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Inhaltsverzeichnis

Marlies Kühr - Die Hoffnung lebt

Angela Ewert - Mauerfall

Jens Dräger - Von einem, der auszog, das Flüchten

                     zu lernen

Matthias März - An jenen Tagen

 Clara C. - Die Wende

A.P.W. Langelaan - Die Mauer ist weg

Rika Wächter - Der nette Opa

Jürgen Augst - Das Verhör

Marlies Kühr - Wir sind die Kraft

Gittarina - Das Tor ist offen

Dora Fries - Die Mauer ... und ihr Fall

Rainer Güllich - Besuche

Ralf von der Brelie - Freiheit, mehr als

                              nur ein Wort

Manuela Schnief - Öffnung nach 28 Jahren

GaSchu - Das Brandenburger Tor

Rainer Göcht - Ein Bild geht um die Welt

Monika Schoppenhorst - Maueröffnung verpasst

Gittarina - Gegen Mauern

 

 

Die Hoffnung lebt

 

 

Die Hoffnung lebt

Vor dem Mauerfall

 Diese verdammte Mauer schneidet in unsere bisher unzertrennliche Freundschaft! Nur noch in Briefen können wir unsere Kontakte aufrechterhalten. Doch das Leben geht weiter. Man wird älter. Man heiratet. Man bekommt Kinder. Man baut, als es endlich möglich wird, ein Häuschen. Man muss seine Arbeit bewältigen, sucht sich in der Gesellschaft einzurichten.

 In der Schizophrenie sozialistischer Realität hat man mindestens einmal im Monat, meist häufiger, glaubhaft zu versichern, keine Westkontakte zu haben. Trotzdem kommt zwei-dreimal im Jahr, sehnsüchtig erwartet, ein Westpaket! Der lange noch heimlich genährte Wunsch und die Hoffnung auf ein Wiedersehen sterben im Alltag der Realitäten auf beiden Seiten. Schon sind die Kinder erwachsen. Bald geht es auf die dreißigjährige Trennung zu.  

Inzwischen heiraten hier wie drüben unsere ersten Söhne! Da endlich wagen wir, das Freundespaar aus dem Westen zur Hochzeit unseres Sohnes einzuladen - schließlich fand schon vor zehn Jahren die KSZE statt mit der Schlussakte von Helsinki, die Sicherheit verhieß - und meine Freundin Jule wagt erstmals wieder einen Fuß in den Osten zu setzen. Wir feiern ein rauschendes Fest! Mit jeder Menge Schlagsahne, einem gecharterten Bus und einem richtigen Ball. Und unser Junge bekommt aus dem Westen echt goldene Trauringe!

 Wir beiden Frauen sind uns wieder ganz nah, so wie vor dreißig Jahren. In absehbarer Zeit wird der achtzigste Geburtstag von Jules Mutter Margarethe sein. Der muss uns zu einem Wiedersehen in Dortmund verhelfen! Wo doch Begegnungen zu familiären Ereignissen im hohen Alter heute schon genehmigt werden. 

Ich wage den ersten Schritt. Mit weichen Knien stehe ich vor meinem Direktor, ersuche um sechs Tage Sonderurlaub aus speziellen familiären Gründen, zum 80. Geburtstag meiner Tante. Dabei fühle ich mich armselig klein, es zieht mich fast in den Erdboden. Ich bin auf das Schlimmste gefasst. In Gedanken höre ich das Nein, als er sagt: "Ich werde darüber nachdenken.“

 Tante Margarethchen – Stiefschwester meiner Mutter - schickt mir ihre amtlich beglaubigten Geburts- und Wohnsitz-Dokumente und ich stiefele damit zum Volkspolizeikreisamt, Abteilung Reisen ins nichtsozialistische Ausland. An eine nicht enden wollende Menschenschlange außen am Gebäude - viermal so lang wie die gewohnten Bananenschlangen - stelle ich mich an. Mir ist mulmig zumute. Nach drei Stunden endlich am Schalter. Mein Herz klopft, der Körper flattert, mit zittriger Stimme trage ich mein Anliegen vor... 

Sieben Tage später darf ich wieder nachfragen. Auch diesmal Fülle und Gedränge in den Gängen, vom Bürgersteig durch die Tür, die breite Treppe hinauf, dass kaum eine Maus Platz findet. Höflich und freundlich - oder doch lauernd ? - werden ein paar Rückfragen zum Reisezeitpunkt gestellt.

 "Der von Ihnen gewünschte Termin ist leider nicht möglich. Wenn Sie mit dem 16.Oktober einverstanden sind? Da könnten Sie fahren." Keinerlei Andeutung einer Begründung. Ich erhalte meinen Reise-Ersatzausweis. Froh, dass es keine Ablehnung ist, bin ich mit jedem Datum einverstanden.  

Die Fülle im Interzonenzug überrascht mich. Erstaunlich, wie viele Menschen doch in den Westen fahren dürfen. Bis zum Grenzübergang stehe ich unter großer Anspannung. Die wenigen, meist geflüsterten Gespräche zeigen mir, dass es den anderen Reisenden ebenso geht. Endlich: Grenzkontrolle der Deutschen Demokratischen Republik, Ihre Personalpapiere bitte! Stumm reichen wir unsere Dokumente. Es folgt die Zollkontrolle; nochmal ein kurzes, unmerkliches Zittern. Es wird nichts beanstandet. Angenehme Weiterreise. Als der Zug weiterfährt, spürt man den Stein der Erleichterung fallen. Locker und leicht fließen die Gespräche.  

Dortmund - glückliche Umarmung! Begehrte Mitbringsel: hausgeschlachtete Thüringer Wurst. Bilder, Lachen, soviel zu erzählen. Ich komme aus dem Staunen nicht heraus, über das wunderschöne geräumige Einfamilienhaus, über den ehemaligen Ruhrpott (wie ich ihn von 1960 noch vor Augen hatte), aus dem eine blühende, saubere Großstadtlandschaft geworden ist. Wir besuchen das Gelände der BUGA mit dem Fernsehturm und all seinen Sehenswürdigkeiten. Wir gehen in die Oper, welch ein Erlebnis!

 Die Tagesschau an einem der nächsten Abende überrascht mit einer beinahe unfassbaren Nachricht, deren Inhalt einen tiefen Einschnitt in das politische Tagesgeschehen mit sich bringen und gewaltige Veränderungen nach sich ziehen wird. Das Politbüro der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands teilt mit: Erich Honecker ist aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt als Staatsratsvorsitzender zurückgetreten und von seinen Pflichten entbunden worden. Seinen Platz wird Egon Krenz einnehmen.

 Mir ist klar, das ist ein Bauernopfer; auf diese Weise will die alte Garde den sozialistischen Staat modernisieren, verjüngen und die Macht der SED retten.

 Uns Freundinnen hält es nicht davon ab, das abendliche Lichtermeer und Großstadtflair zu genießen. In einem exklusiven Café schlemmen wir: frische Erdbeeren - fast Ende Oktober! 

Meine Rückreise ist angenehm locker. Die Kontrollen durch die Grenzorgane der Deutschen Demokratischen Republik sind außergewöhnlich - beinahe unglaublich! - zuvorkommend und freundlich! Es scheint, auch sie sind lockerer geworden. Es ist kaum noch ein Unterschied zum Auftreten der westlichen Beamten festzustellen.

 Allerdings beim Blick aus dem Fenster auf die Landschaft und Orte, die vorbeiziehen, erkennt man sofort an dem grauschwarzen Film, der sich über alles legt, wo Westen zu Ende ist und Osten beginnt.  

Zwei Wochen später - wieder einmal unterhalte ich mich im Wohnzimmer mit meinem Mann über meine nachwirkenden Erlebnisse und Eindrücke, als im Fernsehen eine wichtige Meldung angekündigt wird: Ab sofort sind alle Grenzübergänge in die Bundesrepublik für Bürger der DDR zu Reisezwecken geöffnet!

 Ringsum braust allgemeiner Jubel! Vor unserem Haus rollt eine Fahrzeuglawine Richtung Westen. Die Grenze ist nur zehn Kilometer entfernt. Wer hätte damit gerechnet? ... Ich, ehrlich ... tief im Innern hatte ich so etwas gespürt...einen Hoffnungsschimmer.  

Die Information allerdings ist ein Versehen, beruht auf einem Missverständnis. Aber wer will den Jubel jetzt noch stoppen? Wer will einen Krieg riskieren, wenn ein ganzes Volk feiert? Es ist der Beginn eines Rausches, eines tagelangen Freudenfestes! 

***

Mauerfall

 

 

Mauerfall

Turbulente Zeiten

Bekanntlich sind wir Ende Oktober 1986 von Mecklenburg Vorpommern nach Bayern übergesiedelt mit damals drei Töchtern und der Stasi-Drohung, unsere Eltern und Geschwister nie wieder sehen zu dürfen.

Darüber machte ich mir nicht allzu viele Sorgen, denn ich wusste ja, dass meine Eltern 1989 beide fünfundsechzig Jahre alt und „reisemündig“ würden. Mein Schwiegervater war es schon und konnte uns noch im gleichen Jahr besuchen. Wir wussten auch, dass unsere Kinder die Großeltern besuchen durften, was unsere Große – die nie mit in den Westen wollte – auch in den Sommerferien 1987 tat. Komischerweise kam sie zwei Tage früher zurück, weil sie es im Osten nicht mehr aushielt… Sie wollte nicht die „Privilegierte aus dem Westen“ sein. Das war ihr unheimlich mit ihren damals sechzehn Jahren.

Als dann im Januar 1988 unser Nachkömmling geboren wurde, war das ein Anlass für einige unserer jeweils fünf Geschwister, es mit einer Besuchserlaubnis zu versuchen.

Dieses Jahr wurde für uns sehr besuchsintensiv. Die meisten kamen jedoch im September 1989 zur Einschulung unserer jüngsten Tochter. Irgendwie hatte sich das so ergeben.

Eine Schwester meines Mannes war schon vorher einmal ganz kurz bei uns. Sie hatte eine Freundin in Stuttgart besuchen dürfen. Und zur Einschulung unserer Beate kam sie offiziell noch einmal zu uns. Auch ihren Mann hatten wir ein paar Monate vorher kurz hier getroffen. Er war hin- und her gerissen, ob er hier bleiben solle oder nicht, traute sich dann aber nicht.

Dann waren nach der Einschulung alle wieder abgereist – nur Anne war noch hier. Sie hatte ein paar Tage länger Zeit.

Und dann ging es los! Ihr Mann hatte wohl gesagt, sie solle hier bleiben. Sie würden es dann mit Familienzusammenführung versuchen. Es gab aber noch ein tagelanges Hin und Her mit endlosen Telefongesprächen, bis Anne sich endlich entschieden hatte, zu bleiben. Immerhin war auch ihre damals zwölfjährige Tochter hinter dem Zaun geblieben. Es war ungewiss, wann sie sich wieder sehen würden.

Etwa zwei Wochen oder auch länger campierte Anne bei uns auf der Couch, bis sie eine eigene kleine Wohnung ganz in der Nähe gefunden hatte. Eine Übergangsarbeit fand sie sofort an der Uni. Unsere Telefonleitung glühte jeden Abend bei ihren Gesprächen mit Mann und Tochter.

Schwager Werner bekam nun natürlich den ganzen Ärger des Zurückgebliebenen von Staat und Arbeitsstelle ab. Es hielt sich jedoch einigermaßen in Grenzen. Trotzdem heulte er meiner Schwägerin am Telefon die Ohren voll. Aber er hatte sie nahezu genötigt, hier zu bleiben!

Im Oktober 1989 durfte meine Mutter uns besuchen, einen Monat vor ihrem fünfundsechzigsten und endlich ihren kleinen Enkel sehen, der nun schon über ein Jahr alt war. Sie hatte meinen Geschwistern, die ja „einen Grund“ brauchten, um reisen zu dürfen, den Vortritt gelassen.

Und dann kam der 9. November 1989 und alles wurde anders!

Wir hingen schon seit Wochen gespannt vor dem Fernseher, weil sich im Osten ja so einiges tat. Und dann dieser legendäre Tag und dieser Zettel, dessen Inhalt Günter Schabowski ins Mikrofon stotterte!

Es war unglaublich – diese Emotionen! Anne war an dem Abend bei uns. Wir schauten uns das voller Spannung an und konnten kaum glauben, was da verkündet wurde. Unfassbare Bilder von Berlin und der Mauer waren zu sehen, die nun endlich Geschichte war.

Sofort wurde telefonisch verabredet, dass Anne und mein Mann am nächsten Tag nach Dannenberg zu einem Cousin fahren und Annes Tochter dort in Empfang nehmen sollten. Ihr Mann konnte nicht so schnell. Der wollte erst mit seiner Arbeitsstelle alles klären und die Wohnung auflösen, Umzug organisieren und so weiter.

Bei dem Wiedersehen nach über einem Jahr war ich nicht dabei. Aber ich kann es mir lebhaft vorstellen.

Am nächsten Tag kam mein Mann mit Mutter und Tochter und jeder Menge Gepäck zurück. Die Freude war natürlich riesig.

Dann hieß es, ganz schnell das passende Gymnasium für Wibke zu suchen und viel Lauferei und Papierkram.

Am Wochenende darauf kam unser Schwager im bis obenhin vollgepackten Trabant angeschnauft. Er war fix und fertig und hatte auf der Autobahn Todesängste ausgestanden in seiner Plastikschachtel. Sogar Wibkes Vogel brachte er mit.

Anne hatte nur eine Einzimmerwohnung bis dahin. Das wurde natürlich schnell zu eng. Dann hieß es, zu entscheiden, wohin.

Schwager Werner bewarb sich als Psychiater und Neurologe bis in die Schweiz und hatte etliche Bewerbungsgespräche. Dann stellte er fest, dass er lieber wieder in den Norden wollte. Er wollte seinen Eltern nahe sein, die damals schon alt und krank waren.

Also wurde im Norden gesucht. In Oldenburg wurde die Familie dann schließlich wieder sesshaft. Das ging alles ziemlich schnell damals. Mein Mann hatte sich gefreut, seine Lieblingsschwester in der Nähe zu haben. Aber daraus wurde dann nichts. Auch unsere Töchter fanden es schön, ihre Cousine öfter zu sehen. Sie waren sogar kurze Zeit am gleichen Gymnasium.

Am Wochenende nach dem großen Ereignis beschlossen wir, unsere Freunde in Schmalkalden in Thüringen zu besuchen. Inzwischen ist das über die neue Autobahn A 20 ein Katzensprung. Damals erschien die Fahrt mir endlos. Man konnte ja nur über schlechte alte Bundesstraßen dorthin gelangen. Wir hatten uns auch in der Zeit total verschätzt und kamen erst abends an, wollten eigentlich zum Kaffee dort sein und abends zurück. Das wurde dann sehr spät.

Es war unfassbar, die sonst so streng bewachte Grenze offen zu sehen. Die Grenzpolizisten konnten plötzlich lächeln und freundlich sein und winkten uns einfach durch! Unglaublich!

Und dann die vielen Willkommensgrüße auf Pappe und Papier im Osten! Mehr als einmal war ich zu Tränen gerührt. Überall wurde zu Kaffee und Kuchen gebeten oder zu Thüringer Bratwurst. Die Menschen standen winkend und jubelnd am Straßenrand und die Autoschlangen in beide Richtungen rissen kaum ab. Es war wirklich überwältigend!

Unser Freund, zu dem wir wollten, hatte uns schon besuchen können, weil er als Konzertorganist reisen durfte. Für ihn war die Grenze durchlässig gewesen. Aber auch für ihn und seine Familie war es ein großes Ereignis.

Spätnachts sind wir dann über Eisenach und die Autobahn zurück gefahren. Und auch am Grenzübergang standen nur freundliche Polizisten.

Im Dezember wurde meine Oma in Rostock 87. Ich wollte sie unbedingt besuchen und ihr ihren kleinen Urenkel vorstellen und natürlich meinem Vater seinen Enkel.

Das war das erste Mal, dass ich diese Siebenhundertkilometerreise allein mit dem Auto gemacht habe mit der sechsjährigen Beate und dem nicht ganz zweijährigen Philipp. Für Beate hatte ich ein paar Tage schulfrei genommen. Mein Mann hatte aus beruflichen Gründen keine Zeit und die Großen mussten in die Schule.

Das war schon richtig aufregend, aber diesmal ganz ohne Angst.

***

 

Von einem, der auszog, das Flüchten zu lernen

 

 

„Das Leben in der DDR war tägliche Freiheitsberaubung, und die war sogar nach dem DDR – Strafgesetzbuch strafbar. Die SED – Diktatur hat sich somit täglich strafbar gemacht. Sie war kriminell. Menschen, die sich dem entgegen stellten, wurden zu Staatsfeinden erklärt.“   

*Wolfgang Welsch, „Ich war Staatsfeind Nummer eins“ 

Die Kommunisten sind rotlackierte Nazis.“ - *Kurt Schumacher, ehem. Vorsitzender der SPD 

„In der Beziehung zwischen den Menschen ist es das Schlimmste, das einem passieren kann, der Willkür eines anderen ausgeliefert zu werden.“  - *Jean-Jacques Rousseau, franz. Schriftsteller 

Es ist bitter, wie ein Verbrecher behandelt zu werden, wenn man vor seinem eigenen Gewissen unschuldig ist.“ - Alle wissen, RF ist kein Verbrechen, es wird nur in diesem Staat dazu gemacht.“   

*Tina Österreich, „Ich war RF“

 

Von einem, der auszog, das FLüchten zu lernen 

Diese Geschichte widme ich meinen Eltern, die von alldem nichts wussten, bis ich plötzlich weg war…

Geboren wurde ich 1966 im evangelischen Krankenhaus „Maria Heimsuchung“ in Ostberlin und bin in einem unpolitischen, toleranten Elternhaus aufgewachsen. Als Kind interessiert man sich nicht für Politik. Da sind Bäume wichtiger. Oder Tiere. Oder Höhlen.                                                                                  

So war es jedenfalls bei mir. Und blaue oder rote Halstücher zu weißen Hemden zu tragen, störte mich damals nicht. Ich verband damit als Kind nichts Schlimmes. Der Pioniergruß unserer Lehrerin Frau Schneider „Seid bereit“, auf den wir artig mit einem „Immer bereit!“ antworten mussten, war nur eine Floskel und ich hinterfragte auch nie, wozu man „immer bereit“ sein musste. Bei uns zu Hause war Westfernsehen an der Tagesordnung, das war normal, so konnte ich immer ein wenig von der unbekannten weiten Welt dort draußen sehen. Das war für mich alles irgendwie so unwirklich und fern und schon damals als Kind war unbewusst immer ein wenig Fernweh dabei.

Ich nahm mir schon seinerzeit fest vor, irgendwann einmal diese ferne Glitzerwelt mit all ihren schönen Menschen zu sehen. Selbst in unserem damaligen Schwarzweiß - Fernseher erschien mir alles bunter und schöner. Ich hatte den Eindruck, diese Menschen waren ganz anders in ihrem Wesen. Entspannte. Worin lag der Zauber?  

