kochen. Eine ausgesprochen sympathische jüngere Frau unterrichtete Deutsch, Geschichte und Englisch – die fand ich toll und war voll dabei.

Chemie und Ernährungslehre wurden zum Albtraum! Nicht durch den Stoff, nein, sondern durch die Leiterin der Diakonischen „Anstalt“ an sich, nämlich Schwester Elfriede. Sie war sozusagen die „Oberhexe“. Unter dem nett gestärkten blütenweißen Häubchen steckte eine Fanatikerin, die versuchte, uns zu Gehorsam und Unterwürfigkeit zu dressieren. Und sie verfolgte akribisch jeden Ausfall und bestrafte ihn durch Nachsitzen (dann bekam man seinen Zug nicht mehr) oder durch Zusatzaufgaben, die zum eh strammen Hausaufgabenprogramm eine enorme Zeit in Anspruch nahmen. An die anderen Lehrerinnen kann ich mich nicht mehr erinnern.

 

Erholung pur bot dagegen die Praktikumszeit von gut sechs Wochen in den Sommerferien, die ich im mir sehr vertrauten St. Christopherus Krankenhaus in Werne auf der Säuglingsstation verbrachte. Durch meinen Großvater kannte ich dort nahezu alle katholischen Ordensschwestern, die mich wirklich mit offenen Armen aufnahmen und überall mit hinschleppten. Erstversorgung, Baden, Füttern, Säubern, Wickeln und auch betüddeln der kleinen Minimenschenskinder – an allem durfte ich teilhaben. Und das hat mir eine unvergesslich schöne Zeit beschert.

 

Doch im September ging es weiter, geändert hatte sich nichts. Zunächst wurden meine hausfraulichen Künste teilweise auf eine harte Probe gestellt. Einige Details weiß ich noch genau: im Kochunterricht versagte ich bei der Herstellung von Leberknödeln total, denn das Durchdrehen von roher Leber durch einen Fleischwolf bescherte mir einen abrupten Abgang zur Toilette, an Weitermachen oder gar essen war nicht mehr zu denken.

 

Mein Versuch, niedliche Schwäne und Windbeutel aus Brandteig zu zaubern, um sie dann mit Sahne zu füllen, scheiterte daran, dass ich aus Neugier zu früh die Backofentür öffnete (Glasfenster zum Reinschauen gab es noch nicht) und der  Kladderadatsch komplett  in sich zusammenfiel. Mein Ehrgeiz, eine Biskuittorte, überzogen mit einem toll verzierten Marzipandeckel, zu präsentieren, scheiterte an einer unglücklichen Bewegung unserer Hauswirtschaftslehrerin.

Die unterhielt sich nämlich mit unserer Köchin, als ich mit stolzgeschwellter Brust mein Meisterwerk vorzeigen wollte. Ich versuchte, auf mich aufmerksam zu machen, da drehte sich Frau M. zu mir um und schob mit dem Ellbogen mein Prachtstück von der Tortenplatte. Das ging so schnell, dass ich nicht ausweichen konnte und dann standen wir zu dritt wie die Salzsäulen und schauten auf den Kuchenhaufen auf dem Fliesenboden.  Damit endete dann auch meine Freude am Backen…

 

Zum Schrecken aller stand im 2. Halbjahr auch wieder eine Chemieklassenarbeit bei Schwester Elfriede, dem Drachen, an. Null Ahnung vom geforderten Stoff ist eigentlich noch untertrieben. Ich wollte diese Arbeit auf keinen Fall mitschreiben. Ich griff zu einem vermeintlichen Hilfsmittel und klaute mir aus der Praxis meines Großvaters eine Flasche Optipect Kodein forte Tropfen. Diese Lösung hatte ich schon einige Male in geringer Dosierung mit viel Wasser von ihm bekommen, wenn ich eine Erkältung mit festsitzendem Husten hatte.

 

Wie viel ml diese Flasche enthielt, weiß ich nicht, war auch nicht wichtig für mich und dass ein wesentlicher Bestandteil der Flüssigkeit Codein enthielt auch nicht. Bevor ich mich ohne Frühstück, wie immer, auf mein Fahrrad schwang, kippte ich den gesamten Inhalt in mich hinein. Zunge und Hals erinnern sich heute noch an den bitteren und ekligen Geschmack, merke ich gerade.

Im Zug bekam ich leichte Schwindelgefühle, meine Freundin kümmerte sich um mich und brachte mich irgendwie bis zur Schule. In der ersten Stunde, stand die Chemiearbeit an. Schwester Elfriede betrat das Klassenzimmer und sah mich mit dem Oberkörper auf dem Tisch liegen.

 

Vermutlich hat ihr meine Freundin erzählt, wie ich schon während der Fahrt „drauf“ war. Ich weiß auf jeden Fall nichts mehr und wachte wohl gegen 14 Uhr in einem der Betten im angeschlossenen Internat auf. Mir war kotzelend und sah Schwester Elfriede und meinen Stiefvater nur verschwommen. Es konnte sich keiner so recht erklären, was das „Kind“ denn nur hatte. Es brachte mir zumindest noch drei freie Tage ein und für etliche Wochen eine recht milde Schwester Elfriede.

 

Dieses wunderbare Gefühl der Akzeptanz hielt bis zum 7. Dezember 61 an, einen Tag nach meinem Geburtstag. Ich wurde nicht nur ein Jahr älter, sondern 18 und machte auch genau an diesem Tag meine Führerscheinprüfung. Deshalb war ich nicht in der Schule. Aber an diesem 7. Dezember machten wir einen Schulausflug, keine Ahnung wo es hingehen sollte. Ich saß mit den anderen im Bus und Schwester Elfriede schoss auf mich zu, mit ausgestreckten Arm und Zeigefinger: „Wo warst Du gestern?“ 

„Ich habe ein Entschuldigungsschreiben dabei, ich habe gestern meine Führerscheinprüfung gehabt und konnte deshalb nicht kommen!“ Elfriede rastete aus: „Was, den Führerschein gemacht? Du bist und bleibst ein elendes und verkommenes Luxusweibchen!“ Ich war so geplättet, schnappte mir wortlos meine Jacke, drückte ihr noch meinen Entschuldigungsbrief in die Hand und rannte heulend aus dem Bus. Nichts wie nach Hause…

 

Das elende und verkommene Luxusweibchen

 

Damit fand nun auch meine Ersatzkarriere als fachlich geschulte und geeignete Ehe- und Hausfrau ein jähes Ende. Ich wollte und musste nicht mehr dort antreten, denn es war allen klar, da hätte ich keine Chancen mehr gehabt. Ab Ostern 62 konnte ich dann die Höhere Handelsschule in Hamm besuchen, die mir dann wieder großen Spaß machte.

 

 

Wir fuhren ins Landschulheim

 

 

 

 

 

 

Als der Zug losfuhr, winkte ich noch ein paar Mal. Alle Kinder waren am heulen, ich weinte auch. Der Zug fuhr durch Oldenburg und die ersten Kinder holten schon etwas zum Essen aus dem Koffer. Wir kamen in Carolinensiel an, dort mussten wir auf das Schiff warten.

 

Ich nutzte die Gelegenheit jetzt auch ein wenig zu essen. Ein Ei war genau das richtige, dazu ein halbes Butterbrot. Fräulein Bockmann meinte, mich warnen zu müssen: "Iss nicht so viel, auf dem Schiff könnte es dir übel werden." Da ich kaum gegessen hatte, fragte ich: "Wieso gibt es dort Erbsensuppe?" - "Blödsinn“, meinte sie, "du wirst bestimmt seekrank." Lore mischte sich ein: "Anneliese wird es nur von Erbsensuppe schlecht, sonst wirft die nichts um." Die Lehrerin hatte das letzte Wort: "Abwarten."

Bald darauf wurden wir aufgefordert, auf das Schiff zu gehen. Jeder schleppte seinen Koffer. Heidrun hatte einen besonders großen Koffer. Ein Lehrer half ihr. "Hast du denn alle deine Sachen dabei?" fragte er sie. "Nein," antwortete Heidrun, das ist für mich und meine große Schwester. Meine Schwester kommt in der nächsten Kur.“ Fräulein Bockmann stand umringt von Mädchen an der Reling sie göbelten abwechselnd. Ich sagte zu Lore: "Nur nicht hingucken, das ist ansteckend." Mit Atemübungen lenkten wir uns ab und es ging uns gut. Wir amüsierten uns köstlich.

 

Total erschöpft suchten die Mädchen sich eine Sitzgelegenheit und die Bockmann stand allein da und hielt sich am Geländer fest. Lisa schlug vor, sie zu fragen ob sie Fische gefüttert hätten. Das fand Lore gut und sie torkelte los. Der Seegang machte ihr zu schaffen. Als sie bei der Bockmann war, fing sie auch an zu reihern. Wir konnten nicht mehr vor Lachen. Wir würden uns hüten aufzustehen. Lore kam wieder und war fix und fertig.

Wir freuten uns über die Möwen die schreiend ums Schiff flogen. Sie begleiteten uns bis an den Ostanleger direkt an unserem Schulheim. Als wir auf dem Steg waren, stand da ein Schienenfahrzeug, wir packten unsere Koffer darauf und das Fahrzeug fuhr bis vor das Landschulheim. Jeder schleppte seinen Koffer und wir fanden zwei Schlafsäle vor, die rings um Etagenbetten hatten. In der Mitte waren Einzelbetten.

 

Die Häuser waren alle auf Pfählen gebaut und ganz aus Holz. Die Jungen hatten ihr Haus auf der anderen Seite der Bahnschienen. Das Haus hatte noch höhere Pfähle und einen Steg. Die Mädchen stritten um die Betten. Mir gefiel das Bett neben der Tür, das wollte niemand. Es war ein Etagenbett und ich belegte das obere. Unten waren schon ein paar Koffer, da stellte ich meinen dazu. Mir gefiel mein Bett. Ich war im gleichen Schlafsaal wie Lore und Lisa. Eine von den größeren Schülerinnen aus der anderen Klasse, warnte mich: "Du bist die erste die einen auf den Deckel kriegt, wenn die Lehrerin abends reinschaut." - "Macht nichts," bemerkte ich trocken, "ich bin auch die erste, die sie sieht." - "Dann kannst du uns warnen," meinte die andere jetzt. "Nee“, sagte ich, "ich bin zwar ein bisschen ruhiger als ihr, aber nicht blöd."

 

Dann läutete eine Glocke und wir mussten ins Küchenhaus. Im Speisesaal fing die Rangelei wieder an. Unsere Mädchen wollten alle zur Bockmann an den Tisch, nein, danke, dass wollte ich wirklich nicht. An einem Tisch, es war der, wo das Essen zuletzt hinkam, war noch reichlich Platz. Es war der Tisch mit Herrn Kunze, den niemand mochte. Er saß vorn am Tischende, ich setzte mich genau gegenüber. Es gab Fisch. Nach dem Essen durften wir die Umgebung erkunden. Die älteren Mädchen zeigten uns den Waschraum. Das Klo war das reinste Abenteuer. Es war mitten in den Dünen. Eilig durfte man es nicht haben.

Ein gekentertes Schiff war mit einer großen Eckbank ausgestattet, darin waren runde Löcher und passende Deckel. Ein Gesellschafts-Plumpsklo also, ein Klo, wo man in gemütlicher Runde auch mal eine halbe Stunde klönen konnte. Die Reinigung erfolgte automatisch bei Sturmflut. Ich fand es toll. Liebevoll nannten wir unser Mädchenklo "Eisdiele". Die Jungen hatten den "Donnerbalken" direkt an den Bahnschienen.

In unserem Bau waren zwei Lehrerinnen zur Aufsicht eingeteilt. Sie hatten ihre Zimmer auch gleich am Flur. Jeder bekam jetzt zwei Wolldecken. Ein Bettlaken und einen Kissenbezug hatten wir mitgebracht. Wir richteten unsere Betten, dann gab es Abendessen. Jeder durfte so viele belegte Brote essen, wie er wollte.

Lisa und Lore wollten jetzt noch an den Strand. "Komm doch mit," sagte Lisa, "du bist doch sonst allein." Ich war stolz, dass mich die zwei Klassenbesten mitnahmen. Wir gingen den schmalen Weg durch die Dünen und auf der anderen Seite war der Strand, unendlich. Auf einen kleinen Sandhaufen setzten wir uns und schauten den Fischreihern zu die auf den Sandbänken standen. "Morgen früh suchen wir Muscheln“, bestimmte Lore. "Morgen früh müssen wir in die Schule," berichtigte Lisa sie. "Stimmt, diese Woche noch, dann kriegen wir zwei Wochen Ferien," stellte Lore fest. Lore und Lisa hatten eine Armbanduhr. Sie sorgten dafür, dass wir pünktlich im Schlafsaal ankamen.

Auf dem Rückweg besuchten wir noch die Eisdiele, denn bei Nacht fürchteten wir uns. Ich war nicht nur müde, ich war todmüde, und kletterte auf meinen "Hühnerwiemen", so nannten wir die oberen Betten. Die Mädchen machten noch ordentlich "Rabatz" und ich zog die Decke über den Kopf. Es dauerte eine Weile bis die Mädchen sich beruhigten. Nun hatte ich mir zwar vorgenommen, am nächsten Morgen früh aufzustehen, um Muscheln zu suchen, aber ich verschlief.

Als ich wach wurde, waren die meisten schon im Waschraum gewesen und warteten auf die Glocke die zum Frühstück läuten sollte. Schnell wusch ich mich und zog mich an. Dann rannte ich mit Lisa und Lore zur Eisdiele. Da war Hochbetrieb und wir mussten auf die Wartebank. Lore sagte, "morgen gehen wir früher los." Dann lachte sie: "Mensch Anne, du bist ja noch gar nicht gekämmt!" Ja, so konnte ich nicht zum Frühstück gehen und nachher war doch Schule. Die beiden machten meine Zöpfe auf und Lisa hatte ihren Waschbeutel noch immer in der Hand, darin war eine Bürste. Zu zweit machten sie an meinen Haaren rum, während ich den Standort wechseln musste, ein Klo war frei geworden.

Meine Haare waren fertig, und wir hörten die Glocke läuten. Ich wartete auf Lore und Lisa, dann rannten wir zusammen los. Wir waren die letzten die in den Speisesaal kamen und hatten das Tischgebet verpasst. Dafür ernteten wir böse Blicke von unserer Lehrerin. Herr Kunze fragte nur: "Hochbetrieb in der Eisdiele?"

Wir hatten täglich drei Schulstunden. Danach konnten wir machen was wir wollten, nur die Mahlzeiten mussten wir einhalten. Wir bekamen ein paar Regeln: Morgens die Betten machen, nicht allein ins Dorf gehen und nicht ohne Lehrer ins Watt. Schwimmen durften wir auch nur, wenn die Lehrer dabei waren, aber es war jetzt noch zu kalt. Ich ging durch die Dünen zum Strand hinunter um Muscheln zu suchen. Dann schaute ich auf das Meer hinaus, und es schien mir unendlich.

Da ich keine Ahnung hatte, wie spät es war, ging ich den Weg zurück. Da waren dann auch die meisten Kinder, sie hatten sich eine Sprungschanze gemacht und sprangen um die Wette. Denen schaute ich zu bis die Glocke läutete. Die ganze Woche gingen wir noch in die Schule, die im Jungenbau war. Dafür mussten wir über den langen Steg, denn der Bau stand im Watt.

Am Sonntag führten uns zwei Lehrer ins Dorf. Wer da in die Kirche wollte, durfte mit einem Lehrer dorthin gehen. Der andere Lehrer ging mit uns das Dorf anschauen. Für Mutti kaufte ich eine Ansichtskarte. Weil das Wetter am Nachmittag nicht so gut war, ging ich in die Aufenthaltsraum um Karten zu schreiben. Im Speisesaal hatte ich Ansichtskarten von unserem Schulheim gekauft und so hatte ich Beschäftigung bis zum Abendessen. Ich schrieb an Mutti, Elfi, Frau Lindemann und an Linda. Die übrigen Mädchen spielten Gesellschafts-Spiele.

