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"Wenn du Angst vor dem Tod hast,
siehst du Teufel, die dir das Leben entreißen.
Aber wenn du deinen Frieden gemacht hast,
sind es Engel, die dich von der Erde befreien."


Prolog

Man fragte mich einmal, ob ich an Gott glaube. Bis vor kurzem war meine Antwort noch ein sicheres, bedingungsloses und absolutes "Nein" gewesen. Ich würde an niemanden glauben, der unschuldige und gute Menschen auf grausame Art und Weise sterben ließ, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Einen Gott, der Menschen auf der Welt in den Hungertod und in Krankheiten stürzte, ohne eine Rechtfertigung dafür aufbringen zu können, konnte ich nicht als solchen ansehen. Nein, an so jemanden wollte und würde ich nicht glauben, denn das wäre einfach nicht fair. Ich hatte mich schon lange Zeit des Glaubens an Gott, Himmel und Religion entledigt, da ich nie Antworten auf meine vielen Fragen bekommen hatte. Niemals konnte jemand mir das viele Leid und die zahlreichen Kriege auf der Welt erklären, weil sie die Antwort schlicht und einfach genauso wenig wussten wie ich. Somit hatte ich mich schon lange damit abgefunden und keinen Gedanken mehr daran verschwendet, denn es endete jedes Mal auf die gleiche Art und Weise. Und zwar in verzweifeltem, nervenaufreibendem Haareraufen. Und das war es mir einfach nicht mehr wert. Denn der Satz: "Nichts passiert ohne Grund." brachte mir schon lange keinen Trost mehr.
Doch dann kam dieser verflixte 16. Geburtstag und musste mal wieder an all dem rütteln, was ich so beschwerlich in der hintersten Ecke meines Gehirns vergraben hatte. Alles wurde aufgewühlt, in Frage gestellt und schlussendlich komplett über Bord geworfen. Denn mein Leben sollte sich von Grund auf ändern und mich mit solch einer überraschenden Wucht überwältigen, dass das Risiko, die Kontrolle zu verlieren, hoch war. Denn nicht nur meine Glaubensansichten würden wieder aufgewühlt, sondern auch die ehemaligen, etlichen Auseinandersetzungen mit meiner Herkunft. Meine Wurzeln waren mir stets ein Mysterium geblieben, doch auch das sollte sich ändern. Ich sollte eine wichtige Rolle zu spielen bekommen. Eine Rolle, die ich förmlich aufgedrängt bekam, denn ich wollte in ihrer verrückten Szenerie nicht mitspielen. Doch bald sollte ich erfahren, dass das Schicksal von Himmel, Hölle und Erde einfach in meine Hände gelegt werden würde...


Kapitel 1

"Er hat seinen Engeln befohlen,
dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,
dass sie dich auf den Händen tragen
und du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt."

(Psalm 91, 11.12) Bibel

Helles, gleißendes Licht... Heilung, Vertrauen, Geborgenheit. Ich war erfüllt von Freude und Wonne. Reines und wunderschönes Strahlen umgab mich. Was war das? Diese übernatürliche, starke Macht, die um mich herum in der Luft zu vibrieren schien. Diese Macht, die mich im Arm hielt und in eine warme Umarmung schloss. Mir erschien es wie ein Traum, den ich am liebsten niemals mehr verlassen hätte. Auf ein Mal ertönte eine männliche, tiefe und beruhigende Stimme, die sagte:
"Du brauchst keine Angst zu haben. Dir wird nichts passieren."
Ich war verwirrt. Was konnte mir hier auch schon passieren? An diesem Ort des Friedens. Doch plötzlich erschien eine dunkle, unheilbringende Wolke, die nur Bosheit, Verdammnis, Hass und Leid verkündete. Jetzt verstand ich auch die Worte des Mannes, der mich jetzt noch fester umschloss. Mich überflutete eine weitere Welle von Licht und wunderschöne, weiße Flügel schienen mich zu umfangen. Auf ein Mal fiel mir auf, dass es richtige Flügel waren, die sich schützend über mich legten. Mir wurde klar, dass dieser Mann ein Engel war. Ein richtiger Engel... Er versuchte, mich vor der hereinbrechenden Dunkelheit abzuschirmen. Ich sah zu ihm hoch, konnte jedoch bloß reines und blendendes Licht sehen. Sein Gesicht blieb mir jedoch verborgen. Ich fragte mich, wie es möglich war, dass ein Engel mich in seinen Armen hielt. Dies musste ein Traum sein. Von einem Moment auf den anderen waren die Flügel verschwunden, die starken Arme, die mich eben noch umschlossen hatten, lösten sich und gaben den Blick auf die auf mich zukommende Finsternis frei. Jetzt ertönte eine andere Stimme, ebenfalls männlich, aber keineswegs beruhigend wie die des Engels. Sie war hämisch und grausam und triefte vor Gier und Rache. Sie sagte:
"Du kannst sie nicht verstecken. Und du kannst sie auch nicht beschützen. Ich werde immer und überall da sein und lauern, um sie dann schließlich gefangen zu nehmen. Gib es auf, Michael, ich werde sie kriegen und du kannst nichts dagegen unternehmen!"
Er lachte triumphierend, als hätte er bereits, was er wollte. Aber von wem war überhaupt die Rede? Ich verstand überhaupt nichts mehr... Doch noch bevor ich mir auch nur einen weiteren Gedanken daran erlauben konnte, kam der schwarze Schatten bereits auf mich zu und versuchte mich einzuhüllen. Er riss an meinen Kleidern, zog an meinen Haaren und versuchte mich zu vertilgen. Ich schrie und versuchte wegzulaufen, doch die Finsternis zog mich nur noch weiter runter, immer tiefer ins schwarze Loch. Ich rief um Hilfe und versuchte das sich immer weiter entfernende Licht zu erreichen und zurüchzuholen, doch es war vergeblich. Mir rann eine Träne über die Wange, nicht, weil die Finsternis mich verschluckte und vermutlich mein Ende bevorstand, sondern, weil der Engel mich im Stich gelassen hatte, obwohl er mir doch gesagt hatte, mir würde nichts passieren. Und mein letzter Gedanke, bevor der Schatten mich endgültig verschlang, war zu meiner eigenen Überraschung, der Name Michael...

Ich öffnete die Augen und starrte an die himmelblaue Decke meines Zimmers, während ich versuchte dieses grausame Dröhnen meines Weckers auszublenden. Zu meinem Verdruss funktionierte es nicht und ich war gezwungen, mich zu erheben und ihn auszuschalten. Auf dem leuchtenden Bildschirm erkannte ich eine verschwommene Sieben mit ein paar Nullen, die irgendwie umherzufliegen schienen. Ich rieb mir den Schlaf aus den Augen und erhob mich mühsam aus meinem warmen, kuscheligen Bett. Ich schlurfte auf meinen Schrank zu und zog irgendeine alte, abgetragene Jeans heraus und riss anschließend einen hellblauen Pulli aus dem oberen Fach des Schrankes. Als ich meine Kleider anhatte, machte ich noch einen kurzen Abstecher ins Badezimmer, um mir das Gesicht zu waschen und die Zähne zu putzen. Und nachdem ich in meine Sneakers geschlüpft war und meinen Rucksack schon fast auf dem Rücken hatte, fiel mir eine wunderschöne, weiße Feder auf, die auf meinem Kopfkissen lag. Ich lehnte meinen Kopf schräg zur Seite, was meine Verwirrung noch mehr zum Ausdruck brachte und wunderte mich, wie die dahin gekommen sein sollte. Ich bezweifelte ernsthaft, dass ich es übersehen hätte, wenn ein Vogel in mein Zimmer geflogen wäre. Vor allem, da mein Fenster geschlossen war und der Vogel gezwungen gewesen wäre, das Fenster zuerst zu öffnen. Ich schüttelte verwirrt den Kopf und trat langsam und zögernd an das Bett heran. Ich streckte die Hand nach der Feder aus und machte keine Anstalten, sie zu berühren, da ich ehrlich gesagt ein wenig Angst davor hatte, was passieren könnte. Doch dann schalte ich mich selbst einen Angsthasen und fragte mich innerlich, was denn schon passieren sollte. Würde die Feder plötzlich Reißzähne und Krallen bekommen und nach meiner Hand schnappen? Ich stieß ein Schnaufen aus und bückte mich mit einer schnellen Bewegung, um die Feder schlussendlich von meinem Kissen aufzuheben. Ich hielt sie in der Hand und bereitete mich insgeheim darauf vor, dass nun etwas passieren würde. Doch sie blieb einfach bloß reglos und unschuldig in meiner Hand liegen , während ich sie genaustens betrachtete. Sie hatte eine wunderschöne, perlweiße Farbe, die so rein war, dass sie förmlich einen gleißenden Schimmer auszustrahlen schien. Ich strich sachte mit den Fingern über die einzelnen Härchen am Rande und bemerkte, dass sie einen merkwürdigen Staub absonderten. Meine Finger waren bedeckt von kleinen, silberglänzenden Staubkörnchen, die sich so weich wie Watte anfühlten, als ich meine Finger aneinanderrieb. Plötzlich tauchte wieder dieses Bild aus meinem Traum vor meinem innerlichen Auge auf und ich erschrak. Vor Schreck ließ ich die Feder wieder auf mein Bett fallen, griff mir meinen Rucksack und verließ das Zimmer stürmischen Schrittes.

Noch immer von Verwirrung, die die Strapazen der vergangenen Nacht mit sich gebracht hatten, geleitet, torkelte ich verschlafen die Treppen hinunter. Auf der Schwelle der Küchentür hielt ich kurz inne und atmete tief durch, dann betrat ich die Küche sicherern Schrittes. Genau wie erwartet, lauerten dort auch schon meine Eltern mit einem Frühstücksmuffin, der mit einer brennenden Kerze versehen war. Sie riefen lauthals im Chor: "Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!" Sie kamen beide auf mich zu und drängten einander gegenseitig zur Seite, um mich als erster in die Arme schließen zu können. Es war jedes Jahr das Gleiche. Immer und immer wieder... wie eine Zeitschleife, zwar eine angenehme Zeitschleife mit Kuchen und Geschenken, aber selbst das konnte nach geraumer Zeit wirklich anstrengend werden. Jedoch schloss ich beide herzhaft in die Arme, blies die Kerze aus und ließ mir immer und immer wieder gratulieren. Ich plante so schnell wie möglich abzuhauen, um vor meinen Eltern in die Schule zu fliehen, aber hatten die beiden erst angefangen zu reden, konnten sie schwer wieder aufhören. Warum waren sie bloß so schrecklich sentimental, wenn es um meinen Geburtstag ging?
"Nalia, mein Schatz, vor genau sechzehn Jahren hielten wir dich das erste Mal in unseren Händen."
Oh nein, jetzt ging das wieder los. Jetzt kam wieder die "Damals warst du ja noch so klein" - Rede.
"Damals, als dein Vater und ich ins Waisenhaus fuhren, um dich abzuholen, war ich so nervös und aufgeregt. Doch dann, als ich dich sah, dein süßes Engelsgesicht, deine großen, blauen Augen und diese winzig kleinen Hände, da war alle Sorge vergessen. Da wusste ich, du bist meine Tochter. Oh, und damals warst du ja noch so klein..."
An diesem Punkt hörte ich nicht mehr zu, weil ich die ganze Adoptionsgeschichte sowieso in- und auswendig kannte. Während meine Mutter mit voller Leidenschaft bei der Geschichte war, aß ich meinen Muffin Stück für Stück, trank noch eine Tasse Milch und sah auf die Uhr: halb acht.
"Verdammt, ich komme zu spät zur Schule!"
Ich entschuldigte mich bei meinen Eltern, drückte beiden noch einen Riesenschmatzer auf die Wange und raste dann zur Tür hinaus. Sobald ich das Haus verlassen hatte, erwischte mich die eisige Kälte, die draußen herrschte, mit voller Wucht und somit zog ich meine Jacke fester um mich und mummelte mich in meinen Schal ein. Schon viel besser. Selbst für Mitte November war es überraschend kalt. Als ich die Straße entlang ging und mich immer weiter von meinem Haus entfernte, wanderten meine Gedanken wieder zu meinem merkwürdigen Traum und zu der Feder, die ich anschließend auf meinem Kopfkissen entdeckt hatte. Ich wurde immer noch nicht schlau aus diesem merkwürdigen Fund und glaubte auch nicht daran, jemals eine Erklärung dafür zu finden, doch was hatte dieser furchteinflößende Traum zu bedeuten? Ich schauderte, als ich erneut an diese grausame Dunkelheit dachte, die mich förmlich verschlungen hatte. Mir wurde wieder eiskalt, aber diesmal hatte es nichts mit dem Novemberwetter zu tun. Engel... Warum träumte ich von einem Engel? Ist es überhaupt ein Engel gewesen? Naja, der Mann hatte Flügel gehabt, aber vielleicht hatte ich mir das ja auch bloß eingebildet. Und wenn schon, ich durfte jetzt nichts da hinein interpretieren. Das ist einfach bloß ein komischer Traum gewesen, der keinerlei Bedeutung hatte. Aber irgendwie wusste ich insgeheim, dass ich mich damit bloß selbst belog, denn Träume hatten immer eine tiefere Bedeutung, ob es einem nun gefiel oder nicht. Es hing bloß davon ab, ob man hinter die wahre Bedeutung eines Traumes kam. Aber wollte ich den Sinn hinter diesem verrückten Traum überhaupt wissen? Irgendwie hatte ich das ungute Gefühl, dass mehr dahintersteckte, als ich glauben wollte und deswegen dachte ich nicht weiter darüber nach und setzte meinen Weg zur Schule fort. Ohne mir weiter Gedanken über Engel, Träume oder sonstiges, unsinniges Zeug zu machen...

Als ich den Schulhof erreichte, war keiner meiner Freunde in Sicht. Was merkwürdig war, denn normalerweise warteten sie genau um diese Zeit, zehn Minuten vor acht Uhr, immer an der gleichen Stelle auf mich, nämlich an einem großen Ahornbaum genau vor der Eingangshalle. Ich trottete umher, ahnungslos wie ich war, als meine besten Freundinnen Bianca und Robin um die Ecke gerannt kamen und mich halbwegs überfielen und mich fast zu Tode knutschten. Als ich plötzlich Schritte und Getuschel hinter mir vernahm, wurde mir schlagartig bewusst, dass ich in eine Falle getappt war. Und als ich mich umdrehen wollte, hielt Bianca mich fest und grinste mir ins Gesicht. Ich wehrte mich und versuchte wegzurennen, doch es war bereits zu spät. Hinter mir hörte ich, wie jemand bis drei zählte und dann wurde ich schlagartig herumgeschleudert, nur um anschließend eine Riesenpackung Konfetti ins Gesicht geworfen zu kriegen. Danny und Mason, zwei ziemlich gute Kumpel von mir, pfiffen und klatschten wie Verrückte und sangen "Happy Birthday" in so schiefen Tönen, dass ich mir am liebste die Ohren zugehalten hätte. Ich ließ diese ganze Geburtstagstortur wahllos über mich ergehen, während ich verzweifelt versuchte, im Erdboden zu versinken, da nun praktisch die ganze Schule mitbekommen hatte, dass ich Geburtstag hatte. Alle vorbeigehenden Schüler starrten uns an und nicht alle schienen wirklich erfreut über den Lärm, was ich sehr gut nachvollziehen konnte, denn Dannys Gesang glich dem einer sterbenden Katze. Diese schiefen Töne würden selbst einen tauben, alten Mann das Grauen lehren und die Flucht ergreifen lassen und ich würde schwören, dass er selbst mit Gehstock schnell wäre. Als sie endlich fertig waren und auch der letzte von ihnen verstummt war, fragte ich mit ruhiger, unheilverkündender Stimme:
"Wessen Idee war diese ... freudige Überraschung?"
Alle die vor mir stehenden Personen, somit Danny, Mason, Jerry, Dannys Bruder und Claire, Masons Freundin, zeigten hinter mich und ich vernahm das hämische, schadenfrohe Lachen meiner beiden besten Freundinnen. Ich drehte mich bedrohlich zu ihnen um und starrte anschließend in zwei grinsende Gesichter, die sich offensichtlich sehr zusammenreißen mussten, um nicht augenblicklich in schallendes Gelächter zu verfallen. Ich sagte tadelnd:
"Na los... Nun lacht schon. Macht euch über mich lustig, aber tut mir den Gefallen und macht es kurz und schmerzlos!"
Anfangs gaben sie vor, verwirrt zu sein, als wüssten sie nicht, was ich meinte, doch plötzlich schien ihre Unschuldsmiene zu bröckeln und sie verloren anschließend die Beherrschung. Lauthalses Gelächter schallte über den Schulhof und Bianca und Robin konnten sich vor Lachen kaum noch halten. Sie lagen einander in den Armen, da sie anscheinend Stützhilfe benötigten, um nicht vor Lachen umzukippen. Zwischen ihren Lachkrämpfen stammelten sie irgendwelche unverständlichen Sätze.
"Du hättest... oh mein Gott, dein Gesicht, wie du... Das war ja so witzig, als du..."
Das war das Wenige, das man einigermaßen verstehen konnte, der Rest ging in Husten, Schluchzen und Freudentränen unter. Als beide schlussendlich einen tiefen Atemzug nahmen, um ihre Lungen ordentlich mit dem Sauerstoff zu füllen, der ihnen vorhin bei ihren Lachanfällen abhanden gekommen war, wischten sie ihre Tränen weg und beruhigten sich allmählich. Dann fragte ich genervt:
"Seid ihr jetzt fertig?"
Sie atmeten noch immer schwer, jedoch fassten sie sich wieder, als die Schulglocke ertönte und meine Rettung verkündete. Wir schlenderten nun alle gemeinsam auf den Schuleingang zu und wollten die Wheat Ridge High School gerade betreten, als Robin nochmals kurz auflachte und kichernd sagte:
"Oh, ach übrigens... Herzlichen Glückwunsch zu deinem Geburtstag!"


