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1. Dezember 2013

 Winterfreuden

 

Striezelmarkt und Weihnachtsklänge

Menschenmassen, welch Gedränge

Essen, Trinken, Sachen kaufen

Wie gehetzt im Kreise laufen

Frau schert aus - sie will zur Linken

Ich nach rechts zum Glühweintrinken

 

Kind ist bockig - will nicht weiter

Frau ist sauer - ich nicht heiter 

Schlimmer wird es noch, o Schreck

Ihre Handtasche ist weg

Striezelmarkt und Weihnachtslieder

Für mich ganz gewiss nie wieder!

© Sweder van Rencin

2. Dezember 2013

Die Schneefrau 

Im Winter 1980 gab es im Dezember viel Schnee, auch in Norddeutschland. Ich erinnere mich noch genau daran, wie wir Kinder uns freuten – im Gegensatz zu vielen Erwachsenen, die eher fluchten, mussten sie doch nun täglich Schnee schippen und ganz vorsichtig Auto fahren. Doch für die Kinder aus meiner Straße und mich war es toll, dass jeden Tag die dicken, weißen Flocken herunter rieselten und sich bald bergeweise der Schnee türmte.   

Wir veranstalteten Schneeballschlachten, legten uns auf die weiße Pracht, um Schneeengel zu kreieren, zogen unsere Schlitten zum Deich, um immer wieder hinunter zu rasen und Heike, meine beste Freundin „aus gutem Hause“, die fast alles besaß, holte sogar ihre Skier raus, auch wenn man damit in unserem nordischen Flachland gar nicht so viel anfangen konnte. Außerdem starteten wir Kinder einen kleinen Wettbewerb: Wer baut den schönsten Schneemann in seinem Vorgarten? Bis zum 10. Dezember hatten wir Zeit, dann sollte abgestimmt werden. So einiges wurde dafür, auch heimlich, aus dem Haus geschleppt, jeder wollte den besten und speziellsten Schneemann erschaffen. Leider kassierte meine Mutter Papas Hut und Krawatte sowie die Pfeife, ein Erbstück von meinem Großvater, wieder ein, sodass mein Beitrag zum Wettbewerb leider recht kahl im Garten stand.

Uns schräg gegenüber wohnte eine alte Dame namens Frau Schubert. Sie lebte allein und bekam nur selten Besuch von ihrem Sohn. Wir Kinder hatten ziemliche Angst vor ihr, denn sie war eine mürrisch dreinblickende, wortkarge Person mit pechschwarz gefärbtem Haar und seltsam aufgemalten Augenbrauen. Wenn sie, was selten vorkam, draußen gesichtet wurde, humpelte sie leicht O-beinig und ächzend die Straße hinunter, trug immer ein Kopftuch oder einen Hut.

 Wie sie selbst, strahlten auch ihr Haus und ihr Garten etwas Dunkles und Ungepflegtes aus und ihre Vorhänge waren stets zugezogen. Manchmal sahen wir sie vor ihrem Haus einen Zigarillo rauchen, dabei hustete sie sich dann die Seele aus dem Leib. In der Nachbarschaft war sie nicht sonderlich beliebt.  Einige Gerüchte über sie machten die Runde. Sie sei eine "streitsüchtige, alte Hexe, die nicht einmal grüßte" und würde "trinken", schnappte ich auf. Unter der ersten Aussage konnte ich mir im Alter von sieben Jahren ja etwas vorstellen. Was jedoch so schlimm daran sollte, wenn jemand etwas trank, war mir nicht klar. Das tat ich auch doch auch jeden Tag...  Dennoch war die alte Nachbarin etwas schaurig und geheimnisvoll.

Dann kam der 6. Dezember, und wir Kinder freuten uns schon den ganzen Tag auf den frühen Abend, an dem wir uns zum Nikolauslaufen verabredet hatten. Neben Heike und mir nahmen auch die vorlaute Birte, die eher schüchterne, stille Wiebke und zwei weitere Mädchen daran teil. Wir hatten uns auf zwei Lieder geeinigt, die wir an den Haustüren zum Besten geben wollten: "Schneeflöckchen, Weißröckchen" und "Lasst uns froh und munter sein". 

Als es dunkel geworden war, trafen wir uns dick eingemummelt vor Wiebkes Haus, machten uns gemeinsam auf den Weg und klapperten die Häuser der Nachbarschaft ab. Überall wurden wir freundlich empfangen, eine nette, alte Dame überreichte uns sogar Becher mit warmen Kakao. Unsere Beutel füllten sich und mit jedem Ständchen, das wir erfolgreich hinter uns gebracht hatten, wurde auch die scheue Wiebke etwas mutiger, die zuvor noch still hinter uns gestanden hatte, bis sie schließlich kräftig mitsang. 

Da unsere Eltern den Nikolausgang auf unsere zwei Wohnstraßen beschränkt hatten, dauerte es nicht lange, bis nur noch ein einziges Haus übrig war, an dessen Tür wir noch nicht geläutet hatten: Das von Frau Schubert.   Übermütig durch unseren bisherigen Erfolg fragte ich in die Runde: "Wollen wir bei der Schubert klingeln?" Einen Moment standen alle stumm und wir betrachteten das finstere Haus, das aussah, als wohne dort gar niemand. Es war das einzige, das in vollkommener Dunkelheit lag. 

„Nö, ich finde, wir haben genug. Wir gehen jetzt nach Hause", gab Birte von sich und wandte sich bereits um. Da Birte und ich öfter kleine Reibereien miteinander hatten, weil sie sich in meinen Augen für die unangefochtene Anführerin und Bestimmerin hielt, regte sich in mir leichter Widerstand. Wieso sollte eigentlich immer sie entscheiden? Und so tat ich, als hätte Birte gar nichts gesagt und fragte: „Also, wer kommt mit?“  Letztendlich folgten mir alle, Birte wahrscheinlich aus Neugier. Doch blieben die fünf Mädchen auf dem Gehweg stehen, während ich langsam auf die finstere Haustür zuschritt. Etwas mulmig war mir jetzt doch…  Wer eine große Lippe riskiert, muss auch mutig sein, erinnerte ich mich an die Worte meines großen Bruders. Die Blamage, jetzt einzuknicken, wollte ich mir – vor allem unter Birtes Augen -  nicht geben.

Also läutete ich. Nichts tat sich. Gerade wollte ich mich fast erleichtert umwenden und lässig mit den Schultern zucken, da wurde es im Hausflur etwas heller und kurz darauf drehte sich ein Schlüssel im Schloss. Die Tür ging auf und Frau Schubert erschien, an ihr vorbei wehte mir der Gestank von Zigarillorauch entgegen. Sie sagte nichts, funkelte mich nur aus ihren kleinen, dunklen Augen an. Mein Herz klopfte. „Lasst uns froh und munter sein“ erschien mir als Darbietung nicht sonderlich passend, automatisch sang ich „Schneeflöckchen“ und befürchtete die ganze Zeit, Frau Schubert würde mich anmotzen, so wie sie sich da im Türrahmen aufgebaut hatte. Doch seltsamerweise ließ sie mich die erste Strophe beenden, nach der ich sogleich verstummte.  Auch traute ich mich nicht, ihr meinen Beutel entgegenzuhalten. 

„Du kannst nicht sonderlich schön singen.“ Ihre Stimme knarrte wie eine alte Türangel. „Aber das ist immer noch besser, als da hinten dumm ´rumzustehen!“, fuhr sie dann die anderen über meinen Kopf hinweg an. Dann verschwand sie im Haus, ließ die Tür jedoch offen. Trotz meiner Furcht überwiegte die Neugier und ließ mich einen Schritt vortreten und den Kopf in den mit allerlei Möbeln und Gold-Nippes vollgestopften Flur recken. Dort standen unter anderem große Porzellanwildkatzen herum, ich erkannte einen Jaguar und einen Tiger. Seltsam…  Als sich ihre schlurfenden Schritte näherten, trat ich wieder zurück. Jetzt bemerkte ich plötzlich Birte, die sich dreist neben mir mit ihrem Beutel aufgebaut hatte.

Frau Schubert tauchte auf, griff nach meiner Tüte und steckte eine große Schachtel hinein. Dann drückte sie mir meine Schätze wieder in die Hand. „Du kriegst nix“, ranzte sie Birte noch an, bevor sie die Tür schloss und wir im Dunkeln standen. Anscheinend hatten die anderen gar nicht bemerkt, wie viel Angst ich gehabt hatte. Wiebke schaute mich mit ihren großen Augen als wäre ich eine Heldin und hauchte: „Das hätte ich mich nicht getraut." Auch Heike strahlte mich mit einer gewissen Ehrfurcht an. Nur Birte kniff verbiestert die Lippen zusammen. „Nun zeig schon, was hat sie dir 'reingepackt?", fragte Heike. Unter einer Straßenlaterne zog ich die Schachtel hervor und las: Sprengel Weinbrandbohnen.

Gut, dass wir alle keine Bohnen mochten und der Gabe eher etwas misstrauisch gegenüberstanden, vielleicht hätte ich sonst noch auf der Straße eine Runde ausgegeben. Zuhause hat man mir die Pralinen natürlich sofort abgenommen und meine Mutter murmelte noch irgendetwas von wegen: Alkohol für Kinder! Unmöglich, diese Frau...

Bereits am nächsten Abend sollte ich eine Erfahrung machen, die mich vollkommen überraschte. Und mich auf gewisse Weise auch prägte. Meine Mutter wies mich an, den Müll rauszubringen und in die Tonne zu stopfen, die am nächsten Tag geleert werden sollte und am Straßenrand stand. Sie drückte mir die Tüte in die Hand und ich stapfte los. Draußen war es bereits dunkel und sehr kalt, doch für den kurzen Gang hielt ich es nicht für nötig, eine Jacke oder Schuhe anzuziehen und schlurfte in meinen Hausschuhen hinaus auf den Gehweg. Als ich den Müll in die Tonne gesteckt hatte, fiel mein Blick auf die gegenüberliegende Straßenseite.

Ich kniff ein wenig die Augen zusammen. Was war denn das? Auf dem Weiß des Schnees, der in der Dunkelheit leuchtete, machte ich etwas großes schwarzes aus. Etwas lag vor Frau Schuberts Haus! Eisige Windböen fuhren durch meinen Pullover, als ich fröstelnd die Straße in Richtung des dunklen Etwas dort drüben überquerte. Ich weiß noch, dass mein Herz plötzlich heftig klopfte und dass ich schon ahnte, was ich sehen würde, bevor ich es wirklich tat. Vor dem Haus lag Frau Schubert in ihrem dunklen Mantel und dem Kopftuch, sie regte sich nicht. 

Ich berührte sie an der Schulter. „Frau Schubert?" Ich hatte schreckliche Angst, sie wäre tot, trotzdem rüttelte ich sie leicht. Sie stöhnte. „Ich kann nicht aufstehen. Bin umgeknickt." Ganz leise krächzte mir ihre Stimme unter dem Kopftuch entgegen. Nichts Herrisches oder Unheimliches war mehr an ihr, als ich in ihr verzerrtes, bleiches Gesicht guckte. In diesem Moment war sie für mich einfach nur eine arme, alte Frau, die Schmerzen hatte. „Ich hole meine Eltern!", sagte ich und rannte los. Mein Vater hatte ihr dann aufgeholfen, sie gestützt und in ihr Haus gebracht. Den Krankenwagen gerufen. Frau Schubert war ausgerutscht und hatte sich den Knöchel verstaucht.

In unserem eher beschaulichen Wohnviertel war abends nicht viel los. Hätte ich sie nicht gefunden, hätte Frau Schubert wahrscheinlich sehr lange dort in der Kälte im Schnee gelegen. Ich hörte meine Eltern über die Nachbarin reden. Am nächsten Tag schickte mich meine Mutter mit einem frisch gebackenen Kuchen zu Frau Schubert hinüber. Es dauerte ein wenig, bis sie zur Tür gehumpelt kam, auf zwei Krücken gestützt. Doch ich hatte keinerlei Furcht mehr vor ihr. „Meine Eltern wünschen gute Besserung. Der ist für Sie." Ich hielt ihr den Kuchen entgegen. „Stell ihn mal da hin und komm rein", sagte sie und nickte mit dem Kopf zu einem Tischchen. Ich tat wie geheißen und folgte ihr in ihr muffiges Heim.

Auch das Wohnzimmer war überfüllt mit Möbeln, Kissen, Pflanzen und Porzellanfiguren in allen Größen. Sie schien Letztere zu sammeln. Frau Schubert ließ sich auf einen Sessel sinken und klopfte mit ihrer Krücke auf einen zweiten. Ich nahm Platz. „Sag deinen Eltern "Danke". Für alles. Und dir danke ich auch. Du bist schon eine!" Zum ersten Mal lächelte sie mich an, fast zaghaft, als müsste sie es erst wieder üben. „Tut es doll weh?", fragte ich. „Ja", antwortete sie schlicht.

Ich dachte daran, dass sie allein wohnte. Und daran, dass meine Mutter gesagt hatte, ich solle fragen, ob sie vielleicht Hilfe braucht und ihr den Zettel mit unserer Telefonnummer geben. „Kommt Ihr Sohn Sie jetzt besuchen, zum Helfen?" Da füllten sich ihre Augen mit Tränen und ihre faltigen Lippen zitterten. Ihren folgenden Satz werde ich nie vergessen: „Eine garstige alte Frau wie mich kommt keiner gern besuchen. Und mein Sohn schon gar nicht." Immer mehr Tränen liefen ihr an den Wangen herab, sie atmete ganz komisch und ich hatte einen dicken Kloß im Hals.

Plötzlich wischte sie das unerwünschte Nass fast unwirsch weg. „Tut mir leid, ich heule normalerweise nicht. Geh jetzt wieder rüber." Ich hole ihr noch den Kuchen ins Wohnzimmer und stellte ihn ihr auf den Tisch. Und legte die Nummer dazu. „Mama sagt, Sie sollen anrufen, wenn Sie Hilfe brauchen. Ja?" Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, aber sie hielt sie zurück und nickte. Als ich den Raum verlassen wollte, hielt mich ihre Stimme zurück. „Du - wenn du mal was brauchst, sagste´ mir auch Bescheid, ja?"

Ich wandte mich zu ihr um. „Leihen Sie mir vielleicht mal was aus?" Und dann erzählte ich ihr, was ich vorhatte und benötigte und sie willigte sogar ein. Durch die tollen Sachen, die mir unsere Nachbarin lieh, konnte ich eine phänomenale Schneefrau in unserem Vorgarten bauen. Mit Hingabe versuchte ich, dem ehemaligen Schneemann das Aussehen von Frau Schubert zu verleihen. Diese hatte mir sogar eine alte Schwarzhaarperücke, eine Handtasche und ein schwarzes Cape mitgegeben. Und einen ihrer Zigarillos. Den steckte ich der Schubert-Schneefrau in den eisigen Mund.

Doch nicht allein den Schneemann-Wettbewerb von uns Kindern hatte ich dadurch gewonnen. Vor allem hatte ich, obwohl ich noch so jung war, eine wichtige Erkenntnis erlangt: Manche Menschen tragen ihr Herz nicht auf der Zunge. Und unter dornigen, vereisten Schalen verbergen sich manchmal ganz wundervolle Menschen. Man muss sie nur entdecken und auftauen. 

©Ursula Kollasch

                                       

3. Dezember 2013

Wie ich als Kind den Advent erlebte 

Als Kind lebte ich in der malerisch, schönen Kleinstadt Bad Doberan, die der Großherzog Friedrich Franz nicht umsonst als Sommerresidenz auserkoren hatte.

Meine Familie wohnte in einer alten Villa, die ursprünglich einem alten Tierarzt gehörte. Unsere Wohnung war sehr geräumig mit dem Wohnzimmer, dem Schlafzimmer und dem Kinderzimmer, dazu eine ziemlich große Küche. Nur das Bad war ein schmaler Schlauch.

Die Wohnung wurde im Winter noch mit alten Kachelöfen geheizt, die Briketts mussten aus unserem Keller, der gleich neben dem immer feuchten Waschraum lag, nach oben geschleppt werden. Von der Waschküche führte eine sehr schmale Treppe hinauf, die an einer Tür endete.

Da begann für uns Kohlen tragende Kinder jedes Mal das eigentliche Abenteuer, denn die Tür öffneten wir immer recht vorsichtig. Unsere ältere Nachbarin ließ ganz gern ihren als Rasse schwer definierbaren Hund vor ihrer Wohnungstür liegen. Dieses Tier war ziemlich falsch und fing immer an zu knurren, wenn jemand vom Keller um die Ecke lugte. Der Hund sah praktisch den ganzen Treppenhausbereich als sein Revier an. An dieses Tier trauten sich selbst Erwachsene kaum vorbei. Bekamen wir das Tier zu Gesicht, flog die Kellertür sofort wieder zu, dann schleppten wir lieber den schweren Kohleneimer wieder nach unten und verließen das Haus durch einen ehemaligen Dienstboteneingang. Unsere Familie hatte noch das Glück, dass es von unserem Hof einen direkten Eingang in die Küche gab. Dann wusste unsere Oma schon Bescheid, dass wir wieder Angst vor „Nicki“ hatten, wie der Hund hieß.

In der Adventszeit war es aber in unserer Wohnung immer gemütlich. Besonders wenn Oma Äpfel in die Ofenröhre schob und das Aroma sich sanft den Weg in unsere Nasen suchte. Nur war es in unserem Wohnzimmer immer fußkalt, weil das Zimmer genau über der schon beschriebenen immer feuchten Waschküche lag.

Unsere Familie besaß in den 60 iger Jahren noch keinen Fernseher, sodass besonders ich oft von einer anderen Familie, mit dessen Töchtern ich zusammen spielte, eingeladen wurde. So durften wir auch ab und an das Sandmännchen zum Abendgruß sehen und Samstags die Sendung „Professor Flimmerich“, wo immer schöne Kinder- und Märchenfilme gezeigt wurden.

Die alten Fernsehgeräte hatten noch riesige Bildröhren mit trotzdem sehr kleiner Bildschirmdiagonale und benötigten zusätzlich einen Konverter, der erstmal auf Betriebstemperatur kommen musste, deshalb dauerte es sehr lange, bis überhaupt das Bild in Schwarz-Weiß sichtbar wurde. Der Konverter war notwendig, weil es ohne ihn nicht möglich war, das zweite Fernsehprogramm der DDR anzuwählen. Meine Familie bestand damals aus fünf Kindern, einer Oma und unserer Mutter, denn unser Vater wurde damals hinaus geworfen, weil er meine Mutter schlug, die gerade meine Schwester auf dem Arm trug.

So bekamen wir Kinder eines Tages die Aufgabe in den großen Kellerswald zu gehen und einen geeigneten Baum abzusägen, der als Weihnachtsbaum zu gebrauchen war. Wir waren gerade auf einem Waldweg noch ohne Baum unterwegs, als wir von einem älteren Herrn angesprochen wurden, was wir denn zu dieser Jahreszeit im Wald wollten. Wir sagten, dass wir nur ein paar Tannenzweige für den Friedhof holen wollten, um das Grab unseres Opas abzudecken, doch meine kleine Schwester protestierte laut: „Nein, wir wollen einen Weihnachtsbaum holen.“ Zum Glück traute uns der Mann so einen Frevel nicht zu und ließ uns ziehen.

Wir schafften es dann doch noch mit dem Baum nach Hause zu gehen. So war das Weihnachtsfest gerettet. 

©Manfred Basedow 

 

 

 

4. Dezember 2013

 

Am Mittagstisch 

 

Seit einiger Zeit lebte unsere Oma bei uns, da sie nach einem längeren Klinikaufenthalt noch nicht allein zurechtkam. Zudem stand das erste Jahrgedächtnis ihres Mannes bevor. Wir konnten und wollten sie zu dieser Zeit auch noch nicht allein in ihrem Haus lassen.

So kam ich am Mittag von meiner Arbeitsstelle und wurde schon sehnsüchtig von ihr erwartet. Wir unterhielten uns ein wenig, bevor ich mich daran machte, etwas zu Mittag zu Kochen. Kaum war ich fertig, da läutete es an der Haustür. Unser Töchterchen kam mit geröteten Wangen herein und sprudelte los:

„Mama, warum hat sie drei Fenster in den Turm bauen lassen, weißt du das? Der Vater hatte doch einen ziemlichen Knall, dass er sein Kind hat umbringen lassen und dann hat der Kerl das auch noch selbst getan. Hatte aber Pech, er ist nämlich direkt danach umgekippt und war tot. Kannst du dir vorstellen, Papa täte so was, wenn ich nicht an Gott glauben würde?“

„Stopp, zuerst einmal, der Papa würde dich nicht töten, schon gar nicht wegen einer Glaubensfrage oder Sonstiges. Von wem erzählst du überhaupt?“, versuchte ich sie herunter zu fahren.

„In Reli haben wir eben über den Barbara-Tag gesprochen“, entgegnete sie mir entrüstet, als müsste ich ihre Gedanken lesen können.

Stephie ließ ihren Ranzen fallen, stürmte in die Küche und setzte sich zur Oma an den Tisch.

„Hallo Oma, kennst du die Barbarageschichte?“, begrüßte Stephie ihre Oma und nahm sich einen Pfannkuchen.

„Mama, weißt du, warum sie drei Fenster hat einbauen lassen, obwohl ihr Vater eigentlich zwei einbauen wollte?“, begann sie von Neuem.

„Am Besten ist es, du erzählst uns die Geschichte und ich beantworte deine Fragen dabei, OK?“, antwortete ich ihr.

„Die Barbara war ein Mädchen, das an verschiedene Götter glaubte. Eines Tages ging sie durch die Stadt und hörte, wie ein Mann etwas von Jesus erzählte. Dort ging sie immer öfter hin und sie fand die Geschichten toll. Das war so eine kleine Kirche, in der der Mann erzählte. Der erzählte von Gottes Liebe und seinen Wundern. Mit der Zeit fand sie immer mehr zu dem Glauben zu Gott und wollte nicht mehr die verschiedenen Götter anbeten“, fing sie an zu erzählen.

Während ich ihr einen weiteren Pfannkuchen reichte, stellte ihr ihre Oma eine Zwischenfrage:

„Wo hat sie denn gelebt und weshalb hat sie an Götter geglaubt?“

„Weiß ich nicht so genau, aber ich glaube in Rom und damals glaubten die da an mehrere Götter“, gab sie ihr zur Antwort.

„Barbara lebte im heutigen Izmid, das liegt in der Türkei“, berichtigte ich Stephie.

„Egal, jedenfalls wurde der Vater stinksauer und wollte nicht, dass sie bei den Christen war. Deshalb ließ er einen Turm bauen, der sollte zwei Fenster haben, aber Barbara konnte die Arbeiter überreden drei Fenster einzubauen“, fuhr sie fort.

„Weshalb wollte sie denn drei Fenster?“, fragte ich Stephie.

„Diese drei Fenster sollten die Dreifaltigkeit darstellen. Wir Christen glauben ja an die Dreifaltigkeit Gottes“, erklärte sie mir in einem ruhigen Tonfall.

„Als er erfahren hatte, dass sie sich hat taufen lassen, wollte er sie schlagen. Aber da öffnete sich in der Wand ein Spalt, durch den ist sie dann abgehauen. Sie wurde verraten und festgenommen, ihr Vater schleppte sie zum Statthalter, der hat sie Foltern lassen. Aber sie ließ sich nicht von Jesus und Gott abbringen. In der Nacht soll ihr Gott erschienen sein und hätte ihre Wunden geheilt. Als der Statthalter das erfuhr, ließ er sie wieder foltern und sogar die Brüste abschneiden. Zum Schluss sollte mit einem Schwert ihr der Kopf abgeschlagen werden. Das hat ihr eigener Vater gemacht. Aber als er sein Schwert danach auf den Boden legen wollte, ist der umgekippt und war tot. Der war doch ein Blöder, dieser Vater oder?“, beendete sie ihre Erzählung leicht aufgebracht.

„Ja, das war damals so. Wir können froh sein, dass wir in einem Land leben, in dem jeder seine eigene Religion frei ausüben darf, solange sie friedlich ist“, antwortete ich ihr.

„Wir haben früher immer Kirschzweige am Barbaratag abgeschnitten, wenn sie dann Weihnachten blühen, sollte die Ernte im nächsten Jahr gut ausfallen“, erzählte ihr ihre Oma.

Stephie sprang auf und kam innerhalb von drei Minuten wieder. In der Hand hielt sie einige Kirschzweige. Nachdem wir diese in eine Vase mit warmen Wasser gestellt hatten meinte sie nur noch:

„Jetzt will ich aber sehen, ob sie wirklich Weihnachten Blüten haben“. 

Einige Zeit später saßen Stephie und ich im Auto auf dem Weg zum Elternsprechtag und sie fragte mich noch: „Tina bekommt was zum Barbara-Tag geschenkt, warum ich nicht?“

„Wir kennen diese Sitte nicht, außerdem können wir dir ja nicht zu jedem Heiligen etwas schenken. Dann wären Geschenke ja nichts Besonderes mehr.“

©schnief

 

 

5. Dezember 2013

Aoides Weihnachten 

Aoide ging durch die Straßen, ihre Geige im Geigenkoffer fest in ihrer Hand. Zum ersten Mal seit langem ging sie in die Innenstadt, mitten hinein in das hektische Gewühl der Menschen.

Es waren so viele!

Sie versuchte ihnen auszuweichen, aber manche stießen dennoch gegen sie. Ihr Herz raste und ihre Hände begannen zu schwitzen. Vielleicht war das hier doch eine blöde Idee gewesen. Vielleicht sollte sie wieder heimgehen und auf einen ruhigeren Tag warten.

Ein köstlicher Duft stieg in ihre Nase. Maroni!

Sie ging noch zwei Schritte weiter, dann blieb sie stehen. Sie würde zum Stand gehen und sich Maroni kaufen, beschloss sie. Dann würde sie sich auf die Bank daneben setzen, ihre Geige neben sich stellen und die Maroni essen. Und dann würde sie heimgehen. Der Stand war nicht weit weg, aber es kostete sie Überwindung dorthin zu gehen. Zwischen dem Stand und ihr patrouillierten Greenpeace-Aktivisten wie Haie im Wasser. Sie würden sie ansprechen, das wusste sie jetzt schon.

Und sie ließen nie locker, egal wie heftig sie den Kopf schüttelte. Aoide senkte den Kopf. Sie wollte jetzt diese Maroni und sie würde sich nicht von irgendwelchen Menschen abhalten lassen, die allen und jeden anreden mussten.

Sie ging weiter, den Kopf gesenkt und die Augen fest auf ihre Fußspitze gerichtet. Nicht anreden, nicht anreden, flehte sie lautlos in ihrem Kopf.