 

Täglich saß ich in den Dünen und schaute auf die Wellen. Die Ruhe tat mir gut. Mein Geburtstag fiel auf den Himmelfahrtstag. Sollte ich vielleicht mit Lisa und Lore ins Dorf gehen und mit ihnen ein Eis im Café Pudding essen? Ich wusste nicht, ob mein Geld dazu reichte. Warum auch, sie hatten viel mehr Geld als ich. In Gedanken war ich noch bei meinem Geburtstag, da läutete die Glocke und ich eilte zum Abendessen. Es gab fangfrische Makrelen die waren lecker. Herr Kunze brachte jetzt die Post. Er verteilte Briefe und Päckchen und ich hoffte auch etwas zu bekommen. Dann sagte er: "Schluss für heute, das übrige verteile ich morgen." Alle Kinder ließen ein langgezogenes "schade" hören.

Nicht einmal zu meinem Geburtstag hatte ich Post, dachte ich traurig. Lore und Lisa wollten, dass ich noch mit an den Strand kam. Elli kam auch mit. Wir vier liefen am Strand entlang und freuten uns, dass wir allein waren. Lore meinte, "Es ist zwar etwas frisch hier draußen, aber so schön. Ich verstehe gar nicht warum die meisten Kinder immer in den Stuben rumhocken."

Ich erzählte was ich beobachtet hatte: "Bei Flut kommt jede Welle ein kleines Stückchen näher. Plötzlich werden die Wellen wieder kürzer, bis die Sandbänke auftauchen und die Reiher kommen. Lisa wollte sich das auch einmal ansehen. Wir gingen noch gemeinsam auf zur Eisdiele, und Elli fragte: "Was machen wir eigentlich wenn wir bei Nacht mal müssen." Lisa lachte: "Dann gehen wir unter unsern Pfahlbau." Elli guckte verwundert und ich schüttelte den Kopf. "Nein, 'ne Freundin wecken und zu zweit gehen, unter den Bauten ist meistens Wasser bei Nacht."

Wir kamen in den Schlafsaal und die Mädchen machten wieder Blödsinn. Da war an schlafen nicht zu denken. Jemand hatte Blähungen und verpestete den ganzen Saal. Je mehr sie lachten, um so mehr wurde gepupst. Bis die Bockmann plötzlich in der Tür stand. Zwei Mädchen bekamen eine Strafarbeit und sie sammelte die Taschenlampen ein. Ich hatte schon vorher die Decke über die Ohren gezogen, mir konnte sie nichts anhängen.

Morgens wurde ich früh wach, ich freute mich aufs Burgenbauen. Als ich dann gewaschen und gekämmt war, ging ich gleich zu Eisdiele. Endlich einmal morgens kein Gedränge. Ich hasste lange Wartezeiten auf dem Klo. Weil ich Zeit hatte, schaute ich nach dem Wasser. Der Strand war ganz im Meer. Ein Stück weit, auf dem Meer waren wieder Fischer. Während ich so aufs Meer schaute, polterten die ersten Mädchen in die Eisdiele.

Lore kam zu mir und fragte: "Wo warst du denn heute Morgen? Warst du die ganze Nacht hier draußen?" - "Ich habe heute Nacht schneller geschlafen und war früher fertig damit, seit dem sitze ich hier." Im Stillen freute ich mich, dass Lore mich vermisst hatte. Wir liefen zum Frühstück, als die Glocke läutete.

Auf meinem Platz im Speisesaal, lag ein rotes Herzchen, darauf stand: "Alles Gute zum Geburtstag."

 

Dann kam Herr Kunze mit einem kleinen Kuchen aus der Küche. Ich musste schon wieder heulen. "Woher wissen sie, dass ich Geburtstag habe?" fragte ich ihn. "Das sage ich dir nach dem Frühstück“, mehr wollte er nicht verraten. Jetzt kam der Kaffee und Quarkbrote mit Schnittlauch. Die Mädchen aus meiner Klasse sagten alle zusammen: "Alles Gute zum Geburtstag, liebe Anne." Ich freute mich riesig und heulte auf mein Quarkbrot.

 

Nach dem Essen kam Herr Kunze mit einem Päckchen und zwei Briefen zu mir. Ein Brief war von Mutti und einer von Frau Lindemann. Das Päckchen war von Elfi, darauf hatte sie geschrieben: Nicht vor dem 20.5. abgeben. Herr Kunze bat uns, nicht zu vergessen, um zehn Uhr alle an den Strand zu kommen. Die halbe Klasse umringte mich, sie wollten wissen was in dem Päckchen wäre. "Das ist ein Geschenk zu meinem Geburtstag“, wurde ich böse, "ich werde es aufmachen wenn ich allein bin. Aber den Kuchen werde ich verteilen." Ich gab den Kuchen her, nahm mein Päckchen und die Briefe und verschwand in den Schlafsaal. Zuerst las ich den Brief von Mutti, dann den von Frau Lindemann. Jetzt machte ich das Päckchen auf von Elfi. Es war ein Kekskuchen, und Schokolade darin.

Jetzt musste ich zum Strand. Vor mir lief die eingebildete Heidrun. Sie hatte wieder ein Kleid von ihrer Schwester an. "Ist dir das Kleid nicht etwas zu groß?" fragte ich. Heidrun meinte: "Ich wollte immer schon von meiner Schwester die Kleider, die kriegt immer neue Kleider, mir gibt man die dann, wenn sie ihr zu klein sind." Sie hatte sogar einen BH an von ihr, obwohl sie den wirklich nicht brauchte. "Ja, das verstehe ich schon, aber wenn du jetzt alles schmutzig machst, hat die ja nachher gar nichts zum anziehen," glaubte ich sagen zu müssen.

Ich hatte das schon lange beobachtet, und die Schwester tat mir jetzt schon leid. Wir mussten uns einen Platz aussuchen wo wir vom Wind geschützt unsere Burg bauten. Der Lehrer wollte auf keinen Fall, dass wir uns im scharfen Nordwind erkälteten. Ich fand eine schöne Stelle, aber Elli kam nicht, da musste ich mit Heidrun bauen. Der Lehrer merkte, dass ich vollkommen lustlos den Sand hin und her schob. Da gab er uns einen Jungen zur Verstärkung, der hatte noch keinen Platz gefunden. Ich hatte keine Ahnung vom Burgenbauen. Wir schoben von allen Seiten Sand auf einen Haufen. Wolfgang redete so wenig wie ich, aber was er sagte hatte Hand und Fuß. Heidrun dagegen, wenn sie sich herabließ mit uns zu sprechen, war es purer Blödsinn.

Der Sand war noch feucht von der Flut, die sich schon wieder zurückgezogen hatte. Mit vereinten Kräften klopften wir den Sand fest. Dann fingen wir an das Ganze in Form zu bringen. Die Nachbarn hatten wunderschöne Burgen und waren dabei Zacken auf die Türme zu modellieren. Wir arbeiteten auf Hochtouren, aber das Ergebnis war zum Schluss unter Durchschnitt. So sah es Wolfgang. Ich meinte, es mit "sehr solide" bezeichnen zu müssen. Wir hatten noch Zeit, einen Hof und eine Mauer mit großem Tor herum zu bauen.

Dann gingen wir zum Essen und nachher wollten die Lehrer die Burgen besichtigen und die Plätze vergeben. Als das Ergebnis feststand, lagen wir auf Platz fünfzehn. Wolfgang sagte enttäuscht: "Mehr konnte ich nicht bringen, zwischen den Weibern." Ich bedankte mich bei ihm: "Danke Wolfgang, das hast du ganz prima gemacht, ich hatte gar keine Ahnung vom Burgenbauen." Mit stolzgeschwellter Brust schob er ab und ließ mich stehen. Da der Wettbewerb jetzt gelaufen war, ging ich den Strand entlang, um alle Burgen anzusehen. Da waren richtige Kunstwerke dabei und ich fand dass unser 15. Rang eine gerechte Wertung war.

 

Jetzt konnten wir wieder den ganzen Tag machen was wir wollten. Lore und noch ein paar Mädchen nahmen mich mit in den Schulraum. Sie wollten Pfingsten ein paar Sachen aufführen, das sollte ich mir ansehen. "Wieso Pfingsten? wir haben dann doch noch eine Woche“, fragte ich verunsichert. „Ja“, stellte Lore fest, "du bist ja immer in den Dünen, da kannst du ja nicht wissen dass wir Pfingsten mit den Lehrern ein Strandfest feiern. Da werden wir und die anderen Klassen ein wenig vorführen. Herr Kunze macht ein Lagerfeuer. Wir dürfen dann alle länger aufbleiben. Es geht bis in die Nacht." - "Vielleicht tanzen wir dann auch mit den Jungen“, schwärmte Reni. "Ich kann nur Walzer," sagte ich gequält. "Nachher üben wir noch tanzen“, versprach Reni, "Tango und langsamen Walzer solltest du schon können."

 

Reni führte ein Stück auf, mit Gesang und Tanz. Es hieß "Laura Lett" es gefiel mir gut nachdem sie mit dem Proben fertig war, konnte ich es auch. Das wollte ich mir unbedingt merken, dafür würde ich sicher mal Verwertung haben. Es kamen noch verschiedene kleine Stücke, die auch ganz nett waren. Dann sollte ich meine Meinung abgeben und ob ich was verändern würde. Ich fand es gut, so wie es war.

 

Jetzt mussten wir noch tanzen, wollte Reni unbedingt. Lore setzte sich an das Spinett. "Mein Gott, das stammt aus der Zeit vor der Sintflut," lachte sie und musste sich zuerst mal einspielen und fing an mit einem klassischen Walzer. Wir tanzten also Walzer und Reni meinte, ich dürfte mal etwas lockerer werden. Als es dann endlich klappte, sollte Lore "Ich tanze mit dir in den Himmel hinein," spielen.

Gewissenhaft erteilte uns Reni Tanzunterricht, als wir dann auch noch den Tango lernten, mussten wir zum Abendessen. "Am Freitag geht es weiter“, versprach Reni. Nach dem Essen ging ich zur Köchin und bat sie, mir ein Messer zu geben. Die gab es mir und beteuerte dass sie mir die Ohren abreißen wollte, falls ich das Messer nicht am nächsten Tag zurück brächte.

Ich lud Lore, Lisa und Reni ein, mit mir in den Dünen den Rest meines Geburtstages zu feiern. Den Kuchen von Elfi schnitt ich in fingerdicke Scheiben, packte alles wieder in den Karton und nahm noch den Apfelsaft mit. Als Lore einen besonders schönen Platz gefunden hatte, machten wir uns an den leckeren Kekskuchen. Der schmeckte allen und auch die Apfelsaftflasche wurde leer. Wir ließen die Flasche an unserem Platz, weil Lisa vorgeschlagen hatte, morgen eine Flaschenpost abzuschicken. Lore fand die Idee gut. Ich wollte kein Spaßverderber sein und stimmte zu.

Wir schauten noch eine Weile aufs Meer, das war noch weit weg, jetzt waren die großen Reiher noch auf den Sandbänken. Reni glaubte, dass es Störche wären. Ich glaubte aber, dass Störche nicht im Salzwasser fischen. Abschließend gingen wir noch zur Eisdiele, und Lore glaubte zu wissen, dass wir heute Nacht aufs Klo müssten vom Apfelsaft. Wir machten also aus, dass der erste der wach wurde die anderen weckt, und wir dann zusammen gehen wollten. Lisa weckte mich, als es schon dämmerte: "Komm, wir stürmen jetzt die Eisdiele," flüsterte sie. Ich zog einen Pulli über mein Nachthemd und wir marschierten los. Die Sonne schien, aber es war kalt in dem alten Wrack.

Lore schlug vor, jetzt nicht mehr ins Bett zu gehen. Wir würden uns jetzt waschen und leise anziehen und wieder an den Strand gehen. „Ja“, sagte Reni, „dann gucken wir die Burgen noch mal an.“ Wir gingen ganz leise in den Schlafsaal und kleideten uns an. Dann gingen wir uns waschen. Reni flüsterte: "Morgens schlafen alle am tiefsten." Leise schlichen wir wieder nach draußen.

Im Gänsemarsch ging es durch die Dünen und hinunter zum Strand. Keine einzige der Burgen war übrig geblieben. Reni trug die Flasche, den Brief den wir unterschrieben hatten, trug Lisa. Die Verschlusskappe aus Gummi hatte ich. Lore steckte den Brief in die Flasche und ich spuckte in den Verschluss. Dann zog ich die Kappe über den Flaschenhals. "Und warum spuckst du nicht gleich in die Flasche?" wollte Reni wissen. "Weil die Kappe trocken nicht darauf geht." Ich musste lachen und sagte, dass ich das öfters mache. Als die drei anfingen, furchtbar zu lachen, fügte ich aufklärend hinzu: "Natürlich nicht das Spucken, ich meinte Flaschen zumachen."

Mit der Flasche gingen wir ein Stück weit dem flüchtendem Wasser nach und warfen sie in einen Priel. Dann liefen wir schnell wieder zurück an den Strand. In den Dünen warteten wir auf die Frühstücksglocke. Als wir sie hörten, liefen wir gemeinsam in den Speisesaal. Nach dem Frühstück spielten wir noch in den Dünen. Das Mittagessen war für mich wieder ein Festessen. Es gab Fisch und weil viele keinen Fisch mochten, hatte ich immer doppelte Portionen.

Nach dem Essen gingen wir zur Generalprobe mit anschließendem Tanzkurs. Der Nachmittag verging wie im Flug. Die Mädchen schrieben wieder fleißig an ihre Eltern, ich hatte keine Lust. Vielleicht würde ich nächste Woche schreiben. Dafür nutzte ich die Gelegenheit am Sonntag ins Dorf zu gehen, ich wollte mir ein Eis kaufen. Lore und Lisa waren auch dabei, und Heidrun, die keiner mochte. In einem Café wurde Eis verkauft, ich steuerte darauf zu und sah auf dem Boden ein kleines Tütchen. Als ich es aufhob sah ich, dass es Juckpulver war. Ich steckte es in meine Manteltasche, den hatte ich heute angezogen, weil der Wind so kalt war. Dann kaufte ich mein Eis.

 

Lore und Lisa waren in das Café gegangen. Heidrun bettelte, ich sollte ihr auch ein Eis kaufen, sie wollte mir das Geld geben, wenn wir zurück kämen. Schließlich gab ich ihr eine Mark. Heute war sie ausnahmsweise ordentlich angezogen, aber ich mochte sie einfach nicht. Wir setzten uns auf eine Bank, wo wir das Eis aßen. Dann wollten wir Lore und Lisa abholen, aber die waren schon nicht mehr da. Wir gingen zum Dorf hinaus und kamen an die Bahnschienen. Ganz in der Ferne sahen wir die Gruppe Kinder laufen, die würden wir nicht mehr einholen.

Langsam wurde es warm und ich zog meinen Mantel aus, den ich jetzt schleppen musste. Heidrun heulte, der Weg sei so weit. Ich sagte: "Glaubst du für mich ist er nicht so weit?" Plötzlich setzte sie sich auf die Schienen und wollte nicht weiter. Da ritt mich der Teufel und ich kippte ihr das Juckpulver hinten in den Pullover. Sie wälzte sich auf dem Boden, schrie und drohte, sie würde es der Bockmann petzen. "Wenn du das machst“, drohte ich zurück, "kriegst du Klassenkeile."

Ich hatte jetzt genug von ihr und machte mich allein auf das letzte Stück Weg. Im Speisesaal wurde schon gegessen, ich traute mich nicht hinein. Als die anderen nach dem Essen heraus kamen, berichtete Lore, dass wir nichts mehr zum Essen bekommen würden. Die Bockmann hätte es gemerkt und angeordnet. "Strafe muss sein," hatte sie gesagt. Lisa ging mit mir von hinten in die Küche und kam mit Pudding wieder heraus. Dann brachte sie noch ein Butterbrot, das war vom Frühstück.

Da ich noch zwei Tafeln Schokolade im Koffer hatte, war ich jetzt satt. Heidrun stand im Waschraum und scheuerte an dem Juckpulver rum, das wurde davon nicht besser. Ich sagte Lore Bescheid was passiert war, und dass ich ihr Klassenkeile angedroht hatte, wenn sie petzt. Lore, Lisa und Reni gingen daraufhin in den Waschraum. "Wenn du Anne verrätst, kriegst du Klassenkeile, ist das klar?" Heidrun wurde kleinlaut zog sich frisch an und heulte weil sie nichts zu Essen bekommen hatte. Da tat sie mir leid und ich gab ihr eine Tafel Schokolade.