Kapitel 2

"Möge der Engel, der die Botschaft vom Frieden in die Welt brachte,
an deinem Haus nicht vorübergehen."

-Irischer Segen

In der Klasse angekommen, setzten wir uns auf unsere Plätze und ich zog meinen Handspiegel aus dem Rucksack, um mir anschließend Konfettistückchen aus den Haaren zu fischen. Als Robin und Bianca mich erblickten, stand ihnen ins Gesicht geschrieben, dass sie wieder kurz vor einem Lachanfall standen, doch ich sagte drohend:
"Wagt es ja nicht, hört ihr?!"
Sie grinsten und halfen mir, auch noch die allerletzten Stücke herauszulesen. Der Lehrer war noch nicht da, also beschloss ich einbisschen in der Klasse herumzuspazieren. Ich schlenderte zwischen den Schulbänken hindurch auf die Tafel zu und ließ mir von noch weiteren Mitschülern zu meinem Geburtstag gratulieren. Ich bedankte mich und schloss jeden einzelnen herzlich in die Arme, obwohl es mir langsam aber sicher ein wenig lästig wurde. Ich war noch nie ein Freund von Geburtstagen gewesen, weder von dem anderer und noch weniger von meinem eigenen. Ich hatte keine Ahnung, wieso das so war, aber all diesen Trubel darum zu machen, schien mir etwas weit hergeholt. Ja, okay, der Tag deiner Geburt ist ein Grund zum Feiern, da das Leben das größte Geschenk überhaupt ist, jedoch hatte ich es schon immer für ein wenig übertrieben befunden, wie manche Personen diesen Tag feierten. Nun denn, mir sollte es egal sein. Ich steuerte auf die Tür zu und lehnte mich anschließend gegen den Türrahmen. Von dort hielt ich Ausschau nach meinem Lehrer, welcher jedoch nicht Sicht kam, weswegen ich die Schüler, die sich noch auf dem Flur befanden, weil deren Lehrer ebenfalls abwesend war, beobachtete. Ich musste feststellen, dass die meisten sich ziemlich chaotisch benahmen, allerdings waren die meisten von ihnen auch Jungs, was die Unruhe ziemlich gut erklärte. Ich ließ meinen Blick gelangweilt weiter über den Gang schweifen bis er an einem schwarzhaarigen Jungen hängen blieb, der gegen die gegenüberliegende Mauer lehnte und Musik hörte. Er wirkte sehr ruhig und lässig, vor allem im Gegensatz zu den anderen Jungs. Er war eigentlich sehr gutaussehend, hatte kurzes, glattes, pechschwarzes Haar, das im Schein der Lampe wunderschön glänzte und war in eine Jeans und eine schwarze Lederjacke gekleidet, dazu trug er schwarze Chucks. Ich musste wohl ziemlich auffällig geguckt haben, denn als er meinen Blick auffing und erwiderte, runzelte er verwirrt die Stirn. Ich wandte den Blick sofort ab und kehrte peinlich berührt in die Klasse zurück, doch bevor ich auf meinen Platz zusteuerte, warf ich noch einen letzten, schnellen Blick auf die Stelle, wo der geheimnisvolle Junge gestanden hatte, doch zu meiner Verwunderung war er verschwunden...

Mathestunde... Sterbenslangweilig. Ich stützte meinen Kopf auf der Handfläche ab und kritzelte gedankenverloren auf eine Seite in meinem Matheheft, während mein Lehrer irgendwelche geometrischen Figuren auf die Tafel zeichnete und vergebens versuchte, der schlafenden Klasse etwas beizubringen. Niemand hörte wirklich zu und sie gaben sich auch nicht allzu große Mühe, um ihr Desinteresse zu verbergen. Manche schossen mit ihren Radiergummis und mit Papierkugeln umher, andere tuschelten und tratschten mit aufgeregten Stimmen miteinander, während andere wiederum, darunter auch meine Wenigkeit, bloß auf ihren Stühlen hingen, Kaugummi kauten und dahin vegetierten. Ohne darauf zu achten, was ich eigentlich am Kritzeln war, bewegte sich meine Hand wie von selbst über das Papier. Ich schien über keinerlei Kontrolle mehr über meine eigene Hand zu verfügen. Und als sie schließlich innehielt in ihrer stetigen, selbstständigen Kritzelei, stand folgendes da, geschrieben in einer Schrift, die ich weder jemals zuvor gesehen, gekannt noch genutzt hatte:




Und obwohl mir diese Schrift völlig fremd war, konnte ich die Zeichen dennoch entziffern. Dort stand der Name "Michael" geschrieben. Ich erstarrte. Wieso hatte ich das geschrieben? Und warum konnte ich diese merkwürdige Schrift schreiben und lesen? Drehte ich jetzt völlig durch? Mein Magen zog sich unangenehm zusammen. Was war bloß heute los mit mir? Zuerst dieser merkwürdige Traum, dann diese Feder und nun das hier... Irgendetwas ging hier vor, nur was? Diese Fragen hämmerten wie verrückt gegen meine Schädeldecke und ich ersehnte das Klingeln mit jeder Sekunde, die verging, immer mehr herbei. Ich brauchte nämlich dringend frische Luft. Als das Dröhnen der Schulglocke mich gnädigerweise endlich entließ, erhob ich mich ruckartig von meinem Stuhl und verließ den Klassensaal fluchtartig. Ich stieß die große Eingangstür zum Schulhof auf und inhalierte die kühle Luft beinahe gierig. Sie tat mir gut. Ihre Kälte schien meinen aufgewirbelten Gedanken Einhalt zu gebieten und sie wieder einigermaßen zu ordnen. Eine frische Brise streichelte sanft meine Wange und half mir dabei, meine Atmung in einen gleichmäßigen Rhythmus zu bringen. Als ich in den grauen, sich verdunkelnden Himmel aufblickte, kam mir der Gedanke, dass der Schnee wohl nicht mehr lange auf sich warten ließ. Trotz des vermutlich zukünftigen noch kälteren Wetters freute ich mich sehr darauf, wenn es endlich schneien würde. Ich drehte mich um, um wieder in das Schulgebäude zurückzukehren, als ich plötzlich jemanden erblickte, wie er am großen Ahornbaum lehnte. Ich erstarrte, als ich schwarze Chucks hinter dem Baum hervorlugen sah. Ich hielt kurz inne, entschied jedoch nicht auffällig dort stehen zu bleiben, damit er mich nicht auch noch hier draußen beim Glotzen erwischen konnte. Somit nahm ich meinen Weg ins Gebäude wieder auf, als plötzlich eine tiefe, ruhige Stimme, die mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagte, nur einige Meter neben mir ertönte. Sie fragte:
"Hey, kannst du mir helfen?"
Ich erstarrte zur Salzsäule und zögerte kurz, mich zu ihm umzudrehen. Ich holte tief Luft und wandte mich dem fremden, ein wenig merkwürdigen Jungen schließlich zu. Ich sah leicht verlegen auf und sah ihm in die kristallklaren, blauen Augen und erwiderte mit leicht unsicherer Stimme:
"Ähm, kommt darauf an, um was es geht... Wobei brauchst du denn Hilfe?"
Er lächelte leicht und ich glaubte, dass er mein Unbehagen bemerkt hatte, denn ein belustigtes Funkeln tauchte in seinen Augen auf. Während er mich grinsend betrachtete, trat er einen kleinen Schritt näher und stand nun nur noch knappe drei Meter von mir entfernt. Dann antwortete er:
"Nun, ich bin neu hier auf der Schule und kenne mich noch nicht so richtig aus. Ich müsste mich eigentlich beim Direktor melden, aber irgendwie konnte ich sein Büro nicht finden. Wärst du so nett, es mir zu zeigen?"
Ich zögerte einen Moment und beäugte ihn argwöhnisch, was ihm offensichtlich nicht entging, denn er furchte leicht die Stirn. Doch ich hielt nicht inne und schenkte ihm mein vollstes Misstrauen. Ich wusste nicht wirklich, ob ich seiner Aussage Glauben schenken sollte. Sie kam mir einbisschen unglaubwürdig vor, denn wieso sollte man das Büro des Direktors nicht finden? Es gab etliche Pläne der Schule in dem Gebäude verteilt, auf jeder einzelnen der drei Etagen und da war er nicht im Stande auf einen von denen zu schauen und nach dem Büro des Direktors zu suchen? Nun gut, mir sollte es recht sein. Ich bezweifelte stark, dass er ein Serienkiller war oder mir sonst irgendwas Schlechtes wollte, somit nickte ich schließlich, wies ihm mit einem Kopfnicken an, dass er mir folgen sollte und wir betraten anschließend gemeinsam den großen, grauen Kasten, den man Schule nannte.

Als ich zusammen mit dem neuen Jungen die Treppen zum dritten Stock erklomm, beäugte ich ihn hin und wieder unauffällig aus dem Augenwinkel. Ich nahm ihn mal genauer unter die Lupe und musste zu meinem Bedauern feststellen, dass er mir von Minute zu Minute immer besser gefiel. Ich konnte es mir auch nicht erklären, aber er hatte so eine außergewöhnliche Ausstrahlung... So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt, dieses merkwürdige Gefühl in der Magengrube. Ein Kribbeln im Bauch, das weder angenehm noch unangenehm war. Ich hatte schon von diesem Gefühl gehört, man bekam das anscheinend, wenn man sich in jemanden verliebt hatte oder man einen ziemlich attraktiv und sympathisch fand. Nun, attraktiv war er, das musste ich ihm lassen. Seine onyxfarbenen Haare hatten einen leicht violetten Schimmer, wenn das Licht sich in ihnen brach und seine schönen, azurblauen Augen stellten einen krassen Kontrast zu der dunklen Farbe seiner Haare dar. Seine Haut war makellos, doch aber sehr blass. Sein Kleidungsstil gefiel mir auch, er war dunkel und schlicht gekleidet, was ich bei Jungs sehr anziehend fand. Jedoch wurde ich das ungute Gefühl nicht los, dass mein Bauchgefühl mich nicht bloß auf das attraktive Aussehen dieses Jungens hinweisen wollte. Nein, da steckte mehr dahinter... Er wirkte merkwürdig, außerdem hatte er noch nicht einmal einen Schulranzen dabei, was ich als äußerst verdächtig empfand. Ich hielt jedoch meinen Mund und lief auch weiterhin bloß schweigend neben ihm her. Als wir dann schließlich auf der dritten Etage angelangt waren und ich einfach bloß resigniert mit der ausgetreckten Hand auf die Eingangstür der Direktion zeigte, verzog der Junge leicht das Gesicht und fragte in einem belustigten Ton:
"Begegnest du jedem neuen Schüler hier mit solch erstaunlicher Gastfreundschaft oder habe nur ich dieses außergewöhnliche Privileg?"
Ich stutzte und fragte mich augenblicklich, ob ich ihm nicht vielleicht einbisschen zu offen mein Misstrauen kundgetan hatte. Aber dann schüttelte ich innerlich den Kopf und beschloss, mich nicht für meine abweisende Art rechtfertigen zu müssen. Somit erwiderte ich sachlich:
"Nein, eigentlich sind neue Schüler an dieser Schule eher seltene Vorkommnisse und wenn es dann mal Neue gibt, dann fragen sie mich für gewöhnlich nicht nach dem Weg zum Büro des Direktors. Somit nehm' es nicht zu persönlich, dass ich dich nicht mit einer Willkommensfanfare in unsere Schule geleite! Ich bin halt keine Person, die zu Fremden sehr offenherzig ist, verzeih'!"
Er musste grinsen und seine unglaublich weißen Zähne blitzten kurz auf. Sein charmantes Lächeln brachte mich ganz kurz aus dem Konzept, aber ich hatte mich ziemlich schnell wieder gefasst und sah ihm trotzig entgegen. Er sagte:
"Nun denn, dann nehme ich es nicht 'zu' persönlich und entlasse dich deiner seltenen, eigentlich noch niemals vorgekommenen Aufgabe, dem neuen Schüler den Weg zum Büro des Direktors zu zeigen."
Ich zog leicht irritiert eine Augenbraue hoch und fragte mich, ob er das wirklich ernst gemeint hatte, aber ich vergeudete nicht allzu viel Zeit, darüber nachzudenken und nickte ihm sachlich zu. Dann wollte ich mich gerade zum Gehen wenden, als er mich wie aus dem Nichts an der Schulter packte, um mich noch kurz zurückzuhalten. Doch genau in dem Moment, in dem sich seine große, schlanke Hand auf meine Haut legte, durchzuckte mich eine Art Stromstoß und das Bild des "Engels" aus meinem Traum leuchtete wieder vor meinem geistigen Auge auf. Ich zuckte erschrocken zusammen und drehte mich ruckartig zu ihm um. Er sah mindestens genauso schockiert aus, wie ich mich fühlte. Hatte er es etwa auch gesehen? Ich schnappte nach Luft und sah ihm nur einen flüchtigen Augenblick in die weitaufgerissenen Augen, bevor ich anschließend wie eine Verrücktgewordene die Flucht ergriff und die Treppen hinunter stürmte, ohne den Jungen noch eines weiteren Blickes zu würdigen.


Kapitel 3

"Man weiß nicht genau, wo die Engel sich aufhalten;
ob in der Luft, im Leeren oder auf den Sternen;
Gott hat nicht gewollt, dass wir davon Kenntnis hätten."

-Voltaire, Philosophisches Wörterbuch

Ich rannte noch immer, wie wild geworden, durch die Schulflure auf der verzweifelten Suche nach meinem Klassensaal, der einfach nicht in Sicht kommen wollte. Ich war vollkommen durch den Wind und meine Atmung überschlug sich fast, während ich mir in Gedanken bereits eine Ausrede für mein Zuspätkommen ausdachte. Naja, eben konnte ich die Wahrheit sagen und meiner Lehrerin erzählen, dass ich dem neuen Schüler den Weg zur Direktion gezeigt hatte und hoffen, dass sie mir glaubte oder ich behauptete einfach, mir wäre plötzlich schlecht geworden und ich hätte es mir nicht länger zugetraut noch weiter seelenruhig in der Klasse sitzen zu bleiben. Egal welche Rechtfertigung von beiden ich auch nehmen würde, es würde nichts an dem merkwürdigen und furchteinflößenden Ereignis ändern, das sich erst vor wenigen Minuten zugetragen hatte und das ich so verzweifelt und vergebens zu verdrängen versuchte. Dafür musste es doch irgendeine logische Erklärung geben. Es war doch nicht möglich bloß anhand einer Berührung so einen heftigen Stromstoß verpasst zu bekommen, vor allem durch die Wolljacke, die ich trug. Irgendetwas stimmte hier ganz und garnicht und diese Erkenntnis ließ mich innerlich, wie auch äußerlich erzittern. Als ich gerade, noch immer in rasantem Tempo, um die Ecke biegen wollte, knallte ich mit voller Wucht in jemanden hinein und fiel rücklings zu Boden. Ein stechender Schmerz durchzuckte mein Hinterteil und ich schrie erschrocken auf.
"Au, Mist verdammter...", jammerte ich mit schmerzverzerrter Stimme und rieb mir vorsichtig mit der rechten Hand über die Pobacken, die nach wie vor ungeheuerlich schmerzten.
"Es...es tut mir leid! Verzeih mir, das war nicht meine Absicht! Hast du dir wehgetan?", fragte eine sympathische Jungenstimme. Mir wurde anschließend eine große, schlanke Hand vor die Nase gehalten und ich ergriff sie nach kurzem Zögern. Sie zog mich vorsichtig auf die Beine und nun erblickte ich einen großen, leichtmuskulösen Jungen mit braunen, wuscheligen Haaren, der äußerst schuldbewusst und entschuldigend dreinblickte. Ich klopfte mir den Schmutz von der Hose und erwiderte genervt in sarkastischem Ton:
"Nein, weißt du, "Au" bedeutet bei mir soviel wie ein Freudensschrei! Natürlich hab' ich mir wehgetan, ich bin schließlich mit voller Wucht auf dem Boden aufgeknallt! Naja, was soll's... Danke aber für die Hilfe."
Er runzelte nun leicht die Stirn und als ich mir anschließend etwas mehr Zeit nahm, ihn genauer zu mustern, stellte ich fest, dass er mir äußerst bekannt vorkam. Ich war ihm bereits öfters auf meinem Stock begegnet, er war zwei Klassen über mir und wurde in dem von meinem gegenüberliegenden Klassensaal unterrichtet. Als ich nun jedoch seine Reaktion auf meinen genervten Unterton bemerkte, schlichen sich die Schuldgefühle an mich ran und ich fragte in etwas netterem Ton:
"Hey, kennen wir uns nicht? Bist du nicht dieser Aaron aus der Klasse gegenüber?"
Er sah ein wenig überrascht aus, vermutlich über den blitzartigen Wechsel des Tons meiner Stimme und nickte dann langsam. Er erwiderte daraufhin:
"Ja, der bin ich. Hey, freut mich dich mal persönlich kennen zu lernen, Nalia."
Er reichte mir erneut seine gebräunte Hand, diesmal in Erwartung, dass ich sie ergreifen würde, um sie zu schütteln. Ich war verwundert darüber, dass er meinen Namen bereits kannte und entschied, ihn danach zu fragen.
"Ähm, hey, freut mich auch. Woher kennst du meinen Namen, wenn ich mir diese Frage erlauben darf?"
Er grinste und Schelm blitzte in seinen schokoladenbraunen Augen auf. Nun konnte ich mich aber vermutlich auf etwas gefasst machen. Er holte einmal kurz Luft und sagte dann mit amüsierter Stimme:
"Nun, die Tatsache, dass das Mädchen mit dem Namen Nalia heute Geburtstag hat, war heute Morgen auf dem Schulhof kaum zu überhören!"
Er lachte ein raues Lachen und ich musste mich wirklich bemühen, um nicht in sein Lachen mit einzustimmen. Ich erlaubte mir jedoch ein kleines Grinsen und antwortete anschließend:
"Ach ja, das... Naja, ich hatte meinen zwei besten Freundinnen, die übrigens für dieses Szenario am heutigen Morgen verantwortlich sind, zwar versprochen, mich nicht für diese Aktion an ihnen zu rächen, aber ich denke, nun da mir die ganzen Ausmaße erst bewusst werden, überlege ich es mir vielleicht anders. Tja, aber was soll's?! Man kann ihnen einfach nicht böse sein, nicht wahr?"
Ich kicherte und bemerkte, wie Aaron mich mit nicht zu deutendem Blick musterte. Wir verfielen beide in ein merkwürdiges und unangenehmes Schweigen, in denen wir uns manchmal peinlich berührt in die Augen oder peinlich berührt zu Boden sahen. Ich beschloss, nicht länger untätig herumzustehen, als mir einfiel, dass ich eigentlich jetzt in der Klasse im Französischunterricht sitzen sollte. Somit ergriff ich als Erste wieder das Wort und erklärte:
"Äh, es war wirklich sehr nett mal mit dir gesprochen zu haben, Aaron, aber ich muss jetzt wirklich los. Der Unterricht ruft leider nach mir! Mach's gut, bis irgendwann mal, hoffe ich..."
Ich schenkte ihm noch eins meiner schönsten Lächeln und machte keine weiteren Anstalten, noch länger auf meinem jetzigen Standplatz zu verharren. Ich setzte mich somit in Bewegung, nahm wieder mein vorheriges Tempo ein und raste dann in Richtung Klassensaal.