In den Ferien bei meiner Oma und meinem Opa waren meine nachmittäglichen Lieblingsserien „Wickie und die starken Männer“, „Heidi“ und „Die Biene Maja“. Damit war für mich die Welt in Ordnung und „Willi und Flip“ waren meine Helden. Der „Alm Öhi“ war wie ein lieber Opi für mich in meiner kleinen Kinderwelt und „Wickie“ war sowieso der perfekte Alleskönner und Superheld.

Als ich ein wenig älter wurde, interessierte mich dann Opas Schuppen im Garten mit all seinen Geheimnissen. Der Gartener schien mir riesig und meine kleine Welt war voller Abenteuer. Der kleine Bachlauf war mein reißender Strom und die Nachbarskatze beherbergte alles an gefährlichen Tieren des Dschungels in sich. Ich liebte den Geruch von altem Holz und auch den rostigen Duft von altem Eisen. Damit verband ich damals Männlichkeit. So roch auch mein Opa, wenn er in seinem blauen Arbeitsanzug von der Arbeit kam. Es waren die schönsten Jahre meiner Kindheit.                                                                                  

Nach der Schulzeit habe ich dann von 1983 – 1985 eine Lehre als Schneider absolviert, aber nie so recht in dem Beruf gearbeitet, die Hauptsache war, etwas gelernt zu haben. 1987 habe ich umgeschult und eine Ausbildung als Linienbusfahrer in Berlin gemacht, irgendwie musste ich beruflich Neuland erobern. Vielleicht war es auch damals schon eine innere Unruhe, da ich mich mit dem vorherrschenden Zustand nicht zufrieden geben wollte.

Nachdem ich die Schule hinter mir gelassen hatte begann ich langsam, immer mehr zu sehen. Und was ich sah, war nicht gut! Ich begann, das System in dem ich lebte, zu hinterfragen. Erst nur für mich, aber das reichte mir nicht. Da musste doch mehr sein, das war doch sicherlich nicht alles.                                                 

Dann fand ich in einem verbotenen „Udo Lindenberg-Fanclub“ Gleichgesinnte. Sympathisanten! Und trotzdem traute man sich selbst in diesem Kreise nicht, seine Meinung frei zu äußern, da man überall mit Bespitzelung rechnen musste. Mein Freiheitsdrang war mittlerweile dauerpräsent und ich musste etwas tun! 

Einen Busausleihen, zur Grenze fahren, aufs Dach steigen und rüber? Ja, ich kann es nicht verleugnen, der Gedanke war da! Im Jahr 1989 bin ich dann im Juni nach einem gescheiterten Fluchtversuch in Bratislava verhaftet worden und bis zur Generalamnestie für politische Häftlinge im November eingesperrt gewesen. Nach der Generalamnestie folgte meine Ausbürgerung nach Westdeutschland. Hier arbeitete ich seitdem als Krankenpfleger, Telebusfahrer, LKW-Fahrer, Textildrucker und Schreibtischtäter.

Aber gehen wir zurück ins Jahr 1989

"Irgendwie weg - 1989"

Die Geschichten über flüchtende DDR-Bürger wurden immer lauter. In Drittländern wurden die Grenzen transparenter und selbst Mitbewohner unseres Mietshauses, die ich für treue, brave Ostdeutsche gehalten hatte, verschwanden über Nacht gen Tschechien oder Ungarn und waren nie wieder gesehen. Ich selbst war nie der größte Freund des Landes, in dem ich aufwachsen musste, aber für Fluchtgedanken war ich bis dahin einfach zu feige.                                                                               

Sicher, es gab da eine gewisse Unruhe in mir, aber vor den Konsequenzen beim Erwischt werden hatte ich schon gehörigen Respekt. Angeregt durch die tägliche Dauerberieselung in den Abendnachrichten von RTL und SAT1, in denen immer wieder aufs Neue berichtet wurde, wie viele es wieder geschafft hatten, in den Westen zu fliehen, schwand aber meine Feigheit täglich ein Stück mehr.                                                    

Proportional dazu wuchs mein Optimismus immer mehr und ich beschloss für mich, dass die Grenze irgendwie zu passieren sein musste. Der Freiheitsdrang wurde immer größer, wahrscheinlich war ich doch schon immer ein unruhiger Geist, der mehr wissen und sehen wollte. Ich hatte mittlerweile nur noch das eine Ziel vor Augen. Ich musste es irgendwie schaffen, in den Westen zu kommen! Hatte ich doch als 11-jähriger schon beschlossen, einmal meinen Onkel in Amerika zu besuchen.

Meine Fluchtpläne wuchsen also. Dem Grenzübergang „Bornholmer Straße“, der durch die Bösebrücke beide Stadtteile teilte, stattete ich diverse Besuche ab und es musste, im Nachhinein gesehen, hunderte Fotos von mir in irgendwelchen Archiven gegeben haben. Die Grenzanlagen an der Kiefholzstrasse in Berlin-Treptow kannte ich fast metergenau.Dort war die Mauer nicht mit dem fluchtabweisenden runden Aufsatz versehen.                      

Wo sich jetzt die beliebte und weltbekannte „Eastside - Gallery“ befindet, sollten auch schon Fluchtversuche erfolgreich gewesen sein. Warum sollte es nicht auch mir gelingen? Auch die S-Bahn-Strecke zwischen den Bahnhöfen „Schönhauser Allee“ und „Berlin-Pankow“ übten einen besonderen Reiz auf mich aus. Man fuhr durch Westberliner Gebiet über die so genannte „Ulbrichtkurve“. In diesem Bereich wurden allerdings die Türen extra verriegelt und der Zug fuhr plötzlich deutlich schneller, als üblich.

Da ich zu jener Zeit Busfahrer war, überlegte ich ernsthaft, mir einen Bus „auszuleihen“, damit zur Grenze dicht an die Mauer zu fahren, aufs Dach zu klettern und rüberzuhüpfen. Bis zu einem gewissen Punkt hätte das sicher funktioniert. Einfach vorne das Schild „Sonderfahrt“ rein und ab durch das nördliche Berlin zur Mauer. Den Bus hätte niemals jemand angehalten, da Sonderfahrten in Berlin an der Tagesordnung waren und schon fast zum Stadtbild gehörten. 

In Schönfließ, etwas nördlich von Berlin, gegenüber dem kleinen Westberliner Örtchen Lübars kam man unglaublich dicht mit einem Fahrzeug an die Grenzbefestigungen heran. Ich war also nicht untätig in meinen Recherchen. Irgendwie war mir dann die Nummer doch ein wenig zu groß und ich wählte die etwas weniger spektakuläre Variante. Alles, was nicht niet - und nagelfest war, versetzte ich innerhalb kürzester Zeit, denn ich brauchte Bargeld für mein Vorhaben. Ich setzte mich abends am 20.Juni 1989 in den Zug nach Bratislava. Da diese Stadt am dichtesten an der Ungarisch-Österreichischen Grenze liegt, war es mein Plan, im Dunkel der Nacht, über die „grüneGrenze“ nach Ungarn und von dort aus nach Österreich gelangen. Für den Fall, dass ich gefasst werden sollte, schickte ich vor meiner Abreise noch einen Ausreiseantrag an die entsprechende Behörde.

"Festnahme in Tschechien"

Nachts in Bratislava angekommen, orientierte ich mich recht schnell und dank eines sogleich erworbenen Stadtplanes wusste ich genau, in welche Richtung ich gehen musste. Blauäugig, die Stadtmauern von Bratislava lagen schon um Einiges hinter mir, wanderte ich also los, um meinen Plan in die Tat umzusetzen. Mein innerer Kompass, auf den ich mich seit jeher verlassen konnte, wies mir den Weg. In der Abenddämmerung hatte ich nur noch wenige Kilometer zu laufen bis zur ungarischen Grenze. Die Freiheit war in greifbarer Nähe! Mir klopfte das Herz  vor Aufregung bis in den Hals. 

Ich schaffe es. Anders geht  es nicht, darf es nicht gehen.

Die Jugendlichen, als solche sah ich sie, die im Wald „Schießen“ spielten habe ich, als Gefahr für mein Vorhaben nicht wahrgenommen. Das war leider ein großer Fehler, denn wie sich kurze Zeit später herausstellte, waren es tschechische Grenzschützer und ich wurde kurzerhand von ihnen mit vorgehaltenen Maschinenpistolen festgenommen. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt. Das konnte doch nicht sein. Offensichtlich war ich meinem Ziel, der Tschechisch-Ungarischen Grenze, schon näher, als gedacht. Meine Erklärungen, ich wollte eine Freundin besuchen, zogen bei den jungen Männern nicht und so gut waren meine Tschechisch-Brocken anscheinend auch nicht.

Mit meinem Schulenglisch kam ich hier anscheinend auch nicht weiter. Die Jungens hatten also mit meiner Person gute Beute gemacht und in einer wilden Fahrt ging es mit mir als Trophäe in einem alten „Wolga“ mit quietschenden Reifen ins örtliche Polizeirevier. Es war kein angenehmes Gefühl, mit meinen vier Begleitern im Schlepp, die Treppen hinauf zu steigen, während die jungen Kerle (sie können nicht älter als 18 Jahre gewesen sein) hinter mir Schießgeräusche wie „Rattattattata“ machten, wohl um jeden Fluchtgedanken im Keim zu ersticken. Es machte auf jeden Fall großen Eindruck auf mich, denn der Gedanke, dass einer der Jungs eine Stufe verfehlt und beim Stolpern seine MP sich in meine Richtung entlädt, war nicht sonderlich erheiternd.

Gut, ich bin mit dem Gedanken losgefahren, dass es für mich drei Alternativen gibt:

1. Ich schaffe es.

2. Ich werde erwischt.

3. Mich trifft eine Kugel.

Man muss bei solch einem Vorhaben natürlich realistisch sein, aber für letztere Variante war ich doch noch nicht wirklich bereit. Aufgrund der prekären politischen Lage derzeit, glaubte man mir natürlich die Geschichte von der tschechischen Freundin in Grenznähe nicht und ich wurde vorsorglich eingesperrt. Ich hatte mit meinen 22 Jahren noch keinerlei Gefängniserfahrungen, wusste aber sofort, dass ich nicht gerade in einer Zelle der Oberklasse untergebracht war. Es war ein altes, feuchtes und muffiges Kellergemäuer mit beachtlichen Gittern, in dem ich eine Nacht im Dunkeln über meine Missetaten nachdenken durfte. Die schwere Eisentür schlug mit einem lauten Krachen zu. Der Nachhall in meinen Ohren wollte nicht aufhören. Es hatte etwas Endgültiges.

Eingesperrt! Allein! Ich hatte Angst. Furchtbare Angst.Auf was für einen Scheiß hatte ich mich da eingelassen?Die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen und grübelte vor mich hin und immer mehr wurde mir die Ausweglosigkeit meiner Lage bewusst. 

Du bist jetzt tatsächlich im Gefängnis.

Am nächsten Tag bereits wurde ich nach Prag verlegt. Ich war todmüde und funktionierte nur noch wie mechanisch.

"Eine Woche in Prag"

Hier bekam ich das erste Mal etwas zu Essen und das Essen war gut!  Genau so, wie ich es bereits von diversen Urlaubsreisen kannte. Böhmische Knödel mit Gulasch, hmm lecker. O.k., das Schwarzbier fehlte. Überhaupt war dort alles anfänglich nicht sonderlich schlimm, man setzte ja voraus, dass ich kooperierte. Die Beamten waren sehr nett und von jedwedem Druck war nichts zu spüren. Nur die Dauerverhöre zu jeder Tages- und Nachtzeit nervten gewaltig.

Als die Verhörspezialisten irgendwann merkten, dass ich es ernst meinte, mit meinem Vorhaben, die DDR verlassen zu wollen und es auf freiwilliger Basis für mich kein Zurück gab, änderte sich das Verhalten meiner tschechischen Freunde. Und nicht nur das Verhalten. Anfänglich war ich in einem ganz normalen Raum mit Schrank, Tisch, Stuhl einem Klo und einem Bett untergebracht. Nur fehlte auf der Innenseite der Tür die Klinke. Die Tschechen waren natürlich in ständiger Verbindung mit der Stasi und lieferten aktuelle Berichte über die Verhöre ab.

Ich argwöhne, dass den Kollegen in der DDR meine fehlende Kooperation nicht sonderlich zusagte.  Jedenfalls änderte sich plötzlich der komplette Service und ich wurde am frühen Morgen verlegt. Nicht nur der Ton wurde rauer, der ganze Umgang wurde gröber. Die neuen Räumlichkeiten waren von erstaunlichem Standard.  Kellergeschoss!  Nach dem Eintreten in meine neue Wohnstätte durch eine sehr kompakt wirkende Stahltür sah ich an der linken Wand ein ca. 30 cm breites, halbrundes Waschbecken aus weiß lackiertem Metall. Direkt im Anschluss an das Becken befand sich ein Tisch, der fest mit der Wand verschraubt war. 

Vor dem Tisch ein Stuhl, der sich auch nicht verrücken ließ.  Auch dieser war festgeschraubt. An der Wand geradezu befand sich kurz unter der Decke ein Fenster, das diesen Namen nicht verdiente.  Glasbausteine. Die Wand gegenüber der Sitzgruppe beherbergte mein neues Nachtlager. Dieses war aus gleichem Material hergestellt, wie Tisch und Stuhl. Flüchtig oberflächenbehandeltes Holz, auf dem eine Decke lag, die verheißungsvolle Nächte versprach. Matratze: Fehlanzeige!

Irgendwann geht man mit der jeweiligen Situation mit einer gehörigen Portion Sarkasmus um, denn die unsichtbaren Bewohner der Decke versprachen, nachts war ich ganz sicher nicht allein. Am Fußende des Bettes war ein Loch in den Betonfußboden gelassen mit ca.50 cm Durchmesser. In diesem Loch waren rechts und links 2 aus Beton gefertigte Sockel, die die ungefähre Form von Füßen hatten. Ich ahnte, welchen Zweck dieses Loch im Boden hatte. Daneben stand ein Eimer mit rostigem Wasser.  Man bemüht sich natürlich stets um ein wenig Würde, aber irgendwann musste ich diese wenig einladende sanitäre Einrichtung ja doch benutzen. Auf meine Frage nach Papier zeigte man nur auf den Eimer mit dem Wasser. Na toll! So viel zu tschechischer Knasthygiene im Jahre 1989. Die Zelle war ca. drei Meter lang und zwei Meter breit und nach den ersten Stunden des Hin- und Herlaufens wurde ich irgendwann unruhig und dachte, meine Bewacher hätten mich vergessen.        

Ich begann, leise in meinem Kopf, vor mich hin zu singen. Was war das denn? Ich war doch ein Rock´n´Roller! War ein großer Fan von Udo Lindenberg, Jimi Hendrix und Deep Purple! Warum nur fiel mir in dieser Situation Beethoven ein? War das schon der erste Schritt zum Wahnsinn?

Freude, schöner Götterfunken,

Tochter aus Elysium!

Es herrschte absolute Stille, dadurch registriert man jedes Geräusch. So auch das leise Klicken, welches entsteht, wenn das kleine Metallplättchen weggeschoben wird, um den Blick für meine Bewacher freizugeben, die durch das Guckloch in der Tür zu mir herein schauten.                                                        

Wir betreten feuertrunken,

Himmlische dein Heiligtum. 

Alle Menschen werden Brüder…

Das passte zwar nicht an diesem schrecklichen Ort, half mir aber dabei, die Sache erträglicher zu machen.

"Endlich essen"

Man hatte mich also nicht vergessen! Ich hatte einen riesigen Hunger und wahre Glücksgefühle stellten sich bei mir ein, als ich durch eine Klappe in der Tür eine Schüssel mit dampfendem Inhalt gereicht bekam. Ich stellte die Schüssel ab, um besagten dampfenden Inhalt zu untersuchen. Mein Hunger schwand urplötzlich, als ich sah, was ich essen sollte. Es war heißes Wasser, in dem ein paar Graupen schwammen und wie zum Hohn ein paar Stückchen unrasierter Scheiben fetter, grauer Speckschwarte. Ich aß nur das Brot, welches dazu gereicht wurde und zweckentfremdete das Loch neben dem Bett, indem ich den Inhalt der Schüssel hineinschüttete. Das war also mein Abendessen!

Irgendwann forderte der Körper sein Recht und ich wurde müde. Ich wickelte mich in die Decke ein und versuchte zu schlafen, was auf der grob behandelten, harten Pritsche und dem Dauerlicht nicht ganz einfach war. Leise plätschernde Geräusche aus dem Loch im Fußboden ließen erahnen, dass ich nun noch zusätzlich nächtlichen Besuch bekam. Ich sah nicht hin, da ich nicht wissen wollte, welcher Art diese Tierchen waren, tippte aber auf einen langen nackten Schwanz am Ende der Tiere. Zu allem Unglück kam noch, dass die durch einen Drahtkäfig geschützte Lampe über der Tür tatsächlich die ganze Nacht brannte. Schließlich musste ich dann doch eingeschlafen sein. Wilde Träume über meine ungewisse Zukunft ließen mich diese Nacht aber in keine Tiefschlafphase kommen.

Am nächsten Morgen wurde ich unsanft, polternd durch den Wärter geweckt, der mir mein Frühstück brachte. Dieses Menü setzte sich zusammen aus dem Brot vom Vorabend und einer undefinierbaren schwarzgrauen Scheibe Wurst. Die Wurst folgte unverzüglich der Suppe des vorigen Abendessens. Dazu wurde eine Kanne kalten Tees serviert, der einfach nur süß und ohne Geschmack war.

Aber ich habe es ja nicht anders gewollt und schließlich war ich nicht im Hotel. Augen zu und durch. So vergingen die nächsten Tage absolut ohne Abwechslung. Jeden Tag das gleiche Frühstück und dasselbe Abendbrot. Jeden Tag natürlich auch das gleiche Ritual, die „Lebensmittel“ zu entsorgen. Die Zwischenzeit verbrachte ich damit, durch die Zelle zu laufen, oder bei Festbeleuchtung zu schlafen. Das Licht war nach wie vor unentwegt an. Mittlerweile hatte ich auch einen abenteuerlichen Körpergeruch angenommen, den ich so an mir noch nicht kannte.

Nicht alles, was der Körper produziert, duftet wie ein Blumenladen. Normalerweise lege ich größten Wert auf Körperhygiene, aber inzwischen hingen meine sonst so gepflegten langen Haare fettig und strähnig an mir herunter und meine untere Gesichtshälfte zierte ein beachtlicher Bartwuchs. Ich sah aus, wie Robinson Crusoe. Das kalte Wasser aus dem kleinen Waschbecken an der Wand war nur zu unregelmäßigen Zeiten angestellt und bis zum letzten Tag habe ich es nicht geschafft, dahinter ein System zu entdecken. Gelegentlich hörte ich glucksende Geräusche aus dem Gemäuer und in der Hoffnung auf fließendes Wasser machte ich einen Satz zum Waschbecken, drehte auf … und war pitschnass! In der nächsten Sekunde war dann kein Wasser mehr da.