 

Die Hälfte von unserer Kur war schon um und während der nächsten Woche hatten wir Gelegenheit zum Baden. Nun gab es immer nachmittags ab zwei Uhr in unserem Speisesaal einen Teller mit Butterbroten, wo man sich, wenn man Hunger hatte, eines holen konnte. Ich habe mir da nie etwas geholt, aber Lore nahm mich mit: "Sonntags gibt es immer Butterkuchen." Das Wort Butterkuchen, klingelte in meinen Ohren immer wie das Glöckchen zu Weihnachten. Ja, Butterkuchen wollte ich auch. Ich sagte zu Lore: "Wir nehmen zwei, davon kann ich nicht genug bekommen." Weil uns niemand beobachtete, schlichen wir mit fünf Stückchen Kuchen zur Tür hinaus.

 

Gleich hinter der Küche setzten wir uns in den Sand und aßen genüsslich den Kuchen, der war einmalig. Dann suchten wir die anderen, die schrieben Karten nach Hause. Lore wollte auch an ihre Mutti schreiben, da holte ich eine der Postkarten, die Mutti mir eingepackt hatte und schrieb ihr auch. "Was schreibst du denn," fragte Lore und wollte sich bei mir Anregungen holen. "Dass es mir hier so gut gefällt und ich am liebsten hier bleiben würde." Sie guckte mich an und lachte. Als sie sah dass ich es wirklich schrieb, runzelte sie die Stirn und fragte: "Freust du dich nicht auf zu Hause?" - "Nein," kam es von mir. Auf meine Karte schrieb ich dann noch: "Ich freue mich auf meine Hühner und auf meinen Freundeskreis." Damit die Karte voll wurde erzählte ich noch, dass wir heute Abend ein Lagerfeuer machen wollten.

 

Dann gingen wir in den Schlafsaal um Lisas Strohhut aufzudonnern. Ich hatte Nähgarn und eine Nadel im Koffer. Weil alle wussten, dass meine Mutter einen Hut-Fimmel hatte, sagte sie: "Mach du das, du hast die meiste Erfahrung." Das war keine leichte Aufgabe, denn alles was wir hatten, waren Strandhafer und zwei Zweige gelben Ginster. Ich nähte die Büschel auf den Hut, so dass der Strandhafer ein wenig ins Gesicht fiel.

Wo die zwei Sträuße aneinander stießen, fehlte irgendwas farbiges. "Hat niemand eine Haarschleife?" fragte ich und schaute in die Runde. Lore brachte ein rosarotes Nickituch, und fragte ob ich das brauchen könnte. Ich überlegte und nahm das Tüchlein in der Mitte, band es dann so ab, dass es wie eine große Blüte aussah. Danach nähte ich es genau auf die kahle Stelle. Die Mädchen waren begeistert.

Reni hatte ein wunderschönes weißes Nachthemd mir rosaroten Blumen. Das wollte sie anziehen und der Hut passte perfekt dazu. Nach dem Abendessen lud Herr Kunze alle ein, an den Strand zu gehen. Alle Buben mussten ein Stück Holz mitnehmen. Der alte Seemann, der immer bei uns war, zeigte wo er das Holz hatte. Er kam auch mit an den Strand und hatte ein Schifferklavier dabei.

Während der Lehrer mit dem Feuer kämpfte, führten die Mädchen ihre eingeübten Stücke auf. Mir haben die Mädchen aus unserer Klasse besonders gut gefallen. Reni war der Star des Abends. Ihr „Laura Lett“ war köstlich und alle klatschten. Der Seemann spielte jetzt ein Lied nach dem anderen und das Feuer wurde immer größer. Manche Kinder tanzten tatsächlich.

 

 

Das Feuer brannte jetzt richtig gut und der Lehrer wollte uns von seinen Abenteuern erzählen. Er war jung im Krieg gewesen und hatte seit dem einen steifen Arm, an dem man eine Schusswunde sehen konnte. Die Geschichte die er uns auftischte, gehörte in die Gruppe Seemannsgarn und Abenteuer von Münchhausen. Er erzählte es so spannend dass wir glaubten es sei Tatsache. Zum Schluss wurde er von einer Hexe verfolgt, die ihn aber nicht einholen konnte. Da warf sie ein Brotmesser nach ihm und traf ihn am Arm. Seit dem hätte er die Narbe am Arm, die er uns dann auch prompt zeigte.

Es wurde schon langsam dunkel, und der Seemann spielte das Lied "Jenseits des Tales." Wir sangen noch viele Lieder und es war ein unvergesslicher Abend. Leider war es auch der Beginn unserer letzten Woche auf der Insel. Dann kam unser letzter Tag und wir packten unsere Koffer. Am nächsten Morgen fuhren wir mit dem Bummelzug zum Westanleger. Dort kam gerade das Schiff an, mit dem wir fahren würden. Wir mussten warten, bis alle vom Schiff herunter waren. Da kam die neue Gruppe von unserer Schule. Ein kurzes Winken, und wir gingen an Bord.

Ich setzte mich auf meinen Koffer und dachte nur daran, dass ich jetzt wieder zurück musste, dabei war es so schön gewesen. Der Zug schnaufte durch die Dämmerung und als wir ankamen stand Vati auf dem Bahnhof, mich abzuholen. Ringsum war große Wiedersehensfreude, ich wollte nicht hin schauen. Vati ging es nicht gut, das konnte ich an seinem Gesicht sehen. Trotzdem zwang ich ihm einen Kuss auf, dann nahm er den Koffer und wir waren die ersten die vom Bahnsteig gingen.

Von da an hatte ich Ruhe vor ihm...

Ich glaube, es war im zweiten Schuljahr. Wir hatten einen Jungen in der Klasse, dem hatten es wahrscheinlich meine Zöpfe angetan. Immer wenn ich in seiner Nähe war, meinte er daran ziehen zu müssen. Nicht nur, dass es mir weh tat, nein, es ärgerte mich auch sehr. Auf dem Schulhof lief er mir in der Pause solange nach, nur, um an meinen Zöpfen zu ziehen. Das nervte ungemein. Es ging so weit, dass ich sogar ein wenig Angst vor ihm bekam.

 

 

Nach Schulschluss schnappte ich mir meinen Ranzen und lief los, als wenn der Teufel hinter mir her wäre. Manchmal holte er mich ein. Nachdem er zwei- oder dreimal an meinen Zöpfen gezogen hatte, war für ihn die Sache erledigt. Er drehte sich um und ging grinsend wieder zurück. Nur für mich war es nicht erledigt. Mich ärgerte das weiterhin heftigst. Nachts bekam ich Albträume und meine Angst ging so weit, dass ich nicht mehr zur Schule gehen wollte.

 

Darüber wunderte sich meine Mutter. Sie wusste, wie sehr ich eigentlich die Schule liebte. Sie nahm mich zur Seite und bohrte so lange, bis ich alles unter Tränen erzählt hatte. Meine Mutter war am anderen Tag sofort in der Schule und erzählte der Lehrerin von meinen Ängsten. Mir war das gar nicht recht. Ich wollte sie davon abhalten. Aber meine Mutter resolut, wie sie war, ließ sich nicht umstimmen. Ich hoffte, dass die Lehrerin es bei einer Ermahnung belassen würde, aber weit gefehlt. Damals gab es noch die Prügelstrafe. Sie war noch nicht verboten. Meine Lehrerin ließ den Mitschüler vortreten und ließ den Rohrstock auf seinem Allerwertesten tanzen.

Nein, das wollte ich nun auch wieder nicht. Außerdem hatte ich Angst, dass er es nun noch toller treiben würde. Und genau so war es. Manchmal spielt der Faktor Zufall eine Rolle. Denn der Zufall wollte es, dass ich mir aus Unachtsamkeit zuhause einen meiner Finger in der Tür quetschte. Ich weiß nicht mehr, ob es der kleine Finger oder der Ringfinger an der linken – oder rechten Hand war. Zuerst nahm der Fingernagel alle Farben an, dann löste er sich allmählich. Darunter war schon der neue Nagel sichtbar. Schließlich hing er nur noch an einem Faden. Doch ich traute mich nicht, ihn abzureißen, aus Furcht, dass es mir weh tun könnte.

 

Aber ich hatte eine Idee. Ich dachte, wenn der Horst, so hieß der Schulkamerad, mir morgen wieder an meinen Zöpfen zieht, zeige ich ihm meinen Finger, vielleicht schreckt ihn das ja ab. Für meine Begriffe, sah der Finger wirklich grauslich aus. Und so geschah es. Dieses Mal lief ich nicht weg. Ich blieb stehen und zeigte ihm den Finger. Horst war überrascht und kam nicht näher. Er war es nicht gewohnt, dass ich nicht weglief. Als ich ihm dann den Finger mit dem nur noch an einem Faden hängenden Fingernagel zeigte, fiel der Nagel von ganz alleine ohne mein Zutun ab.

 

Horst blieb mit sprachlos geöffnetem Mund weiter stehen. Und ich selbst völlig überrascht, besaß trotzdem die Geistesgegenwart, mich ganz gemächlich um zu drehen und mich gemessenen Schrittes zu entfernen. Von dem Tag an hat Horst mich nie mehr belästigt. Und mir hat die Schule wieder Freude gemacht. Allerdings glaube ich heute nicht, dass es mein Finger war, der ihn davon abhielt, näher zu kommen. Er wird wohl so überrascht gewesen sein, dass ich keine Angst mehr vor ihm hatte, deshalb ließ er von mir ab. Das Ganze hatte keinen Reiz mehr für ihn.

 

Allerdings habe ich nie verstanden, warum es gerade meine Zöpfe waren, die ihn so reizten. Es gab Mitschülerinnen, die viel schönere , längere und dickere Zöpfe hatten als ich. Auf die Idee, dass er mich einfach gut leiden konnte und das auf diese Art gezeigt hat. bin ich natürlich nicht gekommen. Vielleicht ein kleiner Macho? Aber mir lagen schon als Kind immer mehr die Softies.(lach).

Kommentar mit Folgen

 

Im warmen Sommerwind am frühen Morgen fuhr ich mit meinem giftgrünen Mofa, das eigentlich nur fünfundzwanzig Stundenkilometer fahren durfte, aber mit einer angezeigten Tachoanzeige von rund vierzig Stundenkilometer, entlang der Erft in Richtung Horrem.

Ich genoss die Morgenstimmung, bis ich den Duft von frisch gemähten Wiesen erschnupperte. Dieser eigentlich herrliche Duft verursachte innerhalb von Sekunden einen derartigen Nießanfall, dass ich fast in den letzten Läufer der Gruppe von den Joggern hinein fuhr. 

 Nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, gab ich Gas, so dass sie nur noch mein Katzenauge blinken sahen und erreichte nach rund zwanzig gefahrenen Kilometern kurz vor Unterrichtsbeginn die Berufsschule. Dort wartete bereits Renee, meine Klassenkameradin und erzählte mir, dass ihre Großmutter sich eine neue Nähmaschine zugelegt hatte.

„Dann braucht sie wohl auch keinen Fingerhut mehr?“, fragte ich sie schelmisch.

„Doch, mein Cousin reißt sich irgendwie ständig die Knöpfe von seiner Strickjacke ab“, erwiderte sie mir ernst.

„Die Ärmste!“, gab ich zurück und wischte mir dabei den Schmutz von meinen weißen Turnschuhen.  

„Morgen, Herr Krupp, wie ist denn die Arbeit ausgefallen?“, fragte Jens grinsend.

„Guten Morgen zusammen, es freut mich, dass ich so gut meinen vorgegeben Lehrstoff vermitteln konnte“, antwortete Herr Krupp mit geschwellter Brust und öffnete dabei den verschlossenen Klassenraum.

 

Nachdem ich den Klassenraum betreten hatte, lief ich direkt zu den Fenstern und öffnete sie,  damit die stickige Luft entweichen konnte. Im Anschluss setzte ich mich auf meinem Platz, direkt am Lehrertisch.

Herr Krupp hatte inzwischen unsere korrigierten Politikarbeiten hervor geholt und überreichte sie uns Schülern persönlich mit den Worten:

„Eine sehr gute Leistung!“

Meine Mitschüler und ich, wir grinsten uns nur an und alle sagten brav, als sie ihre Arbeit in Empfang nahmen „Danke“.

Entweder hatte er es nicht gemerkt oder er wollte es nicht, denn er hatte dreizehn fast identische Arbeiten korrigiert und mit Sehr Gut befunden.

Uns war es natürlich recht, außerdem sollte er nicht mit allen Klassen, in der er Unterricht gab, die gleiche Arbeit schreiben. Wir hatten die Vorlage von der Maurerklasse erhalten.

Da es bald Zeugnisse geben sollte, begannen wir nach unseren zu erwarteten Noten zu fragen. Es lief aber darauf hinaus, das wir mehr oder weniger mit Herrn Krupp verhandelten. Mit der Zeit wurde es ihm zu bunt und er erklärte uns, jeder könne sich aussuchen, in welchem Fach, Politik oder Wirtschaftslehre, er das Sehr Gut haben wolle, im anderen Fach gebe er dann das Gut. Egoistisch wie wir alle etwas waren, wollten alle in Wirtschaftslehre die Eins, aber er ließ uns dann Stäbchen ziehen, kurz war Eins in Politik. Ich zog natürlich das kurze Stäbchen.

 

Während wir es uns in der Pause auf der Wiese gemütlich gemacht haben und dabei unser Frühstück verzehrten, meinte ich zu Renee, meiner Sitznachbarin:

„Mal sehen, was Mr. Idiot heute wieder gegen uns hat. - Übrigens müssten wir doch auch den Geländeschnitt zurückbekommen, mal sehen was ich dafür erhalte?“

„Der Schnitt müsste doch in Ordnung sein, schließlich hat Beate, sein Liebling, den gezeichnet. Ihr habt doch lediglich eure Namen getauscht auf den Zeichnungen“, entgegnete mir Renee grinsend.

„Wir werden ja sehen, ich weiß einfach nicht, was ich dem getan habe. Bei der letzten Arbeit hat er mir wieder eine Vier reingewürgt, obwohl achtzig Prozent richtig war“ antwortete ich ihr leise, denn ich sah unseren Lieblingslehrer auf uns zu kommen.

Kurz vor uns bog er aber ab und ging mit einer Rolle Zeichnungen unterm Arm zum Schulgebäude.

Es klingelte und wir beeilten uns, rechtzeitig vor den Klassenraum zu kommen. Wir schafften es, aber unser Liebling Herr Schlömer saß bereits in der Klasse und hatte die Zeichnungen auf seinem Pult ausgebreitet.

Nachdem sich alle gesetzt hatten, verteilte er die Zeichnungen wortlos.

Niemand sagte auch nur einen Ton.

Ich starrte auf die Zeichnung und verlor die Farbe.

„Was ist?“, Renne leise fragend.

Ich schob ihr wortlos die Zeichnung zu und stierte erst mal aus dem Fenster.

„Drecksack“, hörte ich sie leise murmeln und dabei drehte sie sich zu Beate um,

Beate saß zwei Plätze weiter neben ihr. Mittels Handzeichen versuchte sie, zu erfahren, welche Note sie habe. Beate zeigte mit den Fingern eine Eins an. Renee dagegen, erhob  einfach nur die Hand und zeigte ein Full House an. Beate machte ein fassungsloses Gesicht. All das nahm ich aus den Augenwinkeln wahr. 

Bloß jetzt nicht heulen, dachte ich, dem auch noch Genugtuung geben, nee danke.

Ich rollte die Zeichnung langsam ein und steckte sie in meine Tasche.  

Gedankenverloren schaute ich weiter aus dem Fenster bis Renee mich anstupste.

„Was ist?“, flüsterte ich fragend.

„Tafel! Abschreiben“, erwiderte sie sehr leise.

Ich holte mein Heft aus meiner Tasche und begann abzuschreiben.

 

Herr Schlömer ging durch die Reihen und als er wieder hinter seinem Pult vor der Tafel stand, sagte er laut:

„Ihr seid ja noch zu blöd zum Abschreiben!“

„Siehste!“, murmelte Renee mit einem lachenden Gesicht und zeigte mit ihrem Kuli auf mich.

„Man schiebt Nichts von sich auf andere!“, flüsterte ich lachend zurück.

 

„Raus!“, hörte ich plötzlich Herrn Schlömer laut sagen. Verwundert blicke ich auf und stellte fest, das er auf mich zeigte.

„Wieso, was hab ich denn gemacht?“, fragte ich ihn verdattert.