Ehe Aaron überhaupt zu einer Antwort auf Nalias Worte ansetzen konnte, war sie schon an ihm vorbeigestürmt und hatte ihn mit verdutzter Miene stehen lassen. Er schüttelte leicht verwirrt den Kopf und fragte sich anschließend, was es wohl mit diesem Mädchen auf sich hatte und warum sie ihm bisher noch nicht so richtig aufgefallen war. Sie waren sich bereits des Öfteren in der Schule über den Weg gelaufen und doch hatte er sie noch nie so richtig wahrgenommen. Doch nun, als eine Konfrontation zwischen den beiden wohl kaum zu vermeiden gewesen war, war ihm etwas ins Auge gestochen, was er vorher noch nie bei einem anderen Menschen bemerkt hatte. Auch wenn er zugeben musste, dass Nalia ein hübsches und sehr süßes Mädchen war, war es nicht das, was ihm als erstes an ihr aufgefallen war. Was ihn gleichermaßen zutiefst erschrocken und überrascht hatte, war die Tatsache, dass dieses eigenartige Mädchen mit dem Namen Nalia keine Aura besaß. Er hatte nichts von ihr wahrnehmen können, noch hatte er weder einen hellen oder getrübten Schein um ihre Silhouette herum ausmachen können. Es war, als hätte sie gar keine Aura. Sein Leben lang schon hatte er Menschen auf den ersten Blick durchschauen und ihnen in die Seele blicken können. Das war eine zusätzliche Gabe mit der er geboren worden war und die ihn als Prophet zu etwas Besonderem machte. Jeder Mensch, dem er bisher in seinem Leben begegnet war, hatte er lesen können wie ein offenes Buch, doch Nalia war ihm auch nach minutenlanger Unterhaltung ein Rätsel. Er hatte versucht, einen Blick in ihre Seele zu erhaschen, um eine Antwort auf die Abwesenheit ihrer Aura finden zu können, doch hatte nichts als vollkommene Leere vorgefunden. Es war, als hätte sie keine Seele, was natürlich vollkommen unmöglich war, denn jeder Mensch, ob er nun eine Tendenz zum Bösen oder zum Guten hatte, besaß eine. Aber was war es dann? War sie etwa immun gegen seine Kräfte? Solch eine Immunität gegen seine durchschauende Macht war ihm bisher noch nicht untergekommen, noch nie. Also, was war es, was dieses Mädchen von ihren Mitmenschen unterschied?
Er schlenderte, noch weiter über Nalia nachgrübelnd, den Flur entlang, mit der Eingangshalle als Ziel vor Augen. Als er schon dazu ansetzen wollte, die massige Eingangstür in die Freiheit aufzustoßen, wurde er an der rechten Schulter gepackt und zurückgehalten. Er wirbelte erschrocken herum und noch ehe er in des Verantwortlichens Antlitz geblickt hatte, wusste er durch die vertraute Berührung, wer es war. Heftig atmend und sich, so gut es ging, vom Schock erholend, blickte Aaron in das ernste Gesicht von Barachiel. Er sagte schnaufend:
"Du meine Güte, haben Sie mich aber erschreckt! Was in Gottes Namen tun sie denn hier?"
Barachiel verdrehte leicht die Augen und ließ nun auch von seiner Schulter ab. Er erwiderte:
"Aaron, wie oft habe ich dir eigentlich schon gesagt, dass du mich dutzen sollst?! Vor allem, wenn wir uns auf so öffentlichen Plätzen wie einer Schule begegnen... Es würde den meisten Schülern hier merkwürdig erscheinen, wenn ein Achtzehnjähriger einen vom Anschein her Siebzehnjährigen mit solch respektvoller Anrede ansprechen würde, denkst du nicht auch?"
Aaron sah verlegen auf seine Sportschuhe hinunter und antwortete dann:
"Natürlich, aber dieser klitzekleine Umstand, dass Sie keine... äh, ich meine, dass du keine siebzehn Jahre alt bist, lässt mich deine Worte des Öfteren vergessen. Ich bitte um Verzeihung, Barachiel..."
Barachiel schenkte ihm ein mattes Lächeln und erklärte dann schließlich:
"Nun gut, das verstehe ich natürlich, jedoch denke nächstes Mal bitte daran, denn ich werde in Zukunft sehr oft hier anzutreffen sein."
Aaron verzog verwirrt das Gesicht und sein Gesprächspartner gab ihm gleich darauf eine Antwort auf die unausgesprochene Frage.
"Ich habe mich vorhin an dieser Schule hier eingeschrieben, um den auserwählten Propheten besser ausfindig machen zu können. Ich spüre ganz klar eine äußerst starke Macht über diesem Gebäude schweben und da diese Macht sich ganz sicher nicht auf dich bezieht, gehe ich davon aus, dass es dieses eigenartige Mädchen ist..."
Er wurde bei diesen Worten hellhörig und sah dem Erzengel mit erstauntem Gesichtsausdruck in die blauen Augen.
"Mädchen?", fragte er neugierig. "Was für ein Mädchen?"
Barachiel schien ein wenig perplex aufgrund seines plötzlichen Stimmungswandels, doch er erwiderte mit gelassener Stimme:
"Ich bin vor nicht allzu wenigen Minuten einem Mädchen mit sehr außergewöhnlicher Ausstrahlung begegnet, von der eine ungeheure Machtquelle ausging. Noch war es nicht sehr deutlich spürbar und doch weiß ich, dass sie sich noch heute binnen weniger Stunden entfalten wird. Wir sollten Michael so schnell wie möglich Bericht erstatten, denn wenn, du weißt schon wer, sie vor uns ins die Finger kriegt, dann haben wir ein großes Problem."
Aaron stimmte Barachiel zu und sie verließen anschließend gemeinsam das Schulgebäude.


Kapitel 4

"Die Kraft des Gefieders der Engel
besteht darin, das Schwere empor-
zuheben und hinaufzuführen, wo das
Geschlecht der Götter wohnt."

- Platon

Es hatte letzendlich angefangen zu schneien und Barachiel flog beschwerlich langsam durch die weiße Pracht, die ihn mit jeder zweiten Windböe, die ihm entgegen wehte, immer wieder auf seinem Weg zu Michaels Villa zurückdrängte. Nun kam ihm der Gedanke, dass er Aarons Angebot, ihn in seinem Auto mitzunehmen, vielleicht besser angenommen hätte, doch er schob ihn gleich darauf wieder beiseite, da es ihm, als Erzengel der höchsten Ordnung, doch etwas entwürdigend vorgekommen wäre, sich neuerdings aufgrund einbisschen Schnees in einem Fortbewegungsmittel der Menschen herumkutschieren zu lassen. Das ging ihm, zugegeben, trotz allem gegen den Strich. Die kühle Luft peitschte auf seine Haut und auch wenn Engel wesentlich resistenter auf Kälte und Hitze reagierten als Menschen, so wurde es nach geraumer Zeit doch ein wenig unangenehm. Er furchte die Stirn, als er verzweifelt versuchte, gegen den Wind anzukämpfen und durch die dichten Schneeflocken hindurch etwas erkennen zu können. Nach etlichem Geblinzel erkannte er das große, schmucke Haus von seinem Übergeordneten und gutem Freund Michael. Er strengte sich die letzten paar Meter besonders an, um voranzukommen und als die riesige Auffahrt genau unter ihm lag, setzte er zur Landung an. Er erblickte Aarons alten rotbraunen Opel Ascona, der gerade vor der massigen Eingangstür parkte und der Besitzer anschließend ausstieg. Er fand es nun doch ein wenig beruhigend, dass er trotz der Hindernisse während des Fluges zur gleichen Zeit wie Aaron angekommen war. Er kam mit beiden Füßen standfest auf dem Betonboden der Einfahrt auf und ließ seine Flügel anschließend wieder verschwinden. Es war sehr von Vorteil, dass alle Engel einen Unsichtbarkeitszauber wirken konnten, um beim Fliegen vor den Blicken der unter ihnen sich befindenden Menschen abgeschirmt zu sein. Andererseits wären sie ziemlich sicher schon aufgeflogen. Auch wenn ein Großteil aller Engel sich so gut wie nie auf der Erde aufhielt, abgesehen von den Schutzengeln der Menschen, aber die waren sowieso stets vor dem menschlichen Auge geschützt, so hatten jedoch die Erzengel oder auch einige Cherubim und Seraphim, zwei weitere Ränge der Engelsordnung, des Öfteren Aufträge hier in der Menschenwelt. Und sie könnten es sich auf keinen Fall leisten, entdeckt zu werden. Barachiel schlenderte auf Aaron zu, der gerade die Autotür auf der Fahrerseite zuschlug. Er erblickte den Engel und nickte ihm kurz zu, bevor sie dann das große, beeindruckende Haus des bekannten Erzengels Michael betraten.

Aaron trat über die Schwelle der massiven Holztür der Villa und stand nun in der wunderschön eingerichteten Eingangshalle und sah sich, wie jedes Mal, wenn er das Haus betrat, ehrfürchtig um.
"An so ein Haus könnte ich mich doch glatt gewöhnen.", dachte er beinahe sehnsüchtig, als er plötzlich bemerkte, wie Barachiel in den nächsten Raum stürmte, um sich auf die Suche nach Michael zu machen. Er hatte erneut dieses Gefühl... Ein Gefühl, das er immer und immer wieder verspürte, wenn er sich in diesem Haus und somit in der Gegenwart von äußerst mächtigen Wesen aufhielt. Michael und Barachiel waren keine gewöhnlichen Engel, sie waren Erzengel der ersten und somit höchsten Ordnung und auch wenn Aaron noch nie Zeuge des Ausmaßes ihrer Kräfte geworden war, so reichte allein schon eine Berührung oder ein kurzer, ungewollter Blick in ihre Seele aus, um auch nur für höchstens zwei Sekunden diese unglaubliche Macht zu erfahren. Er musste zugeben, dass er große Ehrfurcht ihnen gegenüber empfand, jedoch musste er öfters feststellen, dass sich darunter auch Angst mischte. Angst vor dem Unbekannten und dem Ungewissen. Gegenüber Menschen, egal welchen Alters, fühlte er sich stets überlegen, da er sie jederzeit lesen und ihre Absichten herausfinden und dementsprechend reagieren konnte. Doch die Engel waren ihm überlegen, bei weitem, da sie unberechenbar und so gut wie garnicht zu lesen waren. Auch kannte er sie gerade mal knapp zwei Jahre und in der geringen Zeit hatte er nicht viel davon mit ihnen verbracht, da er größtenteils mit Engeln einer niederen Ordnung konfrontiert worden war. Auch wenn Propheten sehr von ihnen geschätzt wurden, so war er doch nicht der auserwählte Prophet der Erzengel. Diesen Titel trug jemand anders und zu seiner Befürchtung vermutete er, dass dieser jemand Nalia Handlesmith war, das süße und doch etwas tollpatschige Mädchen, in das er erst vor nicht mal einer Stunde hineingerannt war. Warum er kein gutes Gefühl dabei hatte, ließ sich wohl darauf schließen, dass er sich Sorgen machte, sie könne dieser Bürde und diesem Druck, der auf einem Propheten, und vor allem auf einem Propheten der Erzengel, lastete, nicht standhalten. Ihr Leben würde sich von Grund auf verändern, weil der auserwählte Prophet dazu bestimmt war, aller Leben zu verändern. Das Leben aller Menschen auf dieser Welt...
Aaron grübelte weiterhin nach, während er Barachiel durch das riesige Haus stillschweigend folgte. Zuerst raste er in Michaels Büro, das eher einer kleinen Bibliothek gleichkam, doch dort schien er sich um diese Zeit nicht aufzuhalten, somit versuchte er sein Glück im Wohnzimmer, wo er auch nicht war. Barachiel schien bereits leicht gereizt und als sein grimmiger Blick Aaron streifte, zuckte er unwillkürlich zusammen. Er würde sich wohl nie an Barachiels Launen gewöhnen können. Außerdem hatte er den leisen Verdacht, dass dieser ihn nicht besonders gut leiden konnte, denn er wirkte ihm gegenüber immer so reserviert und kühl. Er war sich nicht ganz so sicher, ob er nicht vielleicht jedem so resigniert gegenübertrat, doch ihm kamen augenblicklich Zweifel, als sie den Speisesaal betraten und er den am langen, reichverzierten Tisch aus Mahagoniholz sitzenden Michael freudestrahlend begrüßte.
"Sei gegrüßt, Bruder. Ich hatte dich um diese Zeit eher in deinem Büro erwartet, weshalb ich mal wieder herumgeirrt bin wie ein blinder Esel."
Michael lachte ein kehliges Lachen und strahlend weiße Zähne blitzten auf. Er vernahm bei jedem Schritt, den Aaron weiter auf den Mann zuging, eine weitere Welle von Macht, eine stärker als die andere. Ein unangenehmer Knoten bildete sich in seinem Magen und er verharrte zaghaft drei Meter von ihnen entfernt. Michael wollte anschließend zu einer Erwiderung ansetzen, als er Aaron plötzlich im großen Türbogen stehen sah und innehielt. Dann sagte er:
"Ah, Aaron, was für eine angenehme Überraschung, dich auch mal wieder in meiner Villa begrüßen zu können. Es ist schon einige Zeit her, dass wir einander gesehen haben. Nun, wie ist es dir ergangen in der letzten Zeit? Kommst du in der Schule gut voran?"
Aaron sah dem Mann überrascht ins Gesicht und wurde anschließend von zwei eisblauen Augen herablassend gemustert, als Barachiel sich zu ihm umdrehte. Er versuchte, sich nicht unter seinem zornigen Blick zusammenstauchen zu lassen und wandte ihn ruckartig wieder zu dem wartenden Michael. Er antwortete zögerlich:
"Ähm... Ja, mir ist es gut ergangen. Danke der Nachfrage, Michael. Ich bin auch froh, mal wieder hier sein zu dürfen."
Aaron trat leicht verlegen von einem Fuß auf den anderen und übergab nun dem ungeduldigen Barachiel wieder stillschweigend Michaels Aufmerksamkeit. Dieser forderte nun von ihm:
"Nun, was ist denn so dringend, dass du es auf dich nimmst, wie ein blinder Esel herumzuirren, Bruder?"
Barachiel schien jetzt wesentlich erfreuter, nun da er endlich seine langersehnte Verkündigung preisgeben konnte.
"Ich habe eine sehr gute Nachricht, Michael. Und auch wenn ich mir noch nicht zu hundert Prozent sicher bin, dass es wirklich stimmt, so ist es doch auf jeden Fall von Nöten, dir selbst meine Vermutungen kundzutun. Ich glaube, dass ich den auserwählten Prophet der Erzengel ausfindig gemacht habe." Michael erhob sich bereits von seinem königlichen Stuhl und wartete ehrfürchtig auf die Fortsetzung von Barachiels Worten. Dieser fuhr nun fort und erklärte jedoch etwas zögernd:
"Nun, sagen wir mal, dass die Prophezeiung eines außer Acht gelassen hat..."
Michael wurde nun noch hellhöriger und fragte mit Zweifel in der Stimme:
"Und was sollte das bitteschön sein, alter Freund?"
Sein Gegenüber trat noch einen weiteren Schritt auf ihn zu und sagte dann mit beinahe flüsternder Stimme, so als ob er ein Geheimnis weitererzählen wolle:
"Nun... Es scheint als sei der auserwählte Prophet der Erzengel.. ähm, eine auserwählte Prophetin!"