Nach genau einer Woche in diesem Prager Etablissement wurde ich zu einem elegant gekleideten Herren gebracht, der von mir wissen wollte, ob ich immer noch vor habe, die DDR zu verlassen. Ich hatte! Also wieder runter in meinen bekannten Keller und warten. Diesmal dauerte die Warterei allerdings nur wenige Stunden und völlig unvorbereitet wurde ich in ein Auto gesetzt und die Fahrt ins Ungewisse ging los. 

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An jenen Tagen

 

 

An jenen Tagen

Das Jahr 1989 war in der deutschen Geschichte etwas ganz Besonderes. Noch im Winter und im Frühjahr konnte niemand ahnen, was im Sommer und im Herbst geschehen würde. 

Ich habe bereits zwei Bücher bei Bookrix darüber veröffentlicht, nämlich „Denn der Schein trügt“ und „Briefe von drüben“. Während Ersteres frei erfunden ist, basiert das Zweite größtenteils auf Ereignisse, die ich selbst erlebt habe.

Ich fand also tatsächlich in der „magaScene“  (Stadtmagazin für Hannover ) eine nette Kleinanzeige unter „Kontakte“. Allerdings war es nicht nur eine nette Mutti aus der DDR, die in den Federkrieg treten wollte, sondern gleich zwei. Somit war einer meiner Freunde gefragt, natürlich nur einer, der gerade solo war. Da blieb nur Ronald. 

Von uns beiden war eindeutig ich derjenige, der besser schreiben konnte, darum verfasste ich den ersten Brief an die Mädels, der an die Redaktion der Zeitschrift ging. Schon zwei Wochen später kam Antwort, der Umschlag war grau, wie damals „Drüben“ üblich. Für mich keine Überraschung, denn ich hatte ja Ostverwandtschaft, mein Kumpel hingegen nicht. Die beiden Frauen arbeiteten in einer LPG in einem kleinen Dorf bei Magdeburg, Ute war Floristin und Kerstin Traktoristin, korrekterweise „Agrotechniker-Mechanisator“, wie es in der DDR hieß. 

Das beiliegende Foto ließ uns zwei Blondinen erblicken, wobei Kerstin eindeutig  molliger war als ihre Freundin. Auf den ersten Blick nicht unsympathisch, fand ich. Es folgten etliche Briefwechsel, wobei sowohl Ute als auch Ronald nur sehr selten schrieben, sodass schließlich nur noch Kerstin und ich übrig blieben. „Das wird doch sowieso nie etwas“, meinte Ronald noch im April. Er sollte sich irren. 

Ich war schon immer Fan der DDR-Musik, insbesondere von Karat und City. Daher war dieses oft Thema in unseren Schreiben. Letztgenannte Gruppe hatte wenige Jahre zuvor die  LP „Casablanca“ herausgebracht mit wirklich tollen und mutigen Texten. In „z.B. Susann“, einer Hymne über Berlin, heißt es: „Wir haben was von langen Haaren und viel von echten Jeans gewusst, da ging die erste große Liebe vom Frühling bis in den August.“  Eine versteckte Anspielung auf den Prager Frühling. 

Politik spielte aber in den Briefwechseln zunächst keinerlei Rolle, bis im Mai die Wahlen in der DDR derart offensichtlich manipuliert worden sind, dass es zu heftigen Protesten der Bürger kam. Meine Brieffreundin fand erstmals Mut, über diese Dinge zu schreiben. Zunächst harmlose Dinge, wie die Tatsache, dass  Gorbatschow in der UdSSR den Wodka verboten ließ. Doch dann erfuhr ich nach und nach, was sich in Magdeburg tat. 

Später folgten auch Witze über Honecker, einige davon kannte ich schon. Dann überschlugen sich im Osten die Ereignisse. Ungarn öffnete die Grenze zu Österreich und viele DDR-Bürger nutzten ihren Urlaub zur Flucht. Daran dachte Kerstin aber nicht. „Wer weiß, was alles noch kommen wird“, schrieb sie. Aber wir planten einen Besuch von mir. Jedoch sollten noch einige Wochen vergehen, bis es dazu kommen sollte. Wir hatten uns auf das Wochenende vom 10. bis zum 12. November 1989 geeinigt. Ich musste mir ein Visum besorgen, denn die Stadt Hannover gehörte nicht – im Gegensatz zum Umland – zum sogenannten „kleinen Grenzverkehr“, der Besuche nach „Drüben“ erheblich erleichterte. Natürlich ahnten wir nicht, was für ein schicksalhaftes Datum wir uns da ausgesucht hatten. 

Dann kam der 09. November. Ich besuchte mit ein paar Freunden ein Konzert von Marius Müller-Westernhagen in Fallingbostel, also weit außerhalb. Sowohl auf der Hin- als auf der Rückfahrt hörten wir ausschließlich Cassetten mit seiner Musik und kein Radio. Deshalb war es eine große Überraschung für mich, als ich am nächsten Morgen die Zeitung aufschlug. „DDR öffnet die Grenzen zum Westen“ stand da. Ich fiel fast vom Glauben ab. Das hatte ich nicht erwartet. Ich machte sehr früh Feierabend und fuhr mit meinem Golf in Richtung Osten auf  der A 2. Schon nach wenigen Metern sah ich auf der Gegenseite endlose Staus – mittendrin Tausende von bunten Trabbis. Eine wahre Invasion! Hingegen kam ich auf meiner Seite flott voran und erreichte  den Grenzübergang Helmstedt/Marienborn viel früher als geplant. Die Kontrollen fielen bei Weitem nicht so heftig aus, wie mir Freunde und Verwandte zuvor berichtet hatten, die Grenzpolizisten hatten wohl auch keine Lust mehr. Die Beamtin, die in dem Büro saß, wo man sein Westgeld in DDR-Währung wechseln musste, machte sogar noch einige Scherze. Klar, sie wäre jetzt auch viel lieber woanders gewesen. 

Kerstin hatte sich mit mir an einem Rasthof kurz vor Magdeburg verabredet, sie wurde von einem ihrer Kollegen (natürlich mit einem Trabbi) hergebracht. Ich fiel ihr in die Arme, sie sah glücklich aus und hatte Tränen in den Augen. „Sind die alle vor dir auf der Flucht?“, scherzte sie. Denselben Witz hatte mein Kollege Thomas am Vormittag auch schon gemacht. Es war ja auch wirklich eine kuriose Situation! In der Gaststätte lernte ich dann eine Spezialität aus der DDR, nämlich „Würzfleisch“, eine Art Wurst mit kleingehackten Zwiebeln, die in kleinen Porzellanschälchen serviert wurde. Es schmeckte – ehrlich gesagt – ziemlich gewöhnungsbedürftig, was ich mir wohl auch anmerken ließ, zum Amüsement meiner Brieffreundin.  

Wir fuhren in ihre „2-Raum-Wohnung“, die sie zusammen mit ihren beiden kleinen Söhnen bewohnte. Eigentlich war ja ein geruhsamer Abend von uns geplant, daraus wurde jedoch nichts. Zum Einem kam unentwegt Besuch und zum Anderem lief (aus aktuellem Anlass) ununterbrochen der Fernseher. Dieser war mit einem Spannungsausgleichungsgerät gekoppelt, denn damals gab es starke Stromspannungen im Netz, wie mir Kerstin erklärte. Es war allerdings auch nicht zu übersehen, denn das Licht flackerte stark. Abwechselnd sahen wir Ost- und Westfernsehen. Die Bilder glichen denen, ich selber einige Stunden zuvor sah. Doch es gab auch Filmberichte über grenznahe Großstädte, wie z.B. Braunschweig. Besonders amüsierten sich alle Anwesenden über die Meldung, dass dort die Bananen ausverkauft waren. „Siehst du, Ihr kriegt das auch nicht geregelt“, stellte Kerstin fest. Alle lachten. 

Alkohol floss reichlich, ich hatte auch Einiges mitgebracht. Das DDR-Bier schmeckte nicht schlecht, aber „Goldkrone“ (eine Mischung aus Weinbrand und Korn) mochte ich gar nicht. Entsprechend schwer war der Kopf am nächsten Tag. Wir fuhren mit meinem Golf nach Magdeburg, die Stadt war fast wie ausgestorben. Lediglich vor den Sparkassen und dem Intershop (dort wurden Westwaren verkauft, natürlich konnte man die nur mit DM  bezahlen) sah man endlose Menschenschlangen. Mir fiel auf, dass die Straßen viele Schlaglöcher hatten. „Fahr nicht auf die Straßenbahnschienen“, warnte mich Kerstin. Sie erklärte mir, dass die im Osten üblichen schweren Triebwagen aus der CSSR das Gleisbett zerstörten. Das wusste ich allerdings schon, da ich drei Jahre zuvor in Ostberlin war. 

Wir kauften im Intershop ein, für mich sah es aus, wie ein winziger, schäbiger Kaufmannsladen aus den Sechzigern, für meine Brieffreundin war es wie ein Paradies. Unsere Supermärkte und Kaufhäuser kannte sie ja noch nicht. Am Abend war ursprünglich der  Besuch einer Diskothek geplant. Gerne hätte ich diese mal von innen gesehen, doch sie hatte überraschenderweise geschlossen, und das obwohl Kerstin vorher Karten reserviert hatte. Dass so etwas nötig war, hatte ich auch nicht gewusst. Am Sonntag nach dem Mittagessen meldete ich mich ordnungsgemäß bei der Volkspolizei ab, das wurde sorgsam im Visum vermerkt. Ich verabschiedete mich von Kerstin und den Kindern und fuhr heimwärts, wobei ich prompt die Autobahnauffahrt verpasste und mich verfuhr, was auch  der schlechten Beschilderung geschuldet war. Auf der Autobahn dann das gleiche Bild wie auf der Hinfahrt, nur das diesmal die vielen Trabbis alle Richtung Osten fuhren. 

„Ihr Deutschen müsstet jetzt das glücklichste Volk der Welt sein“, titelte am Montag danach eine britische Zeitung. Wohl wahr. 

Nach der Wende erhielten Kerstin und ich den Briefkontakt noch einige Zeit aufrecht, doch irgendwann schlief das ein. Dieses besondere Wochenende werde ich nie in meinem Leben vergessen.

***

Die Wende

 

 

Die Wende

Niemals kann ich es vergessen.

Es war das Größte, was ich je erlebt.

Vorm Bildschirm habe ich gesessen

Stund’ um Stund’. Ich hab’ gebebt.

 

Ich konnt’ nicht fassen, was geschah

Und was ich dort im Fernseh’n sah.

Viele Tränen sind geflossen

Vor lauter Freude und vor Glück,

als Massen durch die Tore schossen.

Die Mauer fiel dann Stück für Stück.

 

Sektkorken knallten und es sangen Leute:

„So ein Tag, so wunderschön wie heute ...“.

Umarmt wurd’ jeder, ganz gleich wen.

Noch nie gab’s so etwas zu seh’n.

 

Im Freudentaumel war das ganze Land.

Ringsum war’s still, man schaute nur gebannt

auf  Deutschland und was hier geschah.

Wird dieser Staat nun ne Gefahr?

 

Europa ist das Zauberwort.

Nur so macht alles einen Sinn.

Einigkeit und Frieden, das ist unser Hort.

Wo käme uns’re Welt sonst hin?

 

Die Völker in der Welt, sie akzeptierten

Unsern Wunsch, ein Volk zu sein.

Doch so sehr wir jubilierten,

zog bald der Alltag für uns alle ein.

*** 

Die nächsten Jahren waren schwer.

Viele hatten keine Arbeit mehr.

Aufbau war nun angesagt.

Es schafft nur der was, der was wagt.

 

Es wird noch manches Jahr vergehen

Bis wir endlich sehen,

ob es was gebracht,

                 was wir da gemacht.                

Die Mauer ist weg

 

 

Het IJzere gordijn

Es wurde abrupt leise, als die beiden Zöllner in den Bus einstiegen. Sie liefen durch den Gang und riefen Namen ab. Ausweise, Pässe wurden herübergegeben. Hier und dort wurde versucht, die Korrektheit der Aussprache der Namen, zu verbessern, sie wurde aber nur von einem Grummeln der Zöllner abgewiesen. Auch mein Landsmann und ich bekamen unsere Reisepässe wieder. Ich hatte, wie es in Fachsprache hieß, einen Diplomatenpass. Einen mit mehr Seiten als die Normalausgabe. Ich hatte mir diesen extra wegen dieser Transitreisen nach Berlin besorgt. Jedes Mal, wenn man nach Berlin fuhr, bekam man einen Stempel. Und auf der Rückreise in den Westen die gleiche Prozedur, das machte für Berlin hin und zurück immerhin zwei Stempel.

Mich nervten diese Stempelarien gewaltig. So kam es, dass ich kein Visum für die Tschechoslowakei bekam, nur weil sich ein Tintenfleck von einem der DDR Stempel breitgemacht hatte, auf der letzten noch vorhandenen leeren Seite in meinem Ausweis. Die tschechischen Beamten weigerten sich, dort das Visum einzutragen. Somit durfte ich nicht in die Tschechoslowakei einreisen.

Da läppert sich was zusammen, wenn man mehrmals im Jahr nach Berlin musste. Ich habe in den Niederlanden etwas gelernt über den: »IJzere Voorhang«, den Eisernen Vorhang. Ein genaues Bild haben wir nie gehabt nur ein paar Fotos haben wir mal gesehen. Aber dass er undurchdringlich sein sollte, hatten wir gelernt. 

Wahrscheinlich durch die vielen Polizeikontrollen, die damals in Deutschland, wegen der RAF-Fahndungen abliefen, waren wir etwas gelassener mit dem Anblick der Schusswaffen der Polizei. Wir sind mehr als genug kontrolliert wurden und immer stand der eine oder andere Polizist mit einem Maschinengewehr im Anschlag irgendwo herum. So war es dann für mich auch nicht verwunderlich, Schusswaffen an der Grenze zu sehen.

Verwunderlich war aber dieser Zaun. Er war nicht sonderlich auffällig, Stacheldraht hin und her. Was uns beeindruckte, waren diese Zwischenräume. Das war fast ein Kilometer, von einem Schlagbaum bis zur nächsten. Und dann diese Durchfahrt. Die hat einen tiefen Eindruck hinterlassen. Ein Slalom-Parkour, schwere Absperrung, Scheinwerfer und Kameras, soweit das Auge reichte. Zöllner mit Hunden drehten ihre Runden auf diesem riesigen Gelände.

Vor allen nachts war dies alles sehr beeindruckend. Das gelbe Neonlicht erleuchte alles bis in den kleinsten Winkel. Und wenn es neblig war, Hitchcock hätte sich dieses Szenario gewünscht. Personen, die scheinbar aus dem Nichts auftauchten und verschwanden. Hier und dort das Gebell von Hunden. Totenstille um dich herum und warten, warten, bis einer vorbeikam und du weiterfahren durftest. Und das konnte dauern.

Der Wagen wurde generell immer auf den Kopf gestellt. Gefunden wurde nie was. Schließlich waren wir vorgewarnt worden, dass sie streng sind. Verwirrend war nur der sächsische Zöllner der die Frage: »Wafeoderfunkedabeeej?« stellte. Ob er dies mit Absicht so aussprach, um unseren Gesichtsausdruck zu studieren, ist mir immer ein Rätsel geblieben. Eines hatte ich aber schon schnell gelernt, diese Frage mit Nein zu beantworten.

Mir war die DDR immer ein wenig suspekt. Es hatte immer etwas von einer Reise in die Vergangenheit. Verließ man den Westen und kam im Osten an, war das Erste, was auffiel, dass die Farben weg waren. Es gab nur noch dieses Grau. Grau in verschiedensten Schattierungen, mehr nicht. Auch die Transitstrecke war gewöhnungsbedürftig. Ihre schnurgerade Streckenführung und diese Waschbetonplatten. Manche behaupteten, dass Adolf noch seine Finger darin hatte und die Russen dieses Patent übernommen hatten. Die langen geraden Strecken sollten versteckte Landebahnen in Kriegszeiten sein. Hier und dort sah es auch so aus. Links und rechts weite freie Betonfläche, wahrscheinlich um die Flugzeuge, die dort landeten, zu warten und zu betanken.

Für uns war es nur eine nervtötende Strecke. Wenig zu sehen und öde Landschaft. Die Königsdisziplin war die Strecke Köln Berlin oder umgekehrt. Eine Veranstaltung in Köln, Abbau und über Nacht nach Berlin fahren, um gleich morgens wieder aufzubauen für eine Veranstaltung am Abend. Hier sind leider ein paar Kollegen, auf der Strecke geblieben und auch nie wieder zu uns gestoßen. Dies war auch einer der Gründe, warum wir auf dieser Strecke nicht mehr über Nacht fahren wollten.

Wir kamen dafür in das Vergnügen eines Nightliner, eines Busses, in den man schlafen konnte. Die Waschbetonplatten hatten es aber auch in sich. Man brauchte eine ziemlich lange Zeit, um sich an den Rhythmus zu gewöhnen. Radadam ... Radadam ... Radadam ... Radadam.

Prager Botschaft

Wir waren zur Zeit der Wende auf Tournee. In dieser Zeit bekamen wir sporadisch etwas von dem mit, was in der Außenwelt so passierte. So erreichte uns die Nachricht, über die Durchreise von DDR-Bürgern, die sich in der Prager Botschaft verschanzt hatten und ein paar Tage später von dort in den Westen fuhren. Durch ihre alte Heimat.

Ich stellte mir das komisch vor. Da verlässt du Haus und Hof, Freunde und Verwandte, fährst an dem Ort vorbei, wo du aufgewachsen bist und wirst das alles wahrscheinlich nie weder sehen können. Nein, ist das irre.

Ich hatte schon Respekt vor diesen Leuten, die ihr Leben dort im Osten verbringen mussten.

Ein paar habe ich durch die Musik kennengelernt, einfache Leute so wie wir alle.

Sie konnten aber nicht einfach mal, nach Amerika oder Japan fahren. Oder wie ich, die Verwandten in Holland und Belgien besuchen. Nein, das war für diese Leute gar nicht möglich. Sie mussten Ausreiseanträge stellen, geduldig abwarten, um dann mit irgendwelchen fadenscheinenden Ausreden abgelehnt zu werden. Das fand ich echt bitter, es hatte etwas von einem riesengroßen Gefängnis.

Wir sollten auf dieser Tournee in den nächsten Tagen auch noch in Berlin spielen. Das hieß Grenze. Wieder Kontrolle. Warten und irgendwie auch bangen. Meistens kamen wir aber ohne Probleme durch. Ob die Zöllner bestechlich waren? Nein natürlich nicht, aber sie nahmen gerne Autogrammkarten, Alben oder T-Shirts an und behandelten uns danach bevorzugt. Aber bestechlich waren sie nicht.