„Hallo! Hast du kurz Zeit für mich?“, Aoide schüttelte den Kopf und ging schneller. Der Typ ließ nicht locker, quatschte weiter. Aoide schüttelte den Kopf fester, so dass ihre Haare durch die Luft flogen. „Okay, dann eben nicht“, seine Stimme hörte sich leicht ärgerlich an, dann wandte er sich ab.

Aoide entspannte sich, fixierte wieder ihr Ziel an und hielt kurze Zeit später die Maroni in ihrer Hand.

Langsam und genüsslich kaute sie die süßen, etwas trockenen Früchte und sah dem Treiben zu. Sobald man auf einer Bank saß, schien man nicht mehr zu dieser hektischen Masse zu gehören. Plötzlich wirkte alles anders.

Sie steckte die letzte Maroni in den Mund und warf Schalen und Tüte in den Mistkübel. Weihnachten ist das Fest der Liebe, hatte im Internet gestanden. Zu Weihnachten feiert man die Geburt Jesu Christi, der das Licht und die Vergebung auf die Welt gebracht hatte.

Aoide seufzte. Sie würde nicht vergeben. Sie würde IHM nie vergeben, für das was er ihr angetan hatte. Sie würde auch nicht vergessen.

Sie sah einem alten Mann zu, wie er über die Straße ging, langsam und behäbig, der Gehstock fest in seiner altersfleckigen Hand. Er schien unberührt von der Hektik zu sein, schritt in seinem eigenem Tempo dahin.

Sie würde nicht vergeben, was man ihr angetan hatte, aber sie hatte so viel, wofür sie sich jetzt bedanken konnte. Sie hatte Jack, sie hatte die Zwillinge und sie hatte die Band. Sie hatte ein Zimmer, in dem sie in Sicherheit war, sie hatte ein Bett, das noch nie nach Blut und Sperma gerochen hatte.

Aoide stand auf und klappte den Geigenkasten auf.

Sie hatte die Geige ihres Vaters, der ihr nichts als ehrliche, warme Liebe entgegen gebracht hatte, bevor er gestorben war.

Wenn sie zu Weihnachten schon nicht vergeben konnte, dann konnte sie wenigstens danken, auf die einzige Art, die sie kannte.

Sie zog die Handschuhe aus, öffnete den Reißverschluss um ihren Hals ein bisschen, damit sie sich besser bewegen konnte und strich über die Seiten. Ein klares A, ein weiches D, ein warmes G, ein kristallenes E.

Ihr Herz kam zur Ruhe, als sie die vertrauten Töne hörte und sie setzte die Finger bewusst auf die Saiten.

Der erste Ton zitterte noch ein bisschen, doch der zweite erhob sich klar und glänzend aus dem Gewühl der gestressten Menschen heraus. Wieso sie alle immer so einen Stress hatten, hatte Aoide sowieso noch nie verstanden.

Der Typ von Greenpeace wandte sich zu ihr um und sie lächelte, als sie die ersten Takte von „Fröhliche Weihnacht“ spielte. Dann schloss sie die Augen und ließ sich von der Musik tragen. Sie legte alles in die fröhliche Melodie, während um sie herum das hektische Treiben der Adventzeit vor sich hin plätscherte.

Sie stand mitten drinnen und doch abseits, in ihrer kleinen Blase der Musik, in ihrer Oase der Ruhe und der Stille.

„Oh Tannenbaum“, begann plötzlich Ericas Stimme und Aoide lächelte, als sie die Augen öffnete und sich den Zwillingen und Jack gegenüber sah, schwer beladen mit Weihnachtsgeschenken.

Sie spielte weiter, während Paul sich auf die Bank setzte und seine Gitarre vom Rücken nahm. Vermutlich hatte er vorher Gitarrenstunde gehabt, wenn er sie mit sich herum schleppte.

Jack durchsuchte seine Jackentaschen und zog eine Mundharmonika hervor, bevor er sich neben sie stellte und zu spielen begann. Dann stieg auch schon Paul ein, unterlegte ihre Melodien mit simplen Akkorden.

Aoide lächelte, als sie den letzten Takt ausspielte.

„Du hättest etwas sagen können“, warf ihr Erica vor und zog ihre Jacke aus. Wenn sie sang, wurde ihr immer heiß.

Aoide hob und senkte lächelnd die Schultern. „Stille Nacht“, sagte sie nur, dann begann sie auch schon zu spielen.

Die anderen ließen sie die erste Strophe allein spielen, dann stiegen sie ein.

Aoide schloss die Augen und ließ sich von der sanften Musik tragen. Das hier, genau das hier war Weihnachten.

© Sophia Csar

6. Dezember 2013

Nikolausabend im Kriegswinter 1944

Ich war 6 Jahre alt und kann mich heute noch, 69 Jahre danach, genau an diesen Tag erinnern. Es war ein kalter Winterabend. Draußen war es schon dunkel und die Kinder in unserer Straße warteten auf den Nikolaus, nur ich nicht.

Meine Mama hatte mich am Morgen in den Arm genommen und mir mit trauriger Stimme erklärt, dass mich in diesem Jahr der Nikolaus nicht aufsuchen würde. Auf meine entsetzte Frage, ob ich denn nicht brav genug gewesen wäre, schüttelte sie den Kopf und meinte, dass der Nikolaus jetzt im Krieg nicht alle Kinder beschenken könnte, denn auch im Himmel gäbe es kaum noch Süßigkeiten. Mehl, Zucker und Eier, um Plätzchen zu backen, würden auch fehlen, genau wie bei uns auf der Erde.

Und dann fügte sie noch hinzu: „Vielleicht hat der Nikolaus ja auch ein wenig Angst, dass man ihm seinen Rentierschlitten abschießen könnte. Sei nicht traurig“, tröstete sie mich, „aber im nächsten Jahr, wenn der Krieg hoffentlich endlich vorbei ist, dann kommt er bestimmt wieder.“ Bei mir kullerten jetzt zwar die Tränen, aber mir blieb nichts weiter übrig, als mich damit abzufinden. Ein Schluchzen noch und dann widmete ich mich wieder meiner Puppe, der ich nun diese traurige Geschichte erzählte.

Danach ging meine Mama dann für einen Moment zu unserer Nachbarin. 

Plötzlich riss mich ein Klingeln an der Haustür aus meinen trübsinnigen Gedanken. Sollte ich öffnen? Mama und Papa hatten mir verboten, die Tür zu öffnen, wenn ich alleine zuhause bin. Mein kleines Herz klopfte ganz stark. Und wenn es nun doch der Nikolaus war? Da kam mir die Idee erst einmal zu fragen, wer da ist.

Eine tiefe Stimme rief: „Hier ist der Nikolaus, willst du mich nicht hereinlassen?“ Zaghaft näherte ich mich der Tür. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Auf die Idee, dass es vielleicht ein Einbrecher sein könnte, bin ich, so klein und gutgläubig wie ich war, gar nicht erst gekommen.

Ängstlich öffnete ich die Tür und da stand er wahrhaftig vor mir, der Nikolaus. Er reichte mir die Hand, die ich schüchtern ergriff, dabei machte ich einen Knicks und sagte mein gelerntes Gedicht auf. Der Nikolaus lobte mich, strich mir übers Haar und händigte mir ein kleines Päckchen mit selbstgebackenem Spritzgebäck aus. Dann verabschiedete er sich wieder.

Es war nicht viel. Aber die Freude, dass er überhaupt da war und mir etwas gebracht hatte, überwog die Enttäuschung, dass es nicht mehr gab. Ich war ganz aus dem Häuschen, als ich meiner Mama hinterher erzählte, dass der Nikolaus doch da war.

Ein Jahr später am 6. Dezember 1945 war der Krieg tatsächlich schon seit dem 8. Mai des gleichen Jahres zu Ende. Es gab immer noch Engpässe in der Versorgung, aber der Nikolaus kam und in der Nikolaustüte waren neben den Plätzchen auch noch ein paar Süßigkeiten.

Es gibt Ereignisse, die vergisst man sein ganzes Leben lang nicht und dieser Nikolausabend im Kriegswinter 1944 war so ein Tag. Ich weiß gar nicht, wie oft ich meinen Kindern und jetzt auch den Enkelkindern davon erzählt habe.

Ich habe sie bestimmt manchmal damit genervt. Eigentlich wollte ich doch nur damit erreichen, dass sie es nicht als selbstverständlich hinnehmen, wenn sie so reichlich vom Nikolaus beschenkt werden. Ich hoffe, dass ist mir gelungen. 

©Dora Fries 

 

7. Dezember 2013

Die Vergessenen 

Da draußen ist es Dunkel, eisig fegt der Wind.

Doch innen, in den Häusern, ist von Kälte nichts zu spüren.

Am Baum die Kerzen leuchten, Hoffnung verspricht ihr Schein.

Wärme durchströmt die Herzen, Frieden macht sich in den Seelen breit.

Glücklich sind die Kinder, glücklich sind auch wir.

Leis erklingt Musik.

Stille Nacht, Heilige Nacht.

 

Man nennt ihn Penner, Clochard und Vagabund.

Unrasiert und schmutzig, zieht er durch diese Stadt.

Die Scham hat er verloren, weil Hunger Scham erstickt.

Er war einmal ein Kind, mit lachendem Gesicht.

Mit Freude in den Augen und sehnsüchtigem Blick.

Er stemmt sich gegen Kälte, sucht einen warmen Platz.

Die Träume sind erfroren, die Hoffnung ist versiegt.

 

Sie steht vor ihrem Spiegel, doch schaut sie nicht hinein.

Zu groß ist ihre Scham, sich selber anzusehen.

Die Illusion der Liebe ist das, was sie verkauft.

Falsch ist ihr Lächeln, falsch, denn ihre Seele, die ist tot.

Gestorben schon vor Jahren, zertrümmert mit Gewalt.

Ihr Körper verspricht Wärme, doch in ihr ist es kalt.

Nun schaut sie in den Spiegel, blickt in ihre Augen, die schon so vieles sahen.

Dann wendet sie sich ab.

Die Männer werden fort bleiben, in dieser Heil‘gen Nacht.

 

Er denkt an sein Leben, wie es früher einmal war.

Er denkt an die Sekunden, die er sich vergaß.

Er starrt auf diese Mauern, dass Fenster ist verhangen,

mit Gittern kalt und hart.

Die Tür, die ist verschlossen, für Jahre schloss sie sich.

In dieser Heil‘gen Nacht, wird er nicht schlafen können,

weil er getötet hat.

 

Sie liegt hier auf dem Boden, in diesem Bahnhofsklo.

In ihrer Hand die Spritze, die Nadel, die ist stumpf.

Die Sehnsucht nach den Träumen setzte ihr den ersten Schuss.

Die Träume sind gewichen, Schmerz  machte sich breit.

Ihr Körper ist zerstört, ihre Seele ist erloschen.

Star schaut sie in die Ferne, ihr Blick, der ist verhangen.

Sie sieht, was niemand sah.

Ein kleines bisschen Hoffnung lässt ihre Lippen lächeln.

Als der Tod durch ihre Adern rinnt.

 

Irgendwo da draußen, auf einem Schlachtfeld dieser Welt.

Am Himmel stehn die Sterne und Schüsse hallen durch die Nacht.

Er blickt hinauf ins Firmament.

Stumm beten seine Lippen, zu seinem Gott empor,

doch hofft er, dass es diesen Gott nicht gibt, damit er nicht bestraft wird,

für das, was selbst er tat.

Er hat hier nichts verloren, ist da, durch den Betrug.

Betrogen um die Jugend, betrogen um die Wahrheit.

Und als die Kugel trifft, betrogen um sein Leben.

 

Sie sitzt in ihrem Zimmer, in diesem Altenheim.

Sie sitzt vor diesem Fenster, blickt hinaus ins Dunkel und fühlt sich so allein.

Sie denkt an ihre Kinder und daran das sie selbst einmal eins war.

Sie hört das Kinderlachen, so lange ist das her.

So viele, viele Jahre war sie da für sie.

War Mutter, Freundin und Vertraute.

Hielt sie im Arm zum trösten, hatte immer eine Hand zum Streicheln, hatte Worte voller Zärtlichkeit.

Die Kinder sind erwachsen, haben eigne Kinder schon.

Sie denkt an vergangene Weihnachtsfeste.

Denkt, wie glücklich sie doch waren.

Sie wurde alt und müde.

Eine Träne rollt ihr über das Gesicht.

Die Kinder haben sie vergessen und Einsamkeit macht sich in ihrer Seele breit.

 

Dort draußen auf dem Meer, da treibt ein kleines Boot.

Einhundert Menschenseelen treibt Hoffnung durch die Nacht.

Hinter ihnen verschwimmt der Schwarze Kontinent.

Fast sind sie schon gerettet, von Krieg, Hunger und Tod.

Dort draußen auf dem Meer, zerschellt das kleine Boot.

Einhundert Menschenseelen, vor Europas kalter Grenze, versinken sie im Meer.

Verzweiflung trieb sie an.

Wir wollten sie nicht haben, verzweifelt sind wir selbst genug.

 

Man trieb ihn aus der Wohnung, nahm Geld und Eigentum.

Harz IV kennt keine Gnade, ein Staat kennt kein Erbarmen.

Nun sitzt er hier im Heim und fühlt sich ganz allein.

Man nahm ihm seine Würde, und Stolz den kennt er nicht.

Jetzt sitzt er hier und weiß, Still ist diese Nacht, doch Heilig ist sie nicht.

 

Es gibt so viele Menschen auf dieser großen Welt.

Es gibt so viele Menschen, die einsam sind und schwach.

Es gibt so wenig Hände, die helfend ausgestreckt.

Es gibt so wenig Liebe, die Einsamkeit vertreibt.

Es gibt so wenig Christen in dieser Heil‘gen Nacht.

 

Wir sitzen hier im Warmen, doch draußen ist es kalt.

Der Wind, der ist gewichen, Schnee fällt ganz leicht und sanft.

Legt sich auf allem nieder, bedeckt was sichtbar war.

Glück strahlt uns aus den Augen, die Kerzen leuchten sanft.

In unsren Herzen Frieden, Still und Heilig ist die Nacht.

Und das Vergessen fällt so leicht.

©Ralf von der Brelie

8. Dezember 2013

Backes Anna

Nikolausabend im Jahre 1944. 

Trotz Krieg und Bomben und Elend, bleiben solche Geschichten in der Erinnerung, weil sie halfen, das schwierige Leben der Frauen, die mit ihren Kindern und alten Angehörigen alleine blieben, zu ertragen. Sicherlich spielte der Zusammenhalt einer intakten Nachbarschaft, die Hilfe gab und Hilfe annehmen konnte, in dem Bewusstsein, dass alle gleichermaßen betroffen waren, eine sehr große Rolle.

*****

In unserer Straße besaß Backes Anna ein dunkelrotes Backsteinhaus aus den 20iger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Sie bewohnte das Erdgeschoss, in den beiden Etagen darüber lebten noch zwei Mieter. Im Hof gab es ein Plumpsklo für alle, wie das eben früher so war.

Anna Backes Wohnung bestand aus einer größeren Wohnküche und einem Schlafzimmer. Kam man zur Haustür herein, ging man durch einen langen dunklen Flur. Die rechte Tür in der Mitte führte zu Annas Wohnung. Am Ende dieses Flures befand sich die Hoftüre.

Hinten am Haus war ein schmaler Anbau, den man über den Hof betreten konnte. Hier betrieb Backes Anna eine Heißmangel, ein beliebter Treffpunkt für die Frauen der Straße, besonders in der kalten Jahreszeit. Eine riesige alte Heißmangel lief täglich so lange, bis die abgegebene Wäsche fertig gemangelt war. Der warme Raum duftete nach sauberen, frisch gewaschenen Stoffteilen.

Entweder halfen die entsprechenden Besitzerinnen der großen Wäschestücke, diese nach der Fertigstellung zusammen zu falten oder Backes Anna hatte eine Helferin dabei. Hektik kam in diesem Raum nie auf; es wurde gemütlich geplaudert und Neuigkeiten aus der Nachbarschaft ausgetauscht.

Backes Anna war sehr beliebt und hielt sich nie mit unerfreulichem Tratsch auf. Sie war ein ältliches Fräulein und nie verheiratet oder sonst wie mit einem Mann verbandelt  gewesen. Ihr schmales blasses Gesicht, die großen blauen Augen, die jeden freundlich anblickten, ihr straff nach hinten gekämmtes Haar, welches stets zu einem Nackenknoten geflochten war, ließ sie, trotz ihrer hageren Gestalt, gütig und liebevoll erscheinen. Sie besaß die Gabe, zuhören zu können und nur auf Wunsch erteilte sie Rat und Hilfe.

Wir Kinder liebten sie, denn sie war uns sehr zugetan und manch eine kleine Leckerei bekamen die zugesteckt, die zu ihr kamen und mit ihren Müttern geduldig auf Annas Dienste warteten. Besonders im Krieg nahm sie großen Anteil an dem Schicksal der Familien, die einen Angehörigen vermisst, verletzt oder gar verloren hatten.

Nun kam der Nikolaustag des Jahres 1944 und Backes Anna hatte den Müttern aus der Straße versprochen, den Nikolaus für die Kinder zu spielen. In unserem Luftschutzkeller sollte am frühen Abend die Vorstellung beginnen und wir Kinder saßen mit unseren Müttern und Großmüttern und sonstigen nicht wehrfähigen Personen, eng beieinander, im Keller. 

Eine jüngere Frau begleitete die, wie ein Bischof gekleidete und nicht von den Kindern zu erkennende Backes Anna. Die Begleitung war ganz in schwarze Kleidung gehüllt, mit einem langen schwarzen Stoffschwanz. Die schwarze Maske, die das Gesicht verbarg, ließ auch noch eine lange feuerrote Zunge und rote Hörner erkennen. So recht zum Fürchten für die Kinder war dieser „Hans Muff“. 

Diese Figur trat immer mit dem Nikolaus auf und wurde als Erziehungsmittel für sehr ungezogene Kinder benötigt. Denn gelegentlich drohte der schwarze Mann mit einer Rute und einem Sack, in den er das schreiende Gör hineinzustecken gedachte. Erst das Versprechen, im nächsten Jahr Besserung zu zeigen, hielt davon ab, mitgenommen zu werden.

Auch rasselte der dunkle Geselle noch bedrohlich mit einer Kette und  die Freundlichkeiten und Geschenke, die der Nikolaus verteilte, ließen das Gesamtschauspiel noch lange auf die Gemüter der verschreckten Kinder wirken. 

Ein Glöckchen kündete die Ankunft des Nikolaus an. Dieser Abend des Jahres 1944, in dessen Verlauf noch Bombenalarm ertönte und einige Brandbomben Schäden an Dächer und Gebäude anrichteten, hielt Backes Anna nicht davon ab, uns Kindern eine Freude zu machen. Feierlich schritt sie in den spärlich mit Kerzen erleuchteten Raum und wir sangen zur Begrüßung das Lied vom Nikolaus, dem heiligen Mann, der uns gut was bringen kann.

Dann kam kettenrasselnd der „Hans Muff“ hinterher. 

Just in diesem Moment schlug ein Windstoß die Tür hinter ihm ins Schloss, bevor er noch ganz im Raum stand und da er nun schnell weiterging, wurde sein langer Stoffschwanz eingeklemmt und riss ab. Die Frauen schrieen „Auu“ und „Oooh“. 

Backes Anna drehte sich um, sah das Unglück und sagte in die nun folgende Stille: „MEINE DAMEN; WIR MACHEN WEITER – IM KRIEG GEHT’S AUCH OHNE SCHWANZ!!!“ 

Backes Anna ist bestimmt schon vierzig Jahre tot, aber diese Worte haben sie auf unserer Straße bis heute unsterblich gemacht.

©Annelie Heyer

9. Dezember 2013

Omatoast

Oder: Das beste Weihnachtsessen 

Als mein Vater im Frühjahr 1979 bei uns zu Hause auszog, brach für mich eine kleine Welt zusammen. Durch seine Tätigkeit als Außendienstmitarbeiter bei IBM war er zwar sowieso selten daheim, aber ich begriff mit meinen acht Jahren durchaus, diesmal ging es um etwas anderes. Die Worte „Trennung“ und „Scheidung“ hallten durch die Wohnung, eineinhalb Jahre später wurde es dann auch gerichtlich besiegelt. Zu diesem Zeitpunkt hatte mein Vater sich in seiner neuen „Singlebude“ schon gut eingerichtet – und ich mich ebenfalls, da ich recht regelmäßig, meist alle 14 Tage, das Wochenende bei ihm verbrachte. Ich liebte es – klar. Mein Vater hatte Geld und am Wochenende natürlich auch Zeit für mich, ich stand zwei Tage lang im Mittelpunkt, durfte bestimmen, was gekocht und was im Fernsehen geschaut wird.

Als ich 1981 mit meiner Mutter, ihrem neuen Partner und meinem Bruder ins beschauliche Bad Mergentheim zog, begann eine Zeit, in der ich meinen Vater regelrecht vergötterte. Als Scheidungskind war ich in unserem Kurstädtchen tatsächlich noch etwas Besonderes und meine Klassenkameraden bewunderten mich dafür, dass ich regelmäßig zu meinem Vater in die Großstadt durfte. Natürlich berichtete ich jeden Montag ausgiebig von unserem Bummel über die Stuttgarter Königsstraße.

Die Trennung meiner Eltern brachte es mit sich, dass ich fortan auch getrennte Weihnachten feiern musste, was ich im Grunde ganz cool fand, weil es auch doppelte Bescherung bedeutete. Meistens blieb ich an Heilig Abend in Bad Mergentheim und wurde am ersten oder zweiten Feiertag von meinem Vater oder meiner Oma abgeholt. Wir fuhren nach Würzburg, wo meine Oma lebte, und feierten dort noch einmal, normalerweise verbrachte ich auch den größten Teil der Ferien bei ihr.

Als ich 13, 14 wurde und begann, die Welt der Erwachsenen ernsthaft zu hinterfragen, wurden die Dinge etwas schwieriger. Ich fand es nicht mehr cool, dass meine Eltern getrennt waren, sondern warf ihnen vor, sie hätten unsere Familie zerstört. Ich las über das Elend in der Dritten Welt und hatte keine Lust mehr, mit meinem Vater auf der Königsstraße shoppen zu gehen. Ich wurde Vegetarierin und wollte Klamotten aus dem Second-Hand-Laden oder dem Indioshop. Und Weihnachten fand ich schrecklich. Der reinste Konsumterror. Nur aufgesetzte Fröhlichkeit. Alles nur Fassade.

Ausgerechnet in dieser Zeit lernte mein Vater eine Frau kennen, mit der er – für seine Verhältnisse – eine recht lange und intensive Beziehung führte. Sie hieß Ingeborg und lebte praktischerweise im selben Mehrfamilienhaus, zwei Stockwerke über ihm. Ingeborg war ebenfalls recht gut betucht, ich weiß nicht mehr, wie sie ihr Geld verdiente, aber ich erinnere mich noch sehr gut an die Wohnung, in der irgendwie alles teuer und edel war – die Teppiche, die Möbel, das Geschirr, alles eben.

Ingeborg hatte eine Tochter, Carola, die etwas älter war als ich und sowohl ein Pferd als auch einen Freund besaß. Beides beeindruckte mich. Am Anfang war sie wirklich nett zu mir und versuchte, einen auf freundliche Stiefschwester zu machen. Es dauerte eine Weile, bis wir feststellten, dass unsere Lebenswelten einfach zu weit auseinander lagen.

Jedenfalls kam die Idee auf, ich könne in diesem Jahr, 1985, Heilig Abend doch zusammen mit meinem Vater und seiner neuen Familie verbringen. Ich stimmte zu, weil ich den Eindruck hatte, es sei ihm wichtig, war selbst aber eher zwiespältig. Ich fühlte mich nicht besonders wohl in Ingeborgs Wohnung, war ständig in Sorge, irgendetwas dreckig oder kaputt zu machen. Obwohl ich das ganze teure Zeug nicht mochte, war ich gleichzeitig beeindruckt und kam mir manchmal ein wenig schäbig in meinen Second-Hand-Klamotten vor, die ich zu Hause mit Stolz und Überzeugung trug.

Auch hatten Ingeborgs Tochter und ich bereits festgestellt, dass es nicht allzu viele Gesprächsthemen zwischen uns gab. Wir hörten unterschiedliche Musik, lasen unterschiedliche Bücher, Tiere fanden wir beide toll, aber sie interessierte sich vor allem für ihr Pferd und ihre Reiterfolge, während ich Hunde, Katzen und Wölfe großartig fand. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass meine Oma auch anwesend sein und ich spätestens am Zweiten Feiertag mit ihr nach Würzburg fahren würde. 

Am 23. Dezember holte mein Vater mich zuhause ab, wir hörten Musik auf der Fahrt und redeten wie üblich nicht viel. In seiner Wohnung machten wir nur einen kurzen Zwischenstopp und gingen bald nach oben. Das erste, was ich sah, war der üppige Weihnachtsbaum, der das halbe Wohnzimmer ausfüllte. Ein Traum in Weiß und Gold. Die ganze Wohnung war in diesen Farben dekoriert, ich stand tatsächlich mit offenem Mund da, weil ich so etwas noch nicht gesehen hatte. Ingeborg sah mich gespannt an und erwartete Begeisterung, die ich aber nicht empfand. Mir war es jetzt schon viel zu viel.

Den Abend verbrachten wir soweit ich mich erinnere vor dem Fernseher, am nächsten Morgen wurde meine Stimmung etwas besser, weil meine Oma kam, doch sie wurde von Ingeborg gleich für die Essensvorbereitungen eingespannt. Bei mir zu Hause gab es an Heilig Abend meistens Käsefondue oder Raclette, ich hatte mich bisher gar nicht erkundigt, was wir hier essen würden. „Natürlich eine Weihnachtsgans“, erklärte Ingeborg stolz. „Mit Klößen und Rotkraut, so wie es sein muss.“

Ich wagte Einspruch: „Ähm … ich esse aber kein Fleisch.“

„Das ist doch Geflügel“, erwiderte sie ohne mit der Wimper zu zucken.

Ich beschloss, die Diskussion auf später zu verschieben, aber es gab noch eine weitere, die mir klarmachte, dass ich mich auf diesen speziellen Heilig Abend unzureichend vorbereitet hatte. Am späten Nachmittag wurden Ingeborgs Tochter und ich nach unten in die Wohnung meines Vaters geschickt, wir vertrieben uns die Zeit mit dem Vorweihnachtsprogramm im Fernsehen. Währenddessen blickte sie mich ernst an und fragte: „Ziehst du dich eigentlich noch um?“

Ich verstand nicht, was sie meinte. „Für die Bescherung“, präzisierte sie.