Ihr Antlitz flammte lebhaft,
ihr Gefieder war lauteres Gold;
sonst waren sie so weiß, dass
nie auf Erden fällt solch Schnee
hernieder.
Wenn sie zur Blume sanken,
Kreis um Kreis, da gaben sie,
vom Frieden und vom Lieben,
was sie im Fluge eingesammelt,
preis.
- Dante Alighieri

Kapitel 5

Ich saß nun endlich wieder auf meinem Platz, nachdem ich nach etlichem, zerstreutem Suchen meine Klasse schlussendlich gefunden hatte und starrte wie hypnotisiert auf die leere Tafel. Obwohl ich gute zwanzig Minuten zu spät zum Unterricht erschienen war, hatte ich erstaunlich wenig Ärger von meiner Französischlehrerin bekommen. Ich hatte ihr gesagt, mir wäre übel gewesen und hätte deswegen dringend an die frische Luft gehen müssen. Sie hatte nur sehr kurz misstrauisch geguckt, doch als sie mich dann etwas genauer betrachtete, musste sie wohl den Eindruck bekommen haben, dass ich wirklich krank sei und hatte mich ohne Widerrede meinen Platz im Klassensaal aufsuchen lassen. Bianca und Robin hatten mich mit äußerst besorgten Mienen gemustert, doch ich hatte bloß nichtssagend abgewunken und vergeblich versucht, mich dann auf das Gerede meiner Lehrerin zu konzentrieren. Hach ja... Französisch, nicht gerade meine Stärke, aber ich strengte mich immer sehr an, um dem Unterricht folgen zu können. Auch wenn meine Noten von etwas anderem zeugten. Aber es war ja der gute Wille, der zählte. Ich verstand zwar kein Wort, das aus ihrem Mund kam, aber ich glaubte, dass das eher darauf zu schieben war, dass ich trotz jeder Mühe nur mit einem Ohr zuhörte. Ich versuchte wirklich unserem jetzigen Thema, einem Epos mit dem Namen "La Chanson de Roland", zu folgen, aber meine aufgewühlten Gedanken kamen mir immer wieder in die Quere. Dieser eigenartige, neue Junge, der mir mit seiner Berührung einen Elektroschock verpasst hatte. Hallo, konnte es eigentlich noch verrückter werden? Ich schüttelte verloren den Kopf, als es plötzlich in meiner Hosentasche vibrierte und ich mein Handy unauffällig hervorzog. Ich sah, wie Biancas Name auf dem Bildschirm stand und öffnete dann die Mitteilung, in der stand:
"Alles okay bei dir? Du siehst ziemlich blass aus... Ist was passiert, du wirkst irgendwie nachdenklich..? xoxo"
Ich seufzte und beschloss, ihr das Ganze ganz sicher nicht per SMS zu erklären. Eigentlich hatte ich überhaupt nicht vor es ihr zu erzählen, weder ihr noch Robin noch sonst irgendjemandem. Aber ich versuchte meine Antwort nicht gerade in diesen Worten zu formulieren, sonst würde sie vermutlich noch wütend werden. Somit schrieb ich:
"Nein, alles okay. Mir war nur vorhin etwas schwindelig, das ist alles. Danke aber für deine Fürsorge, das weiß ich zu schätzen! :)"
Ich schickte die Mitteilung ab und steckte das Mobiltelefon wieder zurück in die Tasche meiner Jeans. Ich sah erneut hoch auf die Tafel auf der nun ein kleiner Satz stand. Ich notierte ihn schnell in meinem Heft, als meine eigene Schrift auf ein Mal verschwamm. Es wurde so schlimm, dass ich ab einem bestimmten Punkt überhaupt nichts mehr schreiben konnte. Ich ließ den Kugelschreiber erschrocken fallen, als meine Sicht immer unklarer wurde. Es fühlte sich an, als würde ich mit geöffneten Augen unter Wasser tauchen. Es tat nicht weh, aber es war, als würde eine unsichtbare Kraft auf meine Augäpfel drücken. Ich sah panisch von meinem Blatt hoch und erblickte nur noch verschwommene Silhouetten. Ich erkannte niemanden mehr, nur die schattenhafte Gestalt meiner Lehrerin, die vorne an ihrem Pult saß und irgendetwas erklärte, was ich nicht bloß wegen der Sprache, die sie sprach nicht verstand, sondern auch deswegen nicht, weil mein Gehör, genau wie meine Sehkraft immer mehr nachzulassen schien. Was war das? Wurde ich jetzt vollkommen irre? Der ganze Raum um mich herum schien wie erleuchtet, von Licht überflutet und dann sah ich meine Mitschüler nur noch als ganz helle Lichtflecken. Ich rieb mir die Augen, in der Hoffnung, dieses beunruhigende Ereignis läge bloß daran, dass ich irgendwas ins Auge bekommen hatte. Doch es veränderte sich nichts, ich befand mich immer noch in einer Klasse übersät mit blendenden Scheinwerfern. Doch auf ein Mal, als ich noch nicht einmal mehr die Silhouetten meiner Mitschüler ausmachen konnte, erschienen merkwürdig verzerrte Schatten neben ihnen. Ich konnte neben jedem einzelnen Schüler, dessen Standort ich bloß vermuten konnte, eine schattenhafte, stehende Gestalt ausmachen. Sie wurden in jeder Sekunde, die verging klarer und klarer. Als sie so deutlich wurden, dass ich sie fast genauso klar erkennen konnte wie vorher meine Mitschüler, lief mir ein kalter Schauer über den ganzen Körper. Diese Wesen sahen fast genauso aus wie Menschen, nur schienen sie leuchtende Flügel auf dem Rücken zu tragen. Viele von ihnen hatten schützend eine Hand auf die Schulter oder den Kopf ihres Schützlings gelegt und mir wurde augenblicklich bewusst, dass das Schutzengel waren. Oh mein Gott, ich sah doch nicht wirklich gerade die Schutzengel meiner Kumpel, oder? Als ich meinen Blick nach vorne zum Lehrerpult schweifen ließ, sah ich einen glatzköpfigen, lächelnden Mann mit elfenbeinfarbenen Flügeln, der seine beiden ausgestreckten Hände über dem Haupt meiner Französischlehrerin schweben ließ und irgendetwas vor sich hin murmelte. Als er dann innehielt und seine Hände wegnahm, hob er den Blick und durchbohrte anschließend mich mit seinen waldgrünen, schmalen Augen. Er musterte mich kurz, hielt meinem Blick stand und sagte dann, mehr zu sich selber als zu mir:
"Das könnte interessant werden."
Bevor ich näher auf seine Worte eingehen und ihm die Frage stellen konnte, warum ich ihn auf ein Mal sehen konnte, wurde seine Gestalt auch schon verzerrt und verschwand allmählich. Während die Konturen der Schutzengel um mich herum immer undeutlicher wurden, verdunkelte der Klassensaal sich wieder und der ganze vorherige Prozess schien sich nun rückwärts abzuspielen. Dann fand ich mich, mit schweißnassen Händen, unglaublicher Gänsehaut und höllischen Kopfschmerzen in meinem nun wieder komplett sichtbaren Klassensaal wieder. Meine Atmung war beschleunigt, sie ging viel zu schnell und auch wenn mir das bewusst war, so war ich doch nicht im Stande, sie zu verlangsamen. Ich hatte meine Augen, die übrigens wie Feuer brannten, noch immer sperangelweit geöffnet und versuchte vergeblich sie zu schließen. Ein schrilles Pfeifen wütete in meinen Ohren und ich hatte das Bedürfnis, die Hände auf sie zu pressen und zu schreien, nur damit ich wenigstens versuchen konnte, es zu übertönen. Aber ich wusste natürlich, dass ich das nicht tun konnte, die anderen würden mich glatt für verrückt halten. Wobei sie vermutlich noch nicht einmal so falsch lägen... Denn ich zweifelte gerade selber an meinem Verstand, aber wer würde das nicht tun, wenn er der Meinung war, die Schutzengel seiner Mitschüler gesehen zu haben?
Als das Pfeifen zu einem Klingeln wurde und das Klingeln zu einem leisen Piepsen, schöpfte ich wieder ein wenig Hoffnung, mein Gehör doch wieder irgendwann zurückzuerlangen. Und während ich darauf wartete, die besorgten Worte meiner Lehrerin verstehen zu können, da mein Talent fürs Lippenlesen zu wünschen übrig ließ, schaffte ich es endlich meine Augen zu schließen und tief durchzuatmen. Dann vernahm ich einige zusammengewürfelte Ausrufe meiner Freunde, die es schlussendlich schafften, sich durch meine mit Watte vollgestopften Ohren zu drängen.
"Mademoiselle... Nalia, est-ce que vous ne vous sentez pas bien? Nalia, ist alles in Ordnung mit Ihnen? So antworten sie mir doch!"
"Nalia, bitte, sag doch was..."
Ich rang mir ein leichtes Kopfnicken ab und bemerkte erst jetzt, dass meine Hände zu zittern angefangen hatten. Ich öffnete meine Augen nun wieder und schenkte meiner Umgebung ein gezwungenes Lächeln. Ich hatte niemand Bestimmtes im Blick, da ich völlig hypnotisch auf die Stelle starrte, an der vorhin der Schutzengel meiner Lehrerin gestanden hatte. Dann wurde ich an der Schulter gerüttelt und endgültig aus meiner Trance gerissen. Es war Bianca... Sie sah mich aus angst- und sorgeüberfüllten Augen an und drückte meine Schulter mit einem festen Händedruck, vermutlich, um sicher zu gehen, dass ich nicht schon wieder mit meinem Bewusstsein abschweifen würde. Dann erwiderte ich ihren Blick lange und stammelte mit zittriger Stimme:
"Ähm... Ich weiß nnn-nicht so rr-recht... Ich .. fühle mich nicht so gut... Ich möchte lieber nach Hause gehen. Ist das in Ordnung, Madame Gervaise?"
Sie nickte stürmisch und erwiderte ohne zu zögern:
"Oh ja, natürlich, Nalia, gar keine Frage! Nehmen sie mir das nicht übel, aber sie sehen wirklich furchtbar aus! Ich rufe lieber ihre Eltern an..."
"Nein! Äh, ich meine... Nein danke, ich kriege das schon hin. Alleine...", wandte ich schnell ein und fing bereits an, meine Schreibutensilien und mein Heft einzupacken. Ich nahm meine braune Umhängetasche aus Leder auf meinen Schoß und verstaute alles nachlässig darin. Noch während meine Lehrerin und nun auch Robin und Bianca weitere Protestversuche starteten, mich besser nicht allein nach Hause gehen zu lassen, hatte ich mich auch schon von meinem Stuhl erhoben und marschierte mit schwachen und zittrigen Beinen auf die Ausgangstür zu. Und noch in dem Moment, als ich mit unsicheren Schritten den Saal verließ und die besorgten Stimmen hinter mir immer schwächer wurden, betete ich, dass mein Schutzengel, den ich vorhin als einziger nicht gesehen hatte, doch vorhanden war und sein Bestes geben würde, um mich sicher und unverletzt nach Hause zu geleiten.


Kapitel 6

"Der Wunsch unseres Schutzengels, uns zu helfen,
ist weit größer als der, den wir haben, uns von
ihm helfen zu lassen."

- Don Basco (ital. Priester und Ordensgründer)

Michael durchbohrte Barachiel mit einem verwirrten und perplexen Blick und fragte, noch immer unschlüssig:
"Wie meinst du das, der Auserwählte ist eine Prophetin?"
Barachiel verdrehte innerlich die Augen, da man es ja wohl kaum noch deutlicher ausdrücken konnte, aber er versuchte den herablassenden Ton zu unterdrücken und antwortete dann mit ruhiger und geduldiger Stimme:
"Nun, Michael, damit meine ich, dass die auserwählte Prophetin der Erzengel, unsere Prophetin, ein sechzehnjähriges Mädchen ist. Das übrigens ein klein wenig unfreundlich sein kann... Michael, ich bin mir, wie bereits gesagt, nicht hundertprozentig sicher, aber du warst nicht dabei, als diese unglaublichen Machtschwingungen von ihr ausgingen. Und als ich sie kurz an der Schulter berührte, da durchzuckte es mich und ein Bild leuchtete in meinem Kopf auf. Es war ein Bild von dir, Michael... Ein Bild von dir mit ausgebreiteten Flügeln! Wie in Gottes Namen sollte sie im Stande sein, deine Gestalt als Engel zu kennen? Wie, wenn sie nicht die Auserwählte ist?"
Michael hatte die Augen weit geöffnet und starrte wie gebannt auf irgendeinen Punkt hinter Barachiel. Er schien fieberhaft nachzudenken. Dann fragte er noch einmal nach, um sicherzugehen:
"Und du bist dir auch ganz sicher, dass ich dieser Engel war?"
Barachiel seufzte so leise wie möglich, doch natürlich entging es dem anderen Erzengel nicht.
"Bruder, wie lange kennen wir uns nun schon? Wie lange kämpfen wir schon Seite an Seite? Ich bin mir ganz sicher, Micha...", versicherte er seinem Gegenüber niedergeschlagen und wartete dessen Reaktion ab. Er schien nun noch fieberhafter nachzudenken und setzte sich dann nach einigen Augenblicken wieder auf seinen aristokratischen Stuhl. Anschließend faltete er die Hände ineinander und fragte mit gelassener Stimme:
"Weißt du sonst noch etwas über sie? Abgesehen von der Tatsache, dass sie im Stande ist, meine wahre Gestalt zu sehen ohne mir überhaupt schon einmal begegnet zu sein und dem Detail, dass sie ein klein wenig unfreundlich ist..."
Michael schaffte es, sich ein schwaches Lächeln abzugewinnen und sah nun seinem Freund erwartungsvoll ins Gesicht. Dieser überlegte kurz und erklärte:
"Nun, ich weiß, dass sie Nalia Handlesmith heißt, da ich ein wenig in den Akten des Direktors herumgewühlt habe und dass sie heute sechzehn Jahre alt geworden ist. Was darauf hinweist, dass die Kräfte des Auser... ich meine, der Auserwählten, genau wie bei gewöhnlichen Propheten wie Aaron, im sechzehnten Lebensjahr aktiviert werden. Genauere Informationen sind mir verwehrt geblieben, aber ich habe mich in ihrer Klasse eingeschrieben und auch schon Bekanntschaft mit ihr gemacht, was bedeutet, dass ich sie näher kennenlernen und mehr über sie und ihr bisheriges Leben herausfinden kann. Und das Wichtigste: für ihren Schutz sorgen kann, denn ich bin mir sicher, dass es nicht lange dauern wird, bis Luzifer und seine dreckigen Dämonen von der Machtquelle, die von ihr ausgeht, Wind bekommen und sie sich zu Eigen machen wollen."

Michael stimmte ohne Umschweife zu und wollte gerade das Ende ihres Gesprächs verkünden, als Aaron einen schnellen Schritt nach vorne trat und die Stimme erhob, um etwas einzuwerfen.
"Ähm, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Michael, würde ich noch gerne kurz etwas zu diesem Gespräch hinzufügen..."
Der Angesprochene nickte stürmisch und sagte:
"Ja ja, natürlich, Aaron! Tu dir keinen Zwang an."
Er schenkte ihm ein freundliches Lächeln, woraufhin der etwas zurückhaltende Aaron fortfuhr:
"Danke... Also, was ich sagen wollte, ist, dass ich noch etwas über Nalia Handlesmith weiß. Sie ist mir zwar vom Charakter her nicht so vertraut, aber ich kenne sie schon seit zwei Jahren und sie ist zwei Stufen unter mir. Außerdem geht sie in die Klasse gegenüber meiner und wir haben zusammen Sport. Sie wohnt in der Kipling Street, welche nur einen Block von meiner Wohnstraße entfernt ist und ihre Eltern heißen Karl und Jasmine Handlesmith. Ich weiß nicht, ob diese Informationen hilfreich sind, aber es schadet ja nicht, es zu wissen..."
Michael und Barachiel sahen ihn beide stillschweigend an, als Barachiel erwiderte:
"Doch, die Adresse ist hilfreich, da es leider sein könnte, dass ich selbst ab und zu ein Auge auf sie außerhalb der Schule haben müsste. Sonst noch was oder war das alles?!"
Er sah Aaron mit einerseits erwartungsvollen andererseits herablassenden Augen an und wartete auf noch eine Information, die auch wirklich von Belang war.
"Ähm... ehrlich gesagt, ist da noch etwas, aber ich weiß nicht, wie ihr darauf reagieren werdet."
Die beiden Erzengel tauschten verwirrte Blicke und dann sprach Michael:
"Versuch es doch einfach mal."
Aaron schien es offensichtlich nicht zu behagen bei dem, was er nun verkünden würde, aber er atmete kurz geräuschvoll aus und erklärte dann zögernd:
"Also, vorhin, als ich noch in der Schule war, da bin ich zufällig in Nalia hineingerannt, als sie um die Ecke gerast kam. Ich hatte sie wirklich nicht gesehen, sie stand einfach plötzlich vor mir. Naja, wie dem auch sei... Als sie sich dann vom Boden aufgerappelt und eine kurze Schimpftirade auf mich losgelassen hatte, da hatte ich, wie immer, wenn ich mit mir fremden Menschen zu tun bekam, versucht, sie zu lesen... Und naja, ich... Bei ihr konnte ich es irgendwie nicht. Ich kann es mir selbst nicht erklären, aber als ich versuchte, ihr in die Seele zu schauen und ihr wahres Ich zu erkennen, da sah ich... nichts. Reingarnichts!"
In den Gesichtern der sonst so gelassenen und gefassten Engel, spiegelten sich Unglaube und Verwirrtheit. Sie verloren die Kontrolle über ihre Mienen und gaben ihr Unwissen über dieses noch nie vorgekommene Phänomen offen preis. Aaron wartete ihre Antworten etwas ungeduldig ab und jede Sekunde, die verging, war zum Reißen gespannt. Er fühlte sich unwohl und wusste nicht so recht, was sie nun denken würden. Vielleicht würden sie dieses Vorkommnis auch einfach bloß auf seine Unfähigkeit schieben und ihm vorwerfen, es nicht richtig gemacht zu haben. Aber sie wussten, dass es Aaron bisher immer und bei jedem gelungen war, seine Kräfte richtig anzuwenden und dass es sicher nicht an ihm liegen konnte. Zu Aarons Erleichterung sahen die beiden anderen das auch so, denn als Michael verkündete, dass er sich aufmachen würde, um sich über diese eigenartige Immunität Nalias zu informieren, nickte Barachiel und sagte, dass er sich wieder auf den Weg zur Schule machen würde, um Nalia auch weiterhin zu beaufsichtigen. Michael erhob sich und dankte Aaron für diese äußerst nützlichen Informationen, um sich dann anschließend von den beiden zu verabschieden. Er verließ den Raum, um den Weg in seine Bibliothek aufzunehmen und nun machten sich auch die Zurückgebliebenen auf den Weg nach draußen.