Die Mauer fällt

Es passierte beim Abbau. Wir waren schon beim Laden und standen am Lkw um die Sachen zu verstauen, als unserer Tourneemanager zurück vom Bus kam. »Die Mauer ist weg.« Ein paar von uns drehten sich um und schauten sich die Wand hinter uns an. »Welche Mauer?« »Nah, diese Ostmauer, die haben die Grenze aufgemacht.« »Woher willst du dass wissen?« Er erklärte uns, dass er das im Fernseher im Bus gesehen hatte. Er wollte seine Sachen verstauen, als er die Menschenmenge auf dem Bildschirm sah. Der Busfahrer hatte ihm erklärt, was dort los war. Er selber konnte es auch nicht glauben, aber es schien wohl wahr zu sein. Leider hatten wir während der Fahrt keinen Empfang mehr und mussten uns mit dem Radio begnügen. Wir brauchten diesmal ziemlich lange bis zur nächsten Stadt. Stau, das erste Mal auf der Autobahn Stau. Nun kennt jeder das, aber dieser Stau war einfach anders. Um uns herum fuhren Trabbis. Auf westdeutschen Straßen fuhren Trabbis.

So was hatte die Welt noch nicht gesehen.

Leider wurde unser Künstler krank und wir mussten die Tournee abbrechen. Es hieß, im Frühjahr geht es wieder weiter.

Berlin im Juni 1990

 Im Frühjahr 1990 ging es also weiter. Wir waren nun endlich in Berlin, Berlin Ost um genau zu sein. Dort hatten wir Proben und eine Veranstaltung.

Durch eine Konstellation hatte der Veranstalter ein Hotel im Westen bekommen. Nicht dass das schlimm war, nein, der Standard im Osten waren anscheinend nicht so hoch.

Ein Vorteil hatte das Ganze, keine aufdringlichen Fans oder dreisten Groupies, die uns nerven konnten, dachten wir. Aber wir mussten nun jeden Morgen in den Osten und abends wieder in den Westen. So brauchten wir einen Einreise- und einen Ausreisestempel. Ein Visum ging nicht. Wer ausreist, verliert sein Visum. Unsere deutschen Kollegen brauchten komischerweise keinen Stempel, wahrscheinlich, weil sie von Westberlin noch Ostberlin reisten und zurück.

Das Ganze ging ein paar Tagen gut. Dann passierte es. Wir wurden durchgewunken. Mein Nachbar, auch Holländer und ich schauten kurz in den Reisepass an und packten ihn wieder weg. Der Tag ging ins Land und als wir abends, an der Grenze, durchgewunken wurden, dachte keine über die Folgen nach. Mein Landsmann und ich hatten uns auch nicht sonderlich darüber gewundert. Schließlich war es spät am Abend und wir waren einfach müde. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Es war ein guter Tag, er war ohne Probleme verlaufen und die Proben liefen hervorragend.

Durchfahrt 

Am nächsten Tag, die Show war vorbei. Der Abbau verlief reibungslos, wir waren immer noch in der Zeit, trotz der viele Zugaben die gespielt wurden. Das Konzert war hervorragend und es hatte an diesem Tag richtig Spaß gemacht. Nach der Veranstaltung wurde alles schnell wieder eingeladen und wir machten uns auf den Weg Richtung Westen. Beim Einsteigen legten wir wie gewohnt unsere Reisepässe vorne bei dem Busfahrer ab. Dies war eine Gewohnheit, die nun fast in Fleisch und Blut übergegangen war. Obwohl die Grenze zwischen Ost und West offen war, gab es noch Kontrollen. Geduldig wartete wir, bis zur Grenze, um uns danach hinzulegen. Wir wussten aus Erfahrung, dass es keinen Sinn machte, sich schlafen zu legen. Gesichtskontrolle hieß es immer. Mit anderen Worten, du saßest dort, ein Zöllner kam vorbei und schaute in dein Reisedokument, schaute ein paar Mal hin und her zwischen Dokument und deinem Gesicht und überreichte erst dann deine Reisepapiere zurück, wenn er mit dem Ergebnis zufrieden war. Lagst du im Bett, dann durftest du antreten und die Prozedur dauerte extrem lange.

Wir kamen an der Grenze an und die Show der Passkontrolleinheit sollte anfangen. Nur ein Zöllner kam herein. Er fragte nach den Papieren und nahm die Reisepässe an sich. Er schaute sich kurz den Stapel durch und fischte nur die ausländische Dokumente heraus. Er schaute sich einen an, dann den Nächsten. Er sprang hektisch aus dem Bus und verschwand in seinem Büro. Kurze Zeit später tauchte er wieder auf, dieses Mal, wie es aussah, mit seinem Vorgesetzten. Beide stiegen in den Bus und fingen an, Fragen zu stellen. Unser Tourneemanager war auch nach vorne gegangen und mischte sich in das Gespräch ein. Kurze Zeit später verschwanden die Beamten wieder in ihr Büro. Der Eine kam wieder und überreichte die Reisepässe. »Gute Fahrt und lasst abstempeln.« Neugierig fragten wir nach, was passiert war. 

In der Nacht zuvor hatten die Zöllner den Bus durchgewunken und somit hatten wir die Transitstrecke verlassen ohne einen Einreisestempel, hieß es. Dies war natürlich ein Verstoß, aber sie hatten eingesehen, dass es nicht unsere Schuld war. So bekamen wir doch die benötigten Stempel und durften weiter Richtung Westen fahren. Mit einem frischen Stempel, der uns erlaubte wieder auf der Transitstrecke der DDR zu sein. Keiner von uns konnte sich das so recht erklären, aber die Grenzen waren offen. Gut erst nur für Ost- und Westdeutsche. Ende 1990 verschwand die DDR in der Versenkung und die neuen Bundesländer tauchten auf.

Damit war die Grenze für alle Menschen offen.

***

 

Der nette Opa

 

 

 

Vorwort:

Der Mauerfall, ein Ereignis, welches Deutschland in Aufruhr versetzte... Im Nachhinein betrachtet war der Mauerfall für mich die ganze Zeitspanne von den ersten Unruhen, bis hin zur tatsächlichen Beseitigung der Grenze.  Ich selber war derzeit noch in der Schule, ein Kind also. In dem Alter hat mich das jetzt nicht so brennend interessiert und somit habe ich nicht wirklich viel mitbekommen. Was ich allerdings bemerkte, war die Tatsache, dass der Schulalltag um mich herum immer bunter wurde. Hier ein knallpinkes Lineal, dort ein neuer Füller mit bunten Motiven und dort eine neue, fetzige Sporttasche. Nicht mehr alles so einheitsfarben.

Klassenkameraden erzählten von den vielen Auslagen in den Schaufenstern im Land hinter der Grenze. Und davon, was man da alles kaufen konnte. Ohne Wartezeiten, Rennereien oder Vorbestellungen. Und dann kam der Tag, an dem auch meine Eltern mal ins „andere Deutschland“ fahren wollten. Und bei diesem Ausflug gab es eine Begegnung mit einem älteren Mann, bzw. Ehepaar und einem sehnlichsten Wunsch von mir... 

 

Der nette Opa 

Oh man, endlich hatten meine Eltern beschlossen, dass auch wir einen Trip in den „Westen“ machen würden. Alle aus meiner Klasse waren schon dort gewesen und hatten lauter tolle Süßigkeiten mitgebracht. Sie meinten, dass jeder 100 D-Mark geschenkt bekäme, von denen man sich dann kaufen konnte, was man wollte....

100 D-Mark, so viel Geld. Ich träumte schon von einem Überraschungsei, Kinderriegeln und Dickmanns. Das wollte ich mir von „meinem Geld“ alles leisten und war der Meinung, dass es dann auch schon aufgebraucht wäre. 

Doch so einfach sollte es für mich nicht werden, mir meine Träume zu erfüllen. Ich musste doch tatsächlich mit anhören, wie meine Eltern miteinander diskutierten, ob sie mich denn auch mitnehmen sollten. Dazu hätte ich nämlich in der Schule entschuldigt werden müssen. Ich hätte den Stoff verpasst und es musste jemand gefunden werden, der mir dann die Aufgaben vorbeibringt.

Außerdem war meine Klassenlehrerin, eine „tiefrote Socke“ so gar nicht begeistert von den Reisen zum Klassenfeind. Und schon gar nicht verstehen konnte sie, dass doch tatsächlich Schüler und Eltern von diesen Reisen nicht wiedergekommen sind... 

Ich durfte mit! Und mein Bruder auch. Papa sagte, des Geldes wegen. Was genau er damit meinte, sollte ich noch merken... 

Endlich war der Tag der Reise gekommen. Meine Mutter hatte mich doch tatsächlich aus der Schule frei boxen können. Als Strafe für den Besuch hinter der Mauer sollte ich beim nächsten Schulappell ein Gedicht vortragen. Das hatten andere auch überstanden. Dann würde ich das auch hinbekommen... 

Wir bestiegen den blauen „Mossi“ und fuhren los. Bis zur Autobahn war es nicht weit und dann standen wir auch schon an der Grenze in der Warteschlange. Als wir an den Wachtposten vorbeifuhren, wurde mir schon etwas mulmig. Immer hatte man uns erzählt, dass uns die Grenze beschütze, und dass es gefährlich ist, sie zu übertreten. Es sollen ja sogar Leute deswegen erschossen worden sein... - Und jetzt konnten wir hier einfach so vorbei. Keiner hielt uns an oder sagte etwas. Das verwirrte mich schon etwas.

Nach dem einen Posten, kam ein paar Meter weiter noch einer. Wieder ein uniformierter Mann. Doch dieser hatte ein Lächeln auf den Lippen. Er hielt unser Auto an und Papa wollte ihm die Ausweise reichen. Die wollte er aber nicht. Statt dessen hielt er zwei golden eingewickelte Bonbons zum Fenster herein. Papa nahm sie, reichte sie uns hinter und wir durften weiter. Mir kam zum ersten Mal in den Sinn, dass die „anderen“ Deutschen ja gar nicht so böse waren, wie die in der Schule immer erzählt haben. 

Die Landschaft sah hinter der Grenze auch nicht anders aus. Die Bäume waren dieselben, hatten die selbe Farbe, die Wiesen waren nicht anders grün als bei uns und auch die Kühe waren nicht lila. Ich verstand immer weniger von der Welt, wie sie mir bisher erklärt wurde... 

Dann kamen wir endlich in die erste Stadt. Wir fuhren nur durch, aber das reichte schon, um mich Bauklötzer staunen zu lassen. Was da alles in den Schaufenster lag und wie bunt das war... Oma hatte ja erzählt, dass hier drüben alles viel bunter wäre, aber so toll hatte ich es mir dann doch nicht vorgestellt. Von nun an klebte ich für den Rest der Fahrt an der Scheibe und sog die ganzen neuen Eindrücke in mich auf. 

Irgendwann hielten wir in einer kleinen Stadt vor einem Haus an. Es stellte sich als das Rathaus heraus und vor dem Geld, gab es einen Kakao für uns und einen Kaffee für die Erwachsenen. Zunächst konnte ich daran nichts besonderes finden, aber als ich dann von dem Kakao gekostet hatte, war ich einmal mehr im siebenten Himmel. Auch der Kakao schmeckte hier so anders als bei uns. Viel sahniger.... oder cremiger? Auf jeden Fall um Längen schokoladiger als bei uns. Bis heute habe ich keinen vergleichbaren Kakao mehr gehabt... 

Und dann sind wir endlich das Geld holen gegangen. Vor meinem Papa lagen vier Scheine mit einer „Hundert“ drauf auf dem Tisch. Er bedankte sich und wollte gehen. Nur ich bin noch einmal zu der Frau hin und gab ihr meine Hand um mich richtig zu bedanken. Sie lächelte und nannte mich richtig gut erzogen. Das hätte meine Mama toll gemacht. Ich aber sagte wahrheitsgemäß, dass wir das als das Pioniere so machen müssten, weil wir so den Erwachsenen unseren Respekt und unsere Hochachtung für ihre täglichen Leistungen zeigen würden.

Die Frau guckte reichlich verständnislos aus der Wäsche und meine Mutter zerrte mich eine Entschuldigung murmelnd aus dem Raum... Schweigend liefen wir wieder zum Auto. Wir wollten wohl nun endlich in die Läden. 

Nach einer weiteren, kurzen Fahrt hielten wir dann in einer kleinen Innenstadt. Endlich ging es bummeln. Und jetzt war endlich Zeit, meiner Mutter zu erzählen, was ich von dem Geld alles kaufen wollte. Sie sah mich nur mit großen Augen an und fragte: „Was für Geld?“

„Na, das was ich gerade bekommen habe.“ Ich war immer noch überzeugt davon, dass ich das Geld selber ausgeben dürfte. Doch da klärte mich meine Mutter auf. „Du hast kein Geld bekommen. Das hat alles Papa. Und der braucht es, weil er ein Werkzeug kaufen will, mit dem er das Haus noch schöner machen kann. In dem du am Ende auch mit wohnen wirst.“

Richtig, das Haus. Da war noch was. Dieses Gebilde aus Steinen und Mörtel, was mich schon seit Ewigkeiten dazu zwang, meine Wochenenden in dem Heimatdorf von Papa zu verbringen. Wo es immer so stinklangweilig war. Das Haus, was allein für den Rohbau schon 3 Jahre gebraucht hatte, weil wir erst Ewigkeiten auf die Zeichnungen gewartet haben und dann keine Baumaterialien zu bekommen waren... 

Die Drohung meiner Mutter wurde traurige Wahrheit. Wir steuerten einen langweiligen Werkzeugladen nach dem andern an. Immer und immer wieder ließ sich Papa ein und das selbe Werkzeug zeigen und immer wieder sagte er, dass er es sich überlegen werde. - So einen langweiligen Tag hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, sah ich die ganzen Spielzeugläden mit ihren bunten Auslagen. Aus dem einen kam gerade eine Familie mit vier Kindern. Und jedes Kind hielt glücklich ein neues Spielzeug in der Hand. Himmel, war ich neidisch. Diese tollen Sachen. So nah und gleichzeitig doch so unerreichbar fern.

Den ganzen Tag habe ich mich einfach nur mitschleifen lassen. Es hat mich einfach nicht mehr interessiert. Der „Westen“ war gar nicht so toll wie alle immer sagten. Da gab es auch bloß langweiligen Erwachsenenkram.... 

Irgendwann saßen wir dann wieder in unserem Auto. Im Kofferraum lag Papas Neuanschaffung und er reichte Mutti stolz wie Oscar das restliche Geld rüber. Jetzt könne sie noch sagen, wo sie noch hin wolle...  

… von den vier Scheinen mit je einer „100“ drauf war gerade mal noch einer mit einer „10“ und einer mit einer „20“ geblieben. Dazu noch ein oder zwei Geldstücke. Meine Mutter ließ Papa dann an einem normalen Lebensmittelladen halten. Dort ging dann allein für den rollenden Einkaufskorb schon mal eins der Geldstücke weg.

Im Laden selber steuerte Mutti all die Regale an, die ihr gefielen. Kaffee, ich meine, richtiger Kaffee, landete als erstes im Korb. Dann ganz seltsame Obstsorten. Mutti meinte, die wären für uns alle und so eine Kiwi wäre total lecker. Interessierte mich nur nicht. Dann gab es noch Schokolade, natürlich die Lieblingssorte von Papa und für sie noch irgendein Nougatgelumpe.

Zum Schluss legte sie doch tatsächlich noch zwei Überraschungseier in den Korb. Mein Bruder freute sich wie ein Schnitzel und mich sah man erwartungsvoll an. Von mir kam aber: „Darf ich das Ei gegen eine Packung „Dickmanns“ tauschen?“ Eine Diskussion entspann sich: „Die ist aber viel größer als so ein Ei. Das wäre gemein deinem Bruder gegenüber.“

„Ich teile sie auch mit ihm! Ehrlich.“ So habe ich noch nie in meinem Leben gefleht, wie in diesem Moment.

„Und dann beschwerst du dich, dass er mehr hatte, weil er das Spielzeug nicht teilen kann.“

Ich war den Tränen nahe und schluchzte schon bei meinem Protest. „Ehrlich nicht! Er darf das Ei komplett für sich haben. Ich möchte aber Dickmanns, bitte.“ Papa beendet die Diskussion dann ziemlich rüde. Er meinte, wenn ich das Ei nicht wolle, bekäme mein Bruder eben zwei. Das war der Moment, in dem ich losheulte. Mir war alles egal. Und den „Westen“ fand ich absolut dämlich.

Wir bezahlten und wollten gerade mit einer bunten Plastiktüte den Laden verlassen, als ein Opa hinter uns her kam. Er rief nach uns und drückte mir dann eine riesige Packung Dickmanns in die Hände. Er lächelte und forderte mich auf, auch dem Ei eine Chance zu geben und die Dickmanns zu teilen und nicht alle auf einmal zu essen. Ich konnte nur glücklich lächeln. Und schon zerrte mich meine Mutter wütend aus dem Laden.

Auf dem Parkplatz bekam ich eine Standpauke gehalten, dass man sich mit mir schämen müsse, dass man nicht bettelte und schon gar nichts von fremden Leuten annehmen solle.  Das zog alles an mir vorbei. Ich hatte meine Dickmanns. Kurz bevor ich ins Auto zitiert wurde, kam auch der nette Opa mit seiner Frau aus dem Laden. Ich rief noch ein „Dankeschön“ über den Parkplatz und schon war die Autotür zu. Der nette Opa und seine Frau winkten noch einmal herüber. 

Die Dickmanns waren lecker. Und ich habe sie geteilt. Ich hatte aber einen mehr, da mein Bruder beide Eier bekommen hat. - Ist doch ok so, oder?!

Die Kiwi`s waren nicht so toll. Nachdem ich sie gegessen hatte, war alles in meinem Mund so gereizt, dass ich nur Wasser trinken konnte. Alles andere tat einfach nur höllisch weh, sobald es nur meine Zunge berührte. - Das glaubte mir allerdings keiner....

Kiwis meide ich jedenfalls bis heute!

***

Das Verhör

 

 

Das Verhör

Und wenn Freiheit und Gerechtigkeit in Ewigkeit nichts als eine schöne Morgenröte wäre, so will ich lieber mit der Morgenröte sterben, als den glühenden, ehernen  Himmel der blinden Despotie über meinem Schädel brennen lassen.

Seume (1, 436), Apokryphen 

***

Von der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 bis in den Juni 1990 verließen über 3,8 Millionen Menschen den Staat, davon viele illegal und unter großer Gefahr. Der Straftatbestand, der die Flucht aus der DDR kriminalisierte, wurde in der DDR und auch in der Bundesrepublik Deutschland fast immer Republikflucht genannt.

 Für viele Ausreisewillige blieb angesichts der fast undurchdringlichen Sperranlagen nur die Möglichkeit, die Flucht über ein Drittland zu wagen. Die Chancen waren aber kaum besser. Wer Pech hatte geriet vom Regen in die Traufe. Besonders hart traf es Flüchtlinge, die ihr Glück über Rumänien versuchten.