Ich hatte mich schon gewundert, warum sie so aufgetakelt war. Offenbar gehörte es hier dazu, sich an Heilig Abend richtig schick zu machen. Das kannte ich von zu Hause nicht, geschweige denn hatte ich etwas Entsprechendes eingepackt. Ich trug eine Cordhose und einen südamerikanischen Poncho, den ich heiß und innig liebte, und schüttelte einfach nur den Kopf.

Carola schüttelte ihren auch, aber aus anderen Gründen.

Mein Vater kam, um uns abzuholen. Bevor wir das Wohnzimmer oben betreten durften, wurde tatsächlich ein Glöckchen geläutet und ich fragte mich kurz, wie alt ich eigentlich war. Erwartungsgemäß fiel die Bescherung recht üppig aus und ich ließ mich eine Weile in den Rausch des Geschenkeauspackens fallen. Carola bekam einen neuen Sattel und blickte etwas mitleidig auf meinen Bücherstapel, mit dem ich aber ausgesprochen zufrieden war.

Nach der Geschenkorgie setzten wir uns an den Tisch. Mein Vater hatte ein neues Hemd angezogen, Ingeborg war so aufgetakelt wie ihre Tochter, nur meine Oma trug das, was sie immer trug, wofür ich ihr wirklich dankbar war. Die Suppe zum Auftakt hatte mein Vater gekocht, ich bat ihn, mir keine Leberknödel in den Teller zu schöpfen, die wenigen, die er erwischt hatte, ließ ich liegen. Damit kam ich noch ganz gut durch, als jedoch der Hauptgang aufgetischt wurde, hatte ich keine Chance mehr. „Für mich nur Knödel und Rotkraut bitte.“

„Ein kleines Stückchen wird schon gehen, nicht wahr?“, sagte Ingeborg.

„Komm, jetzt stell' dich nicht so an“, mahnte mein Vater.

„Mamas Gans ist sooo lecker!“, schwärmte Carola. 

Meine Oma schwieg, vor allem deshalb, weil sie damals ernste Sorge hatte, ich könnte durch mein Vegetariertum gewisse Mangelerscheinungen bekommen. Ich beugte mich der Mehrheit und aß das Stück Gans, das mein Vater mir auf den Teller gelegt hatte. Eigentlich fand ich es sogar ganz lecker, ich verzichtete schließlich nicht auf Fleisch, weil ich es nicht mochte, sondern weil mir die Tiere so wichtig waren. Kann sein, dass ich mir sogar noch eine zweite Scheibe aufdrängen ließ.

Jedenfalls bekam ich irgendwann am Abend Magenschmerzen und verzog mich recht bald nach unten ins Bett. In der Nacht erbrach ich mich mehrere Male, ich fühlte mich einfach nur hundeelend. Als Ingeborg am nächsten Morgen beim Frühstück davon erfuhr, war sie überzeugt, die Aufregung sei mir auf den Magen geschlagen. „Weißt du was? Ich mache dir schnell einen richtig schönen Haferschleim, das bringt dein Bäuchlein gleich wieder in Ordnung.“

Ich versuchte ihr zu erklären, dass ich mich auf Haferschleim garantiert übergeben würde, es gab kaum etwas, das ich widerlicher fand, aber sie blieb resolut, stellte mir den Teller hin und bestand darauf, dass ich aß. Ich begann schon nach zwei Löffeln zu würgen und im nächsten Moment spuckte ich den Brei über den weihnachtlich gedeckten Tisch. Ingeborg blickte sprachlos vor Entsetzen auf die gesprenkelte Dekoration.

In diesem Moment griff endlich meine Oma in das Geschehen ein. Nicht weniger resolut als Ingeborg stellte sie fest, ich sei wohl ernstlich erkrankt und da ich mich unter ihrer Fürsorge in der Regel am schnellsten erholte, würde sie mich jetzt gleich mit nach Würzburg nehmen. Ich fand diesen Vorschlag großartig, packte meine Geschenke und meine Tasche zusammen und als ich mich zu ihr ins Auto setzte, fühlte ich mich schon viel weniger krank.

Da ich in der Nacht kaum geschlafen hatte, döste ich die ganze Fahrt über und bei meiner Oma angekommen, legte ich mich gleich auf die Couch. Sie setzte sich zu mir und erklärte: „Jetzt lassen wir mal diesen Blödsinn mit dem Haferschleim. Dein Körper weiß am besten, was jetzt gut für dich ist. Also was möchtest du essen? Worauf hast du am meisten Lust?“

Diese Frage fand ich sehr leicht zu beantworten: „Omatoast!“

Omatoast, das waren zwei Scheiben gebuttertes Toastbrot, entweder mit Marmelade bestrichen oder mit Käse belegt. Der einzige, entscheidende Unterschied zu normalem Toast war der, dass meine Oma die Scheiben nicht in der Mitte halbierte, sondern drittelte, manchmal sogar viertelte. Als Kind konnte ich besser danach greifen und als ich älter wurde, bestand ich darauf, dass sie ihn mir weiterhin so schnitt. Ich schwöre, dass gedrittelter Toast anders und viel besser schmeckt als halbierter!

Als meine Oma mir an diesem Weihnachtstag meinen Toast machte, verspeiste ich ihn jedenfalls mit Genuss, mein Magen gab Ruhe und ich war überzeugt, das beste Weihnachtsessen zu bekommen, das es überhaupt nur geben kann. Ich fühlte mich überhaupt nicht mehr krank, hatte allerdings auch nichts dagegen einzuwenden, dass meine Oma mich weiterhin umsorgte und mir jeden Tag aufs Neue Omatoast machte.

©Katja Rübsaat

10. Dezember 2013

Eiskalt erwischt… an einem 10. Dezember 

Der Mann schlug den Kragen seiner Jacke hoch, wickelte den Schal noch fester um seinen Hals und versuchte so wenig wie möglich von der Winterluft einzuatmen, die ihn wie ein eisiger Mantel umfing. Verdammt kalt heute! dachte er und rieb seine fröstelnden Hände, ich kann keine Erkältung gebrauchen. Seine Stimme war sein Instrument und sie musste das ihr eigene, weiche Timbre unbedingt behalten. Am Abend stand ein wichtiger Auftritt an. 

Es war um die Mittagszeit an einem 10. Dezember, die Wintersonne mit ihren blassen Strahlen hatte sich gerade wieder verkrochen und ein  paar Schneeflocken tänzelten zu Boden. Der Sänger schritt forsch aus, drehte sich einmal kurz um und winkte lachend seinen Musikern zu, die ihm auf das Rollfeld des Flughafens von Cleveland folgten. Dort wartete schon die kleine zweimotorige Beechcraft, sein eigenes Flugzeug, das ihn und seine Jungs von Konzert zu Konzert flog. 

Otis dachte an den gestrigen Auftritt in Leo’s Casino, bei dem er und seine Musiker alles gegeben hatten und der ein riesiger Erfolg gewesen war. Nun freute er sich wie ein Schneekönig auf den heutigen Abend in der Factory in Madison, der sicherlich eine Riesensause würde, denn die Konzerttickets waren wie warme Semmeln weggegangen. Endlich schien es mit seiner Karriere steil nach oben zu gehen!

Und es gab noch etwas, auf das er sich freute, denn in ein paar Tagen würde er wieder bei seiner Frau und seinen Kindern sein, sie würden zusammen Weihnachtseinkäufe tätigen und die Wohnung schmücken. Und zum 1. Weihnachtstag hatten sich seine Eltern aus Georgia zu Besuch angesagt. Schade, dass er kaum noch Zeit für seine Familie und seine Verwandten hatte und sie nur noch selten sah! Er seufzte kurz auf. Das war halt der Nachteil seiner Popularität. 

Mittlerweile hatten Otis und seine Musiker, die Bar-Kays, das kleine Flugzeug erreicht. Sie kletterten hinein, nahmen auf ihren Sitzen Platz und schnallten sich an. Als der Flieger abhob, schaute Otis durch das kleine Kabinenfenster nach draußen. Ein paar Schneeflocken klebten an der Scheibe, doch das war für ihn kein Grund, sich wegen des Wetters zu sorgen. Bis jetzt hatte die kleine Maschine sie bei jeder Witterung sicher zum Ziel gebracht.

„Mach‘ doch mal einer die Heizung an, es ist arschkalt hier im Flieger!“, rief eine murrende Stimme.

„Shit! Geht leider noch nicht. Die Batterie ist fast leer“, meldete sich der Pilot, „wir müssen erst in der Luft sein, dann dreh‘ ich die Heizung voll auf.“

„Und hoffentlich bekommen wir bald etwas zwischen die Kiemen“, flachste Ben Cauley, der Trompeter der Band, „ich hab‘ einen Bärenhunger.“

„Hey Mann, sobald wir in Madison gelandet sind, gibt’s Futter im Hotel“, beschwichtigte Otis seine Leute, „und bitte jetzt keine Störung! Ich hol‘ mal ‚ne Mütze Schlaf nach.“

Er machte es sich in seinem Sitz bequem und schloss die Augen. 

Bilder aus seiner Kindheit und Jugend tauchten vor ihm auf. Er erinnerte sich immer gerne daran, wie in seinem Elternhaus und in der Gemeinde gesungen und musiziert wurde und dass es für ihn, den Sohn eines Baptistenpredigers, einfach eine Selbstverständlichkeit war, dass auch er eines Tages im Gospelchor mitsang. Und wie er dann als Teenager am Radio hing, als die Sender die mitreißenden Songs von Little Richard spielten, von diesem kleinen drahtigen Mann, der so vehement die Tasten seines Klaviers bearbeitete, dass man einfach aufspringen und mittanzen musste. Und er hörte sich auch gerne die gefühlvollen Balladen von Sam Cooke an, dem Mann mit dieser Samtstimme, der später sogar sein guter Freund werden sollte. Ja, so ein  Sänger wie seine Vorbilder wollte er auch werden! Das war immer noch sein großer Traum. 

Unwillkürlich musste er grinsen, als er an daran dachte, wie er als Road Manager lokal bekannte Bands begleitet und diese als Background-Sänger bei ihren Plattenaufnahmen  unterstützt hatte. Bei einer unverhofft freien Zeit im Studio hatte er die Chance ergriffen, um seinen eigenen Song, an dem er schon lange herumbastelte, auszufeilen. These arms of mine wurde dann tatsächlich veröffentlicht und war sogar recht erfolgreich. Ja, das war so ein richtiger Schmusesong! Und wenn er ihn bei seinen jetzigen Auftritten inbrünstig und mit seinem ganzen Körpereinsatz performte, flogen auch schon mal Liebesbriefe und Dessous der weiblichen Konzertbesucher zu ihm auf die Bühne. 

Seit seiner Europa-Tournee im vergangenen Sommer wusste der Sänger, dass er auch bei hellhäutigen Musikfans ankam. Ja, Soul-Music war seit Mitte der sechziger Jahre dabei, die Welt zu erobern! Er war stolz darauf, dass er zu ihren Interpreten gehörte und seit er sich vor kurzem die Polypen hatte entfernen lassen, war seine Stimme noch besser und ausdrucksvoller geworden. Und seine neue Single, die er gerade erst vor drei Tagen im Studio fertiggestellt hatte, Sittin‘ on the dock oft the bay, war ein richtiger Ohrwurm und hatte doch das Zeugs zu einem Welthit. 

Otis überschlug noch einmal in Gedanken seine Termine: Erst kam das Konzert heute Abend in Madison, dann morgen noch ein Auftritt in einer Fernsehshow und dann… endlich Pause bis Weihnachten. 

Als er gerade eingeschlafen war, wurde er unsanft aus seinen Träumen gerissen. Ein heftiges Unwetter schien die Maschine gepackt zu haben und rüttelte und schüttelte sie hin und her. Otis erfasste auf einmal panische Angst! Krampfhaft versuchte er jedoch, Ruhe zu bewahren und drehte sich besorgt nach den anderen Bandmitgliedern um. Auf allen Gesichtern, in die er blickte, malte sich das blanke Entsetzen ab! Ein Mann fing laut an zu beten und ein anderer schrie gellend auf: “My God, what happend to us! Oh, no! No!“.

Dann wurde es dunkel und eiskalt… um Otis… und um die Musiker… 

* * * 

Die Maschine stürzte in den zugefrorenen Lake Monona in der Nähe der Stadt Madison im US-Staat Wisconsin, bohrte sich tief in den verschlammten Seeboden und brach auseinander. 

Ben Cauley, der Trompeter, hatte noch kurz vor dem Aufprall seinen Gurt geöffnet. Er wachte im eiskalten Wasser auf und schaffte es, sich an einen Sitz, der neben ihm schwamm, festzuhalten. Als er von den ersten Helfern, die zur Unglückstelle eilten, aus dem Wasser gefischt wurde, war er völlig unterkühlt und stand unter Schock. Da es den Rettungstauchern nicht möglich war, bei den herrschenden Wassertemperaturen bis zur Unglücksmaschine hinunterzutauchen, konnten die anderen Passagiere erst am nächsten Tag geborgen werden. Otis Redding, sein Sekretär, vier Musiker und der Pilot hatten den Absturz nicht überlebt. Der tote Otis saß noch festangeschnallt in seinem Sitz, als er in den eisigen Wasserfluten gefunden wurde.

Ben Cauley erholte sich nur langsam von dem Unglück, das er als Einziger überlebt hatte. Nach seiner Genesung übte er seinen Beruf als Musiker wieder aus. 

Die Unglücksursache des Flugzeugabsturzes konnte jedoch nie ganz geklärt werden. Zunächst munkelte man, dass die schwarze Mafia dahinter gesteckt hätte und dass an der Maschine manipuliert worden wäre. Später vermutete man, dass wahrscheinlich die Bordinstrumente im Anflug auf Madison versagt hatten, was aufgrund der Batterieprobleme beim Start viel plausibler klang. 

Otis Redding, dieser großartige Sänger, Musiker und Songschreiber, der auch „King of the Soul Singers“ genannt wurde, starb am 10. Dezember 1967. Er wurde nur 26 Jahre alt und hinterließ eine Frau und vier Kinder und Millionen trauernder Fans in aller Welt. Seine Songs sind heute, 46 Jahre nach seinem Tode, immer noch unvergessen und werden noch oft und gerne gespielt.

©Rebekka Weber 

 

 

Quellen: http://de.wikipedia.org/wiki/Otis_Redding

Hier ist eine Auswahl der besten Songs von Otis Redding und natürlich meine Favourites: 

Der Klassiker: 

Link zu: My Girl

http://www.youtube.com/watch?v=LjpluTCICO4 

Der Welthit: 

Link zu: Sittin’ on the Dock of the Bay

http://www.youtube.com/watch?v=UCmUhYSr-e4&NR=1

11. Dezember 2013

Das getauschte Weihnachtsglöckchen

Jedes Jahr an Hl.Abend warteten die Kinder gespannt auf das leise Bimmeln des Weihnachtsglöckchen. Die Mutter behauptete immer, dass das Christkind persönlich läuten würde. Dann öffnete sie von innen die Türe der guten Stube und alle hielten den Atem an. Hell erstrahlte der Baum im Kerzenlicht. Geschmückt mit Zuckerkringeln und goldenen Nüssen. Zwischen den Zweigen noch etwas Engelshaar, glänzendes Lametta und funkensprühende Wunderkerzen.

Die Geschenke lagen, verpackt in buntes Papier, unter dem Baum. Und manch heimlicher Blick verirrte sich dorthin, während die traditionellen Weihnachtslieder gesungen wurden. Die glockenklare Stimme der Mutter eiferte mit dem tiefen Bass des Vaters um die Wette. Da wirkten die zarten Kinderstimmen etwas verloren. Doch die hatten ihre Gedanken sowieso schon bei den Geschenken.

Aber ich wollte ja hier von dem Weihnachtsglöckchen erzählen. Für viele Generationen von Kindern hatte es schon den Hl. Abend eingeläutet. Der kleine Klöppel war schon ganz abgenutzt. Sein Messingmäntelchen wurde jedes Jahr aufs Neue sorgfältig poliert und nach der Bescherung wieder weichgepolstert weggepackt.

Nur an einem einzigen Weihnachtsfest war es nicht erklungen. Damals war Krieg und so mancher wusste nicht, wie er die Kinderaugen wieder zum Strahlen bringen konnte. Es gab kaum Mehl und Zucker. Und so wurden in der Not die Plätzchen aus gemahlenen Erbsen gebacken und der Zucker, wenn vorhanden, durch Rübensirup ersetzt. Graupen wurden nicht nur für die Suppe, sondern ebenfalls zum backen verwendet.

Großvater kaufte am letzten Abend den billigsten Baum. Einen den, wegen seiner mageren Äste, keiner wollte. Aber er verstand es, ihn mit ein paar aufgepfropften Zweigen in einen würdigen Weihnachtsbaum zu verwandeln. So erzählte es später die Mutter. Sie selbst war damals noch ein Kind, und hatte Wünsche wie alle Kinder. Meist reichte es aber nur für ein neues Puppenkleid aus alten Stoffresten und ein aus aufgeribbelter Wolle gestricktes Jäckchen.

Dann wurde Großvater kurz nach Weihnachten eingezogen. Er tröstete seine Kinder mit den Worten: „Wenn unser Weihnachtsglöckchen bimmelt komme ich wieder“. Also freuten sich die Mutter und ihr kleiner Bruder umso mehr auf das nächste Fest.

Das Jahr ging zu Ende, aber nicht der Krieg. Schon im Herbst sparte  Großmutter sich Lebensmittelmarken ab, um ihren Kindern eine Freude machen zu können. Zum Schluss fehlte nur ein Baum. Wenigstens ein kleiner sollte es sein. So einen hatte auch der Händler noch, wollte aber wegen des ebenmäßigen Wuchses einen anständigen Gegenwert dafür.

Auch mit einem Tausch in entsprechender Höhe wäre er einverstanden. Schließlich wechselten für das Bäumchen  zwei paar wollene Strümpfe und ein Kartoffelkuchen den Besitzer. Für drei rotbackige Äpfel und eine Handvoll Nüsse gab Großmutter ihm schweren Herzens das alte Messingglöckchen.

Das Weihnachtsfest kam und kein Glöckchen erklang. Den Kindern wurde erzählt, das Christkind sei damit zum Vater geflogen um ihn endlich heim zu holen. So waren sie zufrieden und freuten sich über die, wenn auch spärlichen Gaben.

Es wurde Frühling und wieder Sommer. Es musste wohl eine lange Reise sein, die das Christkind da machte. Las Großmutter die Feldpost vor, hofften die Kinder vergeblich auf ein Zeichen seiner Rückkehr.

Doch dann, an einem heißen Augusttag, glaubten sie des Nachts den langerwarteten Klang der kleinen Glocke zu hören. Vielleicht war es aber auch nur ein Wunschtraum. Aufgeregt rannten sie im Nachtgewand die Treppe hinunter: „Mutter, der Vater kommt. Das Glöckchen hat geläutet“. Und sie ließen sich nicht davon abhalten die Haustüre zu öffnen.

Tatsächlich, da tauchte aus dem Dunkeln der Großvater auf. Müde und leicht verletzt. Aber glücklich wieder zu Hause zu sein. Am nächsten Tag fragten sie ihn dann nach dem Glöckchen, und ob er es nicht wieder mitgebracht hätte. So musste Großmutter ihm in einer stillen Stunde alles beichten. Und die Kinder wurden auf Weihnachten vertröstet.

Da erklang dann tatsächlich wieder das Weihnachtsglöckchen. Wie es wirklich zurückgekommen war, blieb für immer ein Geheimnis.     

©Ute Wunderling

 

12. Dezember 2013

Der warmherzige Bettler 

Seit Langem ergab sich für mich die Möglichkeit, die Feiertage mit meinen Eltern zu verbringen. Die letzten Jahre verbrachten wir Heiligabend am Telefon. Ich hatte es geschafft, hatte einen guten Job, verdiente gut und war nie zu Hause. Zu dieser Zeit hatte ich beinahe kein Zuhause. Irgendwo stand nur eine kalte, leere Wohnung, die meinen Namen an der Klingel trug.

Doch nun war ich dabei, endlich ein Weihnachtsfest wieder in der Heimat zu verbringen. Mit den alten Gesichtern, die älter geworden sind. Mit den alten Bräuchen, die gleich geblieben waren. Mit den alten Gefühlen, die immer wieder neu entbrannten. Kaum angekommen, saß ich mit meinen Eltern am Tisch bei Kaffee und Plätzchen. Als sie mir eine Geschichte aus dem Ort erzählten, die sich erst kürzlich zugetragen haben musste. 

Herr Harnisch, ein netter und fröhlicher Herr, lebte mit seiner Frau seit über 35 Jahren zusammen und betrieb seine eigene Tischlerei. Vor ein paar Jahren ist seine Frau jedoch verstorben. Was ihn aus der Bahn geworfen hatte. Er war danach nicht mehr der Alte. Vernachlässigte die Tischlerei, seinen Unterhalt und verlor alles. Das Schlimmste daran war, er ließ sich nicht helfen. Zusätzlich kam hinzu, dass er, seit er seine Frau verabschieden musste, kein Wort mehr gesprochen hatte. Er war völlig in sich gekehrt. 

Bald lebte er auf der Straße. In dem kleinen Örtchen, in dem ich aufgewachsen bin, war das eine unliebsame Seltenheit. So schrieb man dem Betroffenen, Eigenverschulden zu. Beschimpfte ihn als Alkoholiker und Penner. 

Meist sonntags sah man ihn dann auf dem Kirchenvorplatz still sitzen und um ein paar Münzen betteln. Die vorbeilaufenden Gläubigen erbarmten sich eher selten zu einer kleinen Spende.

An dem Abend eines Adventssonntages war er, nach langem Knien in der Winterskälte, aufgestanden und ging gerade am Marktplatz die Läden entlang. Er lief nicht mehr so gut. Auf dem Marktplatz war der Weihnachtsmarkt gut besucht und auch die Läden drum herum, haben sich den Ansturm der Kaufwütigen nicht entgehen lassen wollen. 

Vor einer Konditorei entdeckte er zwei kleine Mädchen. Eine große und eine kleine Schwester. Sie hielten sich an den Händchen und starrten durch die dampfbedeckten Scheiben auf die ausgestellten Leckereien. Ihre Kleidung schien viel zu groß und abgenutzt. 

Als er gerade an ihnen vorbeilief, hörte er, wie die Große meinte: „Mama wird böse sein, wenn wir uns das kaufen.“ Darauf stampfte die Kleine auf: „Ich mag jetzt aber einen Lebkuchen.“

Der alte Mann war schon fast an ihnen vorbei, als er anhielt. Drehte sich um und starrte in die weit geöffneten Augen der kleinen Schwester, die ihn ansah. Er lächelte und sie lächelte zurück. Ohne längeres Zögern, schritt er auf die Tür der Konditorei zu, um sie zu öffnen und winkte die Beiden herbei. Die Kleine stürmte los, sodass die Große sie nicht mehr halten konnte, obwohl sie sofort mit dem Protest begann. 

Vor der Theke angekommen, schaute das kleine Mädchen noch mal zu Herrn Harnisch hoch und dieser lächelte und nickte. Sie fuhr herum und konnte kaum über die Theke blicken.

„Ein Lebkuchen, bitte!“, machte die Kleine lautstark der Verkäuferin deutlich. Die große Schwester versank vor Scham.

„Ja könnt ihr das überhaupt bezahlen?“, fragte die Verkäuferin ungläubig und lehnte sich vor. Herr Harnisch klopfte laut auf das Holz der Theke mit einem schroffen Blick. Dann hob er die Hand und signalisierte mit den Fingern, dass sie sogar zwei haben möchten. 

Die verdutzte Verkäuferin blickte den alten Herrn kurz und verunsichert an. Nahm eine Zange und legte zwei Lebkuchen mit Schokolade überzogen auf einen Teller. Der alte Mann steckte seine Hand in die Tasche seines verschlissenen Mantels und zog eine Handvoll Münzen heraus. Mühsam zupfte er mit der linken Hand aus der offenen Rechten die Summe in kleinen Beträgen heraus. Blickte noch mal zur Kontrolle in seine offene Linke und übergab es der Verkäuferin. Das Geld aber wog schwer wie Blei in der Hand der Frau und sie konnte es nicht einfach in die Kasse werfen.

Die Kleine sprang zu Herrn Harnisch und umarmte ihm. Da wurde es ihm warm ums Herz. Die Große bedankte sich schüchtern und beide Schwestern nahmen schnell ihren Teller und setzten sich an einen der freien Tische. Herr Harnisch verließ aber die Konditorei.

Noch immer stand die Verkäuferin mit dem Geld in der Hand hinter der Theke. Sie hätte es am liebsten dem alten Mann wieder gegeben. Doch sie war nur eine Angestellte und sie konnte nichts verschenken, was nicht Ihres war. Es gab nur einen Ausweg, dachte sie und ging nach hinten ins Personalzimmer. Zückte ihre Geldbörse aus dem Spind und daraus einen Fünfeuroschein. Ging damit vorne zu dem Tisch der Mädchen, nahm die Hand von der Großen und steckte ihr den Schein zu. Die Große schüttelte den Kopf doch die Verkäuferin bestand darauf. Dann konnte sie endlich an die Kasse gehen und das Geld des alten Mannes hineinwerfen.

Diese Selbstlosigkeit beeindruckte mich. Es stimmt doch, wer wenig hat, der gibt am meisten. 

Die Zeit verging und im Handumdrehen war Heiligabend. Ich fand mich wieder zwischen hell beleuchteten Regalen, weihnachtlicher Musik und hetzenden Menschen in einem Einkaufszentrum. Ich hatte schon eigentlich alles bereit und eingepackt und doch wollte ich noch mal mit einer Kleinigkeit das Geschenk für die Mutter ergänzen.

Als ich bekam, was ich wollte, war es draußen bereits dunkel geworden. Ich sollte mich beeilen, dachte ich mir, doch ein Gefühl von Weihnacht überkam mich und ich konnte nicht an der alten Kirche, in der ich getauft wurde, vorbei, ohne ihr einen Besuch abzustatten. Viele Weihnachten habe ich dort verbracht und sie würde mir bestimmt das letzte gute Gefühl für ein rundum gelungenes Weihnachtsfest geben. 

Als ich sie betrat, durchfuhren mich die Erinnerungen. Der Duft, das Licht, die Atmosphäre. Ich ging zu einer Bank und setzte mich. Drüben im linken Flügel der Kirche war wieder die alte Krippe aufgebaut worden, die automatisch Weihnachtslieder trällerte. Ich schwelgte in den Tönen und in den Erinnerungen meiner Kindheit. 