Kapitel 7

"Die Engel sind uns ganz nahe und schützen uns und
Gottes Kreaturen in seinem Auftrag.
Um uns schützen zu können, haben sie lange Arme,
damit sie mit Leichtigkeit Satan
verjagen können."

- Martin Luther

Ich taumelte, noch immer leicht vom Schwindel gepackt, aus dem Schulgebäude und musste kurz stehen bleiben, um mich zu orientieren. Als mir wieder einfiel, dass ich nach rechts gehen musste, um auf den Weg nach Hause zu gelangen, musste ich meine Schultasche erneut schultern, damit sie mir nicht wegrutschen würde. Dann setzte ich vorsichtig einen Fuß vor den anderen und setzte mich anschließend wieder in Bewegung. Mein Kopf dröhnte noch immer lautstark und ich musste ab und zu die Augen schließen, um Konzentration zu sammeln. Ich setzte meinen Weg jedoch stur fort und war fest entschlossen, erst umzukippen, wenn ich vor meiner Haustür stand. Die kühle Luft hauchte mir jedoch jedes Mal, wenn mich die Übelkeit packte, eine angenehme Brise ins Gesicht, wodurch ich mich gleich wieder etwas besser fühlte. Ich fragte mich wirklich, was mit mir los war... Vielleicht wurde ich krank, vielleicht hatte ich mich erkältet oder mir irgendeinen Virus eingefangen. War ja um diese Zeit nicht selten. Zwar brachten eine Erkältung oder ein Magen-Darmvirus Symptome wie Übelkeit, Schwindel und Kopfschmerzen mit einher, aber ein Symptom, das einen Schutzengel sehen ließ, war mir bisher unbekannt gewesen. Ich hätte vielleicht über diesen Gedanken gelacht, wäre mir nicht so bange dabei gewesen. Ich merkte, dass ich nur noch knappe zwei Blocks von meiner Straße entfernt war und schöpfte nun wieder Hoffnung und beschleunigte meine Schritte.

Barachiel hatte eigentlich vorgehabt, wieder zurück zur Schule zu fliegen, aber da Aaron das gleiche Ziel hatte und er ihn überredet hatte, mitzufahren, hatte er das Angebot aus Höflichkeit angenommen und war ins Auto eingestiegen. Zwar kam er sich ein wenig blöd darin vor, aber es erinnerte ihn an die Zeit, als er auch oft mit Autos gefahren war. Er hatte es sogar regelrecht geliebt, vor allem, da er seinen Wagen geliebt hatte. Das war zwar in den fünfziger Jahren gewesen, was wahrlich das beste Jahrzehnt von allen gewesen ist, aber er schwelgte trotzdem noch gerne in Gedanken bei seiner Borgward Isabella Coupé. Ein Traumauto, das nun in Michaels Garage stand und noch immer darauf wartete, wieder von ihm gefahren zu werden. Aber er hatte im Moment definitiv Wichtigeres zu tun, als mit seinem Auto in der Gegend herum zu fahren. Er saß auf dem Beifahrersitz und guckte gedankenverloren zum Fenster raus, als er glaubte, in der Ferne ein Mädchen zu erblicken, das große Ähnlichkeit mit Nalia hatte. Er kniff die Augen zusammen, um sie genauer registrieren zu können, als er begriff, dass dieses Mädchen Nalia war. Und sie sah, ehrlich gesagt, nicht gut aus. Sie sah sogar furchtbar aus... Ihr Gesicht hatte so eine ungeheure Blässe angenommen, dass sie kaum noch von der schneebedeckten Umgebung zu unterscheiden war. Ihre Haare standen etwas wirr in der Gegend rum und unter ihren Augen waren tiefe Schatten zu erkennen. Mein Gott, sie sah aus, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Was war bloß mit ihr geschehen? Heute Morgen hatte sie noch ganz anders ausgesehen...
"Aaron, halt kurz an!", befahl Barachiel mit einem besorgten Unterton in der Stimme.
Aaron schenkte ihm einen verwirrten Blick als Erwiderung, als Barachiel anschließend mit dem Finger in die Richtung zeigte, in der Nalia über den Bürgersteig taumelte. Aaron erschrak und schaffte es nur knapp, eine Vollbremsung zu verhindern. Er verlangsamte das bisherige Tempo erheblich und tuckerte nun gemächlich zum Straßenrand hin, wo er anhielt und das Fenster hinunterkurbelte. Nalia kam gerade an ihnen vorbei, als sie den Blick auf sie lenkte und verwirrt die Stirn runzelte.
"Aaron?", fragte sie überrascht und als sie Barachiel erblickte, wurde sie noch perplexer und fügte noch erstaunter hinzu: "Du? Was... Was macht ihr denn hier? Müsstet ihr nicht in der Schule sein?"
Barachiel öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Dann erwiderte er:
"Könnte ich dich nicht eigentlich dasselbe fragen? Aber ich sehe schon, was der Grund ist... Komm, steig ein, wir fahren dich nach Hause."
Er wollte ihr schon die Schultasche abnehmen, als sie sie störrisch festhielt und sagte:
"Man soll nicht in fremde Autos steigen!"
Barachiel verdrehte genervt die Augen und war kurz davor, ihr die Tasche gewaltsam zu entreißen, als er jedoch überlegen konterte:
"Ja, das soll man wirklich nicht. Nur zu blöd, dass wir keine Fremden sind, was?! Na los, Nalia, nun steig schon ein, ich seh doch, dass es dir nicht gut geht..."
Nalia überlegte einen Augenblick, seufzte dann ergeben und ließ ihre Tasche prompt fallen. Barachiel war zwar nicht darauf gefasst gewesen, bekam sie aber noch rechtzeitig zu packen, bevor sie auf dem Boden aufschlagen konnte. Dann ging Nalia an ihm vorbei und öffnete die Hintertür von Aarons Auto. Sie setzte sich ohne auch nur noch ein Wort an Barachiel zu richten und schlug sie dann beinahe lautstark zu. Anschließend grinste er selbstgefällig, nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz und sie fuhren los, in Richtung Kipling Street.

Ich saß nun im Hinterbereich von Aarons altem Opel und mir stieg unweigerlich der Geruch von alten, muffigen Socken in die Nasenhöhlen. Ich rümpfte angewidert die Nase und mir fiel erst jetzt auf, dass auf dem Sitz neben mir Aarons Sporttasche lag, der Reißverschluss beinahe provokativ geöffnet und mir nun noch übler wurde. Ich griff zögernd und mit abartigem Ausdruck im Gesicht in die Tasche und brachte ein Paar dreckiger, ungewaschener Socken und ein streng riechendes T-Shirt ans Tageslicht. Ich ließ es augenblicklich fallen, als hätte ich es mit einer giftigen Schlange zu tun und sagte dann, halb unter Würgelauten:
"Mann, Aaron, hast du eigentlich noch nie was von einer Waschmaschine gehört? Das ist echt 'ne nützliche Erfindung, solltest du wirklich mal probieren..."
Aaron hatte erst jetzt mein Treiben im Rückspiegel bemerkt und griff nun hastig hinter seinen Sitz und ließ die Tasche auf dem Boden verschwinden. Er schenkte mir ein verlegenes, sogar peinlich berührtes Lächeln und entschuldigte sich:
"Sorry, hatte gestern nach der Schule Baseballtraining und hatte bisher keine Zeit, die Tasche loszuwerden... Ich hätte dich ja gerne vorgewarnt, dass auf dem Hintersitz Kontaminierungsgefahr besteht, aber ich hatte das vollkommen vergessen."
Ich musste augenblicklich lachen und mein Ekel war schlagartig verschwunden. Auch wenn Aaron ein wenig verwirrt schien aufgrund meiner Reaktion auf seine Worte, so fiel er doch mit in mein Lachen ein. Dabei wurden wir beide bloß von argwöhnischen, eisblauen Augen gemustert, die bisher stillschweigend auf dem Beifahrersitz verharrt hatten. Ich verstummte allmählich und musste wieder ein Mal feststellen, dass dieser neue Junge irgendwie merkwürig und auch einbisschen unheimlich war. Woher die beiden sich wohl kannten?
"Hey, Jungs... Ich wusste garnicht, dass ihr beiden euch kennt. Ich dachte, du wärst neu auf der Schule.", sagte ich, letzteres an den dunkelhaarigen Jungen gewandt. Aaron schaute mich noch einmal kurz im Rückspiegel an, warf dann seinem Freund auf dem Beifahrersitz einen unsicheren Blick zu. Dann antwortete der befragte Junge:
"Ich bin auch neu, ob du's glaubst oder nicht... Aaron und ich kennen uns schon eine geraume Zeit. Wir... sind alte Freunde aus Kindertagen..."
Ich machte ein erstauntes Gesicht und fragte dann mit übertrieben interessierter Stimme:
"Ach so... Aus Kindertagen, also... Wow! Von wo bist du denn eigentlich hierhergezogen?"
Das interessierte mich zwar wirklich, aber ich wollte es nicht gerade zu offensichtlich machen, deswegen zog ich es ein wenig ins Lächerliche. Er drehte sich nun zu mir um und durchbohrte mich mit seinen unglaublich erstaunlichen, blauen Augen. Dann erwiderte er:
"Du bist ziemlich neugierig, hat dir das eigentlich schon jemand gesagt?!"
Ich täuschte vor, nachzudenken und antwortete dann schließlich:
"Hmm... Nein, eigentlich nicht!"
Er musste lächeln und augenblicklich durchfuhr ein angenehmer Schauer meinen Körper und meine Nackenhärchen stellten sich auf. Ich versuchte es, so gut es ging, zu ignorieren, aber das Bauchkribbeln, das direkt danach einsetzte, war sehr schwer zu unterdrücken. Um mich abzulenken, hakte ich weiter nach:
"Nun? Wo hast du vorher gewohnt?"
Sein Grinsen blieb, doch ich merkte, wie das Leuchten seines vorherigen Lächelns seine Augen verließ. Ich kam mir zwar inzwischen ein klein wenig unhöflich vor, aber wenn er es mir wirklich nicht hätte sagen wollen, dann hätte er garnicht erst gelächelt. Dann, zu meiner Verwunderung, antwortete er sanft:
"Ich bin ursprünglich aus Vancouver, wenn du es unbedingt wissen willst."
Nun war ich wirklich ein wenig erstaunt und ich fragte:
"Echt? Du bist aus Kanada? Hey, Aaron, wir haben einen waschechten Kanadier an Bord!"
Ich lachte und auch Aaron musste grinsen, auch wenn ich einen fragenden Blick in seinen Gesichtszügen erkennen konnte. Ich dachte mir jedoch nichts weiter dabei und fuhr mit meinem Verhör fort:
"Und was verschlägt dich nach Denver?"
Ich sah ihn solange an, bis er den Blick abwenden musste und anschließend einen tiefen Atemzug nahm. Dann erwiderte er:
"Privates..."
Nun grinste er mir wieder frech ins Gesicht und drehte sich wieder nach vorne, um auch Aaron sein triumphierendes Lächeln zu zeigen. Ich schnaufte, entschied aber nicht, mich nun vollends zurückzuziehen. Ich würde das Gespräch auf jeden Fall fortführen, weil ich nicht an dieses verrückte Ereignis denken wollte, wegen welchem ich überhaupt erst hier in Aarons Auto gelandet war. Ich respektierte die Entscheidung des Jungens und ich nahm es ihm keinesfalls übel, dass er es mir nicht verraten wollte. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich noch nicht einmal seinen Namen kannte und das war ein wenig fragwürdig angesichts der Tatsache, dass wir uns nun schon ein Weilchen unterhielten.
"Hey, wie heißt du überhaupt? Du hast mich vorhin Nalia genannt, also gehe ich davon aus, dass dir Aaron meinen Namen genannt hat. Also ist es doch nur fair, dass ich auch deinen erfahre, oder?!", fragte ich unschuldig und sah ihn mit erwartungsvollen Augen an. Er drehte sich wieder zu mir um und schenkte mir ein wunderschönes Lächeln.
"Ja, ich denke, das wäre fair... Mein Name ist Bara.. Brandon. Ja, ich heiße Brandon. Brandon Kingsley. Es freut mich ungemein, dich kennenzulernen, Nalia.", stellte er sich vor und reichte mir, so wie es sich gehörte, die Hand. Ich ergriff sie und erwiderte mit übertrieben höflicher Stimme:
"Die Freude ist ganz meinerseits, Mister Kingsley."
Wir mussten beide lächeln und als unsere Hände sich berührten, hatte ich beinahe Angst, wieder einen Elektroschock verpasst zu bekommen, doch, dem Himmel sei Dank, geschah nichts. Das Einzige, was ich aufgrund seines Händedrucks verspürte, waren eine unglaubliche und angenehme Wärme, die von seinen großen, makellosen Händen ausging und einen Schwarm Schmetterlinge, die nun erneut in meiner Magengegend herumflatterten. Wir wären wohl noch ein Weilchen so verharrt, Hand in Hand und uns anlächelnd, hätte Aaron nicht anschließend verkündet, dass wir in der Kipling Street angekommen waren und es nun für mich Endstation hieß.


Kapitel 8

"Ein Engel ist jemand, den Gott dir ins Leben schickt,
unerwartet und unverdient,
damit er dir, wenn es dunkel ist, ein paar Sterne
anzündet."

- Phil Bosmans

Barachiel wusste nicht recht, warum er ihr nicht seinen richtigen Namen genannt hatte, aber er wollte nur auf Nummer sicher gehen, um nicht gleich aufzufliegen. Er bezweifelte zwar ernsthaft, dass sie über ihn im Internet Recherche anstellen würde, aber man konnte heutzutage nicht vorsichtig genug sein. Er stieg aus, um Nalia schnell die Tür öffnen und ihr, seine Hand zur Verfügung stellend, aus dem Auto helfen zu können. Sie nahm seine Hilfe lächelnd entgegen und wieder wurde er von ihrem bezaubernden Lächeln beinahe umgeworfen. Sie entblößte jedes Mal perlweiße Zähne und ihre braungrünen Augen strahlten ihn an. Es war ein merkwürdiges, aber gutes Gefühl, das ihn übermannte, wenn er ihr in die Augen sah, aber es war auch ungewohnt. Er dachte sich nichts weiter dabei und ließ Nalias Hand los, als sie neben ihm einen festen Stand eingenommen hatte. Sie dankte Aaron noch schnell für die Mitfahrgelegenheit und verabschiedete sich anschließend von ihm. Barachiel wartete, bis sie die Tür zugeschlagen hatte und schlug dann vor:
"Komm, ich bring dich noch schnell zur Tür."
Sie wandte sich ihm zu, machte dann eine abwinkende Bewegung mit der Hand und erwiderte:
"Nein, lass mal, ist nicht nötig. Ihr beide habt schon genug für mich getan. Ohne euch hätte ich es vermutlich noch nicht ein Mal bis zu meinem Haus geschafft, also: Vielen Dank!"
Sie hatte noch keine zwei Schritte getan, als sie kurz innehielt und die Augen schloss. Sie atmete tief aus und tiefe Furchen bildeten sich auf ihrer Stirn. Barachiel fragte:
"Hey, alles in Ordnung?"
Sie schlug schnell wieder die Augen auf und sah ihm erschrocken ins Gesicht. Sie antwortete mit schwacher Stimme:
"Ehrlich gesagt, weiß ich nicht so recht... Mir ist vorhin in der Schule was echt Unheimliches geschehen und seitdem ist mir schwindelig und ziemlich übel. Vorhin im Auto ging es, denn da konnte ich mich ein wenig ausruhen, aber jetzt hat mich wieder der Schwindel übermannt. Ach, ich muss mich einfach bloß einbisschen hinlegen, dann wird das schon wieder. Also, bis morgen, hoff ich..."
Ihm war nicht entgangen, wie sie gesagt hatte, dass ihr etwas Unheimliches widerfahren war, doch er entschied, nicht weiter nachzufragen, da er sich schon denken konnte, dass sie es ihm nicht erzählen würde. Somit sprach er sie nicht, noch nicht, darauf an und sah ihr nach, wie sie auf die Veranda ihres Hauses zutorkelte. Als sie vor der ersten Treppenstufe stand, hob sie die Arme, so als würde sie über einen schmalen Balken balancieren wollen. Barachiel kam nicht umhin, sich Sorgen um sie zu machen. Auch wenn sie seine Hilfe dankend abgelehnt hatte, so musste er ihr einfach zu Hilfe eilen.