„Raus, wir sprechen uns später!“, entgegnete er mir eisig.

„Warum?“, fragte ich noch mal.

„Auf Wiedersehen!“, war seine Antwort. So erhob ich mich und verließ den Raum ziemlich ratlos.

Nach der Stunde fragte ich Herrn Schlömer höflich noch einmal, weshalb ich herausgeflogen sei.

„Man schiebt Nichts auf andere“, antwortete er mir knapp und wollte schon den Raum verlassen, doch ich sprach einfach weiter und sagte ihm, ich hätte doch nur Renee geantwortet, weil sie mich hochnehmen wollte. Doch er ging einfach weiter und sagte dabei:

„Du hattest mich gemeint. Punkt und Schluß jetzt.“

Damit verließ er den Raum und ließ mich einfach stehen.

Als unser Klassenlehrer eintrat, wendeten wir uns an ihn und erzählten das Vorgefallende.

„Ich werde mit ihm sprechen“, versprach er uns. Im Anschluss sammelte er das Geld für unseren Ausflug zur Deubau ein und erzählte uns, dass auch ein Computer vorgestellt werden sollte, mit dem man Zeichnungen anfertigen könne.

 

Nach Schulschluss standen wir Schüler zusammen und fragten uns, wen es nächste Woche treffen würde, ausgenommen natürlich seiner vier Lieblingsschüler, die es ja nie getroffen hat. Die Quittung erhielt ich schließlich mit meinem Abschlusszeugnis, hinterhältig wie er war hat er meine Tiefbaunoten in die Mathenote eingebracht. 

Leider haben wir früher nicht den Mut aufgebracht, uns richtig gegen sein Mobbing  zu wehren und Unterstützung von unseren Eltern war leider eher selten.

Mausgeschichten

 

Ich wurde 1969 eingeschult. In dem Jahr, als der erste Mensch einen Schritt auf den Mond wagte, wagte ich den ersten Schritt in die Schule. Da ich vorher in keinem Kindergarten war und die Einschulung knappe zwei Monate nach meinem 6. Geburtstag stattfinden sollte, musste ich mich zuerst einem Eignungstest unterziehen.

Es war damals durchaus nicht selten, dass Kinder im Vorschulalter nicht in den Kindergarten gingen. An viel aus diesem Test kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich musste Fragen beantworten, Bilder zuordnen und Farben erkennen. Aber eines weiß ich noch ganz genau. Ich musste ein Bild von meiner Familie malen. Ich bekam eine Unmenge von Buntstiften und ein riesiges Blatt Papier.

 

Ich malte also meine Mutter, meinen Vater, meinen Bruder, meine Schwester und mich. Und zum Schluss noch meine Oma, die ich fast vergessen hätte. Als die Frau, die den Test durchführte das Bild sah, musste sie lachen. Ich wusste nicht, was jetzt so komisch an meiner Familie war. Doch die Frau sagte nur lächelnd: „Das ist ein sehr schönes Bild.“

Erst danach erfuhr ich von meinen Eltern, was sie so amüsiert hatte. Ich hatte meinem Vater eine Elvistolle verpasst. Seine Frisur war in echt natürlich damals nicht so extrem, wie die von Elvis Presley, doch im Ansatz ähnlich. Erst sehr viel später erfuhr ich dann auch, dass man mir eine sehr gute Auffassungs- und Beobachtungsgabe bescheinigt hatte.

 

Ich kam also in die Schule und hatte schreckliche Angst davor. Das war auch nicht gerade unbegründet. Meine Schwester und mein Bruder, beide älter als ich, gingen ja bereits zur Schule. Wenn sie nach Hause kamen, waren erst mal Hausaufgaben angesagt. Nix mehr mit Leben, frei wie der Wind. Und von den Erwachsenen wurde die Schule auch eher als Drohung benutzt. „Wart nur, wenn du in die Schule kommst!“, war damals so was wie der Lieblingssatz, wenn man mal wieder nicht artig war. 

 

Kein einziges Kind, mit denen ich zum ersten Mal das Klassenzimmer betrat war mir bekannt. Ich kannte ja nur die Kinder aus der Nachbarschaft. Und das einzige in meinem Alter, das mit mir eingeschult wurde, kam in die Parallelklasse. Natürlich waren meine Mutter und meine Oma dabei, doch die Erwachsenen wurden schon nach kurzer Zeit aus der Klasse geschickt. 

Wir waren allein mit Herrn Kunert. Ein etwas älterer Herr, den ich im Laufe der Zeit sehr zu schätzen gelernt hatte. Er war so ein richtiger Großvatertyp. Wir schauten ihn also alle gebannt an, abwartend, was passieren würde. An den ersten Satz, als er mit uns alleine war, kann ich mich noch erinnern. „Habt ihr Tiere?“ Betretenes Schweigen. „Ich meine Haustiere.“

 

Einige meldeten sich zögerlich, sagten, dass sie einen Hund hätten oder eine Katze oder einen Hamster. Herr Kunert hörte sich das alles an und als wieder Schweigen herrschte, begann er zu erzählen. Er erzählte von seinen Katzen. Wie sie ihm Streiche spielten und was er sonst noch alles mit ihnen erlebte. Es waren lustige Geschichten und so war das Eis gebrochen. Von dem Zeitpunkt an war er nicht nur unser Lehrer, sondern unser Freund. 

Es bürgerte sich nun so ein, dass er vor jedem Unterrichtsbeginn eine kleine Geschichte von seinen Katzen erzählte. Eines Tages, ich weiß nicht mehr wie und warum, kam ich auf die Idee und meldete mich. „Ich weiß eine Mausgeschichte“, verkündete ich. „Du hast eine Maus?“, wollte er wissen. „Nein“, antwortete ich. „Aber ich weiß eine Geschichte.“ „Auch gut“, sagte er. „Dann erzähl mal!“ Und so erzählte ich vor versammelter Klasse meine erste erfundene Mausgeschichte.

 

Es wurde fast so etwas wie ein Ritual. Natürlich fiel mir nicht täglich eine neue Geschichte ein, doch ich tat mein Bestes. Nun war es so, dass ich damals zu Anfang noch von meiner Oma zur Schule begleitet wurde. Es gab auf dem Schulweg eine ziemlich gefährliche Kreuzung, die zwar mit Ampeln versehen war, doch wir mussten das zuerst mal verinnerlichen, dass wir nur bei Grün gehen durften und dann aber auch noch schauen mussten, ob die Autos auch tatsächlich hielten. 

 

Eines Morgens kamen wir also an der Schule an und einige meiner Klassenkameraden standen in einer kleinen Gruppe vor der Schule. Einer von ihnen kam auf mich zugelaufen und fragte, ob ich wieder mal eine Mausgeschichte erzähle.  Meine Oma fiel aus allen Wolken. „Er macht was?“, rief sie. „Herr Kunert erzählt von seinen Katzen und der Roland eine Mausgeschichte“, antwortete der Junge eingeschüchtert.

 

 

Ich musste mir eine ordentliche Standpauke anhören. Was mir einfiele, überall herum zu erzählen, wir hätten Mäuse. Wir hatten keine Mäuse. Ich könnte doch nicht einfach Geschichten erfinden. Was sollten denn bloß die Leute denken. Herr Kunert stellte in einem der folgenden Elternabende klar, dass er nichts Schlimmes dabei fände, wenn Kinder ihre Fantasie nutzten. Und meine Eltern fanden das Ganze auch nicht so schlimm, wie meine Oma.

 

Jedenfalls, von diesem Zeitpunkt an habe ich keine Mausgeschichten mehr erzählt. Leider kann ich mich auch an keine einzige dieser Geschichten erinnern. Und ich hatte beschlossen ab diesem Zeitpunkt alleine zur Schule zu gehen. Ich wurde ein Stückchen erwachsener. Doch ich hatte auch beschlossen, dass ich tief in mir drin immer Kind bleiben werde. Und eines Tages würde es wieder erfundene Geschichten von mir geben.

Ich bin die Neue

 

 

 

Erst gestern unterhielten wir uns auf einer Geburtstagsfeier über das unterschiedliche Bildungssystem in unserm Land. 1965 erhielt ich einen unerwarteten Einblick.

 

 

Meine Familie musste aus persönlichen Gründen innerhalb weniger Wochen von NRW nach Bayern ziehen. Gerade war ich nach den Osterferien in die 5.Klasse gekommen. In Bayern begann aber erst im Herbst das neue Schuljahr. Also hieß es, erst mal eine Klasse zurück. Was im Nachhinein aber gar nicht so schlimm war. Nur das ungewohnte Singen gefühlvoller Heimatlieder trieb mir am Anfang noch vor Heimweh die Tränen in die Augen.

 

Die 4. Klasse war an meiner neuen Schule die letzte Klasse in der Jungen und Mädchen noch zusammen unterrichtet wurden. Dann trafen wir die Jungs nur noch in der Pause, oder einige Auserwählte wenn sie unsere ersten Kochversuche genießen durften.

 

Ich bekam Gottseidank einen sehr verständnisvollen Lehrer. Er ersparte mir das Lernen der deutschen Schrift, da diese dann sowieso nicht mehr gebraucht wurde. In Heimatkunde wurde gerade die Würzburger Festung behandelt. Auch dieses Fach kannte ich von meiner alten Schule nicht. Zum Verhängnis wurden mir meine dürftigen Handarbeitskenntnisse. Und dazu noch eine griesgrämige Handarbeitsschwester.

 

In NRW mussten unsere Eltern mindestens alle zwei Jahre neue Schulbücher kaufen. Was ihnen bestimmt nicht immer leicht fiel. Dass ich einen Bruder eine Klasse über mir hatte nutzte mir wenig. Ich kann mich nicht erinnern, jemals Bücher von ihm übernommen zu haben. Aber in Bayern war das anders.

 

Dort bekam man die Schulbücher als Leihgabe der Schule. Doch was für ein Unterschied! Nicht nur die Bücher waren alt, sondern teilweise auch der Inhalt. In meinem Lesebuch gab es plötzlich keine bunten Bilder und lustigen Gedichte und Geschichten mehr, sondern die Gedichte älterer Literaten und Geschichten wie „Een paar Klömpkes, twee paar Klömpkes …., die Geschichte holländischer Eltern, die jeden Abend die Holzschuhe ihrer Kinder zählten, um festzustellen ob alle da waren. Warum mir gerade diese Geschichte im Gedächtnis blieb? Weil sie in einem bayerischen Lesebuch stand.

 

Bei meinen neuen Mitschülern war ich schnell integriert. Und der Unterrichtsstoff machte mir sonst auch keine Probleme. Außer die Sache mit dem scharfen s. Aber das erst ab der 5.Klasse. Wir hatten in NRW schon solange ich wusste dieses ß. Aber in Bayern gehen eben die Uhren anders.

 

 

Dort hatte man noch die alte Schreibweise. Und so bekam ich bis zur „Anpassung“ jedes Mal einen halben Fehlerpunkt. An Nonnen als Schulschwestern musste ich mich auch erst gewöhnen. Wobei es sich da wohl nicht um ein bayerisches Phänomen  handelt. Dafür aber bei der Bezeichnung Pfarrer für den katholischen Geistlichen. In meiner alten Heimat war das der Pastor. Kein Wunder das man mich zuerst für evangelisch hielt.

 

Ich sprach übrigens reinstes Hochdeutsch als ich nach Bayern kam. Das hat sich mit der Zeit allerdings etwas geändert. Doch noch in der Wirtschaftsschule konnte man meine Herkunft heraushören. Und ich wurde von manchen um meine klare Aussprache beneidet. Dort allerdings ging sie langsam verloren. Denn jede Ecke in Franken hat ihren Dialekt. Und in dieser Schule kamen viele verschiedene zusammen. Wenn auch nur im Ansatz. 

Eine Filzlaus will Lehrer werden

 

„Guten Morgen!“ Unser Direx kam mit weit vor gestrecktem Bauch in die Klasse geschritten, zwirbelte mit der rechten Hand seine Rotzbremse und baute sich vor der Tafel auf. Erwartungsvoll ließ er seinen Blick über uns schweifen.

„Guten Morgen, Herr Krause!“, antworteten wir gehorsam im Chor.

Uns allen war klar, dass dieser Mann nicht ohne Grund zu uns in die Klasse kam. Wir hatten mehrfach Grund zu der Annahme, dass er Kinder nicht besonders mag und er den Kontakt zu den Klassen mied, wo es nur ging.

Aber er ließ uns nicht lange warten. „Ich möchte euch jemanden vorstellen!“

Wie auf Kommando kam ein junger Mann in die Klasse gehetzt. Er trug eine abgewetzte Lederjacke, eine neu glänzende Mappe und ein recht dümmliches Gesicht zur Schau. Verlegen wischte er sich mit der freien Hand über die Stirn. Dann trat er nervös von einem Bein auf das andere.

„Das ist Herr Häußer. Er befindet sich im Studium. Mit diesem ist er so gut wie fertig und heute tritt er an unserer Schule sein Referendariat an. Er wird die Fächer Sport und Geschichte in drei Klassenstufen Schritt für Schritt übernehmen.“

Unter uns kam bereits abfälliges Gemurmel auf. Endlich hatten wir fachlehrertechnisch auch mal Glück und dann wurde so ein Neuling auf uns los gelassen.

Mit einem Räuspern verschaffte sich unser Direktor wieder Gehör: „Bitte benehmt euch! Herr Häußer ist ab jetzt eine Autoritätsperson für euch!“ Und schon verließ der Direx den Raum fast fluchtartig.

Herr Häußer trat unruhig von einem Bein auf das Andere und ließ den Blick durch die Klasse schweifen.

Wir starrten ihn gebannt an und erwarteten eigentlich, dass er zumindest selber mal ein paar Worte zu sich sagt. Das tat er aber nicht. Statt dessen fixierte er die Jungs in der hintersten mittleren Bankreihe und schritt dann leicht unsicher auf sie zu.

„Setzt euch bitte woanders hin. Ich hospitiere anfangs nur und möchte das Geschehen von hinten betrachten.“

Die Jungs waren erst einmal wie erstarrt und zu keiner Regung fähig. Auch wir beobachteten die Szene gespannt. Ausgerechnet diese beiden Jungs brachte er gegen sich auf. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

„Was ist denn jetzt bitte? Ihr könnt euch doch da drüben hinsetzen.“

Die Jungs taten nichts dergleichen. Statt dessen sagte einer: „Da können wir aber nicht nebeneinander sitzen. Das wollen wir aber, weil wir uns nämlich gegenseitig helfen.“

Der Referendar riskierte eine ganz schöne dicke Lippe, als er meinte: „Dann helfen euch eben eure neuen Banknachbarn. Und jetzt macht bitte die Bank frei!“

Wir schnappten alle erschrocken nach Luft. Erst war der Typ unsicher ohne Ende und dann urteilte er über Schüler, von denen er noch nicht einmal den Namen kannte. Der Typ hatte sie nicht mehr alle.

Trotzdem blieben die Jungen sitzen, wo sie waren. Sie trieben es sogar auf die Spitze, indem sie den Herrn neben sich einfach ignorierten, ein Schulheft raus nahmen und sich gemeinsam auf die nächste Schulstunde einstimmten, indem sie ihr Referat noch einmal durchgingen.

Wir anderen waren alle mehr als gespannt, wie der Typ auf dieses Spielchen reagierte. Bisher hatten die Lehrer alle spätestens an dieser Stelle aufgegeben. Dieser hier aber nicht. Demonstrativ nahm er die Tasche, die vor seinen Füßen stand, und brachte sie einfach zu einem freien Platz. Dann kehrte er zu dem Tisch, den er so begehrte, zurück und ließ seine Mappe vor dem Jungen auf die Tischplatte klatschen. „So, deine Tasche wäre dann schon mal umgezogen. Wenn du jetzt bitte die Höflichkeit hättest, diesen Platz frei zu machen!“ Sein Gesicht fing schon an, rot anzulaufen, vor lauter Wut. „Der Herr Direktor hat doch gesagt, dass ich eine Autoritätsperson bin. Also bitte akzeptiere diesen Umstand und mach was ich sage!“

Erst jetzt erhob sich der Junge langsam, packte seine Sachen zusammen und trollte sich zu dem ihm zugewiesenen Platz. Aber nur, um seine Tasche von da weg zu holen und sich woanders zu platzieren. Sofort begann er, mit seinem neuen Banknachbarn zu tuscheln und dieser setzte sich dann auf den Platz, wo der Referendar die Tasche platziert hatte. In dem Moment räumte dann auch der zweite Junge seinen Platz und konnte sich wieder neben seinen Kumpel setzen.