Nach einem kurzen Dialog mit dem Herrn und mir selbst verließ ich das Gotteshaus. Als ich durch die große Tür schritt, fiel mein Blick auf eine Person, die da dunkel im Schnee kniete. Ich erinnerte mich an die Geschichte, ging langsam auf den Bettler zu und fragte:

„Herr Harnisch?“, er blickte hoch und sah furchtbar aus. Die Haut war kalt und blau. In seinem grauen Bart hatten sich Schnee und Eis gebildet. Er zitterte. Mich durchfuhr eine Idee, ein Vorhaben, das in meinem Leben keinem anderen glich. Eine warme Entschlossenheit. Mit einem Schritt stellte ich mich neben ihn und griff ihm unter die Arme.

„Kommen sie Herr Harnisch, sie brauchen kein Geld. Ich weiß, was sie jetzt mehr brauchen!“, sagte ich und er ließ sich von mir auf die Füße stellen. Er lief gar nicht gut, humpelte mit mir den alten Markt entlang. Der alte Herr konnte nicht ahnen, was das Ziel unserer Reise war. Ich steuerte mit ihm das Hotel "Zur alten Münze" an. Ein fünf Sterne Etablissement mit einer Fassade aus rotem Marmor.

An der Rezeption blickte uns die Frau genauso verwundert an, wie Herr Harnisch mich anblickte.

„Ein Zimmer für eine Person bis 6. Januar, Vollpension. Ich habe nicht reserviert.“

Sie blickte sich verzweifelt nach Hilfe durch einen Mitarbeiter oder Chef um und suchte nach einer passenden aber nicht beleidigenden Erklärung, warum das nicht möglich wäre. Doch dem kam ich entgegen und zuckte meine Kreditkarte. Beim Anblick meiner Geste erhellte sich ihr Gesicht und sie trat näher. Erklärte aber, dass nur noch Zimmer im gehobenen Standard vorhanden wären. Ich nickte zustimmend und Herr Harnisch blickte von mir zu ihr und wieder zurück. Schüttelte den Kopf, aber ich war nicht von meinem Vorhaben ab zu bringen. Niemand sollte Weihnachten in der Kälte alleine draußen leben. Als die Rezeptionistin meine Karte in die Hand nahm, war ihr deutlich anzusehen, dass sie schwer wie Blei in ihrer Hand lag. Ihr Blick verriet, wie sie sich innerlich wehrte, dieses Zimmer abzukassieren. Aber sie hatte keine Wahl. 

Nachdem wir die Karte fürs Zimmer bekamen, klingelte sie nach einem Pagen, welcher sich wunderte, dass wir beide kein Gepäck bei uns hatten.

Er führte uns zum Lift und rauf zum Zimmer 614. Ein edles, großräumiges Zimmer mit einem Blick weit über die Stadt. Den Hof des Hotels schmückte ein riesiger Tannenbaum, mit Lämpchen und Kugeln behangen. Das Zimmer war warm und ruhig gelegen. Weg vom Trubel der Weihnachtszeit, weg von der Winterskälte, hier wollte ich den alten Herrn unterbringen. 

Ich öffnete die Tür zum Bad und bat Herrn Harnisch, ein Bad zu nehmen. Den Pagen hatte ich beauftragt, ihm Kleidung zu besorgen. Dafür steckte ich ihm das gesamte Geld, das ich noch bei mir hatte, zu.

Als ich das Hotel verließ, war ich blank und mit einer riesigen Rechnungssumme auf meiner Kreditkarte belastet, doch innerlich war ich glücklicher als ein Kind, das ein teures Spielzeug unter dem Weihnachtsbaum entdeckt. So reichlich beschenkt, ging ich nach Hause zu meinen Eltern und feierte ein Weihnachtsfest wie nie zuvor. Ich hatte mir selbst, das schönste Geschenk gemacht. 

Die Zeit verging so schnell und ich fand mich, mitten im Januar des neuen Jahres, vor meinem Schreibtisch wieder. Die Tat vom Heiligabend blieb mir noch lange als Freude in Erinnerung, jedoch war nun Konzentration gefragt, für die neuen Aufgaben, die mir beruflich bevorstanden, als mein Handy klingelte. Routiniert schnappte ich mir das Gerät und nahm es hoch an mein Ohr.

„Hallo, hier ist das „Hotel zu alten Münze“, Rezeption ...“, die Rezeptionistin war am Apparat.

„Sie haben am Heiligabend den Herrn Harnisch in unser Haus eingeladen.“ Ja, ich erinnerte mich natürlich und war schon voller Vorfreude zu erfahren, wie es ihm ergangen ist. 

„Der Herr Harnisch ist am Morgen des Neujahrs in unserem Hause verstorben.“ Ich war sprachlos und tief getroffen. Die Stille unterbrach die Rezeptionistin würdevoll:

„Ich dachte, Sie sollten das erfahren, egal, in welchem Verhältnis Sie zu dem Herrn standen. Es hat sonst nämlich keinen interessiert“, sagte sie mit Trauer in ihrer Stimme. „Ich habe veranlasst, dass wir das Zimmer in einer unserer untersten Tarife abrechnen und den Rest, wenn es Ihnen recht ist, überweisen wir zurück auf Ihr Kartenkonto.“

Mit einem Kloß im Hals regte sich endlich wieder, wenn auch zitternd, meine Stimme, doch ich versuchte Fassung zu bewahren. „Nein, ich möchte das Geld nicht, bitte übergeben Sie es an einen Bestatter ihres Vertrauens. Er soll dem alten Herrn, ein würdiges Begräbnis machen.“ Sie stimmte zu und versprach sich persönlich darum zu kümmern. 

Ein alter Brauch besagt, dass man am gedeckten Weihnachtstisch immer einen Teller für den unerwarteten Gast bereitstellen sollte. Seit dieser Zeit ist Herr Harnisch immer Gast an meinem gedeckten Tisch gewesen.

©gabrielangelo

13. Dezember 2013

Siehst du den Himmel weinen 

Mein Kind, ich hör dein Schreien

mit dem du Laut uns gibst

Der Westen hüllt in Schweigen sich

hört nicht dein Klagelied. 

 

Malou schaute zum Himmel.

Ob die Sterne ihnen den Weg weisen würden in das Land ihrer Träume?

Bernadette und Bobo, ihre Kinder, schoben sich noch näher an den Körper der Mutter, saugten deren Wärme förmlich in sich auf. Vor vier Tagen waren sie an Bord gegangen. Ein kleiner Kahn, eine Nussschale auf dem Ozean sollte sie in das Land der Glückseligkeit bringen. Unruhig schaukelte es auf dem Meer, verursachte bei den Reisenden Übelkeit bis hin zum Erbrechen.

Fast ein wenig ruppig schob Malou die kleine Bobo zur Seite. Sie war in Mutters Schoß eingeschlafen. Malou konnte vor Kälte ihre Beine kaum noch spüren. Ihre klammen Hände rieben so lange, bis Gefühl zurück kehrte und das Blut schmerzhaft zu zirkulieren begann. Zusammengekauert, Wind und Wetter ausgesetzt, spürte Malou, wie ihre Kräfte immer mehr nachließen. Seit Tagen trank sie nur wenige Schlückchen Wasser, das Brot teilte sie unter den Kindern auf. Der Vorrat war auf zwei Tage geschmolzen, so sie widerstand und hungerte.

Von Osten kam Wind auf, die Bewegungen des Bootes wurden stärker. Malou betete zum Herrn, er möge sie mit dieser starken Brise doch endlich an Land spülen. Sie war so müde, weinte bittere Tränen, die im Mondlicht  glitzerten wie kleine Sterne auf dunkler Haut. Ermattet schlief sie ein, bemerkte nicht, dass der Wind sich gedreht hatte und die Wellen an den Bug schlugen wie Ohrfeigen, hart und erbarmungslos.

Da geschah das Unglück, das Boot kenterte.

Bernadette und Bobo fest umklammert, spürte Malou  nur die Kälte des Wassers, welches sich in ihren Kleidern fest sog und drohte, sie in die Tiefe zu ziehen. Es war ein Segen, denn sie trug eine Schwimmweste. Malou glaubte an den Herrn und daran, dass er sie sicher an Land bringen würde. Sie begann zu singen. Eine einsame Frau mit zwei Kinder, die den Wogen des Meeres mit einem Psalm zu trotzen glaubte.

Die Zeit stand still, dehnte sich zur Ewigkeit. Stunden vergingen. Nur mühsam gelang es ihr, die Kinder fest zu halten. Malous Gedanken waren unerträglich. Welches der beiden Kinder würde sie zuerst loslassen, welches aufgeben müssen, wenn ihre Kräfte schwanden. Keines, schrie ihr Herz, doch ihr Verstand machte ihr klar, dass sie sich entscheiden musste. Niemals, nein, lieber würde sie sterben. Der Gedanke, es den Kindern zu überlassen, nahm Gestalt an. Welches der Kinder würde sie verlieren? Verlor sie am Ende beide. 

Am Abend des 24. Dezembers fand ein Frachter vor der griechischen Küste 2 Personen im Wasser treibend. Laut der Pässe handelte es sich um Malou Dahab und ihre 4 jährige Tochter Bobo, deren Arme fast um den Hals der Mutter verknotet waren.

Die neunjährige Bernadette Dahab galt seit diesem Tag als vermisst. 

© 2013 Sissi Kallinger 

Diese Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Ich widme sie jener Mutter und ihren Töchtern, die das rettende Ufer nicht gemeinsam erreicht haben. Nur einem Mädchen gelang es, sich festzuhalten. Möge sie uns gerade in der Adventszeit daran erinnern, dass nicht alle Menschen dort draußen das haben, was wir uns an Weihnachten immer wünschen.... 

Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.....

14. Dezember 2013

Es gibt gar keinen Nikolaus!

Mein kleiner Bruder war damals so ungefähr 8 und ich 12 Jahre alt. In jenem Jahr war er so ein rechter Lausbub gewesen und hatte einiges angestellt. Das in meinen Augen Schlimmste war, dass er gemeinsam mit einigen Freunden geraucht hatte. Dabei hatte ich ihn „erwischt“, denn dummerweise hatten sie sich genau dort versteckt, wo ich mich immer mit meiner Freundin nach der Schule traf.

Damit hatte er mich in Gewissenskämpfe gebracht, denn normalerweise galt für uns schon der Geschwisterehrenkodex, dass nichts an die Eltern „verpetzt“ wurde. Doch da wir gerade in der Schule ausführlich über das Thema Rauchen und die Gefahren für die Gesundheit informiert worden waren, machte ich mir große Sorgen um ihn. Nach einigem Hin und Her erzählte ich es doch meiner Mutter, was erstaunlicherweise gar nicht nötig gewesen wäre, denn sie hatte es buchstäblich „gerochen“, als er Heim kam.

Als nun der Nikolaus-Abend immer näher kam, meinte meine Mutter zu ihm, dass sie ja eigentlich einen Nikolaus für ihn bestellen müsste, da lachte er nur und antwortete großspurig: “ Den Nikolaus gibt es gar nicht! Das weiß doch jedes Kind! Und außerdem  -  unser Nikolaus was immer der Herr Maier!“

Herr Maier war ein lieber älterer Nachbar, der wirklich lange Jahre immer für die Kinder der Nachbarschaft den Nikolaus gespielt hatte. Meine Mutter sagte gar nichts dazu, sie zwinkerte mir nur zu.

Als der Nikolaus-Abend gekommen war, saßen wir drei am Küchentisch beim Abendbrot, als es plötzlich schellte. Meine Mutter forderte meinen Bruder auf, die Tür zu öffnen und ging leise hinter ihm her, während sie mir zuwinkte, auch mitzugehen. Neugierig folgte ich ihnen.

Mein Bruder öffnete die Türe und da stand DER NIKOLAUS! Und es war NICHT unser Nachbar, das merkte ich sofort, auch mein Bruder bemerkte es und bekam einen puterroten Kopf. Der Nikolaus fragte ihn, ob er Michael wäre. Mein Bruder konnte nur nicken, während ich im Hintergrund am liebsten laut gelacht hätte.

„So so…du bist also Michael! Von Dir habe ich dieses Jahr ja einiges zu hören bekommen, was den Nikolaus so gar nicht gefreut hatte! Und Du hast sogar geraucht! Versprich mir bitte, dass Du das nicht mehr tun wirst, zumindest, bis zu alt genug dafür bist!“  Stotternd versprach mein Bruder es.

Daraufhin meinte der Nikolaus, er käme nächstes Jahr wieder und würde dieses kontrollieren und da Michael ja nicht artig gewesen war, könne er ihm leider in diesem Jahr nur eine Rute geben und mit diesen Worten überreichte er ihm eine kleine Rute aus Reisig, die jedoch mit Schokoteilchen verziert war.

Artig bedankte sich mein sonst so großspuriger Bruder und der Nikolaus verließ das Haus. Ich lachte den halben Abend und mein Bruder blieb - zumindest am Rest dieses Tages - sehr still.

Meine Mutter hat uns nie verraten, wer dieses Mal unser Nikolaus gewesen war, obwohl ich sie bestimmt hundert Mal gefragt habe… Bei meinem Bruder waren jedenfalls noch einmal richtige Zweifel aufgetaucht, ob es denn nun vielleicht doch einen Nikolaus gäbe oder ob nicht…? Natürlich erzählte er nichts darüber seinen Freunden!

© GaSchu

15. Dezember 2013

Paping 

Mein Ururgroßvater Carl Johann Helmuth Lübs war Förster auf dem "Schnatermann", einem städtischen Forsthof auf der westlichen Seite der Rostocker Heide, am" Breitling", dem Oberlauf der Warnow. Es gibt viele schöne Geschichten, die noch heute in der Familie über ihn erzählt werden. 

Die allerschönste aber ist die über seinen Graupapagei „Paping“. Urahn Lübs sprach nur Plattdeutsch, natürlich auch mit seinen Tieren. 

Förster Lübs hatte einen Graupapagei, an dem er sehr hing und mit dem er sich gern unterhielt. Das Tier war sehr gelehrig und konnte gut sprechen. Aber eines Tages, Ende November, war der Papagei plötzlich verschwunden. Irgendwer hatte wohl eine Tür offen gelassen und der Vogel war ausgeflogen. 

Wochenlang fragte Förster Lübs jeden, den er traf: „Hemm’s nich so’n griesen Fagel seh’n, der sprechen kann?“ 

Niemand hatte ihn gesehen. 

Endlich, einen Tag vor Weihnachten, am 23. Dezember traf Förster Lübs jemanden, den er ebenfalls nach dem Vogel fragte und bekam zur Antwort, ja, er habe gehört, dass jemandem dreißig Kilometer weiter ein Papagei  zugeflogen sein solle. Aber das könne ja unmöglich seiner sein – soooo weit weg. 

Förster Lübs ordnete sofort an: „Johann, spann an, wi föhrn dor hin!“ 

Als er zu dem ihm genannten Gehöft in Altheide, einem Dorf an der östlichen Seite der Rostocker Heide kam, meinte auch der Besitzer, das könne unmöglich sein Papagei sein und wollte den Förster eigentlich gar nicht herein lassen. Der aber bestand darauf, den Vogel wenigstens mal anzuschauen. 

Nach vielem Hin und Her ließ der Bauer den Förster ins Haus. Als Vogel und Förster sich sahen, kam aus dem Käfig: „Na Lübs, büst ok dor?“ 

©Angela Ewert

16. Dezember 2013

Herbst 1980

Saskia war begeistert, denn sie durfte dieses Wochenende wieder bei ihrer Oma schlafen. Das war immer toll! Nicht nur, weil sie ihre einzige Oma sehr gerne mochte (ihre Opas und die andere Oma hatte sie nie kennengelernt, da sie lange vor ihrer Geburt gestorben waren), sondern auch, weil einige Dinge eben „typisch Oma“ waren. So zum Beispiel gab es nur bei ihrer Großmutter Malzbier zu trinken. Das stand in dem großen Vorratsschrank im Flur und die Fünfjährige durfte sich bei jedem Besuch eine Flasche davon nehmen.

Außerdem wohnte Oma direkt in der Altstadt des kleinen Ortes, was natürlich den ein oder anderen Stadtbummel mit einer kleinen Leckerei mit sich zog. Und morgens ging Saskia immer mit ihrer Oma in die Eduscho-Filiale direkt gegenüber von der Wohnung um Frühstücksbrötchen zu holen. Ganz frische Brötchen! Lecker, die gab es zuhause eigentlich nie. Die Bäckerei mochte sie sowieso sehr gerne; es duftete dort verführerisch und in dem großen Regal neben der Brötchentheke waren immer ganz tolle Sachen zum Verkauf ausgestellt – interessante Spielzeuge, hübsche Dekoartikel, bunte Schlafanzüge und vieles mehr, was Kinderaugen zum Strahlen bringt.

Auch an diesem Samstagmorgen begleitete Saskia ihre Oma wieder zu dem obligatorischen Brötchenkauf.

Noch bevor sie sich die Brötchenauswahl näher anschaute (um sich dann wie fast immer für ein Mohnbrötchen zu entscheiden), fiel ihr Blick auf das Regal. Wow, dort saßen die schönsten Teddys, die sie je gesehen hatte! Die eine Hälfte mit blauen Jacken, die andere mit roten Jacken. Saskia war eigentlich immer ein sehr ruhiges Mädchen, das sich am liebsten ganz unauffällig verhielt, aber die Teddys zogen sie so in ihren Bann, dass sie ihre Oma an der Hand packte und begeistert mit sich zu dem Regal rüberzog.

„Guck mal, Omi – sind die nicht toll?!?“ Die Oma war ein wenig überrascht aufgrund dieses unerwarteten Gefühlsausbruchs und entgegnete lächelnd: „Ja, die sind sehr hübsch.“ „So einen hätte ich gerne ...“, sinnierte das Mädchen verträumt vor sich hin. „Mit der roten Jacke, nicht?“, hakte die Großmutter nach. Ein leicht tadelnder Blick traf die Oma: „Ach Omi, mit der blauen Jacke natürlich!“ Warum vergaß sie nur immer, dass Saskias Lieblingsfarbe blau war und nicht die typische Mädchenfarbe rot? „Es dauert zwar noch ein ganzes Weilchen bis Weihnachten, aber vielleicht merkt sich der Weihnachtsmann deinen Wunsch ja bis dahin“, frohlockte die Oma, was von einem eifrigen „Das wäre schön!“ von ihrer jüngsten Enkelin quittiert wurde.

Nach dem Frühstück holte Saskia ihre Malsachen hervor und machte sich ans Werk. Als sie fertig war, lief sie in die kleine Küche und hängte das Bild an den Kühlschrank. Neugierig schaute Oma um die Ecke: „Was hast du denn Schönes für mich gemalt?“ Während Saskia entgegnete: „Einen Merkzettel für den Weihnachtsmann, für einen Wunschzettel ist es wohl noch etwas früh“, schaute die Oma schmunzelnd auf das Bild, das einen großen Weihnachtsbaum zeigte und daneben einen ebenso großen Teddybären mit blauer Jacke. „Aber holt der Weihnachtsmann die Geschenke denn überhaupt jetzt schon?“, setzte Saskia nachdenklich, fast besorgt nach. „Da waren ja gar nicht mehr viele und vielleicht sind nächste Woche schon wieder ganz andere Sachen in dem Regal.“ „Da musst du dich wohl überraschen lassen. Das gehört eben auch zu Weihnachten“, schloss die Oma lächelnd die Diskussion.

Ein paar Wochen später

Saskia verstand die Welt nicht mehr. Ihr heißgeliebter Papa war jetzt in der Garage in seinem Auto und durfte nicht mehr ins Haus kommen. Von ihrer acht Jahre älteren Schwester Natascha bekam sie auf ihre ratlose Nachfrage nur zu hören: „Das ist, weil Mama und Papa sich gestritten haben.“ Saskia ging zu ihrem Vater nach draußen und brachte ihm noch eine weitere dicke Wolldecke für die Nacht mit, denn schließlich war es mittlerweile schon ganz schön kalt geworden. „Papa, darf ich heute Nacht hier bei dir im Auto schlafen?“, fragte sie traurig. „Nein, mein Schatz – du schläfst schön in deinem Bett“, entgegnete der Vater, nicht minder betrübt. „Wir sehen uns dann morgen wieder, wenn ich von der Arbeit komme.“

Die nächsten Tage wartete Saskia nachmittags immer sehnsüchtig darauf, dass der orangefarbene Ford Taunus auf den Hof mit den Garagen einbog, um ihren Vater sodann stürmisch zu begrüßen. Irgendwie war das Ganze auch ein wenig abenteuerlich ... wenn sie ihn in der Garage besuchte und etwas zu essen oder trinken aus dem Haus mitbrachte. Aber eigentlich doch mehr ein komisches und blödes Gefühl.

Allerdings dauerte dieser Zustand nur ein paar Tage an. Eines Nachmittags wartete Saskia vergeblich auf die Rückkehr des Fords und zu Hause war eine ganz merkwürdige Stimmung. Mama war größtenteils gar nicht da und die Schwester war äußerst genervt und abweisend. Sie hatte so eine Laune, bei der Saskia wusste, dass sie die große Schwester lieber in Ruhe lassen und ihr aus dem Weg gehen sollte. Als es aber immer später wurde, fragte sie doch vorsichtig nach: „Natascha, wann kommt Papa denn heute wieder?“ „Der kommt gar nicht mehr wieder. Der ist weg. Für immer“, bekam sie zur Antwort.

Entsetzt starrte Saskia ihre Schwester an. „W-weg? Wie weg? Wohin? Und warum?“ „Na, weg eben. Keine Ahnung wohin. Weil Mama mit ihm gestritten hat, weil er zuviel Bier säuft“, wurde sie von der Älteren ungewöhnlich barsch angeherrscht und als diese darauf wütend wegstapfte und mit lautem Knallen die Tür des gemeinsamen Kinderzimmers hinter sich zuwarf, war dies für Saskia ein eindeutiges Zeichen, dass das Gespräch damit für sie beendet war. Fassungslos stand Saskia nun allein in der Küche und versuchte, das soeben Gehörte zu verarbeiten. Weg? Ihr Papa konnte doch nicht weg sein! Er war doch ihr Ein und Alles!

Mit wem sollte sie denn dann Memory, Mensch ärger dich nicht und Mau-Mau spielen? Mama spielte nie mit ihr. Und die Schwester nur ganz selten. Mit wem sollte sie gemeinsam große Bilder malen und mit einer Tasse von ihm gekochten Kakao über den großen Puzzles sitzen, die sie beide so gerne gemeinsam machten und die er hinterher immer auf ein großes Holzbrett zum Aufhängen klebte? Wer würde draußen mit ihr Fußball spielen und ihr tolle Balltricks vormachen? Wer würde ihr zeigen, wie man Fahrradreifen flickt, mit einem Schraubenzieher umgeht und sie beim Tapezieren die langen Tapetenbahnen mit Leim einstreichen lassen – und dann stolz und lachend sagen, sie sei die weltbeste kleine Handwerkerin?

Und als sie letztes beim Spielen auf dem Hof so unglücklich gestürzt war und sich beide Lippen aufgeschlagen hatte: Wer würde sie zu sich aufs Sofa auf den Schoß nehmen, sie fest umarmen, sanft hin- und herwiegen und leise und beruhigend auf sie einreden, während ihre Lippen ganz behutsam mit einem feuchten, kalten Waschlappen abgetupft wurden? Zu wem sollte sie sich nachts ins Bett kuscheln, wenn sie aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte? All das und noch vieles mehr ging doch nur mit Papa, sonst mit niemandem. Saskia ließ sich auf den Boden sinken und begann bitterlich zu weinen. 

Ein paar Tage später, kurz vor Weihnachten

Saskia sollte wieder bei ihrer Oma, der Mutter ihres Vaters, schlafen. Aber dieses Mal freute sie sich gar nicht. Seit Papa weg war, war alles blöd und Saskia nur noch traurig. Zwar wusste sie mittlerweile, dass er nicht ganz „weg“ war, sondern bei einem seiner Arbeitskollegen untergekommen war, der ein ganzes Stück entfernt auf einem Bauernhof wohnte. Aus irgendeinem Grund durfte Papa sie nicht besuchen und Saskia konnte ihn nicht besuchen.

Besorgt blickte Oma auf das betrübte kleine Mädchen, das wie ein Häufchen Elend auf ihrem Sofa im Wohnzimmer saß. „Möchtest du dir heute gar kein Kinderbier aus dem Schrank holen?“, versuchte sie die Kleine aufzumuntern. „Nein, das trinke ich nicht mehr. Biertrinken ist nicht gut. Deswegen haben Papa und Mama gestritten und Papa ist weg.“ Mit diesen Worten erhob sie sich, ging in die Küche und nahm das immer noch am Kühlschrank hängende Bild vom Weihnachtsbaum mit Teddy ab, zerknüllte es und warf es in den Mülleimer. Die Großmutter, die ihr gefolgt war, fragte: „Warum wirfst du denn das schöne Bild weg?“ „Weil ich den Teddy nicht mehr haben möchte. Ich wünsche mir zu Weihnachten nur, dass Papa zurückkommt. Sonst nichts“, entgegnete die Enkelin und versuchte vergeblich, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. 

Heiligabend

Saskia war bei ihrer Oma und sollte auch heute bei ihr übernachten. Wurde dieses Jahr bei ihr zu Hause Weihnachten gefeiert? Hatten sie überhaupt einen Weihnachtsbaum? Sie kann sich nicht mehr erinnern. Relativ lustlos öffnete sie das Weihnachtspäckchen von ihrer Oma und hielt kurz darauf einen Teddy in ihrer Hand; den so sehnlich gewünschten aus der Bäckerei. Weil das aber keine Begeisterungsstürme bei ihr auslöste, warf die Oma ein: „Ja, leider hat der Weihnachtsmann wohl nur noch einen Teddy mit roter Jacke erwischt ...“ Als ob das Saskias größtes Problem gewesen wäre!

Irgendwann klingelte es an der Wohnungstür und Oma öffnete. Saskia traute ihren Augen kaum, als kurz darauf ihr Vater in der Wohnzimmertür stand und die Arme für seine freudestrahlend auf ihn zustürmende Tochter öffnete. Nachdem die erste Wiedersehensfreude verdaut war und die vom Vater mitgebrachten Geschenke ausgepackt waren, bemerkte die Oma: „Über mein Geschenk vom Weihnachtsmann hat sich Saskia leider nicht gefreut.“

Der Vater nahm den achtlos an die Seite gelegten Teddy auf und sagte: „Das ist aber ein schöner Teddy. Und ein ganz besonderer!“ Er drückte ihn seiner Tochter in den Arm und sagte: „Der ist ab jetzt immer bei dir und passt gut auf dich auf. Das habe ich so mit ihm abgemacht.“ Ehrfürchtig betrachtete Saskia den Teddy, schloss ihn ganz fest in die Arme und erkannte erst jetzt wieder, wie toll der Kuschelbär doch war. Sogar noch toller, als er ihr damals in der Bäckerei schon erschienen war!