Die Treppenstufen hatte ich zwar nicht so verschwommen in Erinnerung, aber ich entschied, es trotzdem zu versuchen. Auch wenn ich Brandons Hilfe besser hätte annehmen sollen, so hatte ich mich schon immer dagegen gesträubt, die Hilfe anderer anzunehmen. Es hatte mir schon nicht wirklich behagt, auf Aarons Angebot, mich nach Hause zu fahren, einzugehen, obwohl ich ihm unendlich dankbar dafür war. Ich hatte mich noch immer nicht getraut, die erste Stufe zu erklimmen, als mir der Gedanke kam, dass ich von hinten wohl ziemlich doof aussehen musste. Ich nahm einen tiefen Atemzug und wollte gerade mein Bein heben, um die Treppe hochzusteigen, als mich von hinten zwei starke Hände um die Taille packten und mich vorm bevorstehenden Straucheln bewahrten. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Brandon war, der mich stützte, somit ließ ich ihn gewähren und mich den Rest des Weges bis zur Haustür begleiten. Mir schwirrte immer noch der Kopf und ich hätte wirklich auf der Stelle in einen Tiefschlaf verfallen können. Doch ich zwang mich, durchzuhalten und Stufe um Stufe zu bewältigen. Als Brandon und ich nach einer gefühlten Ewigkeit endlich vor der Eingangstür standen, stützte er mich immer noch und schien auch nicht gewillt, mich loszulassen. Ich ließ den Kopf beschämt hängen und wäre am liebsten im Erdboden versunken.
"Du lässt dir wohl nicht gerne helfen, was?!", ertönte seine sanfte, harmonische Stimme an meinem Ohr und ich konnte das schiefe Lächeln, das er jetzt trug, klar und deutlich aus der Art und Weise, wie er das sagte, heraushören. Ich errötete unweigerlich und mein Kopf sank nun noch tiefer, so tief, dass mein Kinn beinahe meine Brust berührte. Ich seufzte und löste seine Hände von meiner Taille. Dann trat ich einen Schritt von ihm weg und kramte in meiner Jackentasche nach dem Hausschlüssel. Vor meinen Augen flimmerte es immer mehr, sodass ich nun sogar Probleme hatte, den Schlüssel in das Schlüsselloch zu stecken. Ich kam mir wie eine Besoffene vor... Dann wurde mir der Schlüssel vorsichtig aus der Hand entnommen und anschließend wurde die Tür von Brandon aufgesperrt. Schon wieder hatte er mir, ohne, dass ich ihn darum gebeten hatte, geholfen und mittlerweile fühlte ich mich, als wäre ich ihm etwas schuldig. Wieder entfuhr mir ein gleichzeitig verzweifeltes und erleichtertes Aufseufzen, als das Schloss klickte und die Tür leise quietschend aufsprang. Die dunkle Eingangshalle starrte mir fragend entgegen und Brandon steckte mir den Schlüssel wieder in die Tasche. Ich musste mich am Türrahmen festhalten, als Brandon mir die Schultasche abnahm, sich auf meine Größe hinunter begab und meinen Arm um seine breiten Schultern legte. Dann setzten wir uns in Bewegung und betraten das Haus.

Aaron wartete etwas ungeduldig im Auto und beobachtete Nalia und Barachiel mit argwöhnischen Augen. Er wollte sich keineswegs einmischen, aber irgendwie gefiel ihm die Art und Weise, wie Barachiel mit Nalia sprach und sie anfasste ganz und garnicht. Er kannte Barachiel ja nicht gut, aber als sie sich vorhin in die Augen geschaut hatten, hätte er schwören können, dass der Blick ziemlich Schnulzfilmverdächtig gewesen war. Natürlich hatte er kein Recht, über sein Verhalten zu urteilen, aber seine "Betreuer", wie Aaron sie gerne nannte, Sura und Ramiel, welche beide Seraphime waren, hatten ihm sehr viel über Engel und Erzengel erzählt, insbesondere die Tatsache, dass die Liebe zwischen himmlischen Geschöpfen und sterblichen Wesen verboten war. Vor tausend Jahren sei nämlich etwas Schreckliches deswegen passiert, so schrecklich, dass es der Auslöser für den heutigen Krieg zwischen Himmel und Hölle gewesen war. Und dieser Krieg dauerte nun schon ein ganzes Jahrtausend lang und Nalias Rolle in diesem ganzen Durcheinander war, ihn endlich zu beenden.
Er unterbrach seinen Gedankenstrom, als er sah, wie Barachiel mit Nalia im Haus verschwand. Na, das konnte ja heiter werden. Er seufzte genervt und bereitete sich jetzt schon darauf vor, noch ein Weilchen auf "Brandon" zu warten. Er ließ stöhnend seinen Kopf aufs Lenkrad fallen und wartete.

Barachiel stützte Nalia noch immer, als sie in die Eingangshalle traten und Nalia anschließend den Schalter fürs Licht betätigte. Der Flur wurde daraufhin von einem kleinen Kronenleuchter erhellt und stellte eine breite, wunderschön verzierte, weiß angestrichene Treppe zur Schau, die nach oben führte. Er sah auf seine Füße hinunter und bemerkte erst jetzt, dass sie auf einem Teppich im orientalischen Stil standen. Dann legte Nalia die Hausschlüssel auf einen Ablegetisch aus Mahagoniholz und wies ihm an, sie in den nächsten Raum zu begleiten. Es war das Wohnzimmer, das wirklich atemberaubend schön war. Helle Farben begrüßten ihn und hießen ihn willkommen. Die Möbel waren in einem reinen Weiß gehalten und die Vorhänge hatten einen sanften Beigeton. Ein Kamin gab dem Raum etwas sehr Heimliches und er musste zugeben, dass dieses Wohnzimmer sogar noch schöner eingerichtet war als das Michaels.
Er ließ Nalia sanft auf der weißen Couch nieder und machte sich gleich daran, ein Feuer im Kamin zu entfachen. Als Nalia keinen Anspruch dagegen erhob, zündete er das bereits dort liegende Holz an und eine angenehme Wärme fing nun an, sich im Raum zu verteilen. Barachiel wandte sich nun wieder der Auserwählten zu und sah, wie sie sich auf der Couch ausgestreckt und die Augen geschlossen hatte. Er wusste nicht, ob sie schlief, versuchte auch garnicht es herauszufinden, denn wenn sie wirklich eingeschlafen war, würde er sie nur unnötig wecken. Er sah sie sich genau an und ihm wurde bewusst, dass sie wohl wirklich todmüde gewesen sein musste. Sie hatte sich vorhin kaum noch auf den Beinen halten können. Er ging zum Sofa hin, nahm eine Decke von der Armlehne des danebenstehenden Sessels und deckte sie zu. Dann stellte er noch ihre Schultasche auf dem Boden, neben dem Wohnzimmertisch, ab, verließ den spärlich belichteten Raum auf Zehenspitzen, löschte das Licht im Flur und schloss die Eingangstür ganz leise, als er Nalias Haus verließ.


Kapitel 9

"Sie kommen noch immer durch den aufgebrochenen Himmel,
die friedlichen Schwingen ausgebreitet,
und ihre himmlische Musik schwebt über der ganzen müden
Welt..."

- William Shakespeare

Aaron sah erleichtert auf, als er hörte, wie Barachiel die Haustür schloss und anschließend hastig auf ihn zukam. Er wirkte zwar ein wenig zerstreut, aber Aaron hatte nicht so lange warten müssen, was ihm verriet, dass er Nalia wohl wirklich bloß irgendwo abgesetzt und sich dann womöglich von ihr verabschiedet hatte. Als der Erzengel am Auto angekommen war, wies er Aaron an, das Fenster hinunter zu kurbeln. Er tat wie geheißen und dann stützte sich Barachiel auch schon auf das heruntergelassene Fenster, um zu sagen:
"Aaron, ich bleibe lieber hier in der Gegend, um ein Auge auf Nalia zu haben. Sie ist drinnen und schläft auf der Couch, somit könnte ihr leicht etwas geschehen, vor allem da sie alleine zu Hause ist. Ich beabsichtige nicht, mich irgendwo im Haus niederzulassen, aber ich halte hier draußen Wache, denn ich habe wirklich ein ganz ungutes Gefühl bei der Sache, sie ohne Schutz zurückzulassen. Vor allem, da ihre Machtausstrahlung von Minute zu Minute stärker und intensiver wird. Also, danke fürs Mitnehmen und falls du Michael zufällig begegnen solltest, dann richte ihm bitte aus, wo ich bin, ja? Wenn nicht, auch gut."
Aaron nickte zustimmend und auch wenn er noch etwas hätte erwidern wollen, so hätte der andere ihm dazu gar keine Gelegenheit gegeben, denn er erhob sich sofort nach seiner Zustimmung und wandte sich ab. Er drehte sich noch einmal kurz um, um ihm zuzunicken und einmal spärlich die Hand zu heben, was vermutlich ein Abschiedsgruß darstellen sollte, und schlenderte dann über den Bürgersteig, um in den hinteren Teil von Nalias Haus zu gelangen. Aaron verschwendete keine Minute länger damit, zu beobachten, was Barachiel vorhatte und startete den Motor seines Wagens. Dieser grölte protestierend auf und Aaron musste wohl oder übel einen Zweitversuch starten. Er war es zwar bereits gewohnt, dass sein altes Auto einige Startschwierigkeiten hatte, aber das änderte rein garnichts daran, dass er jedes Mal aufs Neue am Rande der Verzweiflung stand. Beim zweiten Versuch klappte es, Gott sei Dank und der Motor brummte gemächlich, somit trat er vorsichtig aufs Gaspedal und fuhr los. Wohin genau wusste er noch nicht, aber nach Hause wollte er nicht und zurück in die Schule sagte ihm noch weniger zu. Somit entschied er, einfach mal wieder Sura zu besuchen.

Ich wusste nicht so recht, ob ich träumte, aber ich vermutete es, da Brandon und ich Händchen hielten. Aber es war nicht dieses "Schaut uns an, wir sind ein Liebespaar"- Händchenhalten, nein, es war eher so, als würde er mich hinter sich herziehen. Es schien, als würden wir vor etwas davonlaufen, nur was? Wir hasteten eine unbekannte Straße entlang auf dem Weg ins Unbekannte. Ich wusste nicht, wohin er mich führte, ich wusste nur, dass ich ihm ohne Widerrede, ohne auch nur einen einzigen Augenblick, an ihm zu zweifeln, folgte. Ich vertraute ihm. Ich hatte keine Ahnung, wieso, denn ich kannte ihn noch nicht einmal richtig, aber ich vertraute ihm blind.
Auf ein Mal tat sich vor uns ein gleißendes Licht auf. Es ragte triumphierend über uns... Nein, nicht triumphierend, willkommen heißend, heimlich, wunderschön. Es schien so vertraut und warm. Es fühlte sich auf der Haut ein wenig wie Sonnenlicht an, aber ich war mir sicher, dass es kein Sonnenlicht war. Nein, es fühlte sich vielleicht auf der Haut ähnlich an, aber im Herzen verursachte es etwas anderes. Während die Sonne einem bloß Wärme und Wohlbefinden brachte, gab dieses Licht einem alles. Alles, was man verlangte. Alles, was man sich je gewünscht oder erträumt hatte. Und Brandon und ich badeten darin, nahmen es in uns auf wie zwei Verhungernde. Es spendete uns Trost, es gab uns inneren Frieden, es schenkte uns Wärme und Geborgenheit, erfüllte uns mit Wissen und Kraft. Es war... göttlich.

Ich schrak hoch und fand mich auf der weißen Lieblingscouch meiner Mutter wieder, die im Wohnzimmer gleich neben dem Kamin stand, in dem ein jetzt nur noch winziges Feuer brannte. Die Flammen waren eigentlich schon längst erloschen, es waren nur noch die rußgeschwärzten Kohlen übrig, in denen man noch die heiße Glut schimmern sah. Ich beobachtete fasziniert die Funken, wie sie das Holz zum Knacken und zum Bersten brachten. Wie die Glut glimmte und flimmerte. Wie ich jede Minute, die verging, schläfriger und immer schläfriger wurde und meine Augen langsam wieder zufielen. Warum war ich eigentlich aufgewacht? Ich hatte doch von diesem wunderschönen Licht geträumt. Und von.. Brandon... Ja, von Brandon und dem Licht, wie konnte man so einen Traum bloß verlassen wollen? Ich wollte wieder dorthin zurück. Aber da war doch ein Geräusch gewesen, oder etwa nicht? Hatte ich mir das etwa bloß eingebildet?
Ein herzhaftes Gähnen entfuhr mir und ich vergaß augenblicklich meine Sorge über ein angeblich vorhanden gewesenes Geräusch. Ich legte meinen Kopf wieder auf das bequeme, warme Sofa nieder und wollte gerade wieder die Äuglein schließen, um die Suche nach meinem verlorenen, wunderbaren Traum zu beginnen, als ich erneut ein Geräusch vernahm. Und dieses Mal war ich mir zu Hundert Prozent sicher, dass es da gewesen war. Es war aus der Küche gekommen.
Ich hob meinen Kopf eher widerwillig, während alle Alarmglocken in meinem Kopf schrien:
"Einbrecher, Einbrecher!" Allerdings wurde mir gleich darauf bewusst, dass das lächerlich war, denn die Möglichkeit, dass es tatsächlich einen Einbrecher in Wheat Bridge gab, der sein Unwesen trieb, war ungefähr so hoch, wie die Möglichkeit, dass ich eine ausreichende Note in Französisch bekam. Und das bedeutete, dass die Möglichkeit bei Null lag. Somit vermutete ich, dass es wohl irgendetwas anderes gewesen sein musste. Nur was? Das war eine gute Frage und ich entschied, der Sache gleich auf den Grund zu gehen.
Ich erhob mich ganz langsam von der Couch, darauf bedacht, keinen einzigen Mucks von mir zu geben. Selbst die Lautstärke meiner Atmung versuchte ich auf ein Minimum zu reduzieren und somit tapste ich auf leisen Sohlen in Richtung Küche, um die Ursache für die unangenehme Störung zu enttarnen. Als ich sah, dass kein Licht in der Küche brannte, dass überhaupt gar kein Licht irgendwo im Haus eingeschaltet war, konnte ich ein frühzeitiges von der Arbeitkommen meiner Mutter ausschließen, denn die hätte die Lichter definitiv angemacht. Somit wurde ich nun doch um einiges unruhiger und meine Nackenhaare stellten sich unwillkürlich auf. In meinem Magen rumorte es laut und protestierend und ich war nun wirklich versucht, mir wütend mit der Hand gegen den Bauch zu klatschen, damit er Ruhe gab. Aber ich konnte ihn ganz gut verstehen, denn mir war auch ziemlich mulmig bei der Sache.
Ich schlich über den Wohnzimmerteppich zum fliesenbelegten Flurboden und musste dem Drang widerstehen, ein Licht zu entfachen. Während ich noch immer hochkonzentriert darauf achtete, meine Atmung so leise wie möglich zu verrichten, wurde mir leider gleich darauf schmerzlich bewusst, dass das gründlich in die Hose ging, denn wenn sich wirklich gerade jemand in der Küche aufhielt, würde er spätestens jetzt von meiner Gegenwart erfahren. Ich schalte mich selbst einen Riesenidioten, als ich mich erneut dabei ertappte, wie ich die Präsenz eines Einbrechers in Erwägung zog.
"Nalia, jetzt hör auf, so etwas zu denken. Das ist doch vollkommen lächerlich! Wäre es wirklich ein Einbrecher, hätte er dich schon längst überfallen, wenn nicht sogar bereits verletzt oder getötet. Also hör auf, dir in die Hose zu machen und reiß dich zusammen!", redete ich mir selber gut zu und nahm all meinen Mut zusammen, um dann selbstbewussten und sicheren Schrittes in die Küche einzumarschieren.

Barachiel tigerte unbeholfen im Hintergarten von Nalias Haus herum und fragte sich ununterbrochen, ob es ihr wohl gut ging. Er hatte nun schon viel zu oft mit dem Gedanken gespielt, einfach ins Haus zu stürmen und nach ihr zu sehen, aber er hatte sich jedes Mal immer wieder davon abgeraten und schließlich hatte die Vernunft gesiegt. Wie schon so oft... Jedoch wollte dieses flaue Gefühl in seiner Magengrube einfach nicht weichen und er fragte sich allmählich, ob er es sich nicht vielleicht einbildete. Aber dann schüttelte er wieder den Kopf und er rief sich erneut ins Gedächtnis, dass sein Instinkt ihn noch nie in die Irre geführt oder im Stich gelassen hatte. Also, warum wollte dann diese böse Vorahnung, dieses miese Gefühl und dieses unangenehme Ziehen an seinen Nerven einfach nicht verschwinden? Warum, wenn doch alles vor ihm so harmlos und unschuldig erschien? Warum?

Ich war durch meine außergewöhnlichen Überzeugungskünste und mein Talent zur Motivation mittlerweile so überzeugt davon gewesen, absolut reingarnichts in der Küche vorzufinden, dass ich den Schock meines Lebens erfuhr, als sich etwas Weiches und Nasses an meinem Bein entlang schmiegte. Ich schrie auf wie eine Wildgewordene, nur um dann im nächsten Moment das laute, aufgebrachte Miauen meiner Katze Lana, die ganz offensichtlich nur etwas zu essen haben wollte, zu vernehmen. Ich fasste mir an die Brust, weil ich befürchtete, immer noch Herzinfarktgefährdet zu sein und versuchte verzweifelt, meine purzelbaumschlagende Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Ich schimpfte, immer noch völlig außer Atem:
"Verdammt, Lana! Musst du mir so einen Schrecken einjagen?! Ich schwöre, wenn du das nochmal machst, dann setz ich dich nach draußen in den Schnee und dann ist es mir egal, ob du die Pfötchen kalt kriegst, hast du mich verstanden?!"
Ein trauriges, leises Miauen zu meinen Füßen und mein Zorn war augenblicklich verraucht. Ich konnte ihr einfach nicht lange wütend sein, dafür hatte ich Lana viel zu lieb. Ich hob sie vom Boden auf und nahm sie tröstend in die Arme. Ich flüsterte entschuldigend:
"Schon gut, ich hab's ja nicht so gemeint! Tut mir leid, dass ich mit dir geschimpft hab, aber du hast mir wirklich einen Mordsschrecken eingejagt!"
Ich hatte das Küchenlicht zwar noch immer nicht eingeschaltet, aber das brauchte ich auch garnicht, um den Weg zum Kühlschrank zu finden, in welchem das Dosenfutter für Lana zu finden sein würde.
"So, jetzt bekommst du erst mal was Leckeres zu futtern, na, wie klingt das?!", sagte ich gut gelaunt, während ich das Futter hastig aus der Dose kratzte und in Lanas Fressnapf plumpsen ließ. Lanas vorfreudiges Miauen verklang augenblicklich, sobald ich ihr das Essen vor die Schnauze gestellt und wieder zum Ausgang geschlurft war. In dem Moment, in dem ich in den Flur treten wollte, erklang die tiefe Bassstimme eines Mannes, der fragte:
"Bietet man seinen Gästen nicht eigentlich auch was zu trinken oder zu essen an oder sind die Manieren etwa ebenfalls über die Jahre verloren gegangen?!"