 Vor diesem Hintergrund wird der Leser in eine Zeit versetzt, in der 30 Jahre nach Ende der Nazi Diktatur immer noch Menschen verachtende Mechanismen funktionieren. Die Geschichte ist keine Fiktion, sondern hat sich so zugetragen.

 *** 

 Ich habe Angst. Gottverdammte Angst, hier zu verrecken. Es stinkt fürchterlich. Fremder und mein eigener Dreck kleben im und über dem Loch in der Ecke. Ich habe das Gefühl ständig kotzen zu müssen. Mir ist kalt und ich spüre jeden Knochen in mir. Schlafen, ich will endlich schlafen, aber das Durcheinander in meinem Kopf lässt mich nicht. 

 Immer wieder frage ich mich, wie es weitergehen soll. Eine Antwort finde ich nicht. Ich habe Durst. Am Boden neben der Liege steht eine Plastiktasse. Ich hebe sie an und stelle enttäuscht fest, dass sie leer ist. Kurz bevor das Licht ausging, hatte ich noch daraus getrunken. Alles auf einmal, und jetzt ärgere ich mich darüber. Nun muss ich wieder warten, bis sie mit ihrem entsetzlichen Geschrei das Tagesmahl bringen. Ein dunkles und dickflüssiges Etwas mit rotbraunen Bohnen, ein faustgroßes Stück Maisbrot und die Plastiktasse mit Tee. Wie oft ich das Zeug schon herunter gewürgt habe, weiß ich nicht mehr.

Sind es Tage oder Wochen, die ich hier kampiere? Zu lange. Warten, immer nur warten. Das ist ihre Taktik. Was haben die mit mir vor? Die Ungewissheit zerreißt mich. Wann werden die mich endlich holen, damit ich es hinter mir habe? Gespannt lausche ich auf jedes Geräusch außerhalb meiner Zelle. Die Schreie und das ständige Stöhnen der armen Schweine von Mitgefangenen halte ich kaum noch aus. Immer wieder und in unregelmäßigen Abständen höre ich sie; und sie machen mir Angst, denn ich ahne den Grund. 

Dann wieder diese lähmende Stille, die mich fast in den Wahnsinn treibt. Ein unheimlicher Wechsel. Ich drehe mich zur Seite und ziehe die Decke über den Kopf. Nichts hören und nichts denken. Ich bin müde, möchte nur noch schlafen, träume wirres Zeug und wache wieder auf. 

Schwere Schritte hallen durch den Gang - kommen näher. Ich halte den Atem an und lausche auf die Stimmen, die sie begleiten und jetzt ganz dicht vor meiner Tür sind. Die Stimmen verstummen. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Schlüssel rasseln und ein Riegel wird zurückgeschoben. Ich erschrecke und springe von meiner Liege auf. Jetzt wird es ernst, denke ich. Licht flammt auf. Es blendet und ich kneife meine Augen zusammen. An der Tür erkenne ich schemenhaft zwei Gestalten. Eine winkt mir zu. „Los, mitkommen. Los, schnell, schnell!“

Ich soll ihrem Befehl folgen, aber meine Beine haben etwas dagegen. Als würden Tonnen von Blei daran hängen, ziehen und zerren sie an mir und halten mich zurück. Ich stehe immer noch auf der gleichen Stelle, ängstige mich. Will da nicht raus. „Was ist? Hast du mich nicht gehört?“

Ich schweige. Der, der mich gerade aufgefordert hat, kommt auf mich zu und zerrt an meinem Hemd. Ich taumle. Kurz darauf stehe ich ihnen gegenüber. Erst jetzt kann ich sie genau erkennen. Es ist verdammt hell auf dem Flur. Ein dürrer großer Typ, mit auffallend auseinander stehenden dunklen Augen und üppiger Nase, lehnt an der Wand, während der andere Kerl, klein und dick, sich breitbeinig vor mir postiert. Grinsend betrachten mich beide von oben bis unten und unterhalten sich wahrscheinlich über mich. Ich verstehe ihre Sprache nicht. Urplötzlich schreit er mich wieder an: „Was guckst du?“

Wohin soll ich denn sonst hinsehen, du Arsch? Am liebsten würde ich ihm in seine von Pickeln übersäte Fresse spucken. Irgendwie scheint der Dicke meine Gedanken zu erraten. Er tritt einen Schritt zurück und greift nach dem Schlagstock an seinem Gürtel. „Was ist? Hast du Schiss?“

Der Dürre bricht nach dieser Frage in höhnisches Gelächter aus, in das der Dicke mit einstimmt. Gleichzeitig schlägt er mit dem Stock gegen seinen Oberschenkel. Diese perversen Schweine. Fühlen sich stark. Sie reden wieder in diesem Kauderwelsch, und der Dürre nickt und grinst mich an. Ich kann es nicht ertragen. Im nächsten Augenblick zwängt sich der Dürre an dem Dicken vorbei, fasst mich am Oberarm und reißt mich herum.  

„Vorwärts!“, schnauft er.

Ich muss den Atem anhalten, denn er stinkt penetrant nach Schweiß. Aus seinem Mund trifft mich eine Kanonade aus Knoblauch und faulen Zähnen. Er stößt mich vor sich her, in die Richtung, in die ich anscheinend gehen soll. Vor mir liegt ein schier endlos langer Gang, nur einige Schritte breit. Rechts die Zellen, und mein Blick fällt auf ein hüfthohes Geländer gegenüber. Dahinter geht es tief abwärts. Mindestens drei oder vier Etagen, schätze ich. Den Boden kann ich von meinem Standort aus nicht erkennen. Man könnte mich hier hinunter stoßen, und kein Hahn würde nach mir krähen.

Die werden doch nicht etwa - nein, das bringen die nicht fertig. Ich muss an die zu Hause denken. Sie tun mir leid. Mutter läuft bestimmt wieder Amok. Das tut sie immer, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es sich vorstellt. Mit Scheuklappen - mitten durch.

Das war nicht immer so. Erst seit Vaters Tod ist sie anders. Keine Spur mehr von der ruhigen und ausgeglichenen Frau. Eine Wende um nahezu einhundert achtzig Grad. Mich wundert’s nicht. Man hat ihr übel mitgespielt. Warum musste er auch, so mir nichts dir nichts, von der Bühne abtreten? Sie mit allem überfordern? Selbst sein Abgang kam überraschend, wie so vieles. Zuerst kam er, immer er.

Danach die Göre mit ihren Segelohren. Verhätschelt bis zum geht nicht mehr. Sie durfte alles. Sie hat nie eine hinter die „Binde“ bekommen, wenn sie nicht so funktionierte, wie er sich das vorstellte. Nur einmal bekam sie seine Hand zu spüren. Mit ihrem nagelneuen, weißen Rock wollte sie über einen Graben springen. Das ging gehörig daneben, und plumps lag sie im Dreck. Da war nichts mehr zuerkennen vom blütenweißen Stück Stoff. Die Tracht Prügel danach vergesse ich bis heute nicht. Irgendwie tat sie mir aber dann doch leid. Er konnte fest zuschlagen. Ich muss nur dran denken, dann zwirbelt es wieder. Was würde er wohl jetzt sagen? 

Sein „Großer“, so nannte er mich immer, wenn er gut gelaunt war. Sein Großer traut sich endlich einmal was zu. Wann auch sonst? Solange ich denken kann, hat er mir alles abgenommen. Mit immer der gleichen Bemerkung:„Komm lass, ich mache das schon.“ Egal, was ich tat, ihm war nichts recht. Vor vier Jahren hat er das zum letzten Mal gesagt. 

Ein Stoß in den Rücken unterbricht meine Gedanken. Nur noch wenige Meter. Der Gang mündet in eine Gabelung. Ich weiß nicht, wohin ich laufen soll und zögere. Was tun? Einfach abwarten? Verdammt, warum geht keiner von denen vor? Ich habe Angst, dass ich was falsch mache und entscheide mich, stehen zu bleiben. Das war ein Fehler. Aus meinen Augenwinkeln bemerke ich einen Schatten auf mich niedersausen. Ein stechender Schmerz in der Nierengegend folgt. Mir wird übel und ich falle zu Boden. Rühre mich nicht, bleibe einfach liegen. Nur nicht noch mehr provozieren.

Nach einer Weile traue ich mich wieder, die Augen zu öffnen. Ich erkenne die Beine der Wärter. Sie unterhalten sich leise. Eine Tür springt auf. Das Murmeln verstummt. Totenstille. Endlos lang.

Dann ein kurzer und lauter Befehl. Die Wärter nehmen Haltung an. Kräftige Arme packen meine Schulter und schleifen mich weg. Hin zu der Tür, die einen Blick freigibt. Das Zimmer ist quadratisch. Geradeaus erkenne ich einen schweren Holztisch. Vor ihm einen Stuhl. Hinter dem Tisch sitzt ein Mann in Zivil. Die Fenster sind mit dunklem Stoff verhangen. Eine Art Leselampe, die einzige Lichtquelle. Ihr Schein fällt auf den Stuhl. Sie zerren mich dorthin. Der Dicke stellte sich hinter mich, während der andere verschwindet und kurze Zeit später mit einem vollen Wassereimer wiederkommt. Mein Kopf brummt und die linke Seite tut mir weh. Hinter einer Nebelwand registriere ich, wie sich der Dürre mit dem Eimer vor mir aufbaut. Danach trifft ein eiskalter Schlag mein Gesicht.

Ich ringe nach Luft. Mein Hemd klebt unangenehm am Körper. Ich fühle wie mein Puls steigt.

„Wie ist Ihr Name?“, spricht mich der Mann in Zivil hinter dem Tisch an. Ich nehme mir vor, auf alle Fragen rasch zu antworten.

„Augst, Jürgen Augst". 

Der Mann erhebt sich, verweilt einen Augenblick, und kommt dann auf mich zu. Sein Gesicht missfällt mir. Es ist kalt und blass, mit stark hervorstehenden Backenknochen, und die Augen versteckt er hinter einer schwarzen Brille. Er steht jetzt dicht vor mir und beugt sich leicht nach vorn über. Uns trennen nur wenige Zentimeter. Ich kann seinen Atem spüren. 

„So, so, Sie sind also der Augst ..."

Betretenes Schweigen folgt. Seine schmalen Lippen wirken jetzt noch dünner. Ein einziger Strich. Er schnauft und fragt mich kaum hörbar: „Kennen Sie einen Richter?“  Was soll das Ganze, denke ich. Klar, das weiß er doch. „Ja, er ist mein Freund. Was ist mit ihm?“

 Meine Antwort kommt fest und deutlich. Er zeigt keine Reaktion. Der will mich verunsichern, denke ich.

„Sind Sie sicher, Augst, dass der Richter ein guter Freund ist?"

Auf seinem Gesicht formt sich ein überlegenes Grinsen.

„Wieso?“

Frage ich, um Zeit zu gewinnen. Ich brauche sie zum Nachdenken. Wer weiß, was er als Nächstes von mir wissen will. Der Mann richtet sich auf und geht wieder zum Tisch. Ich bin erleichtert. Seine Nähe behagt mir keinesfalls.

„Wieso?“, äfft er mich nach und hebt seine Stimme deutlich an.

Ich beschließe zu schweigen. Dafür antwortet er für mich mit einer unverschämten Behauptung, die mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

„Ich werde Ihnen sagen, wieso. Er hat uns verraten, dass Sie ihn angestiftet haben, das Land zu verlassen.“

Ach, daher weht der Wind. Dachte ich mir doch. Der falsche Hund, will mich in eine Falle locken. Ich glaube ihm einfach nicht. Nicht Frank! Nein! Dennoch werde ich unsicher. Ich beschließe Unwissenheit vorzugaukeln.

„Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen. Welches Land meinen Sie?“ 

„Sie wissen das sehr gut, Augst. Und das Land ist die DDR. Stimmt doch?“

Mir wird heiß, und mein Kopf droht zu zerspringen. Zum Glück beachtet er mich in diesem Moment nicht, sonst hätte er meine Unsicherheit bemerkt. Er flüstert dem Offizier etwas ins Ohr. Der beginnt nun in das Verhör einzugreifen: „Was wollten Sie in Jimbolia?“

Das überrascht mich. So schnell hatte ich die Frage nicht erwartet. 

„Wir haben uns verlaufen."

 Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Schweiß vermischt sich mit dem Wasser und rinnt mir den Rücken herunter.

„Wofür brauchen Sie diese Sachen hier?“

Er holt einen Rucksack hinter dem Tisch hervor, und ich erkenne ihn. Den Inhalt kippt er einfach aus.

„Drei Brote, Konservendosen, Schokolade.“

Laut zählt er unsere Ration auf. Nachdem er jede einzelne Dose begutachtet und sorgfältig vor sich aufgestapelt hat, schüttelt er ungläubig seinen Kopf. „Fünfzehn Dosen, fünfzehn Dosen“, wiederholt er. Der Mann in Zivil nimmt eine Siegespose ein.

„Ich glaube nicht, Augst, dass sie mir hierfür eine vernünftige Erklärung liefern können. Geben Sie endlich zu, dass Sie abhauen wollten.“

So ganz Unrecht hat er nicht, denke ich. Eine plausible Ausrede zu finden fällt mir schwer. Mir fiel die einstudierte Antwort ein: „Unsere Wanderung hätte mehrere Tage gedauert. Um Kosten zu sparen, haben wir ausreichend vorsorgen müssen.“ Ich finde mich überzeugend. 

„Wohin wollten Sie denn wandern?", fragte er mit anspielendem Unterton. „Nach Lenauheim."

„Lenauheim? Kenne ich nicht.“

Der Offizier breitet unsere Landkarte aus und zeigt ihm nach kurzer Suche den erwähnten Ort.

„Lenauheim liegt aber in einer ganz anderen Richtung. Weit entfernt von der Stelle, an der wir Sie aufgegriffen haben. Schon merkwürdig, Augst, sehr merkwürdig.“ Er grinst selbst zufrieden. 

„Ja, das stimmt. Wir haben zu spät gemerkt, dass wir verkehrt sind.“ Ich bin angespannt. Wie wird er darauf reagieren? Zunächst geschieht nichts. Nach einer kurzen Pause murmelt er etwas zu dem Offizier. Mein Puls rast vor Aufregung. Sie unterbrechen ihr Gespräch. Der Mann sieht mich lange und eindringlich an. Ich versuche, seinem Blick Stand zu halten. Es gelingt mir nur in Ansätzen.

„Sehen sie mich an, Augst", spricht er fest und drohend. Mist, der hat die Geschichte doch nicht gefressen. Das gefällt mir ganz und gar nicht. Er atmet schwer und sein Gesicht nimmt groteske Züge an. Zum ersten Mal erkenne ich Leben darin; unangenehmes Leben. 

„Zu spät“, wiederholt er meine Aussage, und seine Atmung scheint dabei auszusetzen. Dafür trommelt er umso lebhafter mit den Fingern auf der Landkarte und sieht abwechselnd auf den Plan und zu mir. Sein Hämmern wird zunehmend ungestümer. Er holt tief Luft. Sein Brustkorb scheint schier ins Unermessliche an zuwachsen. Die Lippen, zu einem einzigen Strich zusammengepresst, droht er jeden Augenblick zu explodieren.

Ein mächtiger Faustschlag auf den Tisch und das Gewitter bricht los: „Wollen Sie mich verarschen?“, schreit er mich an. Der erste Blitz schoss tief durch mich hindurch.

„Jetzt ist Schluss mit der Märchenstunde! Ich möchte die Wahrheit, und zwar die ganze. Und wenn Sie mir die nicht gleich erzählen, dann lass ich die aus Ihnen heraus prügeln!“. Seine letzten Worte klingen messerscharf und schneiden sich in meine Brust. Mir wird klar, dass das kein Spiel ist. 

„Also, was ist? Geben Sie zu, dass Sie abhauen wollten", faucht er mich an. Kaum hörbar fährt er fort: „Oder soll ich die da“, er nickt mit dem Kopf zu den zwei Wärtern, „ein paar Minuten mit Ihnen allein lassen?"

Das hat gesessen! Seine Worte hallen immer noch nach. Soll ich vielleicht doch alles zugeben? Nein. Frank würde das bestimmt auch nicht tun. Ich werde denen nichts sagen. Ich schweige. In meinem Inneren schreie ich dafür umso lauter. Lasst mich! Eine beklemmende Stille füllt den Raum. Als wenn jemand einen Film anhält. Der Mann in Zivil blickt in meine Richtung. Ich schaue wie gebannt auf seine Brille. Der Offizier verharrt regungslos und die Wärter stehen stramm. Die Luft ist zum Zerschneiden dick. Nach schier endloser Zeit unterbricht der Zivilist das Stillleben. Er zündet sich eine Zigarette an und bläst den Qualm genüsslich in meine Richtung.

„Habe ich mir doch gedacht. Er will den Helden spielen. Das kann er haben.“

Er gibt dem Dicken ein Zeichen. Dessen Gesichtszüge formen sich zu einem einzig lüsternen Grinsen. Mit einer Handbewegung fordert er mich auf, vor ihm niederzuknien. Meine Beine werden butterweich, und das Herz rast. Nur keine Schwäche zeigen, mache ich mir Mut. Es hilft nicht. Ich knie neben dem Stuhl und zittere am ganzen Körper. Der Dicke schleicht mehrmals um mich herum und bleibt irgendwann wieder hinter mir stehen. Krachend fliegt der Stuhl zur Seite. Ich erschauere, schließe die Augen und warte auf Schläge. Doch die bleiben aus. Als ich die Augen zaghaft wieder öffne, baumelt das Ende eines Seiles vor meinem Gesicht. Kurz darauf legt sich eine Schlinge um meinen Hals.

Ich schließe wieder die Augen. Will einfach nicht wahrhaben, was nicht sein darf. Ein vergeblicher Wunsch. Ich spüre, wie sich die Schlinge langsam enger zuzieht und mir die Kehle abdrückt. Ich ringe nach Luft. Gleichzeitig wird mein Kopf von dem Seil auf den Fußboden gezogen. Der raue Beton drückt gegen meine Stirn. Jemand bemächtigt sich meiner Hose. Zieht sie herunter. Jeden Augenblick wird etwas passieren. Die Ungewissheit quält mich.

Ein stechender Schmerz zerreißt mir den Unterleib.

***

Wir sind die Kraft

 

 

 

Wir sind die Kraft

„Ich bin das Schwert, ich bin die Flamme...“

Großer deutscher Poet, ehrbar, aber allein:

Du konntest nicht Sieger sein.

 

Geteilt die Welt und das Land.

Dein Schwert kann die Welt nicht befrein.

Ein Schwert reißt Mauern nicht ein:

Das hatten sie erkannt.

 

„Schwerter zu Pflugscharen!“ stand

über Nacht am Straßenrand:

Und die Flamme brennt in Millionen Herzen.

Sie leuchtet von Millionen Kerzen,

 

Dass Städte wie Sterne glänzen.

Ein Ruf hallt über Mauern und Grenzen:

„Wir sind das Volk! Wir sind die Kraft,

die Einheit und Freiheit im Lande schafft.“

 

Und Tore und Zäune öffnen sich ihnen.

Unwirksam Schwerter, Panzer und Minen.