Von jetzt an hütete Saskia den von ihr „Jörg“ getauften Teddy wie ihren Augapfel. Wenn sie ihn nicht gerade mit sich herumtrug, saß er auf ihrem Kopfkissen oder lag nachts in ihren Armen und wurde mit so manchen Tränen vollgeweint. Saskia bildete sich ein, wenn sie ihm ganz fest in die Augen sah und sich konzentrierte, könnte ihr Papa hören, was sie leise zu ihm sagte. Sie sprach also quasi durch Jörg zu ihrem Vater und fühlte sich auf diese Weise nicht mehr ganz so alleine.

Natascha hatte mitbekommen, was für einen Stellenwert der Teddy für ihre kleine Schwester eingenommen hatte. Ihr hatte Saskia auch anvertraut, dass sie doch eigentlich das Kuscheltier mit der blauen Jacke hätte haben wollen, weil blau doch ihre Lieblingsfarbe sei und der Teddy, ihr Aufpasser und Beschützer, doch ein Junge sein solle. Aber ausziehen wolle sie ihm die Jacke nicht, schließlich sei doch Winter. Kurze Zeit später rief Natascha Saskia zu sich und sagte geheimnisvoll: „Ich hab was für dich!“ „Was denn?“, fragte die Jüngere neugierig. Grinsend hob Natascha einen kleinen selbstgestrickten Pullover in die Höhe. In einem wunderschönen Dunkelblau, genauso wie Saskia es mochte. „Hier, für deinen Jörg. Damit das auch ein echter Junge ist.“

***

 

Ja, und so sitzt Jörg noch heute, fast 35 Jahre später, auf der Couchlehne in meinem Arbeitszimmer. Er ist nie in irgendeinem Karton auf dem Dachboden verschwunden oder wurde an Nichten oder Neffen weiterverschenkt. Der dunkelblaue Pullover wurde irgendwann durch einen selbstgestrickten in Dunkelrosa mit passendem Schal ersetzt; mittlerweile trägt er seit vielen Jahren nur noch den Schal ...

©Zora Zorn

17. Dezember 2013

Die Wichtelin

Die gesamte Wohnung roch nach Zimtsternen und Pfeffernüssen. Draußen war es bitterkalt, aber die Wohnung war kuschelig warm. Mein Wohnzimmer war festlich geschmückt und im Kaminofen glühten die Holzscheite. Gestern Nacht musste es unentwegt geschneit haben. Ich blickte aus dem Fenster und sah eine weiße, glitzernde Pracht. Zentimeterhoher Neuschnee wohin meine Augen blickten. Mein Garten war eingeschneit. Der Weg zum Teich war nicht mehr erkennbar. Ich meinte, ein paar Spuren im Schnee zu sehen. Bestimmt stammten sie von meinem Kater, der in der Nacht im Garten gestromert hatte.

Mich hielt es nicht länger im Hause. Ich zog mir meine dicke Winterjacke und Handschuhe an. Schnell noch den Schal umgebunden und ich stand draußen. So schön die Gerüche der Vorweihnachtszeit in der Wohnung waren, es ging nichts über den Geruch, der mich draußen erwartete. Ich atmete tief durch. Meine Lungen füllten sich mit Schneeluft. Unberührt und betörend. Unbeschreiblich! Ein Geruch der Reinheit. Kein Parfüm der Welt könnte diesen Schneeduft ersetzen.

Es fing erneut an zu schneien und mein Herz pochte vor Freude. Ich lief den Weg zum Garten entlang und verfolgte die kleinen Spuren im Schnee. Bei näherem Hinsehen sah ich, dass es keine Pfoten Abdrucke waren, die mein Kater verursacht haben könnte. Es waren winzig kleine menschliche Fußspuren. Sehr viel kleiner als die von Kinderfüßen. Hinter dem Teich befand sich mein Gartenhaus und dort endeten die Spuren.

Mir wurde unheimlich zumute. Ich öffnete die Tür zum Gartenhaus. Dort standen die verwaisten Gartengerätschaften, die auf den Frühjahrseinsatz warteten und sonst nichts. Ein paar Windwehen mussten den Schnee durch einen Türspalt getrieben haben, denn hinter der Tür türmte sich ein kleiner Schneeberg auf. Er war unberührt und ohne Spuren.

Die nächsten Tage verbrachte ich damit, Weihnachtsvorbereitungen zu treffen und dachte nicht mehr an die seltsamen Spuren im Schnee.

Am Wochenende begann es wieder sehr kräftig zu schneien und am Sonntagmorgen entdeckte ich die kleinen Spuren im Garten wieder. Sie endeten abermals am Gartenhaus. Als ich die Tür öffnete, hörte ich ein Rascheln und meinte, ein leises Kichern zu vernehmen. Ich blieb starr stehen. Was war das? Vielleicht doch ein Tier, welches Schutz vor der Kälte suchte? Vorsichtig bewegte ich ein paar Harken beiseite. Nichts. Ich entdeckte nichts. Alles stand unverändert an seinem Platz. Als ich mich zur Tür umdrehte, vernahm ich wieder ein Rascheln. Mir sträubten sich die Nackenhaare und ich bemerkte eine Gänsehaut die Arme hochkriechend. Es muss sich ein Tier im Gartenhaus befinden. Vielleicht war es ein Igel. Ich ging zurück ins Haus und holte ein Schälchen mit Katzenfutter. Dieses stellte ich ins Gartenhaus.

Am nächsten Morgen sah ich die Spuren wieder, die am Gartenhaus endeten. Ich war gespannt, ob das Futter angerührt war. Zu meinem Erstaunen stellte ich fest, dass das Schälchen leer war. War da nicht eben ein Schatten, der hinter die ausrangierten Blumentöpfe huschte? Ich traute mich nicht, die Töpfe etwas weg zu bewegen. Wer auch immer hier Zuflucht vor der Kälte suchte, den wollte ich nicht erschrecken. Mein Gast war mir willkommen. Ich stellte nun täglich ein Schälchen mit Katzenfutter oder Grießbrei in das Gartenhaus. Die Speisen wurden dankbar angenommen und ich fand jeden Morgen ein leeres Schälchen vor.

Das Weihnachtsfest nahte. Ich bin ein Weihnachtsmensch und freute mich sehr auf das Fest. In der Nacht vor Heiligabend schneite es kräftiger als je zuvor. Im Hause war alles vorbereitet. Der Tannenbaum war geschmückt und mein Kater lag dösend vor dem Kamin. Ich öffnete noch kurz das Fenster im Wohnzimmer, um ein wenig Schneeluft herein zu lassen. Es war ganz still draußen, die Schneeflocken tanzten hin und her. Kurz bevor ich das Fenster schließen wollte, hörte ich lautes Gekicher. Dieses Kichern hatte ich doch schon einmal gehört. Woher kam es? Ich beugte mich vorsichtig aus dem Fenster, sah aber nichts. Ob ich mich verhört hatte? In dieser klaren Winternacht sah man die Sterne glitzern und funkeln. Der Vollmond tauchte den verschneiten Garten in ein bizarres bläuliches Licht.

Ich erblickte etwas und mir stockte der Atem.

Lediglich mit Hausanzug und Puschen bekleidet lief ich in meinen Garten hinaus. Was mich dort erwartete, war das Schönste, was ich jemals in meinem Leben gesehen habe.

Unter einem riesigen, offenen Schlossportal aus kristallklarem Eis standen große und wunderschöne Eisskulpturen. Elfen und Fabeltiere glitzerten um die Wette. In der Mitte zwischen zwei hohen Türmen tanzte eine Eiskönigin. Sie wirkte zerbrechlich und überirdisch schön. Die Königin drehte sich anmutig und grazil. Bei jeder Drehung vernahm ich ein leises Knacken und sie lächelte mich mit ihren wunderschönen Augen unentwegt an. Eine Spieluhr aus makellosem bläulich schimmernden Eis in einem verzauberten Glasgarten tanzte Pirouetten. Die Tiere und Fabelwesen um sie herum spendeten lautlosen Beifall. Kühl und erstarrt im Eise huldigten sie ihrer tanzenden Königin.

Schnee fiel in dicken Flocken vom Himmel und bettete meinen Garten in funkelnde Watte.  Ich stand einfach nur da. Tränen liefen mir die Wangen herunter. Ich spürte keine Kälte, sondern einfach nur Glück. Ergriffen konnte ich meinen Blick nicht von dieser malerischen Szenerie aus Eis abwenden.

Ein glucksendes Kichern neben mir riss mich jäh in die Wirklichkeit zurück. Ich schaute zur Seite und sah ein winziges puppenähnliches Wesen neben mir stehen. Ein schelmischer Blick aus dankbaren Äugelein traf mich. Das kleine Wesen trug eine rote Zipfelmütze und zupfte mich am Bein. Ich beugte mich tief herunter. Mit ganz hoher und fisteliger Stimme sprach sie mir ins Ohr „Dankeschön für die Herberge und das feine Essen. Ich habe Dir als Dank meine Freunde aus dem Eisland mitgebracht. Frohe und gesegnete Weihnachten für Dich“ Dann hob sie ihr winziges, rotes Röckchen hoch und lief in Richtung des nahe gelegenen Waldes. Kleine Glöckchen bimmelten an ihren Schühchen.

Ich schaute ihr nach, bis sie im Tannenwald verschwunden war. Schneeflocken tanzten unaufhörlich im bläulichen Licht und ich spürte meine Glieder langsam erstarren.

Kalt wie Eis. Glückselig.

Leise rieselt der Schnee,

Still und starr liegt der See,

Weihnachtlich glänzet der Wald:

Freue Dich, Christkind kommt bald.

In den Herzen ist's warm,

Still schweigt Kummer und Harm,

Sorge des Lebens verhallt:

Freue Dich, Christkind kommt bald.

Bald ist heilige Nacht;

Chor der Engel erwacht;

Horch nur, wie lieblich es schallt:

Freue Dich, Christkind kommt bald.

© Ute Look

18. Dezember 2013

Du sollst nicht stehlen    

Bruno streichelte seinem Kater Mäxchen über den Kopf und sprach zu ihm: „Ach, alter Bursche. Ich habe dir versprochen, dass du heute am Heiligabend etwas ganz Besonderes zu fressen bekommst. Aber das wird wohl leider nichts.“ Ein klagendes Maunzen folgte als Antwort, als ob Mäxchen die Worte seines Herrchens verstanden hatte. Bruno öffnete die Katzenfutterdose und füllte die Hälfte davon in den Napf des Katers, dieser stürzte sich wie immer gierig darauf. 

Seufzend und tieftraurig beobachte ihn Bruno. Das war die letzte Dose, heute Abend würde er ihm den Rest davon geben. Und was war morgen, am ersten Weihnachtstag? Das wusste Bruno noch nicht. Er hatte nur noch ein paar Cent im Portemonnaie und selbst fast nichts mehr zu essen. Der Kühlschrank war nahezu leer, bis auf eine Margarinepackung, die nur noch einen schäbigen Rest enthielt. Die letzte Marmelade hatte Bruno gestern gegessen, Wurst und Käse schon seit einer Woche nicht mehr.

Er nahm die vorletzte Toastscheibe und bestrich sie hauchdünn mit dem Fett. Dazu gab es Wasser – aus der Leitung. Ein kärgliches Mahl – und das an Weihnachten. Wehmütig erinnerte sich Bruno an alte Zeiten. Noch vor zwei Jahren hatte er ganz anders gelebt. Doch dann verlor er seine Arbeit als Wachmann, weil er während des Dienstes eingeschlafen war.

Die erste Zeit danach kam er mit dem Arbeitslosengeld noch ganz gut über die Runden, doch als dieses dann auslief und er Leistungen vom Jobcenter bekam, wurde es fast unerträglich. Bruno gönnte sich nichts mehr, kein Kino, keine Theaterbesuche, kein Essen bei seinem Lieblingsitaliener. Nicht einmal die Stammkneipe suchte er mehr auf. Wenn Bruno zum Discounter ging, machte er stets einen Bogen um das Lokal, damit ihn die anderen Gäste nicht sahen. 

Neben den finanziellen Problemen gab es auch Trauer und Ärger im privaten Bereich. Susanne, seine langjährige Freundin, trennte sich von ihm, weil er ihr nichts mehr bieten konnte. Sie war jetzt mit diesem Christian zusammen. Kurz nachdem sich Susanne aus dem Staub gemacht hatte starb Brunos Mutter an Krebs, es ging sehr schnell, wenige Wochen nachdem der bösartige Tumor entdeckt wurde. All dieses war nicht gerade förderlich für die Motivation zur Jobsuche, zumal Bruno schon Mitte vierzig war und sein letztes Arbeitszeugnis wenig Positives enthielt. Die Unlust, sich zu bewerben, führte wiederum zu erheblichen Sanktionen des Jobcenters und Kürzung seiner Bezüge. 

So ging es ihm immer schlechter. An Tagen wie diesen, an denen alle anderen besonders fröhlich und ausgelassen waren, stiegen seine Depressionen ins Unendliche. Kein Geld zu haben und dann noch einsam zu sein, das war doppelt schlimm. Schon oft hatte Bruno an Selbstmord gedacht, doch was würde dann aus Mäxchen werden? Daran wollte er nicht denken. 

Gegen Mittag beschloss er, aus dem Haus zu gehen, um Pfandflaschen zu sammeln. Das würde ihm ein paar Cent einbringen. Mit dem Erlös könnte er noch etwas Katzenfutter und Brot kaufen. Doch leider hatte es viel geschneit, so dass die Ausbeute schäbig war. Lediglich drei Glasflaschen fand er, das reichte nicht einmal für das Futter. 

Bruno kehrte in seine Wohnung zurück, nahm sich ein gutes Buch und setzte sich in den alten Sessel. Mäxchen sprang auf seinen Schoß und schnurrte. Das weckte Glücksgefühle bei seinem Herrchen. Dennoch hatte er sich den Heiligabend ganz anders vorgestellt. Von der Ferne hörte er den Glockenschlag des Turmes der Neustädter Kirche. Wie lange habe ich keinen Gottesdienst mehr besucht?, dachte Bruno. Er nahm den Gemeindebrief, der schon im Altpapier gelegen hatte und blätterte darin. Um Mitternacht wäre die Gelegenheit dazu. Spontan entschied er sich dazu, nachher in die Kirche zu gehen, vielleicht würde es ihm danach besser gehen.

Wie es zu erwarten war, war das Gotteshaus sehr gut gefüllt, mit Glück fand Bruno einen Platz in der letzten Reihe. Der Organist spielte das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Ein wunderbarer Klang, dachte Bruno. Er erinnerte sich daran, dass hier oft Konzerte stattfanden, auch weltlicher Art. Jetzt wusste er, warum das so war. 

Als der Pastor mit der Predigt begann, die natürlich die Weihnachtsgeschichte als Thema hatte, dachte Bruno an sein eigenes Schicksal und daran, wie arme Leute abgewiesen wurden. Wenn es (hoffentlich) ihm irgendwann in ferner Zukunft wieder besser gehen würde, würde er sich niemals so verhalten, wie diese arroganten Menschen, die andere ausgrenzten. 

„Das Geld aus unserer Kollekte kommt einem Projekt in Afrika zu Gute“, verkündete der Pastor und fuhr fort: „Dort sollen Brunnen gebohrt und Bewässerungsanlagen gebaut werden, damit die Leute sich selber ernähren können. Das ist weit besser, als wenn man Lebensmittel dort hinschickt.“ Beifälliges Gemurmel der Gemeinde. Der Klingelbeutel füllte sich reichlich. Als dieser Bruno erreichte, nahm er ein Fünf-Cent-Stück aus seiner Börse und warf dieses mit hochrotem Kopf hinein. Mehr konnte er nicht geben. Aber das sollte keiner sehen.

Unabsichtlich fiel ein zwanzig-Euro-Schein heraus und Bruno vor die Füße. Blitzschnell griff dieser zu und steckte ihn ein. Hoffentlich hat das keiner bemerkt, dachte er. Von dem Geld konnte er eine Woche leben und für die Afrikaner blieb noch genug übrig. Trotzdem plagte ihn sein schweres Gewissen. „Du sollst nicht stehlen“ so heißt das siebte Gebot, noch dazu in der Kirche – das war eine schwere Sünde. Aber was sich ein Bischof in Limburg erlaubte, dürfte ein Arbeitsloser in Hannover doch wohl auch. 

Bruno stapfte durch den tiefen Schnee nach Hause, dieser knirschte unter seinen Füßen, das hörte sich wunderschön an. In seiner Wohnung nahm er die Dreier-Weihnachts-CD-Box, die ihm Susanne vorletztes Jahr geschenkt hatte und öffnete die Verpackung, die noch zugeschweißt war. Achtlos hatte sie zwei Jahre lang herum gelegen, weil Bruno eigentlich keine Weihnachtsmusik mochte. Doch dieses Oratorium vorhin in der Kirche war so wunderschön und zufällig war dieses Stück auch darauf. „Jesu, bleibet meine Freude“ hieß es auf Deutsch und „Jesu, Joy of  Man's desiring“ auf Englisch. Am Ende des Gottesdienstes hatte man „Little Drummer Boy“ gespielt, auch dieses Lied hörte er nun noch einmal. Ihm kamen die Tränen. 

Trotz der Glücksgefühle die Bruno nun inne hat konnte er nicht schlafen. Immer wieder musste er den Zwanziger denken. Sicherlich konnte er das Geld gut gebrauchen, aber er hatte zuvor in seinem Leben noch nie jemanden bestohlen oder betrogen. 

Am nächsten Morgen ging er daher nicht zu Mehmets Kiosk, um einzukaufen, sondern kehrte zur Kirche zurück. Er hatte den Geldschein in einen kleinen Umschlag gepackt und einen Zettel mit dem Wort „Entschuldigung“ beigelegt. Als er den Brief in den Kasten der eigentlich die Prospekte der Kirche enthielt, einwarf, hörte Bruno von hinten eine Stimme: „Kann ich Ihnen helfen?“. Es war der Pastor. „Nein, nein“, stotterte Bruno, doch dann sprudelte aus ihm heraus.

Er erzählte von dem gestrigen Vorfall und danach seine ganze Geschichte. Der Geistliche nickte ein paar Mal und sagte dann: „Ich kann ihnen doch helfen. Zum Einen dürfen Sie das Geld behalten und zum Anderen hätte ich da einen Vorschlag.“ Es stellte sich heraus, dass nicht nur Geld für Afrika gesammelt wurde, es wurde auch noch jemand gesucht, der vor Ort mitarbeiten sollte. Bruno bekam das Angebot, das er dankend annahm. 

So geschah es, dass Bruno nach Namibia zog, mitsamt Kater Mäxchen. Das Projekt wurde ein großer Erfolg und viele Menschen wurden glücklich. 

© Matthias März

 

19. Dezember 2013

Kleines Weihnachtswunder  

Die Flamme der Kerze flackerte unruhig hin und her wegen des leichten Luftzugs, der immer durch die Türritzen strömte, und sie zauberte gleichzeitig bizarre Schatten an die helle Wand.

Marius saß am Tisch, umschloss mit beiden Händen ein halbvolles Glas Tee, als wolle er sich daran die Finger wärmen. Am liebsten würde er einschlafen und auch die nächsten Tage nicht aufwachen, bis Weihnachten vorbei wäre. Noch zwei Tage bis zum Fest, die er überstehen müsste und dann natürlich die Feiertage selbst.

Er mochte nicht an früher denken, als das Zimmer in glänzendem Licht erstrahlt war und die Augen seiner kleinen Tochter Anna noch heller geleuchtet hatten als die Kerzen am Weihnachtsbaum.

So einen bunt geschmückten Baum gab es nun schon seit vier Jahren nicht mehr, seit jenem ersten Weihnachten, das er ohne seine Frau Maja und Anna verleben musste.

Marius haderte nicht mehr mit seinem Schicksal, mit jener Grausamkeit, die seine Liebsten aus dem Leben gerissen hatte. Es war ein Unfall gewesen, niemand hatte das gewollt und es brachte nichts, immer wieder nach der Schuld zu fragen. Ihm war klar geworden, wie brüchig das vermeintliche Glück war. Ein unbedachter Moment und alles zerfiel.

„Du musst die kleinen kostbaren Momente sehen, die dich reich machen“, hatte seine Frau immer gesagt, wenn er über alles Mögliche geschimpft hatte, das nicht so war, wie er es sich vorstellte. „Manchmal scheinen sie versteckt, unsichtbar. Aber wenn wir es wollen, begegnen sie uns.“

Es war ihm schwer gefallen, diese Momente zu sehen, nachdem Maja und Anna ihn verlassen hatten. Er ging seiner Arbeit nach und gab sich selbst so den Anschein von Normalität.

Er fühlte sich eigentlich auch nicht einsam, hatte nach einer Zeit der Verzweiflung, die einem Schweben im luftleeren Raum gleichkam, wieder begonnen am Leben teilzuhaben. Viele Freunde gab es allerdings nicht mehr und er hatte verstanden, dass einige sich zurückziehen mussten, als sie gemerkt hatten, wie sehr er in seiner Trauer gefangen gewesen war. Nein, er haderte nicht, klagte nicht an.

Aber solche Tage wie Weihnachten oder die Zeit davor waren immer noch schwer. Die Erinnerungen überwältigten ihn und es schien, als wollten sie ihn erdrücken. So galt es einfach, diese Tage zu überstehen, in der Stille auszuharren. Es würde vorübergehen. 

Langsam löste Marius die Finger von dem Glas, dessen Inhalt inzwischen kalt geworden war. Er würde noch seine Runde machen, schauen, ob alles in Ordnung war und dann zu Bett gehen. Der Schlaf war inzwischen sein liebster Geselle, wenn er sich denn einstellte.

Etwas schwerfällig erhob sich Marius und ging zur Haustür. Als er sie öffnete, riss der Sturm sie ihm fast aus der Hand und dicke Flocken wehten hinein. Der Weg zum Haus war völlig zugeschneit. Er würde morgen Schnee schippen müssen.

Im diffusen Licht der Gartenlaterne konnte er sonst nichts Ungewöhnliches ausmachen.

Als er die Tür wieder schließen wollte, meinte er einen seltsamen Klagelaut zu vernehmen. War das der Sturm, der ihn narrte? Angestrengt spähte er hinaus, horchte. Da! Da war es wieder. Ein langgezogenes Wimmern. Es schien vom Schuppen zu kommen. Es half nichts. Obwohl er liebend gern drinnen geblieben wäre, jetzt musste er hinaus und nachsehen. So schnappte er seine Jacke, die am Haken neben der Tür hing, schlüpfte hinein und stapfte dann durch den tiefen Schnee in die Richtung, aus der die seltsamen Töne gekommen waren. Kurz verfluchte er sich, dass er keine festen Schuhe angezogen hatte. Der Wind blies ihm um die Ohren und er spürte die unbarmherzige Kälte sofort bis in sein Innerstes.

Wieder übertönte dieser langgezogene Klagelaut das Heulen des Windes. Ja, es kam vom Schuppen.  Noch wenige Schritte und er entdeckte in einem Haufen Schnee ein dunkles Bündel, das scheinbar an der Schuppenwand klebte.

Vorsichtig ging er näher heran und nun sah er es. Eine Katze lag dicht an die Holzwand gedrängt, der Körper schien unaufhaltsam zu zittern. Jetzt hatte das Tier ihn auch wahrgenommen, den Kopf gehoben. Als er sich aber niederbückte, hörte das Jammern auf und die Katze fauchte.

Fieberhaft überlegte Marius, was zu tun sei. War das Tier verletzt? Oder hatte es einfach nur Schutz vor dem Schneesturm gesucht? Es gab in der Gegend etliche streunende Katzen, aber noch nie war eine so dicht an sein Haus gekommen.

Das Tier schien verängstigt zu sein oder Schmerzen zu haben. Es würde sich nicht hochnehmen und ins Haus tragen lassen. Sollte er die Polizei anrufen, das Ordnungsamt, den Tierarzt? Während er noch grübelte, stieß die Katze einen Schrei aus, dass ihm das Blut in den Adern gefror.

Er öffnete die Schuppentür und befestigte sie mit dem kleinen Haken an einem Ring in der Wand. Dann lief er, so schnell es ging, zurück ins Haus, holte eine Decke und eine Schüssel, in die er etwas Rinderhackfleisch gab, das er für morgen gekauft hatte.

Als er zurückkam, war die Katze weg. Marius betrat den Schuppen und betätigte den Lichtschalter. Der Raum wurde in ein trübes Licht getaucht, mehr gab die nackte Birne, die von der Decke baumelte, nicht her. Er entdeckte sie sofort. Die Katze hatte sich unter einen Stuhl verkrochen, der an der Seitenwand stand.

Langsam, um das Tier nicht zu erschrecken, legte er die warme Decke auf den Boden, dicht neben den Stuhl. Davor stellte er die Schüssel mit dem Fleisch. Dann hockte er sich hin und beobachtete das Tier, das sich nicht rührte. Es schien mager, obwohl der Bauch seltsam aufgetrieben war. Hunger, dachte Marius. Wer weiß, wann sie das letzte Mal etwas gefressen hat.

Nach einer Weile merkte er, wie sehr er zitterte, kaum spürte er seine Hände.

Aber zumindest wäre die Katze hier im Schuppen vor Schnee und der ärgsten Kälte geschützt. Sonst konnte er wohl nicht viel machen. Morgen würde er weitersehen.

Langsam stand er auf und zog sich zurück. Die Schuppentür schloss er ab.

Er fand an diesem Abend keinen Schlaf, immer wieder tauchte das Bild der Katze vor ihm auf. Graugetigert war sie, das hatte er im Dämmerlicht erkennen können.

Längst war die Kerze verlöscht und Marius saß im Dunklen, wollte kein Licht machen. Er hatte das Gefühl, in der Dunkelheit seien seine trüben Gedanken besser aufgehoben als im Hellen. Doch er kam nicht zur Ruhe.

Schließlich zog er wieder seine dicke Jacke an, vergaß diesmal auch nicht die gefütterten Stiefel und ging erneut hinaus. Der Sturm hatte sich etwas gelegt und nur noch vereinzelt tanzten die Schneeflocken im Schein der Laterne. Aber es war bitterkalt. Ein Wetter, wie er es sich früher zu Weihnachten immer gewünscht hatte. Jetzt spielte es keine Rolle mehr.