Kapitel 10

"Und so sprach der HERR zu Raphael:
Mache in der Dudeal- Wüste eine Grube,
und wirf ihn hinein.
Lege scharfe, spitze Steine unter ihn
und bedecke ihn mit Finternis.
Lass ihn dort für immer wohnen und be-
decke sein Antlitz, damit er
kein Licht schaue.
Am Tag des Endgerichts soll er in den
Feuerpfuhl geworfen werden!
Die ganze Erde war doch durch die von
Asasel gelehrten Werke verdorben
worden."

- Gottes Auftrag an Raphael: Die Verbannung Asasels

Das Blut gefror mir in den Adern, mein Herz setzte aus und die Anspannung um mich herum schien in der Luft zu vibrieren und zum Greifen nahe zu sein. Innerlich fluchte ich wie verrückt, warf mir Schimpfwörter an den Kopf, die teilweise erfunden und teilweise mir völlig unbekannt waren, denn bei einigen von denen war mir vollkommen schleierhaft, wo ich sie hätte aufgeschnappt haben können. Ich war zur Salzsäule erstarrt und dermaßen vom Schock gepackt, dass ich noch nicht einmal in der Lage war, zu zittern. Gänsehaut bedeckte jeden noch so kleinen Mikrometer meiner Körperhaut und meine Atmung setzte aus. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen und wartete einfach auf ein Wunder. Warum nur hatte ich so viel Schiss? Warum konnte ich nicht einfach, so wie man es immer in diesen Actionfilmen sah, zum Baseballschläger greifen und dem Typ die Birne zu Brei schlagen? Naja, mal abgesehen von der Tatsache, dass wir überhaupt keinen Baseballschläger im Hause hatten... Aber trotz meines so plötzlich verrauchten Selbstbewusstseins, versuchte ich die wenigen, winzigkleinen Reste meines noch spärlich vorhandenen Mutes zusammenzukratzen und mich langsam und widerwillig umzudrehen. Ich warf einen Blick auf den Küchentisch, der vollkommen im Dunkeln lag und ich konnte sehr vage und undeutlich eine schattenhafte Silhouette ausmachen, die lässig und völlig unbesorgt auf einem von unseren Küchenstühlen saß. Ich konnte die Person selbst nicht erkennen, aber was ich mit absoluter Sicherheit sagen konnte, war, dass sie männlich war und höchstwahrscheinlich eine Gefahr für mich darstellte. Der Fremde schien keine Anstalten zu machen, sich zu erheben oder mir etwas anzutun, er fragte nur in einem belustigten Ton:
"Was denn? Hat es dir etwa schon die Sprache verschlagen? Hmm, ich weiß ja nicht, was ich von der Auserwählten erwartet habe, aber irgendwie mehr als das..."
Mein Kopf war viel zu überfüllt, um den Sinn seiner Worte auch nur ansatzweise zu begreifen oder zu entschlüsseln, aber was auch immer er mit seinen Worten zu sagen versuchte, so kümmerte es mich nicht, denn das Einzige, was ich im Augenblick mehr als alles andere wollte, war, ihn loszuwerden. Ich versuchte vergeblich meinen verflixten Mund aufzubekommen, aber irgendwie geschah nichts.
"Du meine Güte, Nalia, sonst kriegt du deine große Klappe nicht zu und jetzt, wenn es mal wirklich sein muss, kriegst du sie nicht auf? Wo bleiben deine sonst so neunmalklugen Sprüche?", höhnte eine Stimme in meinem Kopf. Meine Stimme... Und sie hatte leider Recht. Somit holte ich einen tiefen Atemzug, inwiefern man ihn als tief bezeichnen konnte, denn das was ich da tat, konnte man noch nicht einmal atmen nennen und stotterte:
"Www.. wer sind Sie? Was hhh..haben Sie in meinem Haus verloren?"
Der Mann lachte und ich hätte schwören können blendend weiße Zähne aus der Ecke der Küche heraus aufblitzen zu sehen. Ich glaubte, es mir bloß eingebildet zu haben, denn so schnell wie es aufgetaucht war, so schnell war es auch wieder verschwunden. Die Stimme erwiderte:
"Du meinst diese Frage echt ernst, kann das sein?!"
Ich antwortete nichts, denn für mich stand die Antwort darauf schon längst fest. Und ich dachte mir sowieso, dass es eine rhetorische Frage gewesen war. Ich bewegte mich immer noch nicht vom Türrahmen weg, verharrte mit eisenfestem Stand dort, jeden Moment darauf gefasst, die Flucht nach draußen zu ergreifen, sollte er es auch bloß wagen, sich zu erheben.
Nun bemerkte ich, wie das Zittern einsetzte. Es zeigte mir zwar wohl, dass ich mich einbisschen von meinem Schock erholt und meine Starre sich gelöst hatte, aber das Zittern tat meine Angst noch mehr kund, als meine zittrige Stimme es bisher getan hatte und das würde den Einbrecher vermutlich noch um einiges mehr amüsieren. Auch wenn ich ihm diesen Gefallen nur ungern tat, hätte ich etwas an meinem Zitteraal- Syndrom ändern können, hätte ich es schon längst getan.
"Hast du etwa Angst, Kleines?"
Ich musste unwillkürlich schnauben, als ich diese völlig obsolete und absolut lächerliche Frage vernahm und ich merkte, wie mein üblicher Drang zum Sarkasmus sich einen Weg durch die dichte Wand aus Angst und Furcht bahnte und ich mich selbst antworten hörte:
"Nein, wissen Sie, ich stottere nur gerne einbisschen in meiner Freizeit herum, weil mir das so ungeheuer viel Spaß macht!"
Ich hätte mir augenblicklich eine Ohrfeige dafür verpassen können, aber ich kam nicht umhin, mir trotz der womöglich schrecklichen Konsequenzen ein schwaches Triumphgefühl zu gönnen.
Nun musste der Mann wieder lachen, was mich leicht stutzen ließ und er erwiderte:
"Na, das gefällt mir schon um einiges besser! Das ist das Feuer, das ich mir erhofft hatte..."

Nun reichte es Barachiel endgültig. Er würde jetzt in dieses Haus gehen und nach Nalia schauen, ob er es hinterher bereuen würde oder nicht. Er setzte sich in Gang, überquerte die Gartenterrasse und ließ den Garten schließlich endgültig hinter sich. Als er plötzlich glaubte Stimmen aus dem Inneren des Hauses zu vernehmen, riss er die Glastür auf, die ins Haus und zu Nalia führen würde und raste durch ihren Wintergarten in den Flur. Als er den langen Flur entlanghastete, wurden die Stimmen immer lauter und deutlicher. Als er die Stimme des Mannes vernahm, stockte ihm kurz der Atem und Erinnerungen in ihm wurden wach. Warum nur glaubte er diese Stimme schon einmal gehört zu haben? Warum kam sie ihm so bekannt vor?
Er entschied, nicht noch mehr Zeit mit Nachgrübeln zu vergeuden und setzte seinen Weg fort. Allerdings verlangsamte er nun seine Schritte und schlich auf leisen Fußsohlen zum Kücheneingang, um seine Anwesenheit nicht gleich preiszugeben. Er konnte nicht ganz klar verstehen, was der Mann sagte, aber er hörte, wie er sich auf ein Mal von seinem Stuhl erhob, ihn nach hinten schob und langsam auf Nalia zuging. Er erblickte Nalia, die sich nun mit angstverzerrtem Gesicht gegen die Mauer presste und sich verzweifelt in ihrer Umgebung nach etwas umsah, was sie zur Verteidigung hätte benutzen können. Barachiel spürte, wie ein unglaublicher Beschützerinstinkt in ihm erwachte und er dagegen ankämpfen musste, nicht augenblicklich in die Küche zu stürmen und den Gegner niederzustrecken. Aber das wäre zu unüberlegt und zu rücksichtslos gewesen und wäre vermutlich nach hinten losgegangen. Deswegen wartete er noch ein wenig ab und beobachtete, wie Nalia sich langsam an der Mauer entlang robbte, um den Ausgang zu erreichen. Sie war nun so nah am Türbogen angelangt, dass sie nur einen Seitenblick hätte entbehren müssen, um ihn zu erblicken. Er lauerte im Flur, fest gegen die Mauer neben der Küchentür gepresst, um sich vor dem Blick des Mannes zu schützen. Er hörte Nalia stammeln:
"Wwwwas wwwollen Sie denn von mir?"
Sein Magen zog sich unangenehm zusammen und ein großer Klumpen wiegte schwer in seiner Magengrube. Er konnte Nalias angsterfüllte Stimme kaum noch ertragen und hätte ihr am liebsten ein Zeichen gegeben, um ihr zu zeigen, dass er da war, um ihr zu helfen und sie zu beschützen. Aber dann würde ihr Bedroher auch Wind davon bekommen und genau das wollte er vermeiden.
Nalia stand nun so gut wie im Flur, als sie zur Seite schielte und ihn erblickte. Barachiel legte hastig seinen Zeigefinger an die Lippen, um ihr zu zeigen, dass sie schweigen sollte und vermittelte anhand seines festen und ernsten Blickes, dass sie sich nichts anmerken lassen sollte. Sie nickte ihm kaum merkbar zu und setzte dann wieder ihre vor Furcht triefende Miene auf, um den Schein zu wahren. Sie trat noch einen weiteren Schritt nach hinten, stand nun im Flur und jetzt konnte Barachiel zum ersten Mal das Gesicht des Fremden sehen. Nur um anschließend festzustellen, dass er gar kein Fremder war, sondern sein schon seit langem verschollener, verbannter älterer Bruder Asasel.


Kapitel 11

"Wo zwanzig Teufel sind,
da sind auch hundert Engel;
wenn das nicht so wäre,
dann wären wir schon längst
zugrunde gegangen."

- Martin Luther

Aaron hatte zwar einen recht langen Weg vor sich, um zu Suras Straße, der Eliot Street, zu gelangen, da sie genau am anderen Ende der Stadt und gute sieben Kilometer von Nalias Straße entfernt lag, aber er nahm diesen Weg gerne auf sich, um seine beste Freundin zu besuchen. Er war froh, dass er sie hatte, denn er hatte es in seiner Vergangenheit nicht immer sehr einfach gehabt und sie war ihm stets eine große Hilfe und eine sehr gute Freundin gewesen. Sie verstand ihn und das nicht nur, weil sie seine Betreuerin und Lehrerin war, sondern auch, weil sie viele Gemeinsamkeiten und ähnliche Charaktereigenschaften hatten. Mit Ramiel war das etwas anders. Er war immer sehr ernst und sein Sinn für Humor ließ auch manchmal zu wünschen übrig. Aaron konnte ihn zwar sehr gut leiden und sie verstanden sich auch recht gut, aber manchmal nahm er das Unterrichten etwas zu strikt und da konnte es mal schnell zu Meinungsverschiedenheiten und kleinen Auseinandersetzungen kommen. Auch wenn sie jedes Mal harmlos waren, so musste Sura doch aber immer als Streitschlichterin fungieren und die beiden Streithähne davon abhalten, sich die Köpfe einzuschlagen.
Ihm entwich unwillkürlich ein amüsiertes Grinsen, als er daran dachte und sich vorstellte, wie das wohl ausgesehen haben musste, als die kleine Sura mit ihren wunderschönen, engelsgleichen Locken den störrischen Aaron und den viel zu autoritären Ramiel zurecht und schließlich in die Schranken gewiesen hatte.
Als das Haus seiner beiden Betreuer in Sicht kam, fuhr er rechts ran, drückte noch kurz auf die Hupe, um seine Ankunft anzukündigen und ließ den Motor anschließend behutsam verklingen. Dann stieg er aus, schlug die Fahrertür zu und steckte sich die Autoschlüssel in die hintere Hosentasche. Gleich darauf hörte er, wie die Haustür mit einem kurzen Klicken geöffnet wurde und Sura freudestrahlend hinausgerannt kam.
"Aaaaarooooon!", rief sie glücklich und sprang ihm etwas hurtig in die Arme, weswegen er kurz nach hinten taumelte und das Gleichgewicht beinahe verloren hätte. Er schlang seine Arme ebenfalls um ihren schlanken Körper und erwiderte:
"Whooaahh! Sura, ach du meine Güte... Was ist denn der Anlass für solch gute Laune?"
Er lachte und ließ sie dann wieder langsam zurück auf die Füße gleiten. Dann sah sie ihm ins Gesicht, noch immer ein wunderschönes Lächeln aufgesetzt und das Glitzern in ihren katzenhaften, graublauen Augen raubte ihm beinahe den Atem. Er wurde jedes Mal aufs Neue von ihrer außergewöhnlichen Schönheit überwältigt und er kam nicht umhin, ihr fasziniert in diese schönen Augen zu blicken. Dann erwiderte sie fröhlich:
"Michael hat Ramiel gerade gesagt, dass Barachiel die auserwählte Prophetin gefunden hat! Ist das nicht wunderbar? Der Auserwählte ist doch tatsächlich eine Frau, ist das zu fassen?!"
Sie lachte herzhaft und Aaron musste einfach mit einstimmen. Dann sagte er jedoch mit etwas beleidigter Miene:
"Ach, und ich dachte schon, du hättest mich vermisst..."
Sura sah ihm nun besorgt und entschuldigend in die Augen, tätschelte ihm leicht den Arm und antwortete:
"Ach Aaron... Wie kommst du denn bloß auf solche Dummheiten?!"
Und wieder brach sie in schallendes Gelächter aus, als sie Aarons traurigen und geschockten Blick auf ihre Worte hin gesehen hatte. Sie nahm ihn nun wieder in die Arme, wuschelte ihm schwesterlich durch die Haare und sagte daraufhin kichernd:
"Natürlich hab ich dich vermisst, du Dummerchen, wir haben uns schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen! Los, komm rein, Ramiel erwartet dich schon."
Aarons gefurchte Stirn glättete sich nun wieder und er nahm die einen Kopf kleinere Sura in den Arm, um ihr sanft und spielerisch mit der Faust über die Kopfoberfläche zu reiben. Sie lachten und schlenderten schließlich gemeinsam, Arm in Arm, ins Haus, auf dem Weg zu dem wartenden Ramiel, glücklich, endlich wieder vereint zu sein...

Als ich Brandon erblickte, fiel mir ein so großer Felsbrocken vom Herzen wie noch nie zuvor in meinem Leben. Ich hatte zwar keine Ahnung, was er hier in der Gegend machte, aber das war mir in dem Moment sowas von scheißegal, denn ich war heilfroh ihn zu sehen. Allerdings musste ich darauf achten, mir nichts vor dem Einbrecher anmerken zu lassen, sonst wär die Sache ziemlich schnell gelaufen, weswegen ich, gleich nachdem ich ihn entdeckt hatte, wieder auf ängstlich und eingeschüchtert machte und ihn immer weiter in den Flur lockte. Ich wagte es nicht noch einmal zur Seite zu Brandon zu schielen und wusste deswegen nicht, was genau er vorhatte, aber ich folgte dem Drang, die Flucht zu ergreifen und näherte mich langsam der Haustür, die mich in die Freiheit geleiten würde. Nun stand ich gegen das Treppengeländer gelehnt und der fremde Mann, der mich, Gott wusste warum, an Brandon erinnerte, kam mir immer näher, ein irrer Blick in den Augen. Was war bloß mit ihm los? Er wirkte... anders. So merkwürdig, als käme er aus einer anderen Zeit. Auch trug er ein Gewand, das noch vage Anzeichen einer altertümlichen Tunika hatte, nur dass es vollkommen verschmutzt und total verdreckt war. An seinen Füßen trug er eine Art Römersandalen, die ebenfalls völlig abgetragen und zerrissen waren. Und seine Haare reichtem ihm bis knapp unter die Achselhöhlen und waren ganz verfilzt.
Welchem Jahrhundert war der denn entsprungen? Auch wenn mich diese Fragen ein wenig quälten, so verbannte ich sie trotzdem in die hinterste Ecke meines Bewusstseins und konzentrierte mich auf meine jetzige Situation. Ich wartete darauf, dass Brandon etwas unternehmen würde, aber als ich kurz einen Blick in seine Richtung wagte, sah ich nur, wie er die Augen vor Schock weit geöffnet hatte und den Mann mit solch erstauntem und beinahe furchtsamem Blick beäugte, dass mich heftige Zweifel beschlichen. Hatte er etwa Angst? War er, genauso wie ich vorhin, vor Schreck erstarrt?
Nein, das konnte er nicht. Bitte, das durfte er nicht, er musste mir doch helfen, mich retten. Verdammt...
Und gerade als ich die Hoffnung schon aufgeben wollte, als der unheimliche Mann die Hände nach mir ausstreckte, sah ich, wie Brandon zum Sprung ansetzte und sich mit einem markerschütternden Schrei auf ihn stürzte. Er riss ihn gewaltsam zu Boden, sodass ich hastig nach hinten weichen musste, um nicht mit umgeworfen zu werden. Brandon und der Einbrecher rangen heftig miteinander, während Brandon deutlich im Vorteil zu sein schien. Ich wollte schon zum Telefon rennen, um die Polizei zu rufen, als Brandon auf ein Mal von seinem Gegner abließ, aufsprang und so schnell bei mir war, dass ich es noch nicht einmal mitbekommen hatte. Er hielt mich am Handgelenk zurück, schüttelte den Kopf und schenkte mir einen beinahe flehenden Blick aus seinen wunderschönen azurblauen Augen. Nun hörten wir, wie sich der junge Mann mit einem lauten Stöhnen vom Boden aufrappelte und uns anschließend mit seinen ebenfalls blauen Augen durchbohrte. Sie waren denen von Brandon erstaunlich ähnlich und ich fragte mich immer wieder, warum sie einander wohl so ähnlich sahen. Ich konnte mir das doch wohl nicht bloß einbilden, oder doch?
Brandon und der ihm ähnlich sehende, eigenartig angezogene Mann besahen sich mit vielsagenden Blicken, als der andere sagte:
"Schön dich wiederzusehen, kleiner Bruder!"