Sie baun auf die Kraft der Demokratie.

Und blühende Landschaften träumen sie.

 

Genießen den Rausch der ersten Nacht.

Dann kommt der Morgen, an dem sie erwacht.

Sie sehn, es fehlt die Gerechtigkeit;

Enttäuschung macht sich ringsumher breit.

Sie starten noch mal und schreiten zur Wahl:

Wir sind das Volk! Wir sind die Kraft!

***

Das Tor ist offen

 

 

Das Tor ist offen

"Die Mauer ... wird in fünfzig und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben", erklärt Erich Honecker noch Ende Januar 1989.

*** 

Als ehemalige Berlinerin war für mich von jeher alles interessant, was in West- und Ostberlin und der Ostzone oder Sowjetzone, später dann DDR geschah. Oft genug war ich für meinen Mann, der als Berliner nicht mehr nach Ostberlin durfte, als Kurier „drüben“ und immer heilfroh, wenn die S-Bahn wieder im Westen gelandet war.

Auch die monatlichen Fahrten von unserem westdeutschen Wohnort bei Köln nach Berlin waren nie ohne Spannung und stets mit einem Aufatmen verbunden, wenn wir die „Ostzone“ endlich hinter uns lassen konnten. Mehrfach hatte ich erlebt, dass es bedrückend lange dauerte, bis wir in Helmstedt den Transitzettel bekamen oder auch in Dreilinden die Erlaubnis zur freien Fahrt nach Westberlin.

Ab und zu fuhr ich auch allein nach Berlin, geheuer war es mir nie. Und prompt bescherte mir meine erste Nachtfahrt 1961 im Winter, kurz nachdem ich meinen Führerschein hatte, ein unangenehmes Erlebnis der besonderen Art. Ich fuhr auf der linken Spur, da die rechte eher an eine Stoßdämpferprüfstrecke vom TÜV erinnerte – sie bestand hauptsächlich aus Betonplatten, die sich gegeneinander verschoben hatten, Schlaglöchern und Rillen. Irgendwann sah ich vor mir etwas Dunkles auftauchen, dachte an ein fahrendes Auto ohne Licht vor mir, doch es bewegte sich nicht. In letzter Minute zog ich vor Schreck nach links (statt nach rechts), fuhr über den Grasstreifen und stand dann auf der linken Spur der Gegenfahrbahn. Stieg aus und sah mir das „schwarze Ungetüm“ an. Es war ein alter vergammelter, aber von der Größe her, stattlicher Traktor, ohne Beleuchtung – ohne alles.

Während ich da so stand und das Monster begutachte, fiel mein Blick auch mal auf mein Auto, Licht an – Tür auf, drüben auf der anderen Fahrbahn. Und da wurde mir dann doch anders, meine Knie wurden weich und der Gedanke, wenn da nun ein Fahrzeug von Berlin nach Westdeutschland … auf der linken Spur natürlich …  als ich endlich wieder im Auto saß, zitterten nicht nur die Knie, auch mein Herz raste. Es waren sicher nur Sekunden, die ich zum kurzen Vorglühen des Diesels brauchte – ich hatte das Gefühl, es wären Stunden. Solch „kleinen Schikanen“ sorgten mit dazu, dass die Stimmung nicht besonders positiv war, wenn es um Ostdeutschland ging.

Ein andermal hatte man es auf meinen neuen Wildledermantel abgesehen, den ich mir zwei Wochen zuvor in Holland gegönnt hatte. Er lag auf der Rückbank und wurde von den Grenzpolizisten in Dreilinden beschlagnahmt. Die Anklage lautete: „Den haben Sie auf einem Parkplatz auf der Transitstrecke von jemanden übernommen!“ Ich beteuerte das Gegenteil und glücklicherweise fiel mir ein, dass ich die Quittung noch in meinem Portemonnaie hatte. Und genau die rettete mich vor weiteren Verhören. Auch das trug nicht unbedingt dazu bei, dass ich eine gute Freundin dieses Regimes wurde. 

Seit Mai 1989 mehrten sich die Unruhen in der DDR. Noch wenig spektakulär wurde am Montag den 4. September in der abendlichen Tagesschau gemeldet, dass in Leipzig nach den Friedensgebeten eine kleine Demonstration auf dem Kirchhof der Nikolaikirche stattgefunden habe. Auf gerade mal fünf Transparenten war u.a. zu lesen „Für ein offenes Land mit freien Menschen“.

Da zum gleichen Zeitpunkt etliche Reporter aus der BRD wegen der Leipziger Herbstmesse dort waren, wurden sie Augenzeugen, wie Stasibeamte die Transparente herunter rissen und versuchten, die Demonstration aufzulösen. Daraufhin ernteten die Geheimpolizisten laute „Stasi raus!“ -Rufe.

Ende September dann die Öffnung der Grenze von Ungarn nach Österreich, die Besetzung der Deutschen Botschaft in Prag, Genschers Verkündung am 30. September – das Freudengebrüll klingt mir noch heute wie Musik in den Ohren. 

Gebannt verfolgte ich die Anfänge dieser Demonstrationen, die sich nun wöchentlich wiederholten und die Menschenmenge immer mehr anschwellen ließ. Die Spannung stieg von Montag zu Montag, intensiver hätte mich zu dieser Zeit kein Krimi fesseln können. In dieser Zeit telefonierte ich sehr oft mit meiner Ex-Schwiegermama in Westberlin, die das ganze Geschehen aber eher zurückhaltend beurteilte und meinte, sie hätte da keine große Hoffnung.

Erst als Erich Honecker am 17. Oktober gestürzt wurde und zunächst Egon Krenz das Ruder übernahm, änderte sich ihre Meinung. Sie sagte einmal, wenn die Grenze wirklich geöffnet wird, muss ich vorher noch viel einkaufen, denn dann werden die Läden bald überfüllt und die Regale werden in Nullkommanix leer sein. Wie recht sie hatte, sollte sich dann bald zeigen.

Am 9. November war ich abends mit einer Gruppe bis 21 Uhr in meiner Praxis und schaltete dann zuhause den Fernseher an. Ich hörte Hanns Joachim Friedrichs, der an diesem Abend die Tagesthemen moderierte: „Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten; sie nutzen sich leicht ab. Aber heute Abend darf man einen riskieren: dieser neunte November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen.“

 Ich nehme an, mein Mund stand offen, so geplättet war ich und dann sah ich nur noch die Bilder: Massen von Autos und Menschen, die mit strahlenden Augen von Ost nach West drängten. Auf dem Kudamm ein großer Volksauflauf mit hupendem Autokorso und wildfremden Menschen, die sich in den Armen lagen. Ich konnte gar nicht genug davon sehen, war völlig aufgewühlt und aus dem Häuschen und heulte dabei vor Rührung wie ein Schlosshund. 

Gerne hätte ich meine Begeisterung mit jemand geteilt. Ein guter Freund wohnte in Köln und ich wusste, dass er als Arzt an diesem Tag nächtlichen Bereitschaftsdienst hatte. Also rief ich ihn an. Er meldete sich verzögert, aber mit klarer Stimme. Meine Stimme überschlug sich förmlich: „Ist das nicht irre, mein Gott, ich krieg mich gar nicht mehr ein …“ – „Äh, wie, was ist denn los?“ – „Guckst Du denn nicht, die Mauer ist auf, ist das nicht toll?“ – „Wie die Mauer ist auf?“ – „Mensch, die Berliner Mauer, die Grenze von West nach Ost und umgekehrt, wieso guckst Du denn nicht, Du hast doch Nachtdienst!“ – „Ich hatte mich gerade etwas hingelegt und bin wohl eingeschlafen, ich guck dann vielleicht mal!“ – Ich war fassungslos. Mein „Na denn tschüss!“, war sicher nicht mehr sehr freundlich, ich konnte dieses Desinteresse in diesem Moment überhaupt nicht verstehen. Aber ich sah es später ein, ein Kölner Urgestein, nie in Berlin gewesen … was kratzte den die DDR oder die Mauer? 

Nun saß ich mit meinem Glücksgefühl allein auf der heimischen Couch und guckte verheult und verquollen die halbe Nacht alles noch mal und immer wieder … 

Ende Mai bis Anfang Juni 92 war ich endlich mal wieder in Berlin, wenn auch nicht aus einem fröhlichen Anlass. Meine geliebte Ex-Schwiegermama war verstorben und die Beerdigung stand an. Trotz des traurigen Anlasses hatte ich mir für zwei Tage später Karten für die Komische Oper im ehemaligen Ostberlin reservieren lassen. Das Taxi stand um 19 Uhr vorm Hotel. Ich stieg hinten ein, da auf dem Vordersitz eine Aktentasche liegt. Ein älterer Herr drehte sich zu mir um, ich nannte mein Ziel. Er strahlte mich an: „Wenn Sie wollen, können wir durch das Brandenburger Tor fahren, das ist ab heute für Linien-, Reisebusse, Taxis und Radfahrer geöffnet  …“, fast bittend schaute er mich an, „wollen Sie?“

„Aber ja, das ist ja ein Traum! Ich bin wissentlich noch nie durch das Brandenburger Tor gefahren oder gegangen, bin ja mit 6 Jahren aus Berlin raus, und als ich wieder hier war, war die Grenze dicht, das ist ja Wahnsinn!“

Er fuhr los. Allein die Annäherung an dieses stattliche Monument, ließ schon die ersten Schauer über meinen Rücken laufen. Ich kann gar nicht konkret beschreiben, was das für ein Gefühl war beim Durchfahren. Ich glaube, ich habe sogar die Luft angehalten und plötzlich hatte ich Tränen in den Augen. Ich schaute schnell von hinten in den Rückspiegel in der Hoffnung, dass mein Taxifahrer das nicht gesehen hatte – aber da stellte ich fest, dass auch er Tränen in den Augen hatte.

Unsere Blicke trafen sich und er drehte sich um; „Sollen wir noch mal?“ Ich nickte nur, sprechen konnte ich grad nicht. Er stellte den Taximeter aus, drehte eine Kurve (man konnte zu diesem Zeitpunkt nur von West nach Ost das Tor passieren) rund um das Tor und noch einmal fuhren wir hindurch – es war kaum zu beschreiben, ein solch denkwürdiges, befreiendes, befreites Gefühl. Ich kann es gar nicht so ausdrücken, denn meine, unsere Gefühle spielten einfach Achterbahn.

Er lieferte mich dann an der „Komischen Oper“ ab. Als ich meinen Geldbeutel zog, schüttelte er den Kopf: „Nein, ich will kein Geld – es war einfach zu schön, mit Ihnen gemeinsam diese Fahrt zu machen. Wenn Sie wollen, gebe ich Ihnen gerne meine Karte für die Rückfahrt!“

Ach ja, ich hatte Karten für Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ – nur dieses Mal als Opernaufführung von Benjamin Britten. Es passte – aber sowas von …

***

Die Mauer ... und ihr Fall

 

 

 

Die Mauer … und ihr Fall 

Bevor eine Mauer fällt, muss sie erst einmal gebaut werden, und das geschah am 13.August 1961 mit einer Mauer, die den Ostteil von Berlin mit dem Westteil trennte.

Für mich hat dieser Tag noch eine andere besondere Bedeutung. Ich habe an diesem Tag meinen Sohn in der BRD zur Welt gebracht und der Bau der Mauer war für mich an dem Tag zweitrangig.

Ich hatte das große Glück, so nenn ich es ganz einfach, jenseits der Mauer in der BRD beheimatet zu sein. Verwandte hatte ich auch nicht in der DDR. Trotzdem bewegte mich das Schicksal der Menschen dort, die von ihren Verwandten und Freunden von nun an durch eine Mauer getrennt waren.

Mehr als 28 Jahre war die Berliner Mauer um Westberlin eine Grenzanlage, die alle drei Westsektoren Berlins umschloss. Sie ergänzte die 1378 Kilometer lange innerdeutsche Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik. Sie sollte die Flucht der Einwohner, die dort als „ ungesetzlicher Grenzübertritt „ unter Strafe stand, verhindern. Der Westteil der Stadt war nun eine von Mauern umgebene westliche Insel.

Für die Grenzbeamten galt in Fällen des „ungesetzlichen Grenzübertritts" der Schießbefehl.

Trotzdem versuchten immer wieder Menschen, die Mauer in Richtung Westteil zu überwinden. Dabei wurden zwischen 136 und 245 Menschen getötet. Die genaue Zahl ist nicht bekannt. Aber jeder Tote ist ein Toter zu viel.

All das verfolgte ich in den nächsten Jahren übers Fernsehen und anderen Medien.

Wenn in den folgenden Jahren die Frage auftauchte, wie lange die Berliner Mauer denn nun schon stehe, konnte ich diese Frage präzise beantworten, denn sie war auf den Tag genau so alt wie mein Sohn.

Im Frühjahr 1980 besuchten mein Mann und ich für ein paar Tage Berlin. Es sollte ein kultureller Besuch werden, doch unser Aufenthalt entwickelte sich ganz anders. Wir wohnten in einem Hotel im 13. Stock im Westteil der Stadt am Potsdamer Platz und schauten vom Fester aus direkt auf die Mauer. Es war ein beklemmendes Gefühl. Die Mauer übte eine magische Anziehungskraft auf uns aus, und wir liefen stundenlang an der Mauer entlang und konnten nicht begreifen, dass es so etwas gibt, dass z.B. an der Bernauer Straße die Mauer direkt durch die Wohnhäuser ging. Es ist ein Unterschied, ob man so etwas am Fernseher verfolgt oder selbst davor steht.

An einem Tag beschlossen wir auch den Ostteil aufzusuchen. Wir fuhren mit der S-Bahn bis zum Grenzübergang Friedrichstraße. Dort wurden wir von den Grenzbeamten einzeln abgefertigt. Ich durfte zuerst rüber. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss und ich stand alleine auf der anderen Seite. Mein Mann befand sich noch auf der Westseite. Es hätte nicht viel gefehlt und ich wäre in Panik geraten. Die Angst, dass sie meinen Mann vielleicht nicht rüber lassen, schnitt mir fast die Kehle zu. Als die Tür sich endlich öffnete und mein Mann wieder bei mir war, atmete ich erleichtert auf.

Unser Weg führte uns zunächst zum Alexanderplatz und dem Roten Rathaus. Dort entdeckten wir ein Fischrestaurant, Wir hatten Hunger und beschlossen eine Pause dort einzulegen, um etwas zu essen.

Obwohl das Restaurant vollkommen leer war, wurde uns vom Ober ein Tisch zugeteilt. Das waren wir nun mal gar nicht gewohnt und löste bei uns ein wenig Befremden aus. Aber wir nahmen Platz. Kurz darauf wurden einem jungen Paar aus der DDR ebenfalls an unserem Tisch die Plätze zugewiesen. Die jungen Leute sahen uns wohl sofort an, dass wir aus der BRD waren und wollten wohl ein wenig vor uns aufschneiden.

Und nun ereignete sich für uns eine Schmunzelgeschichte. Die Beiden bestellten beim Ober „Heilbutt“. Der Ober ein Urberliner schüttelte den Kopf und sagte : „Heilbutt? Den haben wir nicht, der geht hier nicht, den hat hier in den letzten 20 Jahren keiner bestellt.“ Er zwinkerte uns dabei ein Auge zu. Wir hatten Schwierigkeiten unsere Heiterkeit zu verbergen.

Das war das netteste Erlebnis, das wir in Ostberlin hatten, alles andere war für uns deprimierend.

Am Abend des 9. November 1989 wurde die Berliner Mauer am 9. November 1989 unter dem wachsendem Druck der mehr Freiheit fordernden Bevölkerung geöffnet. Mein Mann und ich befanden uns zu der Zeit in Rom und erfuhren davon abends im Hotel in den Fernsehnachrichten der ARD. Zuerst ungläubig, aber dann ergriff eine große Freude von uns Besitz. Mit Tränen der Freude in den Augen verfolgten wir das Geschehen weiter am Fernseher. 

So schnell konnte ich das Geschehen gar nicht verarbeiten. Spontan dachte ich daran, dass nun die Menschen in der DDR, jetzt wo die Grenze offen war, so wie ich alle Länder in Westeuropa bereisen konnten, z.B. auch Rom, die Stadt in der wir uns gerade aufhielten. Und wir konnten umgekehrt endlich die Länder Thüringen, Sachsen, Sachsen/Anhalt, Mecklenburg-.Vorpommern und Brandenburg ohne Schwierigkeiten besuchen. Wie lange wünschte ich mir schon, einmal den Rennsteig zu wandern, der quer durch die DDR ging. Das war nun alles möglich. Und wir haben es 2011 auch möglich gemacht.

Zugegeben, es war nicht spektakulär, wie ich den Mauerfall erlebte. Es gibt sicherlich viele, die es dramatischer erlebt haben, ganz besonders die Leute in der ehemaligen DDR, die deshalb auf die Straße gegangen sind und protestiert haben oder die vielen politischen Gefangenen, die mit dem Regime nicht einverstanden waren, unter unmenschlichen Bedingungen in den Gefängnissen saßen und nun in die Freiheit entlassen wurden. Welche Gefühle müssen die empfunden haben.

Aber die Freude über den Fall der Mauer, die vereinte uns alle. Und auch, wenn bei vielen in den Köpfen noch die Mauer besteht und sie mit vielen Dingen nun als Bundesrepublikbürger nicht einverstanden sind, sollten nicht vergessen, dass sie nun laut protestieren können, ohne dass ihnen Pressalien drohen, und das ist nur in einer Demokratie möglich. Parteien können abgewählt werden und unter den zur Zeit 34 Parteien, kann jeder die Partei wählen, von der er meint, dass sie seine Interessen richtig vertreten wird. Ob sie es dann schafft in den Bundestag gewählt zu werden, liegt an den Wählern. Und ob es dann besser wird?  Wer weiß das denn schon vorher? Aber die schlechteste Demokratie ist immer noch besser, als die beste Diktatur.

***

Besuche

 

 

Besuche

Auf das Klingeln hin war ich an die Tür gegangen und hatte sie geöffnet. Ein Mann und eine Frau standen vor mir. Er war ungefähr ein Meter achtzig groß, kräftig, hatte dünnes Haar und ein eindringliches Lächeln auf dem Gesicht. „Ich bin Lothar“, sagte er, streckte die rechte Hand aus, die ich ergriff und etwas fassungslos schüttelte. Er zeigte auf die Person neben sich, die mich strahlend anlächelte. Sie war mittelgroß, hatte braunes, schulterlanges Haar. „Das ist Gaby. Karin kennt sie ja.“

Das stimmte. Meine Partnerin kam von hinten aus der Wohnung an die Tür und mit einem Aufschrei warf sie sich der mir Fremden in die Arme.

Da kapierte ich. Gaby und Lothar. Die aus dem Osten.

Karin löste sich aus den Armen der Frau, gab deren Mann die Hand und bat beide herein.

„Seitdem Donnerstag die Grenze offen ist, haben wir überlegt, ob wir herkommen sollen. Da heute Samstag und demnach Wochenende ist, fuhren wir einfach los. Ja und jetzt sind wir hier. Da staunt ihr, was?“ Lothar nahm einen Schluck von seinem Bier.