Marius stapfte zum Schuppen, der Schnee knirschte unter seinen festen Schritten und unzählige winzige Kristallen überzogen das Weiß mit einem Schimmer.

Entschlossen öffnete er die Schuppentür einen Spalt und zwängte sich hinein, noch ehe er Licht machte.

Tief zog er die Luft ein. Er traute seinen Augen nicht.  Mitten auf der Decke lag die Katze und an ihrer Seite drei, nein vier kleine Bündel Leben.

Konnte das wahr sein? In der Zeit, als er drinnen seinen Gedanken nachgehangen hatte, waren vier Katzenbabies auf die Welt gekommen und alle schienen am Leben zu sein. Nicht auszudenken, wenn er nicht das Wimmern vernommen  und vor allem, wenn er dem nicht nachgegangen wäre.

Marius verdrängte diese Gedanken und schlich vorsichtig näher heran. Die Katze blieb ganz ruhig liegen, fuhr fort ihre Jungen abzulecken, um die Lebensgeister in Gang zu bringen, wach zu halten.

Er kniete sich hin und auch dadurch ließ die Katze sich nicht stören. Kurz unterbrach sie ihre Tätigkeit und schaute ihn an, mit einem Blick, als wisse sie, was er getan hatte. Ein Lächeln umspielte seine Mund. Bestimmt wusste sie es wirklich.

Er konnte seinen Blick nicht von diesem kleinen Wunder lassen. Zwei der Babies waren schwarz-grau wie die Mutter, eines pechschwarz und das vierte Kitten hatte ein graues Fell, nur die Pfötchen wiesen kleine weiße Flecken auf. Winzig wie Mäuse waren sie, kaum größer als zehn Zentimeter. Sie hatten die Augen fest geschlossen, aber sie schienen schon zu wissen, wo sie nach Nahrung suchen mussten.

Auf einmal wurde Marius von beinahe hektischer Betriebsamkeit heimgesucht. Er stand auf und lief zurück ins Haus. Im Keller fand er schließlich, was er suchte, die alte flache Holzkiste, in der er Fotos und manch anderen Kram aufbewahrte. Rasch kippte er den Inhalt auf den Boden und eilte wieder hinauf. Er legte mehrere Lagen Zeitung in die Kiste und darauf eine Decke. Dann nahm er noch eine Schüssel, in die er Wasser füllte und holte den Rest Hackfleisch. Die Katze würde sicher Hunger bekommen.

Zurück im Schuppen stellte er Kiste, Futter und Wasser neben die Decke, auf der die kleine Katzenfamilie lag. Sein Herz klopfte, aber es war kein beängstigendes Pochen. Verwundert stellte er fest, dass es Freude war.

Ganz behutsam streckte Marius die Hand aus, berührte die Katze am Hinterkopf. Fast erstaunte es ihn, dass sie es geschehen ließ. Still blieb er sitzen, spürte keine Kälte und merkte nicht, wie die Zeit verging. Nach einer Weile, er wusste nicht wie lange er hier gesessen hatte, erhob sich die Katze und inspizierte die Kiste. Und dann, Marius konnte es nicht fassen, nahm sie ein Junges nach dem anderen und brachte es in den Holzbehälter. Sie selbst schlappte ein wenig von dem Wasser und ließ sich dann bei ihren Kindern nieder.

Marius nahm die Decke, auf der noch spärliche Reste der Nachgeburt zu sehen waren, rollte sie zusammen und verließ nach einem letzten Blick den Schuppen.

Morgen würde er das Ordnungsamt und den Tierarzt anrufen. Die Mutter und auch die Kleinen müssten untersucht werden. Vielleicht, ja vielleicht könnte er die Katze mit ihren Jungen behalten, eine Weile wenigstens.

War es nicht ein kleines Wunder, dass er zur richtigen Zeit hinausgeschaut und das Jammern gehört hatte?

Er spürte, dass die Furcht vor den kommenden Tagen und vor dem Weihnachtsfest Platz gemacht hatte für etwas anderes: Dem Leben, auch dem neuen Leben Raum und Schutz zu geben und dafür musste er aktiv werden, Trübsal, Dunkelheit hätten keine Chance mehr. Ein wenig musste er über seine Gedanken lächeln. Es würde zwar kein Weihnachten werden mit strahlendem Lichterglanz und leuchtenden Kinderaugen, aber er ahnte, dass sich sein Inneres zu füllen begann mit  etwas Hellem, für das er keine Worte hatte. Morgen, dachte er, als er die Haustür schloss und Licht machte.

(nach einer wahren Begebenheit) 

©Enya Kummer

20. Dezember 2013

Warten aufs Christkind

Tina, Hannah und Helena warten aufs Christkind.

Tina und ihre kleinen Schwestern sitzen im Kinderzimmer. Sie basteln für Weihnachten. Voller Begeisterung basteln sie ein Transparent. Es soll neben der Weihnachtskrippe unter dem Tannenbaum stehen. Dahinter wird dann eine Kerze angezündet, und alles leuchtet feierlich.

Hannah schaut Tina erwartungsvoll an und fragt: „Glaubst Du, es gefällt der Mama?“ „Sicher“, meint Tina, „aber es soll ja auch dem Christkind gefallen.“

„Ja und dem Christkind“, plappert Helena vergnügt, und malt mit dem Pinsel Schnee auf die Tannen am Transparent. Hanna und Helena wollen jetzt wissen, wo das Christkind wohnt, und was es gerade macht.

Tina legt ihren Pinsel zur Seite, und weil Mama gerade Plätzchen backt, sagt sie verträumt: „Jetzt backt das Christkind Plätzchen, und alle Engel helfen dabei.“---

In Wirklichkeit herrscht in Christkinds Backstube das reinste Chaos. Die Engel laufen hin und her. Wieder ist ein Blech mit Schokoladen-Plätzchen verbrannt. Der Engel mit der Küchen-Aufsicht ist überfordert und ruft: „Könnt Ihr nicht aufpassen? In vier Tagen strahlen die Weihnachtsbäume, wir müssen vorher fertig werden.“

Ein kleines Engelchen leckt gerade den Schokoladen-Finger ab und fragt mit großen, ängstlichen Augen: „Und warum kommt das Christkind nicht zum Helfen?“ „Das ist krank und liegt im Bett, es hat Husten.“ Der kleine Engel weint und schluchzt: „Aber Weihnachten ohne Christkind, geht doch gar nicht.“

Leise schleicht das kleine Engelchen aus der Backstube, es will das Christkind besuchen, weil es doch so krank ist. Gerade eben kommt der Doktor aus dem Zimmer. Der alte Mann hebt den Zeigefinger und sagt besorgt: „Ich weiß, dass du das Christkind vermisst, aber es braucht noch ein wenig Ruhe, damit es bis zum Fest auf die Erde kann.“ Dann öffnet der Doktor die Tür, und erlaubt dem Engelchen einen Fünf-Minuten-Besuch.

Leise schleicht es an das Bett, an dem die himmelblauen Vorhänge zugezogen sind. Dahinter sitzt das Christkind, eingebettet in vielen sternförmigen Kissen, und liest die Wunschzettel der Menschenkinder.

„Komm Weinerle“, muntert es das Christkind freundlich auf. Vor lauter Freude muss der kleine Engel schon wieder weinen und jammert: „In der Backstube haben wir alles verbrennen lassen.“ „Das kriegen wir morgen wieder hin“, verspricht das Christkind, „morgen bin ich wieder ganz gesund.“

„Und warum bist Du krank geworden?“, will Weinerle jetzt wissen.

„Ja, das ist eine lange Geschichte, wenn du dich zu mir ins Bett setzen möchtest, erzähle ich es dir.“

Das hat das kleine Engelchen nicht erwartet! Die Freudentränen kullern, und es klettert zum Christkind ins Himmelbett.

„Jedes Jahr, am ersten Advent, feiere ich mit den Tieren den Beginn der Weihnachtszeit. Da fahre ich auf die Erde, mit einem großen Schlitten voll Äpfel, Kastanien und Nüssen. Dann zünde ich Kerzen an dem größten Tannenbaum an und alle Tiere vom Wald kommen. Da sitzt die Eule neben der Maus und der Fuchs neben dem Hasen. Alle Tiere bekommen dann von den Geschenken.

Nun war aber kurz vorher ein großes Unwetter und manche Tiere waren krank, oder sie hatten kein Zuhause mehr. Ein Reh hatte furchtbare Halsschmerzen, da habe ich meinen Schal hergegeben.

Eine Fuchsmutter hatte Ohrenschmerzen, sie bekam meine Mütze. So habe ich alles verschenkt bis auf mein Kleid. Gegen Morgen waren die Kerzen herab gebrannt, und alle Tiere waren glücklich. Leider habe ich mir auf dem Rückweg einen Husten geholt, deshalb musste ich ins Bett.“

Weinerle ist eingeschlafen. Es liegt im Bett, neben dem Christkind und lächelt. Im Traum ist es im Wald bei den Tieren und feiert mit ihnen Weihnachten.

Als das Christkind am nächsten Tag in die Backstube kommt, fürchten sich die Engel, weil alle Plätzchen angebrannt sind. Die großen Engel decken schnell Küchentücher über die fertigen Kringel und Herzen. Das Christkind geht einmal durch die Backstube und stellt fest, dass die Engel sehr fleißig waren. Die Engel sind beschämt, und wollen dem Christkind die verbrannten Plätzchen zeigen. Aber als sie die Tücher von dem Gebäck nehmen, ist nichts Angebranntes mehr zu sehen. Jetzt kann es Weihnachten werden!

Hannah hört gespannt zu, Tina kann so schöne Geschichten erzählen. Die kleine Helena hat ihren Pinsel aus der Hand gelegt, und ist auf dem Stuhl eingeschlafen.

Über den Flur geht Mama mit zwei riesigen Keksdosen und aus der Küche kommt ein himmlischer Duft von Plätzchen.

©Anneliese Koch

21. Dezember 2013

Hasse von!

von susymah kacheltowski

Tun kommich wech von dat düster Wald

dat funkelt da voll, da wirse alt!

An dat hinterste Ende vom Ast vonne Tanne,

da kuckse, sind olle Kerzen nu dranne.

Ausem Himmel glubscht nen Köppken

Mit Klüsen wie Teller, dat heilige Döppken.

Und wo ich so latsche durch dat Gestrüpp,

da quasselts mich an, datt vor Schreck ich voll hüpp:

Ey, hömma, Rupprecht, bollat's, du Sack!

Mach vorrann, getzt hurtig, faules Pack!

 

Die Docht is im Wachs schon fast versoffen,

dat Loch von die Himmel is auschonn offen.

Die Knacker und Knirpes soll`n echtma ruhn,

vonne Malloche, vom Schackern, vom Tun,

und moagen da düsich bei denen voabei

Sonst verpennse die Party, dann is allet vorbei.

 

Mein lieber Scholli, sach ich ma,

Fast allet futsch, getz kumma da!

In dat da, dat Kaff, da mussich noch hinne,

wo da sind töffte Furzknoten drinne.

Hasse denn au dat Gedönse dabei?

Jau, sach ich, kuckier, dat is dabei.

Anne Klümmpchen und sowatt wollnse ranne,

Dat mögen die Kurzen do volle Kanne.

Hasse denn auwatt zum Schallern dabei?

Jau, sach ich, kuckier, dat is auno dabei.

Is getze nua für die Blagen, die Hirnis,

Kehr, wat hat dann der Arsch abba Kirmes.

 

Der heilige Knirps labat: Bissten Kumpel!

Allet Palletti, getz geh`ma humpeln!

Tun kommich wech von dat düster Wald

dat funkelt da voll, da wirse alt!

Getz tu ma deine Lauscher auf:

Samma, sinze supa oder voll kacke drauf?

©susymah

Vastehse nix? Macht nix, kuckier:

http://www.unmoralische.de/ruhrgebiet/ruhrgebiet.htm 

22. Dezember 2013

Das Lagerfeuer

 Ich war sieben oder acht Jahre alt und Weihnachten stand wieder vor der Tür. War immer eine aufregende Angelegenheit. Es fing mit dem Öffnen des Adventskalenders an, dann kamen die Adventsfeiertage und endlich Weihnachten. Und wenn auch noch Schnee lag, war die Sache perfekt. Mit der Vorfreude auf Silvester war diese Zeit unübertrefflich. Denn an diesem Tag durfte ich kurz vor Mitternacht aufstehen und mir das Feuerwerk ansehen, mit dem das neue Jahr begrüßt wurde. Der Monat Dezember war also überstrahlt von einem goldenen Glanz.

Dieses Jahr sollte meine Freude jedoch einen Dämpfer bekommen. Nichts wirklich Schlimmes, doch blieb es unvergessen.

Das Wichtigste an Heiligabend waren natürlich die Geschenke, obwohl die feierliche Pracht des Christbaumes auch nicht zu verachten war. Was die Geschenke betraf, erwartete ich schon Ende November einen Katalog einer Spielzeugfirma, der der Tageszeitung meiner Großeltern beigelegt war. Der wurde dann fleißig mit vor Aufregung roten Backen studiert. Viele der abgebildeten Spielzeuge markierte ich mit einem Kugelschreiber, damit die Verwandtschaft wusste, was ich mir zu Weihnachten wünschte.

In dem Alter, in dem ich mich damals befand, waren meine Favoriten Spielzeugfiguren. Insbesondere Cowboys und Indianer und im Speziellen die Figuren der Karl-May-Serie. Ich hatte die Comic-Hefte der gleichen Reihe geradezu verschlungen. Und nun war es natürlich toll, dass es diese Figuren auch als Spielzeug gab.

Winnetou, Old Shatterhand und Sam Hawkens, hatte ich schon. Es fehlten noch Intschu tschuna, Nscho-tschi und Klekih-petra.

Hauptwunsch an Weihnachten war jedoch ein Wildwest-Fort aus Holz mit den entsprechenden Standardfiguren an Indianern und Cowboys. Aber eine Karl-May-Figur musste natürlich als besonderes Bonbon auch noch sein. Ich entschied mich für Klekih-petra, den weißen Lehrer von Winnetou. Diese Figur hatte nämlich noch einen Vorzug. In der Spielzeugpackung befand sich zusätzlich zur Person ein Lagerfeuer aus Kunststoff. Dieses Lagerfeuer wurde mit einem kleinen Birnchen betrieben. Es „brannte“ also! Super. Sogar die benötigte Batterie war dabei. Wenn das nichts war!

Ich kreuzte Klekih-petra im Katalog doppelt an und umrundete ihn zusätzlich mit einem dicken Kreis. Den musste ich haben!

Ich übergab meiner Mutter den Katalog, die dessen Bedeutung kannte und die Sache auch ernst nahm. Ich wusste mittlerweile, dass es das Christkind und den Nikolaus nicht gab. Mir war klar, dass für die Geschenke meine Eltern verantwortlich waren, also sagte ich meiner Mutter auch sicherheitshalber klar und deutlich, dass ich diese Figur besitzen müsste. Ich durfte nun ziemlich sicher sein, dass dieses Geschenk Weihnachten unter dem Christbaum liegen würde. 

Tja – und plötzlich war Heiligabend da. Es war wie immer. Meine Eltern lebten mit den Eltern und Schwestern meiner Mutter in einem Haus. Eine der Schwestern war ebenfalls verheiratet. Mit mir und meinem gleichaltrigen Cousin bestand die Großfamilie aus zehn Personen. Heute denke ich, dass es mit Sicherheit Spannungen in dieser Situation gab, doch habe ich als Kind nichts davon mitbekommen. Ich habe mich in der Großfamilie immer wohlgefühlt.

Jedenfalls kamen wir alle in der Küche meiner Großmutter zum Abendessen zusammen. An Heiligabend gab es Kartoffelsalat und Fleischwurst. Mein Leibgericht. Aus dieser Sicht war der Abend schon gerettet.

Nach dem Essen ging es dann zur Bescherung. Meine Oma verschwand im Wohnzimmer, kurze Zeit darauf hörte man den Ton eines Glöckchens und nun durften wir Anderen das Wohnzimmer betreten. Der Weihnachtsbaum stand immer in der gleichen Ecke und daneben der obligatorische gefüllte Wassereimer. Da meine Großeltern Wachskerzen benutzten, bestand Brandgefahr.

Nach dem Absingen von „Stille Nacht, Heilige Nacht“ verteilte meine Großmutter die Geschenke und diese wurden mit den entsprechenden „Ahs“ und „Ohs“ ausgepackt. 

Mein Wildwest-Fort war da, auch Indianer und Cowboys waren vertreten. Doch widmete ich mich ihnen nicht lange, gab es doch noch das kleinere Geschenkpäckchen, das ich mit zitternden Händen öffnete. Tatsächlich … Klekih-petra mit den grauen langen Haaren, wie ich ihn aus den Heftchen kannte. Und da das Lagerfeuer mit den weißen, gelben und roten Plastikflammen. Von dem Birnchen des Feuers gingen zwei dünne grüne Kabel ab. Ich schloss gleich die dazugehörige Batterie mit den zwei Klemmen der Kabel an und siehe: das Feuer „brannte“.

Ich war begeistert!

Mit Spielen war jetzt aber erst mal nichts. Es mussten noch einige Weihnachtslieder gesungen werden und mein Großvater las die Weihnachtsgeschichte vor. Immerhin konnte während dieser Prozedur das Lagerfeuer brennen.

Nach dem Verlesen der Geschichte verabschiedete ich mich in den Wohnraum, den meine Eltern bewohnten, baute dort das Fort auf uns spielte mit den Figuren. Natürlich löschte ich auch die Deckenbeleuchtung, um das Lagerfeuer im Dunkeln in Aktion zu sehen. Das machte es aber leider nicht mehr lange. Es begann zu flackern, um dann zu erlöschen. Tja, das war‘s. Die Batterie war leer.

Da saß ich nun. Die ganze Freude über die Geschenke und Weihnachten war weg. Was nun? Da hatte ich, wie ich meinte eine gute Idee. Dass aus den Steckdosen in der Wand der Strom für Bügeleisen, Radio und auch für die Stehlampe kam, wusste ich. Wenn diese Riesenlampe also brannte, dann doch sicher auch mein Lagerfeuer? Man hatte mich vor den Steckdosen schon gewarnt. Ich solle die Finger davon lassen, es sei zu gefährlich. Mein Wunsch das Feuer brennen zu sehen, war größer. Ich löste die beiden Klemmen von der Batterie, zog den Stecker der Stehlampe aus der Steckdose und steckte beide Klemmen des Lagerfeuerkabels in die Löcher der Steckdose. Es machte „Pfffitt“, ein großer Funken stob vor mir hoch … und alles war dunkel.

Von nebenan hörte ich verschiedene Stimmen und dann Schritte, die in den Hausflur marschierten. Danach wieder Stille.

Plötzlich ging das Licht an. Mein Patenonkel, der zur Tür hereinkam, stürzte auf mich zu und mit den Worten „Bist du denn verrückt geworden“, schlug er mir so kräftig auf die Wange, dass es laut klatschte.

Mir meiner Schuld bewusst weinte ich nicht und sagte keinen Ton. Ich blieb im Wohnraum meiner Eltern. Als sie später kamen und mich ins Bett schickten, sagten sie nichts zu dem Ereignis. 

Wie sich am nächsten Tag zeigte, hatte mein Onkel von der Ohrfeige den Anderen nichts erzählt. Was er über die Ursache des Kurzschlusses gesagt hatte, weiß ich nicht. Lange Zeit später erst hat mein Patenonkel über dieses Ereignis an Weihnachten berichtet.

Ich habe nie mehr was dazu gesagt.

Ich habe aber seit dieser Geschichte gebührlichen Respekt vor elektrischem Strom.

Als ich später verheiratet war durfte meine Frau im Haus alle elektrischen Installationen erledigen! Sie war von Beruf Elektrofachverkäuferin.

©Rainer Güllich

23. Dezember 2013

23. Dezember

Dreiundzwanzig Türchen vom Adventskalender

sind schon offen. Fluchend, suchend durch die Länder

 

und die Läden shoppt geschockter Weihnachtsmann.

Fasziniert von Naschereien - ist im Bann;

 

vom Probieren ist ihm schwummrig, wirklich übel.

Rentier Rudolph hält ihm netterweis' den Kübel.

 

Reiher zieht am Himmel seine Kreise. "Schlitten

müsste mal gesäubert werden; steh inmitten

 

von Bonbonpapier und Krümeln. Gutes Naschwerk.

Meine Arbeit, die macht süchtig. Was 'n Müll-Berg.

 

Rudolf, mach 'nen Looping. Leise rieselt Müll."

"In die Autowaschanlage fürs Idyll?

 

Sieht doch netter aus, wenn Rentierschlitten proper."

"Hab Gefühl, wir sind von Jahr zu Jahr salopper.

 

Nasch' ich wegen Frust, aus Lust? Stets bewusst

Sünde mit Genuss probieren. Zeitverlust?

 

Morgen ist Geschenke-Tag. Bin ich brav? 

Weihnachtsmann, verdienst die Rute. Bin ein Schaf!

 

Lasse mich verlocken: Warenangebot

gras' ich ab, es schmeckt verboten gut. Despot

 

Gier beherrscht mich. Was sagt wohl das Lamm

Gottes: wenn zu schwer, ich schwer in Himmel komm?

 

Futtern bei dem Stress - das ist doch voll normal.

Yeah! Ein Candy Shop. Verdammt! Hab keine Wahl.

Mächtig zieht es mich zu himmlischen Genüssen.

Pass ich durch Kamin auch morgen noch? Vermissen

 

mich die weihnachtsseligen, erwartungstollen

Kinder? Dieser Trubel - dieses Haben-Wollen! 

Morgen kommt der Weihnachtsmann.

Nur wenn er kann."

ENDE

©philhumor

24. Dezember 2013

Der geizige Jakob 

Der Sturm heulte um die Häuser einer kleinen norddeutschen Kleinstadt. Wer nicht unbedingt draußen etwas zu tun hatte, der verschloss recht sorgfältig die Schlagläden vor den Fenstern seines Hauses, legte noch Feuerholz in den großen Kaminofen nach und kuschelte sich behaglich in eine warme Decke.

Jacob Frederickson, ein alter grantiger Geizhals, Alleininhaber eines mittelständigen Warenhauses, saß noch in seinem kleinen, sehr engen und verstaubten Büro, und schaute missmutig zu seinem ständig bimmelnden Telefon hinüber. Dieses Werk der neuen Technik hing an der Wand und störte seinen Feierabendsinn. Wenn jemand etwas von ihm wollte, dann bitteschön am Tag während der Öffnungszeiten seines Geschäftes.

Nun, die Neugier trieb ihn doch zum Telefon und ließ seine Laune auch nicht besser werden, denn sein Neffe Jacobus lud ihn zum kommenden abendlichen Weihnachtsessen ein, verbunden mit dem traditionellen „Frohe Weihnachten“ und dem Beschenken der Verwandten. Schon diese Einladung und das dazugehörende Weihnachtsfest fand der alte Jacob lästig, ja sogar überflüssig und quetschte nur ein knurriges „alles Humbug“ heraus.

Er zog seinen langen Wintermantel und die warme Fellmütze an, verschloss recht sorgfältig die Räumlichkeiten seines Geschäftes und begab sich auf den verschneiten Heimweg in der klirrenden Kälte. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefelsohlen, bald klebten kleine Eiszapfen an seinen buschigen Augenbrauen.

Vor dem Eingang seines Hauses standen zwei Gestalten, und entpuppten sich als Spendensammler der Kirche für die Armen in der Bevölkerung. Diese beiden Männer kamen ihm gerade richtig, denn jetzt konnte er seinen ganzen Zorn an der Menschheit, der Kirche und ihrem Hang nach Betteln auslassen. Unwirsch jagte er die Männer von seinem Grundstück.

Jacob Frederickson wollte gerade seinen großen Schlüssel in das Schlüsselloch der Haustür stecken, als er kurz auf dem blanken Türklopfer das Antlitz seines vor fünf Jahren verstorbenen Partners und Freundes Hinrich Bülow erkannte. Er konnte es nicht glauben und betrat das Haus. Sein Freund Hinrich gehörte immer zu dem humaneren und sozialdenkenden Teil ihrer Freundschaft. Er hatte es immer wieder schaffen können, Jacob auf den Boden der Tatsachen zurück zu bringen.

Im Haus schien alles normal zu sein, bis plötzlich der Geist von Hinrich Bülow vor ihm auftauchte. Sein Äußeres bestand aus Utensilien des gemeinsamen Geschäftes, die an einer langen Kette hingen, damit sie nicht verloren gingen. „Die große gemeinsame, gut gefüllte Geldkassette erinnert mich als Geist daran, dass es viele andere Menschen gibt, die nicht so gut situiert und reich sind, wie wir Beide als Inhaber eines Geschäftes waren. Denke daran, Geld und Gier bringen dich noch um. Versuche mal Anderen eine Freude zu machen, der morgige Tag, Weihnachten, wäre für dich ein guter Anfang. Du wirst merken, es tut gut, hilft dir und deinem Gewissen.

Übrigens, zu meinen Lebzeiten, vor sieben Jahren, wurde für dich auch so eine Kette angefertigt, sie war von gleicher Länge, wie meine. Die Ketten dienten als Symbol der Freundschaft zu uns und zu anderen Menschen. Nach jeder guten Tat, zu Lebzeiten, verliert sie an Länge, das heißt, du kannst dein Leben noch auf unbestimmte Zeit verlängern. Noch einen weiteren Hinweis von großer Bedeutung möchte ich dir mitteilen: es werden dich drei Geister besuchen, die dein Seelenheil retten können, denke einmal darüber nach.“

Jacob war wie vor den Kopf geschlagen, war das Wirklichkeit oder Einbildung eines sturen alten Mannes? Er war so aufgewühlt von dieser unheimlichen Begegnung, sodass er lange brauchte, bis er sich innerlich beruhigen konnte. Mitten in der Nacht wachte Jacob auf, weil er das Gefühl hatte, nicht alleine zu sein. Tatsächlich, vor ihm stand eine recht seltsame Figur, ein Gesicht wie ein Greis mit vielen Runzeln, der Körper biegsam und gelenkig wie ein Kind. „Hallo Jacob, ich bin der Geist deiner „weihnachtlichen Kindheit“. Ich entführe dich in die schlimmen Jahre im Kreise deiner Familie, die dich nur herumschubsten, deine wenigen Freunde verjagten und Weihnachten nur verhöhnten.“

Die Bilder seiner Vergangenheit jagten an Jacob vorbei und vermittelten ihm eine ewige Angst vor der Wirklichkeit und das ständige Misstrauen anderen Menschen gegenüber. Die Bilder waren kaum verblasst, als auch schon der zweite Geist sich als „Geist der vergangenen Weihnachten“ vorstellte. „Hallo Jacob, erinnerst du dich noch an deine Lehrzeit in einem Kaufhaus, als der Kaufhausbesitzer dir auf einer betrieblichen Weihnachtsfeier erklärte, dass man Geld nicht hortet, sondern davon zu Weihnachten Dinge kaufen sollte, die wiederum viele Leute glücklich machen könnten. Mit Geld erkauft man auch keine Gefühle, sondern verplant es sinnvoll. Denke darüber nach.