Das schien dem Herrn wohl auch nicht recht gewesen zu sein. Sofort polterte er los: „Ich habe nicht gesagt, macht eine neue Sitzordnung, sondern ich wollte lediglich diesen Platz hier haben. Hey du, komme zurück!“ - Damit meinte er wohl den zweiten Jungen. Der war aber schon wieder in den Stoff des Vortrages vertieft.

Der Referendar ließ es dann auch bleiben, weiter Unruhe zu stiften, richtete sich auf seinem Platz ein und schon kam unser Geschichtslehrer und der Unterricht konnte beginnen.

 

Die Tage zogen ins Land. Der Referendar schwebte jeden Morgen, wie ein böses Omen, in unsere Klasse, nahm seinen Platz in der hintersten Bank ein und war ansonsten still wie ein Mäuschen. Wenn es nicht in jedem Fach bei einem neuen Lehrer Ärger gegeben hätte, wegen der neuen Sitzordnung, hätte man glauben können, der Typ war nur ein böser Traum. - Aber irgendwann hatte auch jeder Fachlehrer akzeptiert, wie wir jetzt saßen und so langsam schien wieder so etwas wie Normalität einzukehren.

Der Referendar hospitierte in den Stunden, die er als Lehrer übernehmen sollte und wenn er durchs Schulhaus lief, brachte er die Zähne nicht auseinander. Wir hielten ihn alle für hochgradig eingebildet und hatten so nette Spitznamen wie „Eierkopf“, „Filzlaus“ oder „Versuchskaninchen“ für ihn. Wir machten uns über ihn und seine Art lustig und glaubten, dass dieser ziemlich belustigende Zustand jetzt anhalten würde. - Aber das war leider nicht so, denn eines Tages kam er, der Moment, an dem die Filzlaus den ersten Geschichtsunterricht abhalten sollte.

 

„Guten Morgen zusammen!“ rief es von der Tür und schon stand die Filzlaus am Lehrertisch und ließ einen Packen Bücher und Papier auf die Tischplatte knallen.

Uns wurde ganz anders, als wir mitbekamen, dass die Zeit mit dem fähigen Lehrer nun vorbei sein sollte und wir die Versuchskaninchen für diesen Anfänger wären. Aber zu unserer Erleichterung stellte sich heraus, dass unser Fachlehrer erst einmal noch in der Klasse blieb, wenn die Filzlaus ihren Unterricht abhielt.

Schon in der ersten Stunde machte die Filzlaus keine wirklich gute Figur. Er stand vorn, zermalmte ein Stück Kreide in der einen Hand und las von einem Blatt Papier in der anderen Hand ab. - Zwar setzte er an der Stelle an, an der wir in der vorangegangenen Stunde aufgehört hatten, aber wie gesagt, er las es lediglich ab. Und wenn er nicht stur auf sein Blatt starrte, malte er ein Tafelbild an, welches er aus einem Notizbuch Stück für Stück kopierte. - Nicht nur mir, sondern auch dem Rest der Klasse wurden die Augenlider von Minute zu Minute schwerer und die meisten hatten sich längst eine andere Beschäftigung gesucht. Der Typ hielt seinen Monolog und wir langweilten uns gewaltig.

Das Resultat bekam er zum Ende der Stunde. Denn unser Fachlehrer bekam wohl mit, was bei uns los war und sprang zehn Minuten vor Ende ein und war der Meinung, wir sollten doch einen kleinen Test schreiben, über das, was wir in der Stunde behandelt hatten. Er gab uns eine Frage, die wir beantworten sollten und sammelte die Blätter dann zum Stundenende ein. - Das Ergebnis bekamen wir dann zu Beginn der nächsten Stunde. Eine wirklich ziemlich angefressen aussehende Filzlaus musste einsehen, dass diese Form von Unterricht nichts brachte. Wenn der Test benotet worden wäre, hätten wir alle die wohl schlechtesten Noten ever bekommen.

Die Filzlaus hatte sich nun sämtlichen Respekt in der Klasse verspielt. Ein Unterricht war mit dieser Person nicht mehr möglich. Immer war unser Fachlehrer mit im Raum und unterrichtete nicht nur uns, sondern auch die Filzlaus...

 

Aber das war nur der Geschichtsunterricht. Da war ja noch das Fach „Sport“ welches er unterrichten wollte. Wir alle fragten uns, wie er da Monologe abhalten wollte... Aber der Sportunterricht war eine ganz andere Klasse für sich.

Zunächst einmal war er auch hier nur Hospitant. - Da es draußen gerade kalt und winterlich war, übten wir in der Halle Geräteturnen. Die Filzlaus musste also Hilfestellungen geben. Sichern beim Bockspringen und Vorturnen, wenn wir eine neue Übung machen sollten.

So schlacksig und komisch dieser Typ auch aussah, turnen konnte er. Wo er sich allerdings leicht dämlich anstellte, war die Hilfestellung bei den Jungen am Barren. - Als er dann allerdings auf die Mädchen los gelassen wurde, sah die Sache schon ganz anders aus!

 

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Wir waren sehr viele Mädchen in der Klasse und wurden deshalb in drei Gruppen aufgeteilt. Jede Gruppe machte jeweils eine Viertelstundelang Bodenturnen, Übungen auf dem Schwebebalken oder am Stufenbarren. Beim Bodenturnen und am Schwebebalken ließ er uns vollkommen freie Hand. Wir durften turnen wie wir wollten, Hauptsache: wir bewegten uns irgendwie. Allerdings legte er auf den Stufenbarren besonders viel Wert. Seine Lieblingsübung war der Hüftaufschwung am oberen Holm. - Eine Übung die nicht jeder kann, die sich auch nicht jede von uns zutraute, die er aber von allen verlangte.

„Ich helfe euch, jeder schafft das!“, versuchte er uns zu motivieren. Problem an der Sache war nur, dass wir noch immer kein besonderes Vertrauen in die Filzlaus gefasst hatten.

 

Auch im Sportunterricht stellte er sich als kein sehr guter Lehrer heraus. Schon während der ersten zwei Stunden mit ihm als Lehrer, gab es unter uns Mädchen zwei Verletzte. In der einen Stunde fiel eine von uns so unglücklich vom Schwebebalken herunter, dass sie sich das Fußgelenk brach und nun mit einem Gipsbein von Klassenzimmer zu Klassenzimmer humpelte. In der nächsten Stunde ging beim Bodenturnen eine Rolle rückwärts gründlich schief und die Betreffende verrenkte sich die Schulter. Ihre Schmerzen waren so schlimm, dass sie nicht zur Schule kommen konnte.

Die Filzlaus hatte wohl einen Einlauf bekommen, denn schon in der dritten Stunde wurden wir im Bodenturnen und auf dem Schwebebalken benotet und alles wurde weggeräumt. Von nun an mussten wir also alle mal am Stufenbarren herumturnen, während der Rest von uns dabei auf der Bank sitzen musste und zusah.

Das war dann schon die Zeit, in der die Jungen im Sportunterricht an die frische Luft durften. Sie machten Leichtathletik und hatten einen riesigen Spaß im Unterricht, wenn sie die letzten fünfzehn Minuten noch Fußball spielen durften.

Wir Mädchen quälten uns nun schon geschlagene vier Wochen am Stufenbarren herum. Die Filzlaus war der Meinung, dass er das so lang mit uns durchexerzieren würde, bis ausnahmslos jede von uns den Hüftaufschwung am oberen Holm ohne Hilfestellung hinbekäme.

Dadurch, dass wir nun alle beim Üben zuschauen konnten, fiel uns auch endlich auf, dass die Hilfestellung bei der Filzlaus schon sehr unkonventioneller Natur war. Während unser eigentlicher Fachlehrer beim Hüftaufschwung seine Hand am unteren Rücken der Turnerin liegen hatte, lagen die der Filzlaus immer direkt auf dem Hintern. Seine Finger konnten immer eine Pobacke so richtig schön stützen. - Die Frage war nur, ob das auch wirklich in der Form nötig war.

Während unser eigentlicher Fachlehrer uns immer so von einem Holm zum anderen greifen ließ, wie wir das gern machen wollten, verlangt die Filzlaus einen Schwung, in dem wir umgreifen sollten. Dabei ruhte immer seine Hand auf dem Oberschenkel der Turnerin, welcher über den Holm geschwungen war.

 

Es wurde im Verlauf dieser Übungsstunden immer wärmer draußen. Alle Klassen, die von einem richtigen Lehrer unterrichtet wurden, machten inzwischen draußen Sport. Ausdauerlauf, Kugelstoßen, Weitwurf, Weitsprung und und und... nur wir, die Versuchsklasse, waren mit der Mädchenriege noch immer am Stufenbarren.

So langsam begann sich bei uns Unmut breit zu machen. Zum Einen ging uns langsam aber sicher auf, dass uns die Filzlaus einfach nur begrapschen wollte, so stellte es sich für uns zumindest dar, und zum anderen waren einige unter uns, die sich mit Leichtathletik endlich ihre Sportnote etwas aufbessern wollten.

Die erste Beschwerde brachten wir bei unserem eigentlichen Sportlehrer vor. - Dieser konnte uns aber nicht weiter helfen, da er ja nun nicht mehr für uns Mädchen zuständig war.

Wir Mädchen zogen nun also weiter zu unserer Klassenlehrerin. Diese wollte mit der Filzlaus reden. Aber ob sie es je getan hat, konnten wir nicht heraus finden, weil wir weder einen besseren Sportunterricht, noch eine irgendwie veränderte Filzlaus bekamen.

Auch die Jungen mischten sich so langsam aber sicher in die Sache ein, denn ihnen fiel auf, dass wir noch immer am Stufenbarren herumhingen. - Sie besuchten uns immer mal wieder kurz in der Halle. Und bei so einem Besuch kam es auch um Eklat:

Die Filzlaus hatte sich für den Unterricht richtig schick gemacht. Er trug eine schwarze Radlerhose und ein fast bauchfreies Shirt an diesem Tag. Allein für dieses Outfit erntete er schon den einen oder anderen Lacher. Doch aus diesem Lacher wurde dann ein Schock! - Wir alle waren zwischen 12 und 13 Jahren alt. Junge Mädchen, die langsam aber sicher wussten, wo der Hase lang läuft. Und so eine enge Hose kann wirklich sehr, sehr viel verraten.

Eine von uns turnte gerade ihre Übungen durch. Dann kam es zu dem Teil, in dem sie Hilfestellung benötigte. Die Filzlaus legte also zunächst die Hand auf den Oberschenkel. - Das Mädchen brach die Übung sofort ab und schrie: „Jetzt nehmen sie endlich Ihre Griffel von meinem Bein! Noch ein Stück und sie greifen mir in die Hundert!“ - Betretenes Schweigen bei uns, empörtes Gesicht bei der Filzlaus. Er entließ sie und die nächste musste ran.

Ausgerechnet Clara war das Opfer. Sie war zwar rank und schlank, sportlich gebaut und nicht gerade unansehnlich, aber Geräteturnen war einfach nicht ihre Stärke. Und gerade der Stufenbarren machte ihr immer eine höllische Angst. Trotzdem schritt sie todesmutig auf das Gerät zu und begann langsam und konzentriert ihre Übungen. Die Filzlaus gab auf ihre übliche Art Hilfestellungen und bekam nicht mit, dass wir mal wieder Jungenbesuch in der Halle hatten. - Im Nachhinein war es aber ganz gut, dass wir den Besuch hatten, denn die Filzlaus wurde wohl irgendwie erregt durch die Hilfestellungen. Seine Radlerhose begann sich an einer wirklich sehr verräterischen Stelle erst auszubeulen, und keine Minute später hatte er ein richtiges „Zelt“ in der Hose. Das kurze Shirt war rein gar nicht dazu geeignet, solch verräterische Spuren zu verstecken. Allerdings hatte das die Filzlaus auch nicht vor. Denn Clara hatte ihre Übungen vollendet und trollte sich zum Ende der Bank, als sich die Filzlaus mit leicht gespreizten Beinen und in die Hüften gestemmten Händen vor uns aufbaute und nach der Nächsten verlangte.

„Los, jetzt du!“, sagte er zu Manu.

„Nee, ganz bestimmt nicht!“, meinte Manu nur und blieb sitzen.

„Alles klar, entweder wir Turnen jetzt die Übungen durch, oder du bekommt eine sechs!“

In dem Moment kam aber unser Fachlehrer in die Halle. Er bekam wohl nur den letzten Satz von der Filzlaus mit und sah die Bescherung in seinem unteren Bereich. - Unser Stufenbarrendauerschleifenunterricht war an dieser Stelle jedenfalls beendet.

 

Was genau passiert ist, bekam niemand mit. Ich weiß nur noch, dass wir den Rest dieser Stunde ganz freiwillig mit den Jungen Fußball gespielt haben. Das Ganze ging ohne Streit und ohne Lehrer ab, denn unser Fachlehrer hatte sich die Filzlaus geschnappt und war mit ihr im Schulgebäude verschwunden.

Unseren Respekt hatte die Filzlaus an diesem Tag komplett verloren und an einem Freitag holten wir zum finalen Schlag aus.

 

Es gab an diesem Tag Mohrenköpfe in der Schulspeisung. Und diese Mohrenköpfe haben es ja an sich, dass sie wirklich sehr, sehr süß und klebrig sind. Entweder man mag diese Dinger oder man hasst sie. - Jedenfalls war an diesem Tag jede Menge Nachtisch übrig, sodass einige fünf oder sechs solcher Dinger bekamen.

 

 

Aber auch dem größten Süßmaul wird von zu viel Mohrenkopf irgendwann einmal übel und man begann mit den Teilen zu handeln. Wir handelten und feilschten auch noch, als die Filzlaus mal wieder in Form eines Geschichtslehrers auf uns los gelassen wurde. Er kam in die Klasse, in der es an diesem Tag wirklich sehr lautstark zuging und versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Da wir aber keinerlei Respekt mehr hatten, hatte die Filzlaus null Erfolg mit seinen Bemühungen. Irgendwann hat es ihm wohl gereicht und er fing an zu schreien. Aber nicht lang, denn in dem Moment flog der erste Mohrenkopf an ihm vorbei und blieb an der Tafel kleben. Schlagartig war Ruhe in der Klasse. Nur die Filzlaus wollte jetzt den Täter heraus finden. „Wer war das?“, presste er mühsam hervor. Man konnte seine Anspannung richtig sehen.

Am Ende waren wir es alle, denn in dem Moment flogen noch mehr Mohrenköpfe. Aus allen Ecken der Klasse tauchten diese Dinger plötzlich auf und landeten als klebrige braun-weiße Klumpen an der Tafel.

 

Die Filzlaus verließ den Raum an diesem Tag zum letzten Mal, denn sie wurde nie wieder an unserer Schule gesichtet.

 

Was die Sauerei im Klassenraum angeht, die mussten wir natürlich weg machen. Aber erstaunlicherweise waren wir uns da mal alle einig und erledigten das in der nächsten Stunde einfach gemeinsam. Die wäre sowieso ausgefallen, weil wir dann nämlich Sport gehabt hätten, eine Stunde, die die Filzlaus mal allein leiten sollte, weil unser Fachlehrer an dem Tag nicht im Haus war...

 

 

 

Für eine Handvoll Formeln

 

Das Schuljahr 1987/ 88 entpuppte sich für mich persönlich als Katastrophe. Lehrerwechsel standen an. Um zu verhindern, dass ich denselben (in ihren Augen furchtbaren) Klassenlehrer wie mein älterer Bruder bekam, setzte meine Mutter durch, dass ich in die gymnasiale Parallelklasse versetzt wurde. Dadurch riss sie mich aus der Gruppe, mit der ich seit der Grundschule befreundet war. 

Sie hatte es gut gemeint, da bin ich mir sicher. Doch heute noch spüre ich etwas wie einen Knoten im Magen, wenn ich an die zwei Jahre denke, die ich in dieser für mich fremdgebliebenen Klasse verbrachte.   Hätte ich mit Herrn O. vielleicht ganz andere Erfahrungen gemacht als mein renitenter Bruder? Ich weiß es nicht. Der Wechsel wurde jedenfalls vollzogen. Nach den Sommerferien kam ich von der 8f in die 9g, in der ich keinen/keine der Jugendlichen näher kannte. 