Ja, ich staunte. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Gaby war die Cousine meiner Frau, Lothar Gabys Ehemann. Ich kannte beide nicht. Meine Frau hatte ihre Verwandte im Alter von sechzehn Jahren das letzte Mal bei einem Besuch in der DDR gesehen. Danach hatten sie sich noch geschrieben, doch als Gaby ihren Lothar heiratete brach der Briefkontakt ab. Gabys Mann war Offizier bei der NVA, ihr waren dadurch Kontakte in den Westen verboten. Sie hatte aber gestern – tatsächlich es war erst gestern gewesen – bei uns angerufen und lange mit meiner Frau telefoniert.

Die Grenze war offen, es schienen also auch andere Vorschriften gefallen, beziehungsweise durchlässiger geworden zu sein. Gaby hatte nämlich mit Karin über einen eventuellen Besuch bei uns gesprochen, dass sie aber gleich einen Tag später hier aufschlagen würden, davon war beim Telefongespräch nichts vorgebracht worden. Jedenfalls war das zu diesem Zeitpunkt auch dem Ehepaar nicht klar gewesen. Sie waren heute einfach im Überschwang der Gefühle losgefahren.

Sie hatten die Bilder im Fernsehen gesehen, in denen lange Trecks von Trabbis über die Grenze fuhren, um sich den Goldenen Westen anzuschauen. Da hatte sie auch nichts mehr gehalten. Wer wollte es ihnen verdenken? Selbst meine Frau und ich waren gestern Nachmittag Richtung DDR-Grenze gefahren, um die Bürger der DDR zu grüßen. Es war ein Riesenereignis die ausgelassene Freude der Brüder und Schwestern aus dem Osten über ihre gewonnene Freiheit zu erleben. Auf den Straßen war ein nicht endenwollendes Hupen und Winken gewesen. Freude pur!

Wenn ich heute daran denke, läuft mir immer noch ein Kribbeln den Rücken herunter.

 Irgendwo fand meine Frau eine Flasche Sekt und wir prosteten uns zu. Gaby und sie tauschten Erinnerungen aus, Lothar und ich tasteten uns vorsichtig ab. Er war immerhin Offizier bei der NVA, somit für mich als ehemaligen Bundeswehrangehörigen also einer der „Feinde“ aus dem Osten. Für Lothar war es ähnlich, auch für ihn war ich der „Klassenfeind“.

Es stellte sich jedoch für uns beide heraus das der „Feind“ ganz passabel und nett war. Die Rede kam natürlich auch auf unser Leben in den unterschiedlichen deutschen Staaten. War mit Sicherheit für alle Beteiligten interessant. Ich jedenfalls fand es sehr spannend, den Berichten zuzuhören.

Nachmittags fuhren wir in meine Heimatstadt Marburg. Die neu gewonnenen Verwandten wollten ja auch ein bisschen was anderes sehen, als die vier Wände unseres Zuhauses.

Ich kann mich nur erinnern, dass beide mit großen Augen im ersten Kaufhaus um sich blickten. Sie wussten kaum, was sie sagen sollten, so beeindruckt waren sie von der Fülle des Angebots und wie es dargeboten wurde. Mein Hinweis, dass das ja nur die eine Seite einer Medaille war, konnten sie nicht aufnehmen. Was ich aber verstand.

Wir kehrten noch in einem Restaurant ein, Gaby und Lothar blieben über Nacht und fuhren am nächsten Tag nach Hause. Und sie hatten uns eingeladen, sie in Dessau zu besuchen. Was wir einen Monat später auch taten. 

Nun lag es an uns, zu staunen. Das erste Mal in der DDR gingen mir schon nach dem Grenzübertritt im Bezirk Suhl die Augen auf. Ich hatte das Gefühl aus einem Farbfilm in einen Schwarz-Weiß-Film zu geraten. Hier war ja alles grau in grau. Die Häuser, die ich sah, hatten eine schmutzig graue Fassade. Der Rauch, der aus den Schornsteinen stieg, sah ebenso aus. Dunkel meinte ich mich an meine Kindheit erinnern zu können, in der es bei uns im Ort ähnlich aussah.

Die Fahrt über die Autobahn nach Dessau war ein Holpern und Stolpern, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich war froh, als wir die Stadt erreichten. Gaby und Lothar lebten hier in einer kleinen Wohnung in einem Plattenbau. Als Kind hatte ich mit meinen Eltern auch eine gleichartige Mietwohnung bewohnt. Für mich also nichts Neues, ich fand den Wohnraum absolut in Ordnung. Lothar teilte mir aber mit, dass nicht alle Wohnungen so wären, er sei als Angehöriger der NVA privilegiert und hätte deshalb eine so gute Wohnung erhalten.

Nachmittags fuhren wir in die Umgebung von Dessau. Als wir in einer Gaststätte einkehren wollten, ging Lothar vor, um sich zu erkundigen, ob noch Plätze frei wären und wir etwas verzehren könnten. Wurde uns gewährt. Auf meine Frage, was das denn jetzt gewesen sei, meinte Lothar das sei so üblich. Der Wirt hätte eventuell keine Vorräte mehr haben können und uns somit nicht bedient. So gesehen war das logisch.

Ich bestellte das mir unbekannte Würzfleisch und musste feststellen, dass es mit dem mir bekannten Ragout fin identisch war. Das Essen war lecker und ich ließ es mir munden.

Am nächsten Tag lernten wir Lothars Eltern kennen, die in der Nähe von Dessau wohnten. Hier ging es etwas ländlicher zu und sie zeigten uns stolz ihren kleinen Garten. Der sei eine wahre Goldgrube, weil er einen unabhängiger von der Versorgung mit den Waren vom Konsum mache. Auf meine diesbezügliche Frage bekam ich die Auskunft, dass es manchmal mit bestimmten Warengruppen schwierig sei und sie zeitweise nicht zu bekommen wären. Lothar berichtete mir, dass es zu letztem Silvester kein Bier im Konsum gegeben hätte, dafür aber Unmengen an Toilettenpapier. Für Karin und mich eine unvorstellbare Sache, da wir im Überfluss aufgewachsen waren.

Wir besuchten noch den in der Nähe Dessaus gelegenen Wörlitzer Park, der mir sehr gut gefiel, war er doch wunderschön angelegt. Was mich jedoch ziemlich schockte, war die Tatsache, dass man die dort sehenswerten Gebäude nicht besichtigen konnte, da die Einsturzgefahr zu groß war.

Das war unser erster Besuch in der DDR. Es sollten noch andere folgen.

Wieder zu Hause angekommen hatten meine Frau und ich natürlich reichlich Gesprächsstoff, waren wir doch aus einer anderen Welt in unsere zurückgekehrt. Wir besuchten Gaby und Lothar noch oft, auch sie waren wieder bei uns zu Besuch. Es kam dann ja die „Wiedervereinigung“, die unsere beiden Freunde auch herbeigesehnt hatten. Doch so einfach, wie sie sich das vorgestellt hatten, ging die Vereinigung nicht vonstatten. Lothar verlor mit der Auflösung der NVA seinen Posten und wurde nicht wie erhofft in die Bundeswehr übernommen. Seine Hoffnung auf ein neues Leben in einem geeinten Deutschland begann also mit Arbeitslosigkeit. Gaby hatte mehr Glück. Sie war als Zivilangestellte bei der NVA tätig gewesen und wurde von der Bundeswehrverwaltung übernommen. So hatte immerhin ein Familienmitglied Arbeit.

Aber irgendwann ging es auch mit Lothar wieder aufwärts. Er fand wieder Arbeit. Das letzte Mal, als ich von ihnen hörte, ging es ihnen sehr gut. Sagten sie.

Nicht jeder ehemalige DDR-Bürger wird das von sich behaupten können.

***

Freiheit, mehr als nur ein Wort

 

 

 

Freiheit, mehr als nur ein Wort

Jung und voller Idealismus waren wir alle. Und doch, "No Future" stand an jeder Wand. Der Kalte Krieg hatte seinen Höhepunkt erreicht, wir alle waren voller Angst. Wann würde es uns treffen, wann würde er kommen, der große Knall, der Supergau, die Atomare Vernichtung.

 Overkill!

Stunden verbrachten wir, meine Freunde und ich, mit Diskussionen. Wir wollten die Welt ändern, hin zu einem Frieden, der für alle galt. Weg von der Angst vor dem scheinbar unvermeidlichem Atomschlag. Viele von uns hielten nur den Kommunismus für den einzigen Ausweg aus dieser Misere. Trotzdem, konnte man Gorbatschow glauben, konnte man ihm und all den anderen Politikern trauen, wenn sie von Abrüstung sprachen?

Alle hatten wir Angst, waren jung und wussten nicht, ob wir je alt werden würden. 

Und was war das, was "Drüben" geschah? In der DDR. Die Mutigen marschierten auf der Straße, skandierten "Wir sind das Volk!" und "Die Mauer muss weg!". Viele waren über Ungarn geflüchtet oder hatten sich in die Westdeutsche Botschaft gerettet. Auch sie kamen frei.

Wir diskutierten darüber, aber glauben wollte es keiner. Nein, die DDR, die kurz vor ihrem vierzigsten Jahrestag stand, würde sich nicht so einfach auflösen. Das Zentralkomitee, die Führungsspitze der DDR, war blind vor dem, was dort in ihrem Land auf den Straßen geschah, stellte sich taub für die Forderungen "Ihres" Volkes.

Nein, ganz sicher, diese Regierung würde nicht nachgeben, würde sich nicht erpressen lassen. Kommandos würden erschallen, es würde zurückgeschlagen werden.

Würden wieder Panzer rollen? 

Nichts entging uns von dem, was seit Wochen durch die Medien verbreitet wurde. Niemand lässt sich ewig einsperren. Niemand kann der Freiheit auf Dauer widerstehen. 

Und doch, den „neunten November, neunzehnhundert neunundachtzig“ habe ich verpasst. Hatte nichts mitbekommen, von dem, was am Abend geschehen war. 

Der Morgen des zehnten November. Für mich ein ganz normaler Arbeitstag.

Schlaftrunken stolperte ich wie jeden Morgen um fünf Uhr aus dem Bett. Irgendwann, noch immer nicht wirklich wach, kam ich ins Wohnzimmer, schaltete das Radio ein, auch das wie jeden Morgen. Die Wohnung war an jedem morgen still, zu still. Musik sollte mich berieseln, sollte mir das Gefühl geben, nicht so ganz allein zu sein.

Doch aus den Lautsprechern erklang keine Musik, nur Stimmen ertönten. Irgendetwas musste passiert sein. Auch als schon wenige Minuten vergangen waren, folgte noch immer keine Musik. Ich war genervt. Ein Morgenmuffel wie ich einer war, hatte keine Lust sich voll quatschen zu lassen, nicht schon am frühen Morgen.

Ich hörte nicht wirklich zu, was dort im Radio erzählt wurde. Goss mir die erste Tasse heißen Kaffees ein, ohne den kein Tag beginnen konnte. Zündete mir die erste Zigarette des Tages an, auch das, ein gewohntes Ritual.

Nur langsam kam ich zu mir, wurde mein Kopf klar und der letzte Schlaf vertrieben. Dann erst wurden die Stimmen, die immer noch aus dem Radio klangen, in meinem Kopf zu Wörtern. Schlagartig begriff ich, was geschehen war. 

Die Mauer war auf!

Kein Blut wurde vergossen, keine Panzer rollten. Weil ein Präsident bewies, auch unter dem Fell des Russischen Bären, schlug ein Herz. Ein Volk war aufgestanden, sich die Freiheit zu erobern! 

Ein seltsames Glücksgefühl durchströmte mich. Mehr als nur Steine, waren aus dem Weg geräumt worden. Ein Wunder, von Menschenhand gemacht. Ein Traum, durch den Mut einfacher Leute zur Wirklichkeit geworden.

Niemand kann der Freiheit widerstehen. 

Die Tage, die Wochen darauf befanden wir uns alle in einem Taumel der uns einfach mitriss.

 Die Grenze zur im Sterben liegenden DDR war noch gute einhundert Kilometer entfernt und doch rollten sie auch bei uns, diese kleinen, qualmenden Plastikbomber, die zum Symbol der Freiheit wurden. Trabbis.

Wir feierten ohne Unterlass, schlossen Freundschaften, die vor wenigen Tagen noch undenkbar waren. Wildfremde Menschen, kurz zuvor noch Welten voneinander getrennt, fielen sich jetzt weinend in die Arme. Die Bilder im Fernsehen berührten die Seele.

Ich wusste, nicht nur bei uns, auf der ganzen Welt, auf jedem Kontinent, in jedem Land der Erde konnte man diese Bilder sehen. Deutsche, die nicht marschierten, Unglück über die Welt zu bringen, sondern es geschafft hatten, bewaffnet nur mit ihrem Willen und der Sehnsucht nach Freiheit, einen Staat zu besiegen.

Die Welt sah uns zu und niemals davor, niemals danach, war ich so stolz darauf Deutscher zu sein. Nichts hatte ich dazu beigetragen, dass diese Grenze, die unser Land Jahrzehnte teilte, niedergerissen wurde und doch war ich stolz, dazu zu gehören,  zu dem glücklichsten Volk der Welt. 

Der Kalte Krieg war beendet, mit ihm die Angst vor der Vernichtung. Armeen zogen ab. Ein Traum begann Wirklichkeit zu werden. 

Viele Jahre ist das nun alles schon her. Was ist daraus geworden? Die (Un)Treuhand begann den Ausverkauf der DDR. Aus einst liebevoll genannten Ossis und Wessis wurden arrogante Besserwessis und faule Ossis. Die Freiheit erstickte im Plattenbau, einsam zwischen Uringestank und dem Geruch fahlen Biers.

Die Mauer wurde abgerissen, die Steine gesäubert, vom altem Putz gereinigt um sie neu aufzubauen, in unseren Köpfen. Einst sollte zusammenwachsen, was zusammen gehörte. Doch oft habe ich das Gefühl, nie waren wir uns so fremd wie heute. 

Wir alle hatten einen Traum, der Ruf nach der Erfüllung erstarb, als er begann Geld zu kosten. 

Und doch, wenn ich heute, nach all den Jahren, wieder Bilder sehe, von den Menschen die sich glücklich und weinend in den Armen lagen, sehe ich wie die Mauer Stück für Stück und mit bloßen Händen abgetragen wurde. Sehe, wie alle, egal ob Ossi oder Wessi, gemeinsam rufen "Wir sind das Volk!", dann berührt es mich noch immer, dieses von Menschenhand gemachte Wunder. 

Wir alle hatten einen Traum, ihn zu verwirklichen war ein Versprechen, das einzulösen wir nicht in der Lage waren. Bis heute nicht.

***

Öffnung nach 28 Jahren

 

 

Öffnung nach 28 Jahren 

Nachdem Deutschland 1945 kapituliert hatte, gab es vorerst ja vier Besatzungszonen. Im Jahre 1949 wurden zwei deutsche Staaten gegründet, die Deutsche Demokratische Republik (DDR) und die Bundesrepublik Deutschland (BRD). Für die DDR wurde die offene Grenze nach West-Berlin zunehmend untragbarer, um wachsenden Flüchtlingsströme und zunehmende wirtschaftliche Probleme abzuwenden, riegelte die DDR-Regierung am 13. August 1961 den freien Zugang nach West-Berlin ab.

Dies geschah alles vor meiner Geburt im Jahre 1962, so wuchs ich in der Bundesrepublik Deutschland mit Bonn als Hauptstadt auf. Während meiner Kindheit wurde ich selbstverständlich mit der Staatsform der Bundesrepublik vertraut. Erst als wir diese Themen im Geschichtsunterricht behandelten, damals war ich ungefähr 14 Jahre, begann ich mich dafür intensiv zu interessieren.

So stellte ich erste Fragen, da ja meine Oma mit ihren Kindern aus Erfurt stammte. „Wann und weshalb, habt ihr euch denn entschlossen, die DDR zu verlassen“, fragte ich. Meine Oma druckste nur herum, eine anständige Antwort erhielt ich nicht, nur das sie sich bereits in den Fünfzigern rüber gemacht haben. Ich fragte schließlich meinen Vater, ob in der DDR noch Verwandte von uns wohnten.

Er erzählte mir, dass mein Großvater Hans Friedrich dort noch lebte. Als ich etwa fünf Jahre alt gewesen war, wären wir mal dort gewesen, um ihn zu besuchen. Die einzige Erinnerung, die daran besitze, ist, dass er einen Garten hatte, indem genau in der Mitte ein Weg war, rechts und links davon Gemüse herangezogen wurde. Ganz am Ende gab es einen gemauerten Brunnen. Mein Vater fing an zu lachen und meinte, „Da hast du mich gefragt, ob es in diesem Brunnen auch ein Froschkönig lebt.“ So begann ich alles über diese Zeit zu lesen, egal ob es Geschichtliches oder irgendwelche Romane waren. Total begeistert war ich dann auch von „Alles in Butter“ von Dieter Zimmer.  

Meine Eltern hatten gebaut, und 1971 siedelten wir nach Erftstadt südwestlich von Köln um, eine Stadt mit vielen Wasserburgen, den Schlössern „Schloss Gracht und „Schloss Gymnich“ sowie einigen Seen.  Die Bundesregierung mietete das Schloss Gymnich von 1971 bis 1990 an und beherbergte dort insgesamt 262 Staatsgäste, und engte meine und insbesondere die der Gymnicher Bewohner in ihrer Bewegungsfreiheit ein. Straßen wurden hermetisch abgesperrt, aber von Weitem konnten wir erahnen, je größer der Zug des Konvois war, um so höher lag der jeweilige Besuch im Kurs.

Nachdem ich  meine Ausbildung  beendet hatte, verließ ich mein Elternhaus und zog nach Brühl. Dort hatte ich mir in einem Apartment meine kleine Welt geschaffen, um meine Freiheit zu genießen. Dort verfolgte ich selbstverständlich die politischen Veränderungen wie das Ende der sozialliberalen Ära. Helmut Schmidt, der durch die Massenproteste gegen seine Nachrüstungsinitiative (Pershings II Raketen) seinen Abschied nehmen musste. Bei den Massenprotesten vereinigten sich kirchliche Kreise, Prominente wie von Weizsäcker, Böll, Grass, Beuys mit Politiker wie Eppler (SPD) und den Grünen zusammen.

Es kam immer wieder zu Blockaden bei den Atomwaffenlagern, Munitionsdepots usw. Es entstanden die Ostermärsche und andere Massendemonstrationen. Dabei wurde mir bewusst, wie brutal auch unsere Ordnungskräfte gegen die Demonstranten vorgingen. Nach dem Kanzlerwechsel zu Helmut Kohl Kanzler setzte er die gleiche Außen-und Deutschlandpolitik wie sein Vorgänger fort.