Jacob hatte das Gefühl, dass sein Kopf platzte. Die Gedanken der Vergangenheit verunsicherten ihn, machten ihm Angst, so, wie er es noch nie erlebte. Jetzt besuchte ihn der dritte Geist, der sich „Geist des jeweiligen Weihnachtsfestes“ nannte. „Man nennt mich so, aber ich stelle klar, dass es jedes Jahr, seit Christi Geburt einen „neuen Weihnachtsgeist“ gibt. Der jeweilige Geist versucht die Menschheit in Weihnachtsstimmung, sprich Fröhlichkeit, Besinnlichkeit und Frömmigkeit zu halten. Ich werde dich in deinen weiteren Träumen auf eine Reise durch die verschiedenen Weihnachtsbäckereien und Werkstätten zur Herstellung verschiedener Geschenke für die Menschheit mitnehmen. Dabei wirst du besonders gut merken, warum es zu Weihnachten wenig Streit und viel Harmonie in den Familien gibt.

Du lernst dann reiche und arme Menschen kennen, die alle, auf ihre Art, sich auf diese Zeit freuen und sie genießen. Vor allen Dingen Kinder warten auf den Weihnachtsmann, um ihre lange ersehnten Geschenke in Empfang zu nehmen. Einige von ihnen sind dann sehr traurig, dass sie total leer ausgehen. Du wirst erkennen, wie wichtig es ist, gerade solchen Kindern zu helfen und ihnen eine gewisse Hoffnung zu vermitteln. Vergesse nie deine eigene Herkunft, denn nur durch Unwissenheit und Mangel an Vertrauen zum wirklichen Leben geraten die Menschen auf den ungeraden Pfad. Denke darüber nach.“

Schweißgebadet wachte Jacob in den frühen Morgenstunden auf. Sein Kopf brummte und schmerzte von den nächtlichen Erlebnissen. Aber irgendwie empfand er eine gewisse Erleichterung, ergriff das Telefon und rief seinen Neffen an, die Einladung am Weihnachtsabend im Kreise der Familie anzunehmen.                                       ©Rainer Göcht

25. Dezember 2013

Mein Weihnachtsengel

Ich wollte eine Geschichte schreiben. Eine Weihnachtsgeschichte. Es sollte etwas ganz besonderes werden. Die ultimative Weihnachtsgeschichte, bei der meine Freunde sagen, wow, was für eine Geschichte.

Ich hatte viele Ideen. Doch irgendwie waren es zu viele, die sich nicht zu einer Geschichte koordinieren ließen. Ich musste schmunzeln. Ich dachte an eine Geschichte, die ich vor einiger Zeit  geschrieben hatte: „Der Gedanken hab ich viele, allein die Worte fehlen mir.“

Jetzt ging es mir wieder so. Ich hatte so viele Gedanken, dass man locker fünf Geschichten damit beginnen könnte. Mit der Betonung auf „Beginnen“. Aber ich wollte eine Geschichte ja auch zu Ende bringen.

Aber diesmal hatte ich beschlossen anders vor zu gehen. Ich würde zuerst alle meine Gedanken aufschreiben, ohne lange zu überlegen, ob sie einen Sinn ergeben. Dann würde ich das Ganze ausdrucken und die Stellen markieren, die zu einer zusammenhängenden, sinnvollen Geschichte passen würden. Aus diesen Gedankenschnipseln würde ich dann meine Geschichte bauen.

Gedacht, getan. Ich legte los. Meine Finger flogen nur so über die Tastatur. Wort für Wort, Satz für Satz, Absatz für Absatz erschienen auf dem Bildschirm. Seite um Seite füllte sich.

Dann hörte ich ein Geräusch vor meinem Haus. Das Knirschen von Schritten im Schnee.

Meine Finger verharrten wenige Zentimeter über der Tastatur in der Luft, bereit für das nächste Stakkato. Ich lauschte, hörte aber nichts mehr. Ich sah auf den Bildschirm. Was ich bisher geschrieben hatte. Es ergab keinerlei Sinn. Noch nicht.

Dann hörte ich wieder dieses Geräusch von draußen. Ich ging an die Haustüre und öffnete sie. Ein schneidend kalter Wind schlug mir entgegen. Ich blickte nach links und rechts, sah aber nichts. Dann schloss ich die Türe wieder und ging zurück um an meiner Geschichte weiter zu schreiben.

Ich traute meinen Augen nicht. Da saß ein kleines Mädchen auf meinem Drehstuhl vor meinem Schreibtisch. Sie sah angestrengt auf meinen Bildschirm und tippte irgendetwas in meine Tastatur.

„Wer bist du“, wollte ich wissen. „Und wie bist du hier herein gekommen?“

Sie machte eine abwehrende Handbewegung und sah weiter angestrengt auf den Monitor, während sie immer wieder etwas auf der Tastatur tippte.

„Das ergibt alles keinen Sinn“, sagte sie. „Was hast du da nur geschrieben?“

Ich trat näher heran, um zu sehen, was sie da machte.

„Du hast überhaupt nicht begriffen, was Weihnachten ist“, schimpfte sie.

„Ach, ja?“,entgegnete ich. „Und du weißt es?“

Sie drehte sich wortlos auf dem Drehstuhl zu mir um und deutete auf den Monitor, auf dem inzwischen ein Film ab lief.

Ich sah wie gebannt auf den Bildschirm. Mir war kalt und ich hatte auf einmal seltsame Klamotten an. Jetzt erst registrierte ich, dass ich irgendwie in diesen Film geraten war. Was passierte hier nur? War das ein Traum? „Verdammter Portwein“, fluchte ich, mehr zu mir selbst. „Was?“, fragte ein Mann, der neben mir stand und die gleichen seltsamen Klamotten an hatte.

„Wo bin ich hier?“, wollte ich wissen. Der Mann lachte. „Du wirst doch wohl wissen, wo du deine Schafe hin getrieben hast.“ Ich verstand gar nichts mehr. „Welche Schafe... wohin getrieben... was passiert hier, um Himmels Willen?“, stammelte ich der Panik nahe. Denn es war realer, als jeder Traum, den ich je hatte. Trotz Portwein.

„Mein Guter, du scheinst mir ziemlich verwirrt“, versuchte mich der Fremde zu beruhigen. „Aber du hast recht. In des Himmels Willen wird heute Nacht etwas geschehen. Niemand von uns weiß, was passieren wird. Doch uralte Prophezeiungen werden sich noch in dieser Nacht erfüllen. Es heißt: Ein Stern wird leuchten über euch und es wird kommen der Weltenrichter.“ Er deutete mit seinem Stab auf einen alten Mann. „Siehst du den Mann dort? Er sagt, wenn der Stern erscheint, wird das Ende der Welt besiegelt sein.“

Dann ein Schrei aus hundertfachen Kehlen, der mir fast das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Da ist er... der Stern... wir sind alle verloren:“

Ich sah in die Richtung, in die alle deuteten und sah ihn. Ein strahlend heller Stern, so groß wie der Mond mit einem funkelnden, glitzernden Schweif. Er stand genau über einer kleinen Stadt.

„Das ist sie“, schrie einer hysterisch. „Das ist die verfluchte Stadt. Von ihr geht alles Unheil aus. Gleich wird der Himmel auf uns stürzen.“ Ich blickte nach oben und sah, dass die Sterne tanzten, wie in einem wilden Reigen. Nur der Stern mit dem Schweif blieb ungerührt über der Ortschaft stehen.

Dann schwebte eine licht durchflutete Gestalt gen Erde.

Ich erkannte das kleine Mädchen wieder, das noch kurz vorher in meinem Drehstuhl gesessen und meine Tastatur benutzt hatte.

„Fürchtet euch nicht“, sagte sie mit glockenheller Stimme. Fast bildete ich mir ein, sie hätte mir zu gezwinkert. „Euch ist heute der Heiland geboren. Ihr werdet ihn finden in Windeln gewickelt in einer Krippe liegend.“ Dann war der Zauber vorbei. Die Hirten machten sich betend auf nach Bethlehem und ich folgte ihnen andächtig. In einer armseligen Hütte fanden wir ihn dann, den Weltenrichter.

Ein kleines Baby in einer Krippe mit Stroh. Die Mutter war besorgt wegen der vielen Besucher und der Vater stolz und glücklich, die vielen Glückwünsche annehmend.

Ich war gerührt und den Tränen nahe. Ein so kleines Baby sollte die Welt verändern? Der Stern, der die ganze Szenerie in ein mystisches Licht tauchte, tat sein übriges.

Dann entdeckte ich sie in der Menschenmenge. Das kleine Mädchen. „Weißt du jetzt, was Weihnachten ist?“, flüsterte sie mir zu.

Plötzlich saß ich wieder vor meinem Computer, stützte die Ellbogen auf den Tisch und rieb mir die Schläfen. Ich sah auf den Bildschirm und wusste, wie ich sie schreiben sollte, nämlich die ultimative Weihnachtsgeschichte.

©Roland Schilling

26. Dezember 2013

Meine Weihnachtsgeschichte

Soso, ihr wollt also eine Geschichte hören? Eine Weihnachtsgeschichte? Von mir? Na die könnt ihr haben - da seid ihr bei mir genau an der richtigen Adresse! Was ich mit Weihnachten am Hut habe? Gar nichts! Wieso sollte ich auch; ich bin ja der Osterhase - womit wohl klar wäre, welches das einzig wahre Fest für mich ist! Ja, genau - Ostern! Und doch erzähle ich euch heute die Geschichte, wie ich das Weihnachtsfest gerettet habe. Es liegt schon ein paar Jahre zurück, vielleicht auch Jahrzehnte; um ehrlich zu sein, ich hab es nicht so mit dem Zählen. Da geschah nämlich genau das, was ich immer befürchtet und prophezeit hatte: Der Weihnachtsmann war verschwunden - einfach so.

Es war dieselbe Jahreszeit wie heute: Winter. Ich hasse Winter; es ist kalt und feucht, und man hat ständig diese Eisklumpen im Fell. Deshalb habe ich es mir irgendwann zur Gewohnheit gemacht, in dieser Jahreszeit mein Quartier auf der Osterinsel aufzuschlagen: dort ist es angenehm warm, und wie schon der Name verrät, wissen die da das einzig wahre Fest der Feste richtig zu würdigen. Es war also Anfang Dezember und ich lag bequem am Strand und schlürfte einen Eierlikör on the Rocks, als ich plötzlich eine Bewegung am Himmel wahrnahm. Zuerst dachte ich, ein Satellit stürzte ab, aber dann erkannte ich eine rote Nase mit einem Geweih darüber.

Elegant konnte man die Landung von Rudolf nicht nennen, aber Fakt ist, dass er genau vor mir zum Stehen kam und beim Abbremsen meinen schönen Eierlikör unter einem Berg von Sand begrub. Ich kann Rentiere nicht sonderlich gut leiden, und die vom Weihnachtsmann hab ich erst recht gefressen.

Ich frage euch: Kennt ihr einen meiner Helfer mit Namen? Osterhase Manni, der für den Eiertransport zuständig ist? Oder Paul, Fred, Erwin? Nein? Aber die Rentiere vom Weihnachtsmann - deren Namen kann jedes Kind im Schlaf aufzählen! Merkt ihr was? Diese Unausgeglichenheit zwischen den Festen? Soll ich euch verraten warum das so ist? Dieses ganze Tohuwabohu um das sogenannte Fest der Liebe ist einzig und allein dafür da, um die dilettantische Arbeitsweise des Weihnachtsmannes zu kompensieren. Aber lassen wir das Thema. Ihr wollt ja die Geschichte hören.

Rudolf war also den weiten Weg vom Nordpol zu mir geflogen, um mich zu bitten, den Weihnachtsmann zu retten. Er berichtete mir aufgeregt, dass der Weihnachtsmann von militanten Hobbits entführt worden sei, und dass nur ich seine Freilassung erwirken könne. Sie hätten einen Erpresserbrief hinterlassen, indem sie ausdrücklich von mir persönlich 10 kg Ostergras im Tausch gegen den Weihnachtsmann verlangten. Mit dem Ostergras planten sie angeblich ihr wohl bekanntes Pfeiffenkraut zu verfeinern. Wollt ihr wissen, wie ich da reagiert habe? Ich kugelte mich vor Lachen im Sand! Militante Hobbits?! Pfeiffenkraut? Da hatte wohl jemand zu oft "Herr der Ringe" geguckt und Fiktion mit Realität verwechselt.

Ich gebe ja zu, dass auch ich das Ostergras schon gelegentlich als Genussmittel genutzt habe, aber das möchte ich hier jetzt nicht weiter ausführen. Und überhaupt - wer würde schon den Weihnachtsmann entführen? Habt ihr eine Ahnung, wie viel Kilo Kekse und wie viel Liter Milch der Dicke in einer einzigen Nacht vertilgt? Kein Entführer kann sich so ein Opfer leisten. Mir war also sofort klar, dass die Sache nicht koscher war, weshalb ich dem verwirrten Rudolf freundlich klar machte, dass ich keineswegs vor hatte, diese lächerlichen Forderungen zu erfüllen. Mir war egal, was der Weihnachtsmann da für ein krankes Spiel spielte, ich wusste nur, dass ich, der Osterhase, da nicht mitspielen würde - dazu war ich zu schlau!

Womit ich aber nicht gerechnet hatte, war, dass Rudolf noch einen Joker in seinem Geschirr stecken hatte, eine Schriftrolle mit einem roten mächtigen Wachssiegel. Ehrfürchtig und mit einem mulmigen Gefühl nahm ich diese entgegen, brach das Siegel und las den Text. Wie ich schon befürchtet hatte, war es eine Anordnung von gaaaanz oben, und wenn ich nicht sowieso schon ein weißes Fell hätte, dann wäre ich beim Lesen sicher erblasst.

Unser aller oberster Chef verlangte doch tatsächlich von mir, den Weihnachtsmann aufzuspüren oder aber an seine Stelle zu treten. Mir brach der Angstschweiß aus, bei dem Gedanken, mit dem Rentierschlitten durch die Lüfte zu rasen und meinen Körper durch schmutzige Kamine zu zwängen. Diesen Dreck würde ich wochenlang nicht mehr aus dem Fell bekommen! Mir blieb also gar nichts anderes übrig, als den Dicken aufzuspüren.

Über meinen Transfer zum Nordpol möchte ich jetzt nicht reden, schließlich habe ich ja schon erwähnt, wie ich zu Rentieren und der weißen Jahreszeit stehe. Dort angekommen machte ich mich jedenfalls sofort daran, den "Tatort" zu inspizieren - und siehe da, der vermeintliche Erpresserbrief war voll mit Kekskrümeln; und daneben stand ein leeres Milchglas. Für mich war sofort klar, der Weihnachtsmann hatte sich selbst entführt. Aber warum? Und was mich noch viel mehr interessierte: Wohin?

Ich beschloss systematisch vorzugehen. Mein Blick glitt noch einmal bewusst über das Arbeitszimmer des Weihnachtsmannes; mein dicker Freund hatte sich wirklich Mühe gegeben: Der Schreibtischstuhl war umgeworfen, und überall im Raum lagen verstreut Wunschzettel auf dem Boden. Zuletzt besah ich mir noch einmal den Brief:

"Wenn ihr euren Weihnachtsmann zurück haben wollt, sorgt dafür, dass der Osterhase persönlich binnen drei Tagen ZEHN Kilogramm Ostergras unter dem Tannenbaum auf dem Gipfel des Weihnachtsberges deponiert. Wir mischen das Ostergras unter unser Pfeiffenkraut und verpassen uns damit voll die Dröhnung! .....gezeichnet - Die militanten Hobbits"

Schmunzelnd legte ich den Brief zurück und schüttelte mir die Kekskrümel von den Pfoten. Dann beschloss ich, diesem ersten Hinweis zu folgen und in der Weihnachtsbäckerei mit meinen Ermittlungen zu beginnen. Wie ich schon vermutet hatte, bestätigte man mir dort, dass vor zwei Tagen zusammen mit dem Weihnachtsmann auch vier große Truhen köstlicher Weihnachtsplätzchen verschwunden waren; außerdem wurden zwei Paletten volle Milchflaschen vermisst. Ab da war mir klar, dass der Gefräßige einen Komplizen haben musste; wie sonst sollte er diesen Proviant fortgeschafft haben?

Die kleinen Helferwichtel schloss ich gleich mal aus. Sie waren viel zu schwach. Der Weihnachtmann hätte Dutzende von ihnen gebraucht und das wären zu viele Mitwisser gewesen. Also fiel mein Verdacht automatisch auf die größten, stärksten und flinksten Helfer des Weißbartes: seine Rentiere.

Da es schon langsam dämmerte, traf ich Rudolf und seine acht Kollegen im Stall an der Krippe an. Ich bat als erstes Dasher mit vor die Tür, um ihm unter vier Augen ein paar Fragen zu stellen; er hatte allerdings ein wasserdichtes Alibi: Er und Vixen seien diese Woche für den Winterdienst eingeteilt und räumten täglich mit dem Schneepflug die Wege im Weihnachtsdorf. Da es hier ja ca. 24 Stunden am Tag schneite, war mir klar, dass die beiden bei dieser Arbeit nicht die Möglichkeit hatten, abzuhauen.

Als nächstes nahm ich mir den überheblichen Blitzen vor; aber auch er war mit wichtigen Aufgaben betraut. Zusammen mit Dancer sei er diese Woche zuständig, die Backstube mit Brennholz zu versorgen. Blieben also nur noch vier Verdächtige: Donner, Comet, Cupid und Prancer. Und siehe da, Donner war verdächtig nervös, als er mir berichtete, mit Comet ein paar Probeflüge mit dem Schlitten unternommen zu haben; aber nicht weit; nur südlich vom Weihnachtsdorf ein paar Runden.

Sofort nahm ich Comet ins Kreuzverhör. Dieser scharrte nervös mit den Hufen, als er ebenfalls von Probeflügen berichtete, allerdings nördlich vom Dorf. Mir war klar, ich hatte meine Komplizen des Abtrünnigen gefunden, aber mir war auch bewusst, dass diese dickköpfigen Wesen ihren Boss niemals verraten würden: aber das war auch gar nicht nötig. Ich behielt meine Erkenntnisse für mich, befragte noch schnell die zwei übrigen Huftiere, die in dieser Woche im Postdienst tätig waren und machte mich dann unauffällig auf den Weg zum Weihnachtsschlitten. Schnell hatte ich den Flugschreiber ausfindig gemacht, und nachdem ich ihn mit meinem O-Phone gekoppelt hatte, war die letzte Route im Nu rekonstruiert.

Früh am nächsten Tag schnappte ich mir Dancer, Cupid und natürlich Rudolf, um mich mit dem Schlitten auf den Weg zu machen; Rudolfs Nase glühte vor Vorfreude endlich seinen Herrn und Meister wieder zu sehen. Nach kürzester Zeit flogen wir auch schon über Island hinweg. Ich ließ die drei Geweihträger langsam gleiten und erforschte die Gegend. Laut Fahrtenschreiber musste es hier irgendwo sein, doch ich sah überall nur nackten kargen Fels und kleine runde Wasserlöcher.

Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wieso sich der Weihnachtsmann hierher zurückgezogen haben sollte. Meine Hoffnung begann zu schwinden, und ich sah mich schon die rußigen Kamine runter klettern, als ich plötzlich etwas Rotes in dieser trostlosen Gegend sah. Ich lenkte das Gefährt in diese Richtung, und beim Näherkommen erkannte ich ihn. Der Weihnachtsmann saß entspannt in einer heißen Quelle, die rote Zipfelmütze auf dem Kopf und ein Cocktailglas in der Hand.

Ich wollte zur Landung ansetzen, doch die drei Rentiere stoppten mitten in der Luft und legten die Ohren an. Ich sah, wie das Wasser nicht mehr nur dampfte, sondern zu blubbern anfing; der Freund aller Kinder stellte sein mit einer weißen Flüssigkeit gefülltes Glas zur Seite und positionierte sich in der Mitte der Wasserlochs. Und dann geschah es: Eine gewaltige Wasserfontäne schoss hoch in die Luft und oben drauf saß der Weihnachtsmann. Dieses Bild wollte ich eindeutig nicht sehen. Den Weihnachtsmann in einem knallroten eng anliegendem Männerbadeanzug mit freiem Blick auf die behaarte Männerbrust, und der Bauch zeichnete sich ab wie eine halbe Wassermelone.

Aber es war wie bei einem Verkehrsunfall - man will es nicht sehen, aber man kann auch nicht wegschauen. Dann vernahm ich über dem Wasserrauschen seine Stimme. Er grölte und jauchzte und freute sich wie ein Kind auf der Schaukel. Dann war es mit einem Schlag vorbei, als wenn jemand den Hahn abgedreht hätte war das Wasser weg, und mit einem gewaltigem Platsch landete der Dicke wieder in dem qualmendem Geysir.

Wir landeten mit etwas Sicherheitsabstand und ich schritt energisch auf das angebliche Entführungsopfer zu. Ich war sowas von geladen. Ein ganzes Dorf machte sich Sorgen um ihn, und ich wurde aus meinem Winterdomizil abberufen, weil ER Lust auf ein kleines Blubberbad hatte. Doch dann sah ich seinen Blick. Er sah mich an, wie ein kleines Kind, dass beim Naschen erwischt wurde. Also schluckte ich meinen Zorn herunter und setzte mich an den Rand des natürlichen Beckens.

Da mir vom Fliegen in frostiger Höhe eiskalt war, streckte ich meine Hinterläufe ins dampfende Wasser und genoss, wie die Wärme langsam durch meine Glieder kroch. Mit einem Kopfnicken bedeutete ich dem Weihnachtsmann seine Erklärung vorzubringen. Er schilderte mir dann auch ziemlich ausführlich seine Beweggründe, die ihn zu diesem Schritt gedrängt hatten, aber euch will ich mit Details verschonen. Die Gemütsverfassung des Weihnachtmannes lässt sich kurz und knapp mit zwei Worten erklären: Burnout.

In der heutigen Zeit kennt jeder diesen Begriff, ist Burnout doch quasi zur Volkskrankheit Nummer eins mutiert. Der ein oder andere unter euch schüttelt nun vielleicht verständnislos den Kopf und denkt, wie kann man überlastet und ausgebrannt sein, wenn man nur einen Tag im Jahr richtig arbeiten muss. Aber ich sage euch, gerade deswegen ist es verständlich! Ein Arbeiter, der täglich unter Stress und Hektik seine Arbeit erledigt, kommt oft besser damit zurecht als ein Arbeiter, der täglich vor sich hin trödelt und plötzlich mit einem riesen Projekt gefordert wird. Der Weihnachtsmann sah mich nun mit einem herzerweichenden Hundeblick an, und ich wusste, ich musste ihm helfen.

Eine Woche später liefen im Weihnachtsdorf die Vorbereitungen für das große Fest auf Hochtouren. Plätzchen wurden gebacken, Briefe gelesen und Geschenke verpackt. Eine ganze Kolone Osterhasen sorgte gemeinsam mit den Weihnachtswichteln, dass der weihnachtliche Zeitplan eingehalten werden konnte, und an Weihnachten wurden wie gewohnt sämtliche Geschenke termingerecht ausgeliefert. Dem Weihnachtsmann ist wieder bewusst geworden, wie wichtig sein Job für die Kinder dieser Welt ist, und da uns diese Geschichte doch irgendwie zu Freunden hat werden lassen, feiern wir seither jedes Jahr gemeinsam an einem geheimen Ort Silvester, und lassen es richtig krachen.

Tja, das war also die Geschichte, wie ich das Weihnachtsfest gerettet habe. Und es wäre ja keine kluge Geschichte, wenn sie keine Moral hätte... Die Moral von meiner Geschichte ist: Wenn ein Kollege mal deine Hilfe braucht, dann sorge entweder dafür, dass er dich nicht findet, und wenn doch dann bestehe darauf, hinterher so richtig die Sau raus zu lassen. In diesem Sinne wünsche ich euch eine frohe Weihnachtszeit. Man sieht sich dann zu Ostern.

©Sieglinde Holewecky

27. Dezember 2013

 Ein Weihnachtsmann mit blauen Augen 

Es war der Heilige Abend 1970. Meine Mama, Oma, Opa und ich waren Zuhause und warteten auf meinen Papa, damit wir endlich mit der Bescherung anfangen konnten. Eine halbe Stunde zuvor hatten wir, nachdem wir in der Kirche zur Christvesper waren, unser traditionelles Heilig Abend Essen. Es gab Kartoffelsalat mit Saitenwürstle. Ein leckeres und einfaches Essen, das es bei uns an diesem Tag immer noch gibt.  

Mein Papa meinte dann aber, dass er noch einmal ins Geschäft müsse. Noch etwas erledigen, was nicht warten konnte. Nun ich war damals noch zu klein, um zu begreifen, dass das nur eine Ausrede war und so dachte ich mir nichts dabei. Mama, Oma, Opa und ich saßen also vergnügt vor dem bunt geschmückten und hell erleuchteten Weihnachtsbaum und sangen Lieder. Oma mit Gitarre und Mama sang die 2.Stimme.  

Da klingelte plötzlich das Telefon. Mama ging hin und rief mich dann, ich solle an den Apparat kommen. „Ich“? Erstaunt nahm ich den Hörer in die Hand und lauschte. Ich erkannte die Stimme meines Vaters. Er erklärte mir, dass der Weihnachtsmann gerade bei ihm wäre und dieser gleich zu uns kommen würde. 

„Zu uns?“ Mir rutschte fast das Herz in die Hose. „Ja, zu uns, aber ich werde etwas später kommen,“ antwortete mein Vater. Die nächste viertel Stunde rutschte ich unruhig auf meinem Stuhl hin und her, als es endlich an der Tür klingelte. Mama machte auf und führte den Weihnachtsmann ins Wohnzimmer. 

Er war ein stattlicher Mann mit weißem Bart und rotem Mantel. Er hatte liebevoll schauende, blaue Augen. Ich hatte ein wenig Angst vor ihm und versteckte mich erst einmal hinter Mamas Rockzipfel. Aber der Weihnachtsmann hatte eine beruhigende, angenehme Stimme und fragte, ob ich denn auch immer artig war und ein Gedicht aufsagen könnte. 