Die Jungs zeigten sich anfangs durchaus interessiert, die Mädchen eher zickig, abweisend, was sich durch die Kontaktaufnahme »ihrer« Jungen zu mir noch steigerte. Allein Ingrid, eine naturwissenschaftlich begabte Einzelgängerin - die heute in den USA im Bereich der Raumfahrttechnik arbeitet - wurde in diesen zwei Jahren meine einzige wirkliche Freundin. Nun, mag manch einer denken, warum hast Du Dich denn nicht weiterhin mit den Freundinnen aus der alten Klasse getroffen? Das ist das Seltsame, auch Unerklärliche, aber dieses Phänomen existiert bis heute und ich kann es ebenfalls an der Schule beobachten, an der ich arbeite: Die Schüler einer Klasse bleiben häufig unter sich.  So wie die Jungen und Mädchen in der neuen Klasse mir fremd blieben, eine eingeschworene Gemeinschaft bildeten, bröckelten mir bald die Freundschaften der ehemaligen Klasse davon. 

Doch zur eigentlichen Geschichte. Diesen Teil habe ich nur vorangestellt, um die allgemeine Situation darzustellen. Ingrid und ich fanden uns recht schnell. Gegensätze ziehen sich an, das passte wohl auch in unserem Fall. Nicht nur äußerlich, auch vom Temperament her waren wir verschieden. Sie zeigte sich eher behäbig und ruhig, durchdacht, und - wie schon erwähnt - sehr gut in Mathematik, Physik und Chemie.

Ich redete viel, war impulsiv, die Naturwissenschaften lagen mir gar nicht. Dafür glänzte ich mehr in den musischen Fächern und vor allem in Deutsch. Aufgrund dieser unterschiedlichen Ausrichtungen kam uns bald der Gedanke, intensiv zusammen zu arbeiten. Ich korrigierte ihre Referate, suchte heimlich auch bei Deutscharbeiten die Fehler aus ihren Texten. Ließ Ingrid bei Diktaten und Aufsätzen abschreiben. 

Im Gegenzug gewährte sie mir dieses Privileg bei Arbeiten und Hausaufgaben in den naturwissenschaftlichen Fächern. Das rettete mich über eine Weile, vor allem im Physikunterricht von Herrn H.. Dieser hielt mich anfangs wohl für durchaus begabt und eher schüchtern, da ich mich nie meldete, in den Arbeiten jedoch gute Leistungen zeigte. Hinter seinem Rücken wurde Herr H. von den Schülern »Clint« genannt.

 

 

Denn der Enddreißiger hatte nicht allein äußerlich viel Ähnlichkeit mit dem mörderisch coolen und knallharten Cowboy, den Clint Eastwood in einigen Italo-Western mimte. Ich unterstelle dem Lehrer heute wie damals, dass er dieses Image mit Wonne pflegte. Zwar trug er keinen Hut, aber exakt den gleichen Bart und zumeist denselben grimmigen, Lefzen-ziehenden Gesichtsausdruck. Zudem bewegte er sich mit dieser o-beinigen Lässigkeit, zeigte sich gefährlich wie eine Klapperschlange.

 

Ich erinnere mich, dass ich etwa zeitgleich in die Parallelklasse wechselte, als Herr H. an unser Schulzentrum kam. Seine ersten »Amtshandlungen« bestanden darin, sich durch eisige Kommentare und reptilienhaft kalte Blicke Respekt zu verschaffen. So gab er auf die Frage eines Mitschülers, ob der die Toilette aufsuchen dürfe, in herablassendem Ton von sich: »Da merkt man wieder, dass ich bei Milchbubis in der Vorstadt gelandet bin. Darf ich aufs Klo gehen?", äffte er den Schüler nach, um schärfer nachzusetzen: »Bevor ich hierher kam, habe ich in Kreuzberg unterrichtet. Denkt ihr, da fragte einer, ob er zum Pinkeln raus kann? Geh einfach!«

  

Betretenes Schweigen. In Momenten wie diesen fehlte nur noch der Zigarillo im Mundwinkel, den er von einer Seite auf die andere wandern ließ. Aufgrund seiner unnahbaren, frostig-foppenden Art war es stets still in seinem Unterricht, die Atmosphäre geprägt von Vorsichtigkeit. Einige, die verstärkt in sein Visier geraten waren, hatten regelrecht Angst vor ihm. 

Ich schummelte mich recht gut durch, dank Ingrid. Bis zu diesem gewissen Tag im Winter 1987. War es Zufall oder hatte er eine Ahnung? Ich kann es nicht sagen. Aber an diesem Vormittag rief er mich, die sich nie meldete, unvermittelt an die Tafel, an die er eine Formel geschrieben hatte. Diese sollte ich lösen, während ich die Erklärung laut mitteilte.

 

 

 

Mir war, als stoße er mir einen Eiszapfen in die Brust und eine kalte Faust ballte sich in meinem Magen. Ein beklemmendes, mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, als hätte ich eine große Schüssel Würmer geschluckt.  Während ich aufstand und nach vorne zur Tafel ging, fixierten mich seine Augen wie steingraue Kiesel. Sein Blick lähmte fast meine Atmung, wie die eisige Berührung von gefrierendem Wasser.

Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte irgendetwas in seinem Gesicht auf, als ob eine Flamme unter einer Eisschicht aufloderte. Er weiß, dass ich die Aufgabe nicht lösen kann, durchfuhr es mich.  Dann war ich vor der Tafel angekommen, stand mit dem Rücken zur Klasse. Mein Mund war staubtrocken. Übelkeit stieg in mir auf, während meine Gedanken wie panische kleine Tiere in meinem Hirn durcheinander sprangen, verzweifelt auf der Suche nach einem Ausweg.  Sekunden verstrichen, Minuten. Wie aus dem Nichts tauchte Herr H. neben mir auf, fasste mich links und rechts an den Schultern und drehte mich zu meinen Mitschülern um. 

 

Seine Stimme klirrte wie Eis und war zugleich weich wie ein Spinnenpelz: »Was ihr hier seht, ist eine richtig dumme Kuh.« Es fühlte sich an, als hätte er mich mit Eiswasser übergossen. Die zuvor leichte Übelkeit verstärkte sich. Die Scham biss mir in die Kehle, ließ mich den Atem anhalten und mein Herz stolpern. Parallel registrierte ich in Sekundenschnelle sämtliche Reaktionen meiner Mitschüler wie auf einmal: Überraschung, Feixen, unterdrücktes Prusten, Lachen. Unauffälliges Tuscheln. 

 

Auf Ingrids entsetztem Gesicht blieb mein Blick hängen, saugte sich an ihm fest. Die Betroffenheit in ihren Zügen, vor allem in ihren großen, grünen Augen, beruhigte mich seltsamerweise. Bis heute kann ich mir nicht erklären, was im Folgenden geschah, denn es ist mir in dieser intensiven Form kein zweites Mal widerfahren: Es war, als ob ich mich für einen Moment aus Raum und Zeit löste, auch aus meinem Körper. Wie von selbst schritt ich zu meinem Tisch zurück, beobachtete mich dabei von oben, sah, dass ich mein Kinn hob, meine Schultern straffte. Gemessen ging ich, als ob kein Tornado in mir tobte, als ob ich nicht die vielen hämischen Gesichter wahrnahm. 

 

An meinem Platz begann ich meine Sachen einräumen, ähnlich einem Roboter. »Was tust du denn da?« , fragte Herr H. mit scharfem, zugleich irritiertem Unterton. Ich hörte mich sagen: »Ich gehe jetzt zu Ihrem Vorgesetzten und werde ihm erzählen, wie Sie soeben mit mir umgegangen sind.« Ganz ruhig sagte ich es, fühlte in mir eine Leere, der Sturm der Gefühle schien fort. Doch ich musste mich zum Atmen zwingen. Sein »Du setzt dich jetzt sofort wieder an deinen Platz!" ignorierend ergriff ich meine Tasche und bewegte mich auf die Tür zu. Noch immer sah ich mir wie eine Fremde dabei zu. »Du sollst dich setzen!«, fauchte er, als ich die Tür öffnete, hinaus auf den kühlen, kahlen Flur trat und die Tür wieder hinter mir schloss. Ein Schritt nach dem anderen. 

 

Kaum war ich um die erste Ecke gebogen, ließ mich die tröstliche Leere im Stich und die Scham krallte sich erneut in mir fest, zwang mich fast in die Knie. Erst im Zimmer des Schulleiters, in das dieser mich nach dem Anklopfen bat, brachen die Tränen aus mir heraus. Herr M. hörte zu. Fand gute und passende Worte, an die ich mich nicht mehr erinnere. Genauso wenig wie an eventuelle Konsequenzen, die »Clint« vielleicht daraufhin ereilt haben. Er wurde nicht freundlicher im Unterricht, doch er führte die Schüler seitdem weniger heftig vor. 

 

Meinen Eltern habe ich davon nie erzählt, zum einen, weil meine Mutter einen Riesenwirbel veranstaltet hätte, den ich nicht wünschte. Zum anderen, weil ich mich immer noch schämte und mein vorheriges Schummeln hätte zugeben müssen. Ich wollte diesen Vorfall einfach vergessen, ausradieren, auch wenn es nicht gelang.

 

In Physik stand im nächsten Zeugnis eine vier statt einer zwei. Etwas habe ich für mich, die ich zu dieser Zeit bereits Lehrerin werden wollte, aus der Situation mitgenommen. Eine Tatsache stand seit diesem Übergriff unumstößlich fest: Wenn ich später auf der anderen Seite im Klassenraum stünde, sollte nie ein Junge oder ein Mädchen merken, ob ich ihn mag oder nicht. Und ich würde niemanden wissentlich lächerlich machen oder vorführen. Im Falle, dass es doch passiert, nahm ich mir fest vor, mich bei dem Betreffenden zu entschuldigen. Vor allen. Das habe ich mir als Vierzehnjährige geschworen. Und ich habe es nie vergessen.

Summer of Love und ein unvergessenes Schulfest

 

Ein sehr blonder, ein sehr „etwas“ älterer Herr mit sehr komischer Stimme beugte sich über mich. Ich sah in seine wassergetrübten, himmelsblauen Stahlaugen. Unentwegt redete er auf mich ein. Jedes scharf gesprochene S zischte nur so um meine Ohren. „Hömma zu Du Nuss, Du bist ja ganz begabt, aber gibst Dich auch talentiert?“ Die dreckige Lache musste den Untiefen der Hölle entsprungen sein. Demütig hörte ich mich sagen: „Aber Dietör, isch finde disch aber voll fett ok.“

Schweißgebadet wachte ich auf und schaute auf den Kalender, der über meinem kleinen Schreibtisch hing. Erleichtert stellte ich fest, dass es keinen rot angestrichenen Tag gab, an dem ich zum offenen Casting in Bremen erscheinen musste. Casting???

Ich schlug meine Bettdecke zurück und freute mich auf den Tag. Das heutige Datum auf meinem Kalender war mit roten Herzchen versehen. Es zeigte den 18. Juni 1972. Ich war fünfzehn Jahre jung und sehr, sehr verliebt. Seit zwei Monaten „gingen wir zusammen“. Er war der tollste, beste und hübscheste Junge in meiner Klasse. In diesem Jahr erlebte ich meinen ersten „Summer of Love“ und ein unvergessenes Schulfest.

Regie…bitte den 8 mm Film zurückspulen. Danke!

 

Ich ging in die 9. Klasse und die Schule machte mir nicht viel Spaß. Dennoch brachte ich ganz ordentliche Noten mit nach Hause. Es gab zum Leidwesen meiner Eltern Aufregenderes zu entdecken als alte Meister, gekrönte Häupter, Feldherren oder OHMsche Gesetze. Ich hasste Physik. Und Mathe. Wer brauchte so etwas Banales, wo es doch Mode, Schminke, Janis Joplin, Pink Floyd und Sex gab. In diesem Sommer erlebte ich ihn zum ersten Mal. Eine wunderschöne Erinnerung, die ich bis heute in meinem Herzen trage. Frank (Name aus Rücksichtnahme etwas verändert) war meine zweite große Liebe.

 

 

Meine erste große Liebe lag zerknittert und von der Wand abgerissen hinter meinem Jugendklappbett. Dort, wo meine geliebte Mutti nicht zum Putzen hinkam und ich meine Geheimnisse verstecken konnte. Was hatte Bianca, was ich nicht hatte? Mick Jagger hatte einfach die falsche Wahl getroffen. Ich wäre mit Sicherheit die bessere Frau für ihn gewesen. Nächtelang hatte ich mein Kopfkissen vollgeheult und war zutiefst unglücklich. Doofer Mick. Doch dann stand ER vor mir. Mit seinem umwerfenden, etwas spitzbübischen Lächeln fragte er mich in der Schulpause, ob ich Lust hätte, in einer Band mitzumachen.

„Ich?“ ungläubig schaute ich ihn an. „Ja Du“ oder „trauste Dich nicht?“ Am liebsten hätte ich ihn geküsst, aber das traute ich mich nun wirklich nicht. Es war ziemlich blöde schüchtern zu sein. Er merkte es nicht und plapperte und plapperte. „Rainer spielt Schlagzeug, Wolle Gitarre, ich Bass und Du singst.“ Ich lachte laut auf. „Ja klar, ich singe“ Ich zeigte ihm den Vogel. „Ich und singen“.

„Lass es uns probieren“ Franks Stimme hörte sich irgendwie ernst an. Ich überlegte. Lust hätte ich schon und es war DIE Chance, Frank näher zu kommen. Heimlich war ich in ihn verliebt, aber das durfte er natürlich nicht merken. An einem Tag im April 1972 beschloss ich voller Inbrunst und Zuversicht Sängerin zu werden. In Absprache mit der Schulleitung und dem Hausmeister unserer Schule durften wir nach Schulschluss einen Nebenraum der Turnhalle für unsere Proben benutzen.

Ich erzählte meinen Eltern von der Band, aber nichts von Frank. Eine harmlose Schulband. Sie fanden es gut und freuten sich über meine anscheinend neu entdeckte Musikalität. Die ersten Proben verliefen ganz passabel. „In the year 2525, if man is still alive“.  Das Mikrofon samt Ständer stand vor mir und ich übte. „Das wird schon“ Wolle klopfte mir anerkennend auf die Schulter. Sah ich da nicht einen kleinen, sehr gehässigen Blick in seinem Gesicht? „Bis Morgen“ rief er mir zu. Ach was, ich hatte mich geirrt. Frank schaute mich anders an. Bewundernd und ich schmolz dahin.

Der erste, richtige Kuss war aufregend. Wir hatten bis weit in den Abend hinein geprobt und voller Schrecken sah ich auf meine Armbanduhr. „Mist, ich hätte längst zu Hause sein müssen“. Frank bot mir an, mich auf seinem Fahrrad mitzunehmen. Ich setzte mich auf den Gepäckträger und hielt mich an ihm fest. Er trug eine braune Fransenwildlederjacke und der Geruch des Leders zog im Wind an mir vorbei. Ich atmete tief durch und wäre am liebsten die ganze Nacht mit ihm auf dem Fahrrad gefahren.

Als wir vor der Haustür meines Elternhauses standen, zog er mich an sich und zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich Liebe. Seine Zunge glitt so sanft in meinen Mund, ich spürte sie kaum und doch war sie da. Etwas beschämt schaute ich auf den Boden und dann in sein Gesicht. Ich strich über seine braunen Locken und lächelte ihn an. „Bis nachher Kleines“. Ich war glücklich, überglücklich. Mein Herz pochte noch immer, als ich die Eingangstür aufschloss.

Eltern haben manchmal komische Angewohnheiten. Sie verbieten etwas, obwohl das Verbot absolut sinnlos erscheint. Vielleicht müssen Eltern so sein. So garstig. So doof. „So gehst Du aber nicht in die Schule mein Fräulein“ Ich sah an mir herunter. „Ab ins Badezimmer, die Schminke wegwischen und etwas Ordentliches anziehen“ sprach die Feldwebelin in Gestalt meiner Mutter. „Ordentlich“, ich seufzte. Angezogen mit Bluse und Jeans verließ ich mein Elternhaus.