Als 1986 Michail Gorbatschow seine historische Rede, seine Reformkonzepte zu Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) beim 70. Jahrestag anlässlich der Oktoberevolution hielt, begann der langsame Zusammenbruch der Sowjetunion. Total begeistert saß ich vorm Fernseher und verfolgte das Geschehen. Mit Freunden und der Familie diskutierten wir oder fragten uns, meint der es ehrlich?

Genauso gespannt verfolgte ich, als erstmals in der Geschichte beider Staaten Erich Honecker 1987 die Bundesrepublik besuchte und das im Anschluss zahlreiche politische Häftlinge aus den DDR - Gefängnissen freigelassen wurden. Sogar der Schießbefehl wurde zeitweise an den Grenzen zur Bundesrepublik ausgesetzt. Der deutsch - deutsche Reiseverkehr wuchs deutlich an und etliche Städtepartnerschaften sind zustande gekommen, was mich persönlich sehr freute, da sehr viele Familien auseinandergerissen in zwei Staaten mit der bewachten und verminten Grenze lebten.

Durch die Umgestaltung der Sowjetunion und des ganzen Ostblocks wurden die DDR-Bürger glücklicherweise mutiger und die Zahl der Reiseanträge schnellten in die Höhe, dieses konnte man aber nur zwischen den Zeilen aus den Berichten entnehmen.

Als dann Michail Gorbatschow im Juli 1989 vor dem Europarat eine Rede hielt, leitete er damit das Ende des kalten Krieges ein. Er schloss seine Ansprache mit den Worten: "Die Europäer können die Herausforderung des kommenden Jahrhunderts nur unter Vereinigung  ihrer Anstrengungen gerecht werden.(….) Sie brauchen ein Europa. Ein friedliches und demokratisches, das all seine Mannigfaltigkeit erhält und sich an allgemeine humanistische Ideale hält, aufgeblüht und der ganzen restlichen Welt die Hand reicht. Ein Europa, das sicher in den morgigen Tag schreitet. In einem solchen Europa sehen wir unser Zukunft.“

Diese Worte gaben mir Hoffnung, vielleicht gibt es ein Europa ohne irgendwelche Raketen und wir waren bis jetzt ja irgendwie ein Pufferland!

Kurz darauf kam es im Schloss Gymnich am 25. August 1989 zu einem Geheimtreffen der ungarischen und deutschen Staatschefs, welches die Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze in der Nacht vom 10. auf den 11. September 1989 für die Botschaftsflüchtlinge aus Ungarn zur Folge hatte. Diese Bilder und Berichte verfolgte ich sehr gespannt im Fernsehen und ich freute mich unheimlich für diese Menschen. 

Die friedlichen Montagsmärsche und Lichterketten in den Kirchen und ihren Umgebungen wurden laufend gesendet. Ich war beeindruckt, dass sie in der DDR solche Aktionen durchführen konnten, ohne inhaftiert zu werden, da mir ja von klein auf eingetrichtert wurde, dass jegliche freie Meinungsäußerung oder Taten doch sofort mit jahrelanger Inhaftierung bestraft wurde.

Beim letzten Jahrestag der DDR wurden sogar Stimmen im Hintergrund laut, die Gorbi, Gorbi riefen, als Erich Honecker seine Rede hielt. So als wollten sie schreien „Hilf uns“. All dies bekam ich durch die Medien mit. Kurz darauf wurde Honecker durch Krenz ersetzt, doch die Massenproteste gingen weiter und schließlich kapitulierte die DDR - Führung und verkündete die Öffnung der Berliner Mauer am 09.11.1989.

Die Medien berichteten ausführlich über die vor Glück strahlenden Menschen, wie sie sich in die Arme fielen, überglücklich im Westen zu sein und mir liefen vor Freude die Tränen über die Wangen.  

Vielleicht haben wir das Glück, wirklich einmal in einem Europa zu leben, so wie es Michail Gorbatschow bereits in seiner Rede aussprach.

***

Das Brandenburger Tor

 

 

 

Das Brandenburger Tor 

oder  

Der 09. November 1989 in meiner Erinnerung 

Donnerstag, der 09. November 1989, alles war wie jeden Donnerstag. Die Kinder waren brav ins Bett gegangen, schließlich hatten sie am nächsten Tag Schule, mein Mann war noch zur Spätschicht, donnerstags dauerte die meist noch etwas länger als sonst. Ich räumte etwas auf, danach gönnte ich mir ein ausgiebiges Entspannungsbad. Anschließend wollte ich mir den Spätfilm im Abendprogramm ansehen, doch vorher noch kurz die Tagesthemen anschauen.

Ich schaltete den Fernseher ein und traute meinen Augen nicht. Was waren denn das für Bilder? Was lief denn da für ein Film? Wer hatte denn da an der Mauer so etwas drehen dürfen? Wieso waren da nicht die Tagesthemen?

Da erst nahm ich die Stimme des Reporters wahr und konnte es immer noch nicht glauben. Hatte er wirklich gesagt, die Mauer ist geöffnet? Nein, das kann doch nicht sein? Aber ja, es schien wohl doch wirklich zu stimmen! Dort liefen massenweise Menschen von Ost nach West, Autos standen hupend an den Übergängen und überall sah man strahlende Gesichter und wildfremde Leute fielen sich jubelnd in die Arme. Es saßen Menschen auf DER MAUER, der Mauer, die ein Synonym für Trennung, für Kälte und für Willkür geworden war.

Mir lief ein Schauer nach dem anderen über den Rücken, meine Augen tränten, ohne dass es mit bewusst war. Ungläubig verfolgte ich das Geschehen. Ich war wie hypnotisiert, unfähig woanders hinzuschauen. Diese Freude der Menschen war so unbeschreiblich, das Ganze so unfassbar und unerwartet  -  jedenfalls für uns Normalos  -  dass man sich wie im Traum vorkam.

Eigentlich hatte ich gar keine Beziehung zur DDR und auch keine Verwandten im Osten. Doch ich wusste, dass meine Vorfahren aus dem Osten gekommen waren und meine Mutter immer davon geträumt hatte, noch einmal das Land ihrer Eltern sehen zu können. Leider konnte ich sie nicht anrufen, denn sicher lag sie schon im Bett und würde schreckliche Angst bekommen, wenn nun ihr Telefon gehen würde. Das musste ich auf den nächsten Tag verschieben. Fassungslos, aber voller Freude und voller unbeschreiblicher Emotionen saß ich vor dem Fernsehgerät und konnte meinen Blick nicht davon lassen. Alle Programme waren unterbrochen und auf sämtlichen Kanälen sah man nur freudetrunkene Menschen, die sangen, die sich umarmten.

Da zeigten sie auch das Brandenburger Tor und in diesem Augenblick wurde es für mich Wahrheit. Ich würde Berlin endlich nach vielen Jahren mal wiedersehen können, denn ich war nur einmal dort gewesen, als Schülerin. Dieser Besuch hatte mir so gefallen, dass ich seitdem immer den Wunsch hatte, dort noch mal hinfahren zu können. Leider hatte mein Mann da eine andere Meinung gehabt, -  bisher! Er weigerte sich durch die „Ostzone“ zu fahren, er sagte immer: „Wenn ich mal nach Berlin fahre, dann muss die Mauer auf sein und ich muss durch das Brandenburger Tor gehen können und das wird sicher nie sein, also lass mich damit in Ruhe!“ Ich grinste, nun würde er also nichts mehr dagegen sagen können!

Als ich seinen Schlüssel in der Haustür hörte, lief ich ihm entgegen und konnte mir nicht verkneifen zu sagen: „ Wir können nach Berlin fahren, die Grenze ist los!“  Er grinste nur, die Neuigkeit hatte ihn schon am Arbeitsplatz erreicht gehabt und wir gingen schnell zum Fernseher, um uns weiter dieses unglaubliche Geschehen anschauen zu können. Wir saßen sehr lange davor in dieser Nacht, tranken sogar ein Gläschen Sekt und genossen es, Zeitzaunzeugen eines solch großartigen Moments sein zu dürfen, eines Moments, der wirklich unsere Welt veränderte.

Übrigens sind wir erst nach einigen Jahren nach Berlin gefahren, doch wir sind dann natürlich durch das Brandenburger Tor gelaufen. Es war ein feierlicher Augenblick für uns, den wir nie vergessen werden!

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Ein Bild geht um die Welt

 

 

Ein Bild geht um die Welt 

Der Tag der Deutschen Einheit: 9. November 1989 

Das Jahr 1989 gehörte insgesamt zu den bemerkenswertesten Jahren aus meiner Erinnerung. Viele persönlichen und familiären Ereignisse lösten sich ab. Aber der 80. Geburtstag meines Vaters, am 18.Oktober 1989, zeigte sich unter einem ganz besonderen Stern. Klar, 80 Jahre alt zu werden, ist schon ein herausragendes Ereignis, doch wenn hierzu sich noch ganz unerwarteter Besuch anmeldete, um dieses Großereignis mitzufeiern, dann bleibt dieser Tag in bester Erinnerung, doch alles der Reihe nach.

Die Feier fand im Haus meiner Schwester und Schwager in Bremen statt, dessen gesamter Familienclan einer alten Bremer Handelsfamilie, natürlich mit anwesend war. Ich erwähne diese Familienseite deshalb so genau, weil hier zwei sehr unterschiedliche Welten der besonderen Art aufeinander prallten.

Hoher Besuch aus der DDR sagte sich an, zum ersten Mal erhielt Jürgen K., mein Cousin, aus Schwerin, eine Reisegenehmigung nach West-Deutschland. Die Reisemöglichkeiten in den Westen wurden mittlerweile gelockert, meistens dann, wenn größere Familienangelegenheiten anstanden.

Ein weiterer Cousin aus Ost-Berlin, Peter R., erhielt ebenfalls eine Genehmigung, nach Bremen zu kommen, ein Umstand, der in dieser Art bisher noch nie dagewesen war.

Zur weiteren Erklärung der gegebenen Situation, möchte ich auf die etwas steife, sehr reservierte und vornehme Art der Bremer Handelsfamilie aufmerksam machen, zum Anderen auf die sehr leichte und lockere Art im Ausdruck meines Verwandten aus Schwerin hinweisen, dazu meine eigene Denkweise, bestimmte Dinge sehr drastisch zu erwähnen, die einem vornehmen Menschen nur ein leichtes Hüsteln abverlangte.

Man saß im großen Wohnzimmer, verteilt um den Wohnzimmertisch. Die feiernde Gesellschaft saß etwas steif, kein Durcheinanderreden, jeder durfte mal was sagen, kein lautes Lachen, öde. Aber es gab einen Lichtblick, das kalte Buffet. Man bediente sich, jeder sagte aus Gewohnheit "Guten Appetit". Jürgen und ich setzten uns zum Essen an den Esstisch, natürlich aus Gründen der Bequemlichkeit, weil wir dann näher am Buffet und den vielen leckeren Sachen waren.

Die anderen Gäste blieben artig in ihrer Runde, und aßen kleine Häppchen an ihrem angestammten Platz. Nun begann es. Immer, wenn jemand an das Buffet ging, um Nachschub zu holen, musste Der oder Die an unserem Tisch vorbei und „Guten Appetit“ sagen. Wir sagten artig „Danke“. Diese Floskeln nahmen überhand, und mit vollem Mund immer wieder “danke“ zu sagen, war auch recht unhygienisch. Also, immer wenn jemand sich unserem Tisch näherte, erfolgte von uns mit vollem Mund ein gedehntes mmmmmh …, um dem „Guten Appetit“ zuvor zu kommen. Irgendwann konnten wir vor Lachen nicht mehr essen. Von dieser Lacherei wurde mein Vater angesteckt und machte in dieser Runde mit. Es entstand ein gedehntes mmmmmmm ... zu dritt.

Der Cousin aus Ost-Berlin hielt sich mit allen Äußerungen sehr zurück. Seine ganzen Bemerkungen beschränkten sich auf Fragen über die Verwandtschaft, über deren Leben und Arbeit. Zu diesem Zeitpunkt machte sich noch keiner der Anwesenden darüber besondere Gedanken. Später fiel auf, dass in den persönlichen Unterlagen meiner Schwester jemand herumgekramt hatte, um noch mehr Informationen aus persönlichen Unterlagen zu erhalten. Er war Mitglied der Stasi und wurde gezielt auf die Westverwandtschaft angesetzt. Er reiste am nächsten Tag wieder ab.

Mein Cousin Jürgen hatte nur bis Bremen eine Fahr- und Aufenthaltserlaubnis. Für einen Tag und eine Nacht nahm ich ihn heimlich mit zu uns nach Hause. Eigentlich eine sehr gewagte Angelegenheit, die hoffentlich nicht außer Kontrolle geriet. Es durfte einfach nichts passieren, sonst bekam Jürgen mit den DDR-Behörden noch großen Ärger.

In Gummersbach schellte das Telefon, es meldete sich mein Cousin Peter R. vom Hauptbahnhof in Köln. War das Zufall? Man bemerke: DDR? Reisebeschränkungen etc.? Er sollte doch schon längst wieder in Ost-Berlin sein? Jetzt wollte er uns besuchen, doch ich musste ihn irgendwie abwimmeln. Mir schwante eine Menge auf uns einstürzende Schwierigkeiten. Wir konnten und durften Jürgen nicht noch mit weiteren Unannehmlichkeiten konfrontieren, denn als unser Gast waren wir für ihn verantwortlich. Dieses Telefonat gab uns reichlich Diskussionsstoff und bestätigte die Ahnungen über die mögliche Stasi-Zugehörigkeit und das Zusammenstellen einer familiären Ahnentafel. Wir beschlossen, mit allen Äußerungen und Angaben ihm und Fremden gegenüber sehr vorsichtig zu sein. Jürgen`s zeitlich begrenzter Westaufenthalt endete, ich fuhr ihn rechtzeitig zurück nach Bremen, damit er seine offizielle Rücktour nach Schwerin antreten konnte. 

Die politischen Ereignisse in der DDR überschlugen sich. Bis zu diesem Ereignis am 9. November hatte jeder Angst vor einem nahen Bürgerkrieg, mein Cousin war letztlich froh, rechtzeitig wieder bei seiner Familie zu sein. 

Eine sehr bedeutende politische Wende erfuhr die DDR. In der Nacht vom 9. auf den 10.November 1989 fiel die Berliner Mauer nach 28 Jahren ihrer Existenz. Ein Ereignis, was ganz Deutschland in seinen Grundfesten und Ersehntem positiv erschütterte. Die vielen friedlichen Protestmärsche in einigen Städten der DDR, die vielen Rufe nach Freiheit in allen Belangen und die ständigen, immer wiederholenden Bekundungen: Wir sind das Volk, wurden erhört. Eine neue Ära für Ost und West brach an. 

Mein Cousin aus Ost-Berlin hatte bis zum Schluss an seiner Stasi - Karriere gebastelt, viele Familienmitglieder denunziert, und kurz nach dem Fall der Mauer Selbstmord begangen.

***

Maueröffnung verpasst

 

 

 

Maueröffnung verpasst

Ich hatte am Abend des 9. November 1989 bis weit in die Nacht hinein an einer Lehrprobe gearbeitet, die ich am nächsten Tag halten sollte. Wie immer, wenn ich so intensiv geschrieben, gedacht und Unterricht entwickelt hatte, düsten mir die Gedanken auch nach dem Ausdrucken noch im Kopf herum. So machte ich den Fernseher an, um sie zu vertreiben und einzuschläfern. Es kam wohl ein Krimi auf Sat 1. Ich weiß es nicht mehr. Aber ich kann mich erinnern, dass ein Nachrichtenband am unteren Bildschirmrand entlanglief, in dem verkündet wurde, dass die Mauer geöffnet sei und abertausende Menschen in den Westen drängten.

Für mein erschöpftes Hirn passten diese Hinweise zu dem, was ich sah. Und ich regte mich tierisch darüber auf, dass man mit den Zuschauern ein solch böses Spiel trieb. Es war für mich unvorstellbar, dass die Nachricht wahr sein könnte.

 Ich bin im Westen Berlins aufgewachsen, meine erste bewusste Erinnerung betraf den legendären Kennedy-Besuch 1963. Dass sich an der Teilung Deutschlands etwas ändern könnte, lag außerhalb meiner Denkmöglichkeiten, trotz der Montagsdemonstrationen in der DDR und Gorbatschows Glasnost.

So machte ich die Röhre verärgert aus und ging schlafen. Morgens um sechs ging der Radiowecker an. Wie immer krabbelte mein knapp vierjähriger Sohn in mein Bett und wir kuschelten ein wenig. Die Nachrichten kamen im Radio. Aufmacher war natürlich der Mauerfall. Verwundert hörte ich zu. Aber so richtig begriffen habe ich die Worte des Nachrichtensprechers erst, als mein Sohn sie kommentierte:

„Was die Mauer ist offen? Jetzt besorgen wir uns einen Bagger und reißen sie ein. Dann kann ich endlich zu der Kirche gehen!“

Nun fiel auch bei mir der Groschen und ich musste erst einmal vor Rührung eine Runde heulen.

Die Kirche, die mein Sohn meinte, war die vom Ostberliner Stadtteil Rosenthal, die man vom Fenster der Wohnung seiner Großeltern hinter der Mauer sehen konnte. Immer wieder hatte er uns gefragt, warum wir sie nicht mal besuchen könnten. Wir hatten ihm offensichtlich erfolgreich erklärt, was es mit der Mauer auf sich hatte.

Die Lehrprobe fiel selbstredend aus, ebenso wie der gesamte Unterricht an diesem Tag. Die Schüler drängte es in den Osten, den etliche Kollegen schon in der Nacht besucht hatten. Das Kollegium feierte mit einigen Gläschen Sekt und jedermann glaubte nun fest daran, dass die Mauer ihr dreißigjähriges Bestehen nicht mehr erleben würde. Zurecht, wie wir alle wissen.

Am 10. November hatten meine Eltern 33. Hochzeitstag, der nicht gemeinsam gefeiert wurde. Sie schickten meinen Bruder und mich los zur eilig einberufenen Demonstration vor dem Rathaus Schöneberg und passten auf das Kind auf. Aber glücklicher waren sie vermutlich nur bei ihrer Hochzeit. Als wir abends wieder eintrafen, wurde noch ordentlich auf die schönen Ereignisse des Tages und Vortages angestoßen.

***

Gegen Mauern

 

 

 Gegen Mauern

Gewaltsam

aufgerichtet wuchs

die Mauer

im Bewusstsein

ihrer Macht

 

Die Sonne sank

Nacht fiel herein

und düster trotzte

das Bollwerk

ihren Bürgern

 

Der Unmut stieg

und kraftvoll drang

der Wille in die Fugen

Drängte

und siegte!

Impressum

Texte: Autoren der Biogruppe
Bildmaterialien: www.19891109_Mauerfall_Brandenburger_Tor.jpg und Archiv
Lektorat: gittarina
Tag der Veröffentlichung: 07.11.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mit diesen Erinnerungen gedenken wir dem so ereignisreichen und einzigartigen Geschehen im Herbst des Aufbruchs: Der Wende, die den Fall der Mauer und die Deutsche Einheit zur Folge hatte

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