„Natürlich war ich immer artig“, sagte ich mit einem Seitenblick zu meiner Mutter. Die lachte nur. Und natürlich hatte ich im Kindergarten ein Gedicht auswendig gelernt, dass ich nun zum Besten gab. Leider weiß ich nicht mehr welches das war. Anschließend sangen wir alle zusammen noch ein Weihnachtslied und dann öffnete der Weihnachtsmann endlich den großen Sack, den er dabei hatte. Ich war schon gespannt auf die Geschenke, die ich bekommen würde.   

Er zog einen weißen Stoffhund auf Rädern heraus, den ich mir gewünscht hatte und gab ihn mir. Ich nahm ihn an mich und wollte mich verdrücken, aber meine Mutter ermahnte mich, dass ich mich bedanken sollte. Das tat ich dann, wenn auch etwas widerwillig. Aber ich war stolz auf meinen kleinen Hund.   

Der Weihnachtsmann verabschiedete sich und ging. Etwas später kam mein Vater nach Haus und ich empfing ihn mit den Worten: „Schade, jetzt hast Du den Weihnachtsmann verpasst“, und zeigte ihm stolz meine Geschenke. 

Viele Jahre später, saß ich mit meiner Mutter zusammen und schaute mit ihr alte Fotos an. Darunter auch die von diesem Weihnachten. Plötzlich wurde ich stutzig. Ich sah genauer hin. Diese Augen kannte ich doch!  

In diesem Augenblick wurde mir bewusst, dass der Weihnachtsmann von damals mein Papa war. Ich hatte es bis zu diesem Tag nicht gewusst, dabei hätte ich es damals schon merken müssen.  


 Denn der Weihnachtsmann hatte dieselben blauen Augen wie mein Papa. 

©Monika Aldingen

28. Dezember 2013

Weihnachten, das Heim und die Menschen 

Ich arbeitete jahrzehntelang als Verwaltungsangestellte in einem dem kommunalen öffentlichen Dienst zugehörigem Alten- und Altenkrankenheim. Die Einrichtung hatte acht Pflegestationen und drei Wohnbereiche mit insgesamt zweihundertvierzig Bewohnern. Mein Hauptarbeitsgebiet war die Heimbewohnerverwaltung. Wichtigste Option war unter anderem, dass dieses relativ große Haus immer belegt war. Mein Beruf machte mir Freude und so konnte ich die Erwartungen erfüllen. 

Als Personalratsvorsitzende hatte ich quasi noch einen weiteren Arbeitsplatz. Diese Arbeit machte ich ehrenamtlich mit der gleichen Einstellung. Der Personalrat vertrat die Interessen der Mitarbeiter dieser Einrichtung. 

Der Dezember war immer arbeitsreich. Doch er war immer ein besonderer Monat für uns alle. Wir freuten uns natürlich auch auf Weihnachten.

Zur Weihnachtszeit hatten wir für die Bewohner, den Angehörigen und ehrenamtlichen Gruppen und Betreuern viele Feste, die die Mitarbeiter mit wirklicher Freude ausrichteten. Es war ein Dankeschön des Hauses für die oft jahrelange aufopfernde, liebevolle Arbeit mit den Bewohnern. 

Das gesamte Haus war immer sehr geschmackvoll weihnachtlich geschmückt. Wir hatten das große Glück, sehr geschickte und einfallsreiche Kollegen/innen im Hause zu haben, die es jedes Jahr in einem anderen Stil dekorierten. Meistens waren es Kolleginnen. Wie in jedem Heim sind weibliche Mitarbeiter in der Mehrzahl. Hilfestellung bekamen sie natürlich auch von unseren Handwerkern um ihre Ideen umzusetzen. 

Die Bewohner, die Angehörigen, Besucher und Gäste bewunderten jedes Jahr die weihnachtlichen Dekorationen, sehr zur Freude meiner Mitarbeiterinnen. Der Leiter des Hauses war immer voller Stolz, sein Heim so gut und schön präsentieren zu können. 

Er hatte in dieser Zeit sehr viel zu tun. Bei jedem Fest musste er ja eine Rede halten und sich bedanken. Das machte er an sich sehr gut. Einen besonderen Höhepunkt hatte jedes Fest. Viele Möglichkeiten waren da, zum Beispiel kamen Kinderchöre, Theater, Musikgruppen, und auch eine Märchenerzählerin war dabei. Als Abschluss kam immer ein vorzügliches Essen aus der hauseigenen Küche. Der Koch und seine Mitarbeiter servierten Gerichte, die ein sehr gutes Restaurant nicht besser hätte zubereiten können.

Mitarbeiterinnen der Küche und der Pflegestationen servierten professionell gut und chic angezogen das Essen. Der Leiter des Hauses genoss voll Stolz die Zufriedenheit der Anwesenden. Auch der Küchenchef freute sich über seine gelungene Arbeit. 

Diese Feste wurden über das hauseigene Fernsehen auf allen Stationen übertragen. So konnten die Bewohner, die bettlägerig waren und das Personal, das auf den Stationen ihre Arbeit verrichten musste, ebenfalls von den Feiern profitieren. Oft habe ich erlebt, dass Bewohner und die Mitarbeiter bei den Weihnachtsliedern mitgesungen haben. Wie schon gesagt, der Dezember war und ist immer ein besonderer und schöner Monat im Jahr. 

So verging die Zeit bis zur großen Weihnachtsfeier, wo dann alle Bewohner, Angehörige und Gäste zugegen waren. Da es ein kommunales Haus ist, waren die politischen Gäste des Kreistages, der Landrat, der Bürgermeister der Stadt in dem die Einrichtung sich befindet, als Ehrengäste und auch Gönner des Hauses eingeladen. Ein katholischer Pater leitete die hauseigene Kapelle. Jeden Sonntagmorgen war ein Gottesdienst. Die evangelischen Bewohner konnten einmal in der Woche nachmittags einen evangelischen Gottesdienst in dieser wirklich schönen Kapelle besuchen. Die Gottesdienste wurden auch von Nichtbewohnern besucht. Die katholische Gemeinde hatte hier einen eigenen sehr guten Chor, der von einem ehemaligen Studienrat geleitet wurde. Für Rollstuhlfahrer war die Kapelle bestens ausgestattet. Die Gottesdienste wurden natürlich auch über das Fernsehen übertragen. 

Das alles sind Vorzüge eines Heimes. Die Lebensqualität eines Bewohners ist hier doch besser gegeben, als in einer häusliche Pflege. Für die Angehörigen ist es eine Beruhigung, dass für den zu Pflegenden gut gesorgt und das Bestmöglichste getan wird. Er selbst hat aus diesem Grunde keine Belastung bezüglich der Pflege, wie es vor der Heimunterbringung der Fall war.

Jetzt freuen sich die Bewohner und Angehörigen bei jedem Besuch. Das ist für beide eine große Erleichterung. Allein ist hier niemand. Durch das Zusammenleben ist man auch nicht wirklich einsam. Das ist ebenfalls bei einer guten Pflege wichtig und notwendig! 

Die große Weihnachtsfeier war in der Regel immer am zwanzigsten Dezember angesagt. Um sechzehn Uhr fand in der Kapelle ein ökumenischer Gottesdienst statt. An diesem Gottesdienst nahmen immer die Ehrengäste teil. Ihre beruflichen Verpflichtungen hatten sie in Bezug auf Weihnachten in der Regel beendet. Daher nahmen sie gerne die Weihnachtsfeier unserer Einrichtung als Abschluss wahr. Man merkte ihnen auch die weihnachtliche Stimmung an. Als Ehrengäste wurde ich als Vorsitzende des Personalrates und mein Vertreter ebenfalls eingeladen. Auch wir waren stolz auf unsere Kollegen/innen. Am Gottesdienst nahmen wir sehr gerne teil.

 

Dann, ab fünfzehn Uhr wurde die Tür zum Festsaal geöffnet, die Tische waren geschmackvoll gedeckt, Süßigkeiten, Getränkegläser befanden sich auf den Tischen. Es war immer ein großer Augenblick, wenn man die fertigen Tafeln und die Bestuhlung sah.

Die Bühne mit der Weihnachtsdekoration hatte immer einen besonderen Reiz. Die Feier wurde von den Kollegen der Technik mit der Videokamera aufgenommen. Die örtliche Presse war ebenfalls vertreten und nahm besonders schöne Momente mit ihren Videokameras auf. Die Fernsehanlage lief, und gegen 16:45 Uhr begann die Weihnachtsfeier. 

Alle Bewohner, Angehörige hatten nun einen Platz gefunden. Ungefähr dreihundert Personen mussten nun bewirtet werden. An der Bühne waren zwei Tischreihen für die Ehrengäste reserviert. Am Gottesdienst hatten auch Bewohner teilgenommen, aber es hätten noch einige Platz gehabt. Das war jedes Jahr so. Sie hatten die Befürchtungen, in den gedeckten großen Räumen nicht den gewünschten Platz, zu bekommen. Also hatten sie auf den Gottesdienst verzichtet. Der wurde jedoch auch übers Fernsehen übertragen.  

Auf den Pflegestationen befanden sich nur bettlägerige Bewohner. Wenn, haben sie von dem Gottesdienst mehr mitbekommen. In den Festräumen war die Geräuschkulisse natürlich lauter als in der Kapelle.

Der Heimleiter begrüßte zuerst die Bewohner, Angehörige, Mitarbeiter/innen und namentlich die Ehrengäste. Obwohl schon jahrelang praktiziert, fehlte es ihm oft an Sicherheit. Er war froh, wenn er das geschafft hatte, und trank dann erst einmal einen großen Schluck von dem köstlichen Wein.

Es folgten dann der Reihe nach Reden der politischen Ehrengäste. Viele waren sehr schön und auch sinnvoll. Manche schöne Anekdoten waren im Inhalt vertreten. Es war schön, ihnen zuzuhören. Während der Reden wurden von den Kolleginnen schon Getränke serviert. Sekt, köstlicher Wein und Säfte. Dann war die Bühne frei für die jeweiligen Musiker, Sänger, Chöre und immer waren auch Kinder dabei. Entweder sangen sie oder erzählten weihnachtliche Geschichten. Eine halbe Stunde dauerte in der Regel das Weihnachtsprogramm auf der Bühne.  

Der Leiter der Einrichtung dankte den Mitwirkenden herzlich und so konnte dann das Essen serviert werden. Es schien allen zu schmecken, das Wort köstlich hörte man sehr oft. Die Stimmung war fröhlich und doch auch besinnlich. Als Abschluss wurde ein kleines Dessert gereicht, ebenfalls köstlich. Es war wie immer ein gelungenes Fest. Dafür war die Einrichtung bekannt.

 Am Heiligen Abend verteilte der Heimleiter mit seinem Stellvertreter Geschenke an die Bewohner. Jeder wurde einzeln begrüßt. Das musste schon an diesem Tage geschehen, da an den Weihnachtstagen einige Bewohner von ihren Angehörigen mit nach Hause genommen wurden.  

Auf jeder der acht Pflegestationen und in den drei Wohnbereichen befanden sich sehr schön eingerichtete Aufenthaltsräume. Dort wurde jeweils der Heilige Abend gefeiert. Die Kollegen/innen welche den Nachmittagsdienst hatten, feierten mit den Bewohnern mit einem eigens von der Küche hergestellten Weihnachtsessen. Wein wurde ebenfalls gereicht. Da kamen die Herren mit den Geschenken doch zur richtigen Zeit. 

Die Verwaltung und die Handwerker hatten an den Feiertagen geschlossen. Nur die Mitarbeiter/innen der Pflege und der Küche hatten Dienst. Der Reinigungsdienst hatte am Heiligen Abend noch vormittags ein paar Stunden Dienst. 

Jedes Jahr bekamen die Mitarbeiter/innen ebenfalls ein schönes Geschenk als Dankeschön. Da hatte ich die Pflicht, am ersten Weihnachtstag um zehn Uhr nach dem Gottesdienst mit meinem Chef und dessen Stellvertreter den anwesenden Kollegen/innen als Personalratsvorsitzende ein frohes Weihnachtsfest zu wünschen und dieses der Mittagsschicht nebst den Geschenken auszurichten. Das habe ich ebenfalls gerne gemacht und ich weiß, dass die Kollegen/innen sich immer sehr über diese Geste gefreut haben.  

Gegen dreizehn Uhr fuhren wir drei dann nach Hause und hatten dann unser privates Weihnachtsfest. 

© 2013 Tamara Wiegand    

29. Dezember 2013

Weihnachtsglück

Heute Morgen war der Himmel wieder gleißend rot, die Sonne strahlte mir direkt ins Gesicht, als ich zum Bahnhof lief. Die vereisten Scheiben der am Straßenrand parkenden Autos reflektierten die Sonnenstrahlen dieses wunderschönen Morgens in alle Richtungen und ließen alles um mich herum glitzern. Der Frost der Nacht knirschte leise unter meinen Sohlen und die morgendliche Kälte zwickte leicht auf meiner Haut. 

Die Hände tief in den Taschen vergraben, blieb ich kurz stehen und legte meinen Kopf in den Nacken. Genoss die schwache Wärme der aufgehenden Sonne. Die Farben am Horizont mischten sich aufgeregt mit dem Blau des Himmels und ich atmete die frische Luft ein. 

Trotz des Verkehrs genoss ich die angenehme Stille. Ich entschied mich kurzfristig noch das wunderbare Angebot des Bäckers anzunehmen: Eine Butterbrezel und einen Kaffee für 1,50€.  Doch meine Laune trübte sich etwas als ich, nachdem ich mir erfolgreich die Zunge am Kaffee verbrannt hatte, leicht genervt in die S-Bahn einstieg, die wie so oft geschlagene 15 Minuten zu spät war. 

Mit dem Wissen, dass ich meinen Anschlusszug verpassen würde, lehnte ich mich gegen die Fenster und lauschte dem Lied „Kidz“ von TakeThat. Nippte ab und zu an meinem Kaffee und ärgerte mich darüber, dass dieses pelzige Gefühl auf der Zunge mich den ganzen Tag verfolgen würde.

Eine Schulkasse belagerte das Abteil. Ich erinnere mich daran, dass ich mich wunderte. Über die Schulklasse. Keines der Kinder schien ein Smartphone zu besitzen oder dabei zu haben. Sie spielten alle in kleinen Gruppen „Schere-Stein-Papier“ und jubelten, wenn sie siegten. Die Lehrerin saß in Mitten der Kinder und grinste dümmlich. 

Doch ein Junge der Schulklasse spielte nicht mit. Er saß ruhig da und las. Sein eines Bein hatte er angewinkelt und den Fuß auf seinem Sitz abgestellt. Den Arm auf seinem Knie abgestützt, war er ganz in sein Buch vertieft. Immer wieder fuhr er sich mit der linken Hand durch die Haare, um anschließend den Arm zu schütteln, damit seine Armbanduhr nicht unangenehm am Handgelenk kleben blieb. 

Völlig unbeeindruckt von seinen unruhigen Mitschülern, blätterte er gewissenhaft sanft eine Seite nach der anderen um. Seine Augen flogen über die Zeilen, manchmal stahl sich ein kleines Schmunzeln auf seine Lippen, manchmal runzelte er für den Bruchteil einer Sekunde die Stirn oder kratzte sich an der Nase.

 

Als wir den Endbahnhof erreichten, ließ er sich nicht von der plötzlichen Aufbruchsstimmung seiner Mitschüler beirren, las die Seite zu Ende, legte ein Lesezeichen in das Buch, klappte es zu und strich mit seiner Hand über den Einband, nahm seinen Rucksack und klemmte sich das Buch vor die Brust.  Eckard von Hirschhausen hat gesagt, „Das große Glück liegt in den kleinen Dingen“.  Wie Recht er doch hat.

© Rebecca Kunze

30. Dezember 2013

Zwischen den Jahren 

Zu Ende ist das hohe Fest.

Die Gaben sind verteilt.

Es ist, als ob nur noch ein Rest

der Festtagsfreude in uns weilt.

 

Des Jahres letzte Tage gehen,

zerrinnen still im Stundenglas.

Durch winterkalte Straßen wehen

Dunkelheiten, kühl und nass.

 

Doch fürchtet nicht,

denn nun beginnt ein neuer Erdenlauf.

Es wächst des Tages helles Licht.

Weckt neues Leben auf.

©Alke Bolte

31. Dezember 2013

Dantes letztes Silvester 

Achtzehn Jahr – braunes Haar und frisch verlobt verbrachte ich die Weihnachtsferien 1962 bei meiner Großmutter in Berlin. Das war praktisch, denn nur ein Stockwerk höher wohnte mein Verlobter Hajo und es war geplant, Silvester bei  Jana und Justus, Freunde von Hajo, zu feiern. Justus Mutter war zu  ihrer Schwester in Westdeutschland gefahren und so hatten wir die große 5-Zimmer Wohnung ganz für uns. 

Schon am Tag zuvor gingen wir zu viert einkaufen, ca. dreißig Leutchen waren eingeplant, also schleppten wir ganz beträchtliche Mengen an Lebensmitteln und Getränken in die Wohnung. Hajo und Justus dekorierten Wohn-, Ess- und Arbeitszimmer, die alle mit Flügeltüren verbunden waren und geizten nicht mit Luftschlangen, Girlanden und Wanddekorationen. Alles, was irgendwie nach Kunstwerk und halbwegs teuer aussah, wurde entfernt, damit ja kein dummes Malheur passieren konnte. 

Am nächsten Vormittag begannen Jana und ich, plattenweise Canapees, Buletten, Eierhälften und zig Schüsseln mit Salaten vorzubereiten. Vor allem mit den Canapees gaben wir uns viel Mühe, die Verzierungen wurden immer verrückter und auch die hartgekochten halben Eier bekamen ein Häubchen aus Mayonnaise, Lachsersatz oder deutschem Kaviar.*  (Das war zu dieser Zeit Luxus pur für den normalen Mittelstand) 

Gegen Abend trudelten die ersten Gäste ein, Jana und ich konnten uns gerade noch umziehen und ein wenig aufpeppen und schon ging es los. Die schon wochenlang zuvor aufgenommenen Tonbänder mit den Hits dieser Zeit dröhnten durch die Zimmer (die Nachbarn feierten entweder selbst, waren unterwegs oder zumindest vorgewarnt!) und die Pärchen tobten sich auf dem herrlich glatten Parkett aus. Die Flügeltüren zwischen den Zimmern standen sperrangelweit auf – also Platz satt. Nur die im Boden eingelassenen  Angeln, die waren schon mal für einen gewaltigen Stolperer gut und sie vernichteten in dieser Silvesternacht drei  Absätze der hochhackigen „dämlichen“ Pumps! 

Die Stimmung war super, natürlich flossen Wein, Bier und andere Köstlichkeiten in Strömen, das kalte Buffet wurde ebenfalls kräftig geplündert. Nur unsere mühselig kreierten Verzierungen, vor allem der deutsche, schwarzblaue Kaviar vom Stör, der war wohl nicht so beliebt und landete selten in den Mägen, sondern eher mit einem beherzten Schwupp auf dem Rand der Pappteller. 

Das neue Jahr haben wir, um es ja nicht zu verpassen, zugleich per Radio- und Fernsehsender begrüßt. Küsschen links und rechts wurden reichlich verteilt und die jeweils zusammen gehörenden Paare brauchten dann schon mal etwas länger, bis sie sich eng umschlungen die Wünsche für das hoffentlich gemeinsame Neue Jahr 1963 ins Ohr oder etwas verrutscht, an den Hals oder noch etwas tiefer in den, zu diesem Anlass, etwas  üppigeren Ausschnitt geschmust oder genuschelt hatten. 

Die zunächst ständig prall gefüllte Tanzfläche wies nach Mitternacht erste Lücken auf, dafür waren alle verfügbaren Sitzmöbel und Sofas doppelt besetzt. Und Justus, schon seit vielen, sehr vielen (zu vielen?) Jahren mit Jana zusammen und vielleicht nicht mehr so auf intensiven Schmusekurs aus, kam auf eine herrlich bescheuerte Idee. Er verschwand kurz, kam mit einem Luftgewehr zurück und heftete eine dicke schwarzweiße Zielscheibe mit Ringen und Mittelpunkt an die Wand über das Buffet. 

Keiner wusste so recht, was ihn geritten hatte, auf jeden Fall klappte er den Lauf auf, nahm sich einen der Pappteller, schnippte mit dem Finger den verschmähten Kaviar auf, schmierte ihn in die Höhle, in der normalerweise ein Diabolo als Munition platziert wurde, klappte den Lauf wieder hoch,….  avisierte die Zielscheibe und drückte ab. Wir hielten uns die Ohren zu, aber es war nur ein etwas matschig klingendes Quietschen zu hören. 

Die Zielscheibe bekam sage und schreibe sechs schwarze Punkte ab, querbeet – dafür war die großformatige Ornamenttapete rundherum mit schwarzen Flecken übersät. Jana sprang auf und rief: „Bist Du wahnsinnig, was glaubst Du wohl, was Deine Mu….“, ihr versagte die Stimme und sie prustete los, „gib mal her, ich will auch mal!“ Ihr Blick wanderte von der Zielscheibe auf die linke Buffetseite, auf der eine große Büste stand, die den Kopf von Dante darstellte. „Ist das Marmor?“, und bevor Justus was dazu sagen konnte, machte es wuuuutsch… und Dante hatte brombeerfarbende Sommersprossen im Gesicht. 

Nun gab es kein Halten mehr, jeder wollte mal und unter Lachen und Gegröle wurde der arme Dante mit Kaviarmatsch beschossen, bis nicht mehr viel Weißes zusehen war und das Tapetenmuster dahinter im Einheitsbrei verschwand. Aus dem kurzen Lauf der Luftpistole tropfte blauschwarze Lake auf den hoffentlich versiegelten Parkettboden und im Raum stank es inzwischen schlimmer als in einer Fischmarkthalle. 

Das Fest ging weiter, die Musik wurde wieder aufgedreht und das Tanzbein geschwungen. Jana und ich brachten den stinkenden und glitschigen Danke in die Küche und schrubbten unterm Wasserhahn sein Haupt, während Justus und Hajo wohl mit mehr oder weniger Erfolg versuchten, die Tapete , das Buffet und den Boden zu säubern. 

Es gelang irgendwie nichts richtig und da wir natürlich auch nicht mehr so ganz nüchtern waren, erheiterte uns das eher und als Jana nach einigen Minuten konstatierte: „Von wegen Marmor! Dante ist nur ein alter Gipskopp!“, da kriegten wir uns überhaupt nicht mehr ein. Natürlich ging die Farbe nicht ab, was uns wiederum ungemein erheiterte. Inzwischen hatte unser Gegacker die restlichen Gäste angelockt und jeder hatte mindestens einen todsicheren Tipp parat. Nichts half, Dante blieb blauschwarz und wir beschlossen, es doch lieber am nächsten Tag wieder zu versuchen. Es war eh verabredet, dass alle, die Zeit und Lust hatten, am nächsten Tag zum Spätschoppen wieder antreten sollten, um dann die Wohnung wieder klar zu machen und auch die restlichen Canapees und Salate zu vertilgen. 

Hajo und ich erlebten unseren „Frühschoppen“ am Neujahrsmorgen allerdings erst mal bei einer fantastischen Aufführung von Beethovens Neunter mit der „Ode an die Freude“ und von dort ging es direktemang ins Chaos zu Jana und Justus und den anderen. Jaaa, es sah schon wieder alles ganz manierlich aus. Einige kleine blauschwarze Tupfer auf dem Parkett waren bereits unter dem wieder ausgerollten Perserteppich verschwunden. Das Buffet und die Tapeten sahen erstaunlich sauber aus – nur Dante fehlte. 

Wo war Dante? In der Badewanne fand ich ihn, er hatte sich zu heute Nacht nicht wesentlich verändert und hatte Ähnlichkeit mit einem schwarzweiß gesprenkelten Dalmatiner. Justus stellte lapidar fest: „Der ist hin! Ich bring ihn morgen zum Abschleifen und wenn das nicht geht, muss ich ihr wohl einen Neuen kaufen. So’n Gipsschädel kann doch nicht so teuer sein.“ Und so geschah es dann auch. 

Als die Mama nach zwölf Tagen wieder in Berlin eintraf und ihre Zimmer prüfend in Augenschein nahm, blieb ihr Blick an der Büste hängen und sie stellte anerkennend fest: „Oh, kaum ist man mal ein paar Tage weg, schon ist Dante um einige Zentimeter gewachsen!“, und zu Justus gewandt, „hast Du vielleicht ihn, statt der Blumen, gegossen?“ „Nein, aber mit Kaviar beschossen!“ – Nein, das hat er sich mit Sicherheit verkniffen, aber Rede und Antwort stehen musste er dann wohl oder übel doch.

©gittarina

 

Wünsche zum Jahreswechel  (© Elli Michler)

Ich wünsche Dir nicht alle möglichen Gaben.

Ich wünsche dir nur, was die meisten nicht haben;

Ich wünsche Dir Zeit, Dich zu freuen und zu lachen,

und wenn du sie nützt, kannst Du etwas draus machen. 

 

Ich wünsche Dir Zeit für Dein Tun und Dein Denken,

nicht nur für Dich, sondern auch zum Verschenken.

Ich wünsche Dir Zeit, nicht zum Hasten und Rennen,

sondern die Zeit zum Zufriedenseinkönnen. 

 

Ich wünsche Dir Zeit, nicht nur so zum Vertreiben.

Ich wünsche, sie möge Dir übrigbleiben,

als Zeit für das Staunen und Zeit für Vertrauen,

anstatt nach der Zeit auf die Uhr zu schauen. 

 

Ich wünsche Dir Zeit, nach den Sternen zu greifen,

und Zeit um zu wachsen, das heißt um zu reifen.

Ich wünsche Dir Zeit, neu zu hoffen, zu lieben.

Es hat keinen Sinn, diese Zeit zu verschieben. 

 

Ich wünsche Dir Zeit, zu Dir selbst zu finden,

Jeden Tag, jede Stunde als Glück zu empfinden.

Ich wünsche Dir Zeit, auch um Schuld zu vergeben;

Ich wünsche Dir Zeit zu haben zum Leben.

 

Das wünsche ich Euch allen

Eure Gitta

 

Impressum

Texte: Autoren der Biogruppe
Bildmaterialien: http://static.freepik.com/fotos-kostenlos/stilisierten-weihnachtsbaum_81118.jpg
Lektorat: gittarina
Tag der Veröffentlichung: 30.11.2013

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