In der Schule angekommen flüchtete ich in den WC Raum. Meine Freundin stand schon vor dem Spiegel und ich zog eine Plastiktüte aus meiner Schultasche. Dabei grinste ich meine Busenfreundin an. Zehn Minuten später war ich fertig für meinen großen Auftritt auf dem Klassenzimmerparkett und die anschließende Probe mit der Band. Die goldfarbenen Samt-Hotpants bedeckten so gerade eben noch meinen Allerwertesten. Das Top war hauteng, eigentlich fast unsichtbar und die Schminke war großflächig im Gesicht verteilt. Same procedure as every schul-day, dank Plastiktüte :-) Eltern waren doch so leicht hereinlegbar. In diesem Outfit konnte ich mich auch nach Schulschluss hinter dem Mikrofon sehen lassen. Frank gefiel ich ebenfalls. “Männer halt” grinste ich in mich hinein.

“ She's got it

Yeah, baby, she's got it

Well, I'm your Venus

I'm your fire, what's your desire”,

trällerte ich ins Mikro. Der Song von Shocking Blue war einer meiner absoluten Lieblingssongs.

Unser Klassenlehrer fragte uns, ob wir nicht Lust hätten, beim diesjährigen Schulfest teilzunehmen. Die Jungs waren begeistert und sagten zu. Ich äußerte leichte Bedenken. Letztendlich fügte ich mich meinem Schicksal und wir probten täglich. Mit jeder Probe stieg mein Selbstbewusstsein und ich sah mich mit einem Helikopter auf eine große Bühne in die USA einfliegen. Ich würde Millionenklicks bei Youtube…..Youtube??? Stimmt ja, wir schreiben das Jahr 1972. Ich legte das Mikrofon beiseite. „Der Song von America ist aber verdammt schwer zu singen“ „Ach was“ Rainer widersprach mir. „Üben, üben, üben. Das haut hin. Du bist toll“ Seine Worte erreichten mich, beflügelten mich. Ich schwebte. Und glaubte an mich. Das Schulfest nahte.

Erinnert ihr Euch? Ich hatte in der Nacht zum 18. Juni 1972 einen bösen Albtraum und wachte dennoch an diesem Morgen des Schulfestes ziemlich verliebt auf. Zwischenzeitlich hatte ich mein "erstes Mal" mit Frank erlebt. Ich sehe jetzt in die enttäuschten Gesichter meiner verehrten Leserschaft, aber hattet ihr wirklich geglaubt, dass ihr von mir jetzt Sexszenen zu lesen bekommt? Ich bitte Euch, was denkt ihr denn von mir? :-) Nur so viel: Es war unbeschreiblich schön, aufregend und unvergessen!

Ich war die Ruhe selbst an diesem Sommertag im Juni. Um mich herum herrschte Hektik. Ein riesiges Gebrabbel zog wabernd durch die Schulaula. Stühle rücken. Die Kostüme für das Theaterstück der 6 - Klässler wurden anprobiert. Eltern, Lehrer, Schüler flitzten hin und her. Applaus für die Kleinen und dann waren wir dran.

Der Saal wurde verdunkelt. Eine riesige Discokugel verschönerte die Saalmitte. Sie drehte sich langsam um ihre Achse. Die Bühne war spärlich beleuchtet. Wolle stand neben mir, Frank etwas abseits und dann erklang die Musik. Ganz zart und sanft. Wolle beherrschte sein Instrument. Ich stand einfach nur da. Die Trompetenärmel meiner dunkelroten Bluse wippten im Takt zu meinem rechten Fuß.

Ich begann zu singen…

On the first part of the journey,

I was looking at all the life.

There were plants and birds and rocks and things,

There was sand and hills and rings.

The first thing I met, was a fly with a buzz,

And the sky, with no clouds.

The heat was hot, and the ground was dry,

But the air was full of sound.

I've been through the desert on a horse with no name,

It felt good to be out of the rain.

In the desert you can remember your name,

'Cause there ain't no one for to give you no pain.

La, la, la la la la, la la la, la, la

La, la, la la la la, la la la, la, la

Mein Herz vibrierte. Rauschgefühle überkamen mich. Das Publikum vor der Bühne verblasste. Es war für mich nur noch schemenhaft zu erkennen. Ich schloss meine Augen und hörte nur noch die Musik. Unsere Musik, meine Musik.

„Lauter, lauter, lauter“ Wo kamen die Rufe her? Ich öffnete meine Augen und sah auf die ersten Stuhlreihen hinunter. „Lauter, lauter, lauter, lauter, lauter“ Was wollten sie? Mein Gesang war laut genug. „Wir hören Dich nicht. Sing lauter“ Ich war irritiert und verhaspelte mich. Der Text des Songs war weg. Einfach ausgelöscht in meinem Kopf.

„A horse with no name“ kam es gepresst durch meine Lippen.

„Aufhören, aufhören“ Ich sah die ersten Daumen nach unten zeigen und kämpfte mit meinen Tränen. Die Welt um mich herum begann sich zu drehen. „Bloß nicht heulen, nicht heulen“ dachte ich und dann schossen mir die Tränen die Wange herunter.

„AUFHÖREN…..“ Die wabernde Masse vor mir schrie mich an. Wo war die große Hand, die mich sanft aufnahm und behutsam von der Bühne holte und mich an einen paradiesischen und friedlichen Ort absetzte. Einen Ort, der mich mochte und das Wort „Aufhören“ nicht kannte. Diese Hand kam leider nicht.

Heulend lief ich von der Bühne, begleitet durch hämisches Gelächter.

Die Beziehung mit Frank endete ein Jahr später. Niemals mehr in meinem Leben betrat ich eine öffentliche Bühne. Das ich einfach nicht singen kann, wurde mir später auch unter der Dusche klar. Fröhlich vor mich hin trällernd vernahm ich laute Geräusche „Platsch, platsch, platsch“ Meine Qietscheentchen ließen sich in selbstmörderischer Absicht wie die Lemminge vom Badewannenrand ins Wasser fallen, um dem fürchterlichen Gesang zu entkommen. Ich kann sie verstehen :-)

Niemand ist so hochgestellt auf Erden

 

 

 

Ich muss immer an diesen Spruch denken, wenn Friedrich von Schiller erwähnt wird. In großen silbernen Lettern hing er an der Backsteinwand der Pausenhalle meiner Schule: 

„Niemand ist so hochgestellt auf Erden, als dass ich mich selber neben ihm verachte“ 

Schiller zog in Hannover 3 mal um, die Schule nicht!

 

Die Schillerschule in Hannover, ein neusprachliches Gymnasium, habe ich von 1972 bis 1979 besucht. Es gab in dieser Zeit einige skurrile Lehrerinnen und Lehrer, von einigen werde ich hier berichten. Da die meisten von ihnen wohl mittlerweile verstorben sein dürften und über sie auf „Stayfriends“ hergezogen wird, dürfte das kein Problem sein.

 

Da war zum Beispiel: Frau G., die Geschichte und Musik unterrichtete. Sie war damals Anfang vierzig, sah aber wesentlich älter aus. Altertümliche Kleidung, graue Haare, die zu einem Dutt geformt waren und eine Nickelbrille. So stellt man sich eine spießige Lehrkraft vor – das war sie auch. Im Musikunterricht gab es für sie nur Klassik und Barock, kein Jazz, Rock oder Pop. Den Unterrichtsstoff leierte sie herunter, was die Schüler daher langweilte. So kann man jungen Menschen den Spaß an Musik nehmen! Da dieser bei mir durch meine „Peter und der Wolf“ - Erlebnisse ohnehin ziemlich reduziert war, tat dieses nicht gerade zur Besserung bei. Ähnlich war es in Geschichte: endlos hielten wir uns mit den alten Griechen und Römern auf und die Geschichtsdaten wurden von ihr abverlangt ohne die wahren Hintergründe zu vermitteln. Dabei ist dieses Fach durchaus spannend, wie ich später bei Kollegen von Frau G. erfuhr. Andererseits hat sie sich als Prophetin erwiesen, da sie schon damals sagte: „Irgendwann wird es eine Wiedervereinigung Deutschlands geben“, damit jedoch nur Gelächter erntete.

 

Ganz anders war Frau M., zuständig für Französisch und Deutsch. Sie war ein paar Jahre älter als Frau G., aber sie gab sich jugendlich. Ihr Unterricht war flott, was ihrer Berliner Kodderschnauze geschuldet war. Sie war Tennisfan, Dalmatiner-Besitzerin und Peugeot-Fahrerin, davon berichtete sie unentwegt. Im Deutsch-Unterricht führte sie uns an Literatur heran, die ich heute noch schätze, so „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf oder „Der Fänger im Roggen“ von J. D. Salinger. In Französisch war ich nie gut, doch sie hatte stets Verständnis für die schwächeren Schüler und vermittelte ihnen Nachhilfeunterricht  von Schülerinnen der höheren Klassen. Allerdings half mir das auch nicht viel, ebenso wenig wie einer Klassenkameradin, in der ich heimlich verliebt war.

 

Kommen wir zu den Fächern, in denen ich wesentlich besser war und die mir mehr Spaß machten, so z.B. Mathematik. Da gab es Herrn F., Anfang Dreißig, der im Kollegium einen schweren Stand hatte. Heutzutage würde man ihn als Nerd bezeichnen. Seinem Fach war er ergeben, auch wenn sein Unterrichtstil aus damaliger Hinsicht recht unkonventionell war. Solche genialen Aussagen wie: „Wir bezeichnen die eine Gerade als die eine Gerade und die andere als die andere“ führten zu großer Heiterkeit der Schüler und brachten ihm des Öfteren Erwähnungen in unserer Schülerzeitung „Die Glocke“ ein. Während der Klassenarbeiten stellte er seinen Stuhl auf das Lehrerpult, um die Klasse besser beobachten zu können. Das machte sonst niemand! Nebenbei unterrichtete er auch noch Sport, eine offenbar beliebte Fächerkombination mit Mathematik. Warum eigentlich? Weil man denn in der Lage ist, die Tore beim Fußball zu zählen? Ich weiß es nicht.

 

Ein weiterer Mathematiklehrer war der kleine und schmächtige Herr L. Er war aber kein Sportler, Physik war sein anderes Fach. Ihn hatte ich erst in den letzten Jahren, in Klasse neun und zehn. Seine Hautfarbe war nicht rosa, sondern grau, was seinem erheblichen Zigarettenkonsum geschuldet war. Bei jeder sich bietender Gelegenheit rauchte er im Unterricht, ideal für Physik, um mit dem Rauch sonst nicht sichtbare Laserstrahlen zu präsentieren. Entsprechend roch er stets nach Aschenbecher. Kaum zu glauben, dass dieser Mann fünf Kinder hatte, darunter ein Zwillingspaar. Wir alle hätten gerne mal gewusst, wie die Frau eines solch äußerlich wenig attraktiven Mannes aussah, wir haben es nie erfahren.

 

Streiche wurde natürlich auch gespielt. So malten jedes Jahr die Abiturienten die Schillerfigur, die im Innenhof stand mit Farbe an. Irgendwann gab die Schulleitung entnervt auf und entfernte das Denkmal. Heutzutage steht es in der hannoverschen Innenstadt, in der Schillerstraße. Immer wenn ich daran vorbeigehe, muss ich an meine alte Schule denken.

 

Ein beliebter Gag war es auch, eine Schraube in die Klassenzimmertür zu stecken, so dass diese nicht geöffnet werden konnte, was den Unterrichtsbeginn erheblich verzögerte. Clevere Lehrer erkannten jedoch schnell, dass mittels eines kleinen Magneten der Störenfried schnell entfernt werden konnte.

 

Wenn ich so an meine Schulzeit zurückdenke, blicke ich auf viele unangenehme Erinnerungen zurück, letztendlich überwiegen jedoch die positiven. Es gab nette Lehrer, die tolle Pädagogen waren, und welche von denen man das nicht behaupten konnte, so z.B. Sportlehrer B., der während der Bundesjugendspiele einen Schüler verprügelte, weil dieser auf der Tribüne des Stadions gelärmt hatte. Folgen für den Lehrer hatte das jedoch nicht.

Achtung Baustelle!

 

Ich war eine gute Schülerin. Unauffällig, pflichtbewusst und zuverlässig. Jedenfalls hatten meine Lehrer mich bei jedem Elternsprechtag zur Freude meiner Eltern genau so beschrieben. Mir war das nicht bewusst. Es war selbstverständlich, die aufgegebenen Hausaufgaben zu erledigen. Etwas anderes kam für mich gar nicht in Frage. Wahrscheinlich hatte ich viel zu viel Angst vor Konsequenzen, wenn ich wissentlich unvorbereitet zum Unterricht erschienen wäre. Das ging viele Jahre so. Ich funktionierte wie ein Uhrwerk.

 

In der Pubertät überfiel mich dann ein leichter Anflug von Schulmüdigkeit. Ich interessierte mich sehr für Musik und übersetzte stundenlang die Texte meiner Lieblingssongs. Ich las die Bravo, wie alle anderen auch, und die Pop-Rocky und was es noch so gab. Ich umrundete unzählige Male auf meinen Disco-Rollern unsere Kleinstadt, fuhr kilometerweit mit dem Fahrrad und genoss ganz einfach das Teenager-Leben. Tee trinken mit Freundinnen stand mehrmals wöchentlich auf dem Plan. Jede von uns hatte inzwischen ein Teeservice mit henkellosen Tassen im asiatischen Stil und eine große Auswahl von aromatisierten Schwarztees. Unsere Lieblingssorte war Wildkirsche. Wir luden uns reihum ein und zelebrierten die Teezubereitung, während wir über das schräge Outfit von Boy George oder den neuesten Song von Bruce Springsteen diskutierten.

 

 

Dass das Gehirn eines Halbwüchsigen sich im Umbau befindet, ist wohl hinlänglich bekannt. Meines war keine Ausnahme. An der Stelle, wo sich andere die Hausaufgaben merkten, klemmte es in meinen Gehirnwindungen. Vermutlich stand da ein gelbes Hinweisschild mit der Aufschrift „Achtung Baustelle“. Oder klaffte dort nur ein riesiges Loch? Keine Ahnung! Mit dem Kopf in einer Wolke aus Tagträumen lief ich durch die Welt. Immer einen Song meiner Lieblingsband auf den Lippen und im Sinn, wie der Soundtrack meines Lebens, hangelte ich mich von den einen Ferien zu den nächsten. Meine Hausaufgaben standen definitiv nicht mehr im Fokus. Es war nicht direkt so, dass meine Noten litten, aber es kam schon häufiger mal vor, dass mir die eine oder andere aufgetragene Übung für Zuhause durch die Lappen ging.

 

Und so kam es, dass ich in Erdkunde nachsitzen musste. Meine Klassenlehrerin, ein „Fräulein“ von der strengen Sorte, nahm mich mit in einen anderen Klassenraum und stellte mich den Schülern mit den bissigen Worten vor:

„Das ist Susannah! Sie holt heute diverse Aufgaben nach, für die sie Zuhause keine Zeit gefunden hat!“

Sehr charmant, dachte ich und errötete kurz, bevor ich mich in der hintersten Bank verschämt ans Werk machte. Die neugierigen Blicke der anderen Schüler versuchte ich, so gut es ging, zu ignorieren.

 

Nicht nur in Erdkunde wurde ich schluderig. Auch Herr Berg, mein Englischlehrer, dessen Markenzeichen ausgebeulte Cordhosen und ein nur mangelhaft in die Hose gestecktes Oberhemd waren, hatte mich inzwischen ein zweites Mal an die Aufgaben aus der vorigen Woche erinnert. Auch der Hinweis auf die Extra-Stunde fehlte nicht. Ich wusste, dass er große Stücke auf mich hielt und spürte förmlich, wie sehr es ihm gegen den Strich ging, mich zum Nachsitzen zu verdonnern. Also versprach ich demütig, die Aufgaben am folgenden Tag vorzuzeigen. Er war einverstanden und ich ging an meinen Platz zurück. Noch bevor mein Hinterteil meinen Stuhl berührte, waren die nachzuholenden Aufgaben und das Versprechen an meinen Englischlehrer ganz tief in Vergessenheit geraten.

 

Es kam wie es kommen musste. Der nächste Tag war relativ unspektakulär, bis mein Englischlehrer durch die Tür kam. Die Erkenntnis traf mich wie ein Hammerschlag und ich wusste, dass ich jetzt fällig war. Das Nachsitzen wäre nicht so schlimm gewesen, aber ich konnte den Gedanken kaum ertragen, meinen Lehrer, der mich wirklich schätzte, zu enttäuschen.

 

„Sabine“ flüsterte ich meiner Zwillingsschwester zu, die praktischerweise neben mir saß.

„Leih mir mal kurz Dein Englischheft.“

Mit einem fragenden Blick zog sie das Heft aus ihrer Schultasche und reichte es mir unauffällig. Ich sah sie dankbar an und schlug es auf und suchte die richtige Seite. Bitte lass die Aufgaben drin sein...bitte....Gott sei Dank, sie hatte die Hausaufgabe erledigt und noch einmal Gott sei Dank, unser Lehrer hatte noch keinen Haken daran gemacht. Warum denn bloß, fragte ich mich. Ach ja, sie war krank gewesen, als die Aufgaben kontrolliert wurden. Ich knickte das Heft in der Mitte um, so dass man den Namen darauf nicht lesen konnte und ging zum Lehrertisch. Dabei versuchte ich, möglichst selbstbewusst auszusehen. Herr Berg sah zufrieden aus, nachdem er „meine“ Arbeit überprüft hatte.

 

„Gut gemacht. Siehste, geht doch.“ Mit einem Lächeln sah er mich lange an, dann wurde sein Blick ernst.

Und ich nervös. 

„Sag mal, Susannah“, er räusperte sich, „hast Du Probleme? Du kannst mit mir darüber reden.“

Ich war irritiert und unpassender weise auch ein wenig amüsiert, was ich mir natürlich nicht anmerken ließ.

„Probleme? Äh, nein, Herr Berg. Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur etwas schusselig im Moment.“

Seine Gesichtszüge entspannten sich und er wandte sich wieder der Klasse zu.

Zurück am Platz wisperte ich meiner Schwester zu:

„Puh, das war echt knapp!“

„Ja, wie gut, dass Deine Schrift fast so aussieht wie meine“, sagte sie.

 

Es sollte noch einige Zeit dauern, bis ich durch die Pubertät hindurch und wieder auf Spur war, was mein Arbeitsverhalten bezüglich Hausaufgaben betraf. Aber Herr Berg war in dieser Zeit der einzige Lehrer, der sich wirklich Gedanken gemacht und mir ein offenes Ohr angeboten hatte. Für die Jugendlichen von heute wünsche ich mir viel mehr Lehrer von dieser Sorte.

Ein Klassenausflug zum Mars

 

Gestatten, mein Name ist Dené. Ich bin Schüler einer 8. Klasse aus dem Jahr 2089 und wohne im Berliner Stadtteil Straußberg im Weg der Astronauten 116. Doch das tut eigentlich nichts zur Sache.

Es ist acht Uhr in der Frühe und höchste Zeit zum Aufstehen. Mich erwartet ein besonderer Tag, denn ich werde heute zusammen mit meinen Mitschülern und unserer Klassenlehrerin zum ersten Mal als Passagier eines Raumschiffs zum mittlerweile besiedelten Mars fliegen.

Wir haben uns seit einigen Wochen akribisch auf diesen Flug vorbereitet, denn es soll uns das vor Augen führen, was wir gerade in der Schule über Raumflüge und die Dinge, die damit zusammenhingen, gelernt haben. Letztendlich sollte es der krönende Abschluss sein.

So stieg ich nach einem kurzen Frühstück in die Magnetschwebebahn ein und fuhr mit der Bahn bis zur Schulstation.

Dort stieg ich wieder aus der Bahn und begab mich anschließend auf den großen Pausenhof, wo sich die Klasse treffen sollte.

Wie ich feststellte, war ich der letzte Schüler, gerade noch pünktlich. Ich begrüßte unsere Klassenlehrerin und natürlich auch meine Kumpel. Die Lehrerin warf einen kleinen schiefen Blick auf mich, da ich in ihren Augen doch ein wenig spät dran war.

Dann jedoch belehrte sie uns noch einmal kurz, sammelte die erneuten Flugtauglichkeitsbestätigungen ein, die unabdingbar für den Weltraumflug waren. Anschließend begaben wir uns wieder zur Schulstation und nahmen die Bahn Richtung Raumhafen am Rande der Stadt.

Dieser Raumhafen war in vergangener Zeit mal ein Flughafen für klassische Flugzeuge gewesen und den Legenden nach, hatte man eine Ewigkeit an ihm gebaut.

Es dauerte einige Zeit, bis wir die Station des Flughafens erreichten. Dort wurden wir dann von einem adrett in Uniform gekleideten Herrn erwartet, der sich uns und unserer Lehrerin als der Flugkapitän unseres Fluges vorstellte.

„Habt ihr denn schon einmal die vielen verschiedenen Raumschiffe auf unseren Raumhafen gesehen?“, fragte er schließlich, nachdem er seine Vorstellung beendet hatte.

Natürlich hatten wir dies überwiegend noch nicht. Zwar sah man immer mal wieder im I-Vision einige Dinge, aber natürlich war es etwas anderes, die Dinge aus der Nähe betrachten zu dürfen.

„Also gut“, meinte er, „bis unser Flug startet, haben wir noch ein wenig Zeit und ich kann euch von der Aussichtsplattform, die eigentlich nicht für das Publikum freigegeben ist, einige Schiffe genauer zeigen. Wir dürfen uns heute da mal aufhalten. Es ist also etwas ganz Besonderes.“

Das machte uns stolz, da wir uns auf diese Weise geehrt fühlen durften. Das machte diesen Abschluss unserer Unterrichtsthemen noch viel interessanter.

So begaben wir uns auf das Gelände des Flughafens und auf die besagte Plattform, von der aus die gigantischen Dinger bestens anzuschauen waren.

Die meisten Schiffe sahen ganz normal aus, wie man sich halt ein Weltraumschiff vorstellte. Doch eines der Schiffe schlug da völlig aus den Rahmen, da es völlig anders aussah.

Für mich wirkte es wie ein riesiges gläsernes Haus in Raumschiffsgestalt. Alle Außenbordwände schienen aus dem gleichen seltsamen Glasmaterial zu bestehen. Doch in das Innere konnten wir auch dort nicht schauen. Es verwirrte mich.

Der Kapitän bemerkte unser Interesse. „Ihr habt also unser Schiff entdeckt.“

„Aber das ganze Schiff kommt mir sehr merkwürdig vor. Die ganze Außenhaut scheint aus Glas zu bestehen. Damit kann man doch unmöglich in das All fliegen“, stellte ich ziemlich vorlaut fest. Es brachte mir zustimmendes Nicken meiner Klassenkameraden und einen schiefen Blick meiner Lehrerin ein

„Gut beobachtet“, meinte der Kapitän. „Aber natürlich ist dies kein Glas, sondern nur ein recht neuer Werkstoff, der glasähnliche Züge aufweist. Im Prinzip ist es ein umgekehrter Spiegel, der Schutz vor etlichen Gefahren bietet, die im Weltraum auftreten können. Zudem ist es eine Art Energiespeicher. Aber das genauer zu erklären, ist doch ein wenig komplizierter. Das lassen wir lieber sein.“ Ein dankender Blick unserer Lehrerin verriet ihm, dass er die richtigen Worte gefunden hatte. „Nun wird es aber Zeit. Auf zum Mars. Seid ihr alle bereit?“

„Na klar!“ antwortete einer meiner Mitschüler. Dieses Mal gab es keinen bösen Blick der Lehrerin. Sie war froh, dass es endlich losging und ihr fragender Haufen in geregelte Bahnen gelenkt wurde.

„Dann werden wir uns mal zum Schiff begeben. Die Mannschaft wartet sich schon.“

Er ging erneut voraus. Wir folgten ihm und am Ende unserer Gruppe sorgte unsere Lehrerin dafür, dass niemand zurück blieb.

Es dauerte nicht allzu lange, dann kamen wir am Schiff an und auf einer in das Innere führende Gangway wurden wir und der Flugkapitän sehnsüchtig erwartet.

Die Besatzungsmitglieder begrüßten ihren Chef und hießen uns danach herzlich an Board willkommen.

Eine Art Stewardess brachte uns in einen besonderen Raum, der als Passagierkabine diente und stärker gegen die Einflüsse des Raumes abgeschirmt war.

Dort befanden sich bequeme Liegesessel, auf denen wir uns breitmachen und anschnallen sollten. Wir erhielten alle Tabletten gereicht, die die Unannehmlichkeiten des Startes lindern sollten, denn das war nach wie vor ein Problem in der Raumfahrt, wie wir in unseren Unterrichtsrecherchen herausgefunden hatten. Und besonders Raumunerfahrene, wie wir es waren, halfen jene gegen Übelkeit, Schwindelgefühl und einige weitere Unpässlichkeiten, die der Start verursachen konnte.

Dann wurden wir allein gelassen und die Stimme des Kapitäns erklärte uns über bordinternen Funk, was weiter geschah.

Schließlich war es soweit und das Schiff hob zusammen mit uns in Richtung Mars ab und ich wusste nun, warum man uns die Tabletten gereicht hatte.

Doch schließlich ebbten Übelkeit und Schwindelgefühle schnell wieder ab und nach einem kurzen Moment der Schwerelosigkeit schaltete man das künstliche Schwerkraftfeld des Schiffes ein, wie der Kapitän uns über den Funk mitteilte.

Die Stewardess kehrte zurück und wir durften die Liegen verlassen und uns im Schiff umsehen. Das war normalerweise auch nicht gestattet, aber man machte halt die berühmte Ausnahme von der Regel. Vielleicht hoffte man aber auch, dass es unter uns potentiellen Nachwuchs für die Arbeit als Raumfahrer gab.

In alter Zeit, so hatte es unser Geschichtslehrer verraten, hieß es wohl „Klappern gehört zum Handwerk.“

So konnten wir dem Flugteam über die Schulter schauen, auch wenn wir nur einen kleinen Teil von dem verstanden, was die einzelnen Personen taten. Und die ganzen Bildschirme mit ihren Anzeigen und teilweise holographischen Projektionen überforderten uns schließlich ganz.

Zwar mühte sich unser Flugkapitän, es schülergerecht zu erklären, aber es war trotzdem sehr viel dabei, was wir nicht so richtig verstanden. Trotzdem war es lehrreich und interessant.

„Und, könntet ihr euch vorstellen, auch durch den Weltraum als Mitglied eines Flugteams zu fliegen“, war schließlich die Frage, die alle erwartet hatten. Na ja, zumindest ich!

Es traute sich niemand, darauf zu antworten. So nahm ich schließlich meinen Mut zusammen. „Ich denke, dass es sicher interessant ist. Aber im Moment bin ich von den ganzen Anzeigen erschlagen.“

Meine Lehrerin hatte diese Antwort sicher nicht erwartet und warf mir erneut missbilligende Blicke zu.

„Ach, weißt du“, antwortete mir dagegen unser Flugkapitän, „wir bemühen uns zwar alles zu verstehen, aber ich kann mit Sicherheit sagen, dass nicht jeder mit allen Dingen etwas anfangen kann. Dazu ist eine spezielle Ausbildung notwendig. Wir sind letztendlich alle Spezialisten. Also, nicht den Kopf hängen lassen, das wird schon.“

Ob es beruhigende Worte sein sollten, verstand ich nicht. Aber diese Spezialisierung war sicher ein hartes Brot. Auch jeder Teilbereich musste verstanden sein. Und ein wenig Kenntnis über die Aufgaben außerhalb des eigenen Gebietes sollte man wohl trotzdem wissen.

Ich fragte nicht weiter nach, meine Lehrerin schien schon bezüglich meiner Antworten gereizt genug.

Doch da wurde ich erlöst.

„Es ist Zeit, euch wieder in die Kabine zu begeben“, meinte schließlich der Kapitän. „Wir befinden uns kurz vor dem Landeanflug zum Mars.“

Im nächsten Moment bedeutete uns die Stewardess, die den Rundgang mitgemacht hatte, ihr zurück zum Raum zu folgen.

Dort angekommen, wiederholte sich die Prozedur des Startes auch bei der Landung.

 

 

Das  Schiff landete etwas außerhalb der Station und wurde mit ihr mit einem stabilen Schlauch verbunden, sodass man ohne Raumanzug vom Schiff auf die Station wechseln konnte. Dadurch wurde es ermöglicht, dass auch wir die Station auf dem Mars, die seit der Besiedlung des roten Planeten zu einer großen Stadt herangewachsen war, mühelos betreten konnten.

Der Kapitän leitete uns durch den ungewohnten Schlauch, am anderen Ende begrüßte uns höflich eine Frau, die sich als Stadtguide der Marsstadt vorstellte.

„Dann möchte ich euch mal ein wenig durch unsere Stadt führen“, sagte sie schließlich, nachdem  sie uns begrüßt hatte. „Dafür müsst ihr euch noch kleine Kärtchen anstecken, die euch als Besucher ausweisen.“

Sie holte aus einer kleinen Tasche die kleine Ansteckkärtchen heraus, die wir natürlich sofort stolz befestigten.

„Ihr dürft sie sogar als kleines Andenken an euren Marsausflug behalten“, setzte die Dame dann noch hinzu. Uns freute es. Ich würde es sicher in stolzem Andenken aufbewahren.

Danach brachen wir auf und die Frau geleitete uns durch die Stadt, erklärte uns die Aufgabenbereiche der einzelnen Gebäude.

Was mich verwunderte, war eine milchige Kuppel, die zusätzlich über der gesamten Stadt lag, obwohl alle Gebäude mit abgeschlossenen Gängen verbunden waren, dementsprechend nirgendwo die nicht atembare Marsluft eintreten konnte.

Ich fragte nach. Und dieses Mal schien unsere Lehrerin das auch zu bewegen. Denn von ihr kam kein strafender Blick in meine Richtung.

Die Guidefrau beantwortete meine Frage sogleich. „Das ist eine zusätzliche Schutzhülle für die Stadt, denn im Gegensatz zur Erde ist die Lufthülle des Mars viel dünner als die der Erde und lässt so manchen ungewollten kosmischen Gast durch. Während auf der Erde die meisten kleinen Gesteins-Splitter verglühen, passiert das auf dem Mars weniger. Um die Gefahr eines Einschlages zu minimieren, wurde diese besonders stabile Schutzhülle errichtet.“

Für mich war die Frage damit beantwortet und wir gingen weiter.

„Natürlich kann ich euch nicht alles zeigen“, erklärte sie uns schließlich. Aber es gibt ein Buch über die Marsstadt, das ich an euch kostenlos verteilen möchte. Da findet ihr weitere Informationen zur Marsstadt und auch ihrer Geschichte. Habt ihr Interesse daran. Wer ein Buch haben möchte, der hebe doch einfach den Finger.“

Alle Finger gingen nach oben, selbst unsere Lehrerin machte da keine Ausnahme.

„Toll! Es freut mich sehr, dass euch unsere Stadt so interessiert.“ Dabei lächelte die Frau über ihr gesamtes Gesicht. Und auch wir waren glücklich.

„Das Paket mit dem Büchern wird gleich in das Schiff geladen, mit dem ihr zu Besuch gekommen seid. Der Flugkapitän wird euch die Bücher eigenhändig ausgeben; wenn ihr wieder auf der Erde seid.“

„Vielen Dank“, mischte sich nun unsere Lehrerin ein. Dann schaute sie zu Uhr. „Ich glaube, langsam wird es wohl Zeit zurück zum Schiff zu gehen.“

Unser Stadtguide schaute ebenfalls auf die Uhr. „Sie haben recht. Der Rückflug ist ja schon für bald angesetzt. Sehr schade, aber ich hoffe, euch hat es trotzdem auf dem Mars gefallen!“

Sie schaute in die Runde und erblickte unsere zufriedenen Gesichter. Der Ausflug hatte uns mehr gefallen als zuvor gedacht. Es war wirklich ringsum alles gelungen.

Wir begaben uns zurück zum Schiff und musste wiederum die gleiche Prozedur durchmachen. Auf dem Rückflug konnten wir dann noch einige Fragen stellen und auf der Erde händigte uns tatsächlich der Flugkapitän eigenhändig die Visiobooks über die Marsstadt aus.

Ich werde diesen besonderen Schulausflug nicht vergessen, denn wer kam schon zum Mars?

Impressum

Texte: Autoren aus der Gruppe "Biografisches"
Bildmaterialien: Archivbilder der Autoren
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Dank geht an alle Mitglieder der Gruppe "Biografisches" - die immer wieder aktiv diese Gemeinschaftsprojekte mit ihren Geschichten beleben und bereichern...

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