Barachiel wollte auf keinen Fall, dass Nalia die Polizei rief, denn erstens konnten die noch viel weniger gegen Asasel ausrichten als er, zweitens würden sie bloß unnötige Probleme an den Hals und viel zu neugierige Fragen gestellt bekommen und drittens... war Asasel sein Bruder, er konnte ihn nicht einfach so verraten, auch wenn er ihn vor fast tausend Jahren seinerseits verraten hatte. Verraten an Luzifer und Satanel...
Er zwang sich selbst aus seinen schon vor so langer Zeit verdrängten, schrecklichen Erinnerungen und konzentrierte sich auf sein jetziges, neu aufgetretenes Problem. Er wandte sich von Nalia ab und seinem großen Bruder zu. Dann fragte er mit unsicherer, beinahe flüsternder Stimme:
"Asasel... Wie.. was.. Wie ist es möglich, dass du ..hier bist? Ich meine, du solltest doch .. eingesperrt sein, in der..."
Er wurde von Asasels zischender Stimme unterbrochen, als er ihm scharf entgegnete:
"In der Wüste?! Ja, Bruder, eigentlich sollte ich gerade in der Wüste vor mich hinschmoren, weil unser guter Raphael ja so gut Löcher tief unter der Erde buddeln kann! Ja, man fragt sich, warum ich hier bin... Das habe ich mich ebenfalls gefragt und als ich auf ein Mal diese riesige Machtquelle verspürte, wurde mir klar, dass meine Frist endlich abgelaufen ist."
Er lachte ein hämisches, verrücktes Lachen und Barachiel hatte Schwierigkeiten den Worten seines böswilligen Bruders zu folgen. Er runzelte die Stirn, als er vorsichtig nachfragte:
"Frist? Welche Frist, Asasel?! Der HERR hatte befohlen, dich auf immer und ewig einzusperren und nicht bloß für tausend Jahre..."
Nun musste Asasel noch lauter lachen und er vernahm Nalias ängstliches Zusammenzucken aus dem Augenwinkel. Automatisch rückte er ein paar Schritte näher zu ihr hin und lenkte dann seinen aufmerksamen Blick wieder auf den Gefallenen vor ihnen, dessen übertriebenes Lachen allmählich verstummte. Er besah sie mit seinen trüben, blauen Augen und erwiderte unheilverkündend:
"Pah... Nicht Gottes Wille hat hier seine Finger im Spiel, Barachiel, sondern jemand ganz anderes ist für meine Befreiung verantwortlich. Und du weißt auch ganz genau von wem ich rede... Die Prophezeiung hat sich bewahrheitet. Ich hätte es mir noch nicht einmal in meinen kühnsten Träumen vorstellen können, aber es ist schlussendlich doch eingetreten. Ich bin endlich frei! Und nicht nur ich, Bruder, auch andere... Du wirst in Zukunft noch viele weitere, alte Freunde wiedersehen, ich bin nur der Erste! Nimm dich lieber in Acht und deine kleine Prophetin sollte auch lieber auf sich aufpassen, sonst könnte es vielleicht passieren, dass sie ihren hübschen, süßen Kopf verliert!"
Ein erneutes hämisches, bösartiges Lachen und dann war er auch schon mit seinem üblichen dramatischen Abgang in einer düsteren Staubwolke verschwunden.

Ich wusste nicht, ob ich einfach nur schreiend aus dem Haus laufen oder mich schreiend auf Brandon und diesen Irren stürzen sollte. Sein Bruder... Wie um alles in der Welt sollte es möglich sein, dass er Brandons Bruder war? Naja, abgesehen von den äußerlichen Ähnlichkeiten... Aber ansonsten hatten sie reingarnichts gemeinsam, denn dieser Irre war absolut durchgedreht. Aber wie konnte ich behaupten, Brandon wäre nicht so, denn ich kannte ihn noch nicht ein Mal richtig. Nein, denn anscheinend war mir sein richtiger Name bis vor wenigen Sekunden noch nicht einmal bekannt gewesen. Er hieß noch nicht einmal Brandon, denn dieser Verrückte, sein Bruder, hatte ihn Barachiel genannt. Barachiel, Asasel... Was waren das denn überhaupt für Namen? Ich wollte gerade angestrengter darüber nachdenken, wo ich diese Namen schon mal gehört haben könnte, als dieser Asasel urplötzlich in einer düsteren Staubwolke einen Abgang machte. Mir stockte der Atem und ich fing an, ernsthaft an meinem Verstand zu zweifeln. Als Brand... ähm, ich meinte, Barachiel einen weiteren Moment an seinem momentanen Standort verharrte, ergriff ich die Gelegenheit, riss die Haustür auf und rannte nach draußen in die mit Schnee beschmückte Freiheit, als wäre der Leibhaftige hinter mir her.


Kapitel 12

"Und der HERR sprach zu Abram: Gehe aus deinem
Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus
deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir
zeigen will."

- Bibel: 1. Buch Mose, 12,1

Ich rannte... Ich rannte wie noch nie zuvor in meinem ganzen Leben. Warum ich so rannte, wusste ich selbst nicht so recht, denn der Einzige, der vorhin in meinen Augen eine Gefahr für mich dargestellt hatte, war Asasel gewesen und der hatte sich schließlich anhand eines ganz dramatischen und völlig unerklärlichen Special-Effects wortwörtlich aus dem Staub gemacht. Und wieder hätte ich vielleicht über diese passende Metapher gelacht, hätten es mir die Umstände nicht völlig verdorben.
Noch immer sprintete ich die Kipling Street entlang, immer und immer weiter ohne auch nur die kleinste Rast einzulegen. Auch wenn mein Atem sich mittlerweile überschlug, ein fester und stetiger Druck auf meinen Lungen und meiner Brust lastete und mein Hals bereits schmerzte wegen der eisigen Luft, die ich permanent inhalierte, so dachte ich keine einzige Sekunde lang daran, anzuhalten. Ich hatte kein Ziel vor Augen, achtete noch nicht einmal darauf, wo ich hinlief, nur weg von diesem Haus. Weg von diesem Barachiel... Augenblicklich bereute ich diesen Gedanken, denn schließlich hatte er mir letzendlich doch aber das Leben gerettet und sich für mich gegen seinen Bruder gestellt. Naja, sein Bruder schien zwar auch nicht gerade alle Tassen im Schrank zu haben, aber dennoch... Und was hatten sie da überhaupt gelabert von wegen eingesperrt in einer Wüste und es sei nicht Gottes Wille? Was stimmte denn mit denen nicht? Zuerst brach dieser Psychopath in mein Haus ein, bedrohte mich und warf mir vor, irgend so eine Prophetin zu sein. Anschließend tauchte Barachiel auf, stellte fest, dass sein verschwunden geglaubter Bruder 'nach Hause' zurückgekehrt war und anstatt großes Wiedersehen zu feiern, faselten sie irgendwas über Religion und darüber, dass das erst der Anfang sei. Und über die Art und Weise, wie er plötzlich verschwunden war, wollte ich garnicht erst nachdenken. Das wurde mir echt zu viel...
Als meine Beine zu sehr schmerzten und ich kurz davor stand, zu kollabieren, hatte ich keine andere Wahl mehr und hielt inne. Ich rang um Atem, massierte meine wunden Oberschenkel und machte keine Anstalten, mich umzuschauen. Ich hatte den Eindruck gehabt, eine Ewigkeit gelaufen zu sein, aber ich war mir sicher, dass es noch nicht einmal fünf Minuten gewesen waren. Ich sog die Luft gierig in meine Lungen, nur um es gleich darauf wieder bitter zu bereuen, denn der frostige Sauerstoff ließ meine Lungen beinahe gefrieren. Verdammt, wie viele Grad Celcius herrschten denn hier? Ich warf einen schnellen Blick auf meine Armbanduhr und konnte die verschwommenen Zahlen und Zeiger gerade noch so entziffern und stellte fest, dass es bereits fünf Uhr nachmittags war. Wir kamen dem Abend gefährlich nahe und ich trieb mich hier irgendwo in Wheat Ridge herum. Ja, wo trieb ich mich eigentlich genau herum? Ich beäugte meine Umgebung mit Argusaugen, nur um festzustellen, dass ich in der 26th Avenue ganz in der Nähe des Crown Hill Lakes gelandet war. Ich seufzte, weil ich offensichtlich wirklich nur wenige Minuten gelaufen war, denn der Crown Hill Lake befand sich nur knappe zwei Kilometer von meinem Haus entfernt. Ich sah mich um und erblickte eine kleine Kirche, an der ich schon so viele Male vorbeigegangen war, mir aber nie die Mühe gemacht hatte, sie richtig zu betrachten, geschweige denn sie überhaupt einmal zu betreten. Als ich sie mir genauer ansah, musste ich feststellen, dass sie zwar klein, aber wunderschön war. Sie sah irgendwie gemütlich aus. Naja, bei dieser Kälte, die im Moment herrschte, hätte vermutlich auch ein alter, heruntergekommener Gartenschuppen gemütlich auf mich gewirkt, aber diese Erkenntnis hielt mich keinesfalls davon ab, mich hastigen Schrittes des Kirchentors zu nähern, die stählerne, rostige Klinke hinunterzudrücken und die Kirche zu betreten.

Barachiel hatte einen Moment darüber nachgedacht, Nalia nachzulaufen, doch gleich darauf war ihm der Gedanke gekommen, dass er sie damit bloß noch mehr verängstigt hätte. Er war sich jetzt schon sicher, dass er es total verbockt hatte. Wie sollte er das bloß Michael erklären? Sein ursprünglicher Plan hatte eigentlich darin bestanden, langsam und allmählich Nalias Vertrauen zu gewinnen, sie unauffällig zu überwachen und zu beschützen und ihr die Wahrheit dann irgendwann in aller Ruhe zu sagen und alles zu erklären. Aber jetzt ... Jetzt war sein "Meisterplan" ins Wasser gefallen. Und das alles war Asasels Schuld. Ja, mit Asasel hatte er ganz und garnicht gerechnet, denn er hatte der Prophezeiung nie wirklich Glauben geschenkt. Niemand von den Erzengeln war sich je sicher gewesen, ob man der Prophezeiung glauben konnte, denn nie hatte man herausgefunden, wer der Prophet gewesen war, der sie in die Welt gesetzt hatte.

Als ich in die Kirche eintrat, stieg mir unwillkürlich der Duft von Weihrauch und abgebrannten Kerzen in die Nase. Der Geruch störte mich nicht, denn er erinnerte mich merkwürdigerweise an Weihnachten, da meine Mutter um die Winterjahreszeit stets Kerzen zu Hause brennen ließ. Vermutlich tat sie das, um die Stimmung authentischer zu gestalten, aber ich hatte mich immer darüber aufgeregt, weil Kerzen im Wohnzimmer so gefährlich waren. Die Gardinen konnten sehr schnell Feuer fangen und man würde es demnach zu spät oder gar überhaupt nicht bemerken. Aber jetzt hüllte mich dieser Geruch in eine wohlig warme Duftwolke ein, die mich an heißen Kakao beim Kaminfeuer, an Spekulaciuskekse und Klaviermusik erinnerte, da mein Vater immer Weihnachtslieder auf unserem Flügel spielte. Somit wurde mir gleich warm in der Magengrube und auch ums Herz und die Kälte wich aus meinem Körper. Ich fühlte mich gleich viel wohler und die furchterregenden Geschehnisse, die noch keine zehn Minuten zurücklagen, erschienen mir auf ein Mal ganz weit weg, überschattet vom Schleier meiner Erinnerungen. Während ich mich allmählich in Bewegung setzte, um durch den schmalen Gang zwischen den Kirchenbänken hindurch zu schreiten, ließ ich meinen Blick aufmerksam und furchtsam durch das heilige Gebäude schweifen. Mir fiel auf, dass die von der Decke tiefhängenden Lampen ein eher gedämpftes Licht verstrahlten und eine dämmrige Atmosphäre schufen, die mich einbisschen schläfrig werden ließ. Doch mein Interesse und meine Ehrfurcht verhinderten, dass ich die Kirche nicht aufmerksam betrachtete.
Die Wände links und rechts von mir beherbergten jeweils drei Rundbögen, die sich auf stämmige, graue Backsteinsäulen stützten und wo der Putz schon einige Risse hatte. Rechts verlief noch ein schmaler Flur, den man betreten konnte, wenn man durch den Rundbogen trat, dieser führte zu einer schwarzen Gittertür, die eine eisenbeschlagene Holztür versperrte, die dahinter lag. Ich schritt zwischen den hölzernen Sitzbänken entlang und lauschte dem stetigen, klackenden Geräusch meiner schwarzen Winterstiefel, das sie auf dem pflastersteinbelegten Kirchenboden hinterließen. Das Geräusch wurde aufgrund der außergewöhnlichen Akkustik von den Wänden widergeworfen und verblieb in einem Echo, bis es nach einigen Sekunden ganz verklungen war. Ich schritt langsam vor bis zum Altar, welcher mit einem großen, verrosteten Kerzenständer und einem protzig vergoldeten Kreuz versehen war. In dem Kerzenständer befanden sich zahlreiche, weiße Teelichter, dich darauf warteten, angezündet zu werden. Denn keine Einzige von ihnen leuchtete. Gleich darunter war eine Blechbüchse befestigt, die mir unmissverständlich mitteilte, dass ich fünfzig Cent bezahlen musste, um eine Kerze anzünden zu dürfen. Somit kramte ich in meiner Hosentasche nach einer fünzig Cent Münze, durchforstete jeden kleinen Winkel, konnte im Endeffekt jedoch leider nur ein zwanzig und ein zehn Cent Stück hervorziehen und ein benutztes Taschentuch, das ich mit angeekeltem Gesichtsausdruck hastig wieder zurück in der hinteren Hosentasche verschwinden ließ. Ich warf die zwei Münzen schulterzuckend ein, obwohl es mir doch einbisschen Leid tat, dass es nicht die gefragte Summe war. Jedoch bezweifelte ich, dass es jemandem auffallen würde und auch wenn, hier ging es schließlich bloß um zwanzig Cent. Sie würden den Verlust schon überleben.
Somit nahm ich die Streichholzschachtel zur Hand, die gleich nebem dem Kerzenständer stand, fing das Streichholz an und ließ die erste Kerze links in der ersten Reihe aufflammen. Ich betrachtete die Geburt der Flamme mit großen Augen und fokussierte sie angeregt, wie sie immer größer wurde. Ich war so versunken in die Schönheit und Anmut des kleinen Feuers, dass ich für längere Zeit das riesige Mosaikfenster direkt über mir garnicht bemerkte. Doch als ich mich von der Flamme lösen konnte, ließ ich meinen Blick nach oben schweifen, legte meinen Kopf ins Genick und begutachtete die prachtvolle, farbenreiche Abbildung. Sie zeigte vier anmutige Engel, die stolz über mir ragten und allesamt in verschiedene Richtungen blickten. Sie alle trugen einen Namen, der jeweils immer unter ihnen in schwarzer, mittelalterlicher Schrift vermerkt war.
Der erste abgebildete Engel trug den Namen St. Raphael. Er war in eine blaue Tunika und einen roten Umhang gehüllt. Er hielt einen Stab in der rechten Hand an wessen Spitze ein eigenartiger, vergoldeter Topf befestigt war. In der linken Hand hielt er einen toten Fisch. Auf dem Rücken trug er wunderschöne, grüne Flügel. Diese Darstellung irritierte mich ein wenig, somit ging ich zu dem zweiten Engel über. Dieser war der berühmte Erzengel Michael, den selbst ich kannte, trotz mangelnder Kenntnisse in Bezug auf Religion. Der heilige Michael trug eine goldene Schuppenrüstung, die ihn stark und kämpferisch erscheinen ließ und er hielt das dazu passende prachtvolle Schwert in der rechten Hand. In seiner linken hielt er eine Waage und hinter ihm ragten große, blaue Flügel auf. Ich ließ meinen Blick zu dem nächsten schweifen, welcher mit dem Namen St. Gabriel angeredet wurde. Er trug ein rotes Untergewand und einen dunkelgrünen Umhang. Im Arm hielt er eine Art Getreide, Weizen, wenn ich mich nicht irrte, das an der Spitze mit Blumen versehen war. Die Blumen schienen weiße Lilien zu sein, aber ich war mir nicht ganz sicher. Er hatte ebenfalls blaue Flügel, genau wie Michael. Und zu guter letzt der vierte Engel, der den Namen St. Uriel trug. Der Engel Uriel war, genau wie der erste Engel, mit einer blauen Tunika und einem roten Umhang bekleidet, jedoch legte er in der rechten Hand ein offenes Buch dar und in der anderen schien sich ein eigenartiges, goldenes Etwas seine Hand empor zu schlängeln. Ich konnte mir nicht erklären, was es darstellen sollte und nachdem ich Uriels grüne Flügel betrachtet hatte, ließ ich von dem Bild ab, da die Tatsache, dass ich nicht alles auf dieser Abbildung verstand, mich irritierte. Ich schenkte der Kerzenflamme, die ich entfacht hatte, noch einen letzten Blick und wollte mich gerade vollständig umdrehen, um mich auf den Weg zur Ausgangstür zu machen, als ich aus dem Augenwinkel heraus jemanden ungefähr drei Meter von mir entfernt stehen sah. Ich gab ein kurzes, ersticktes Keuchen von mir, da ich mich erschreckt hatte und hielt mir wegen des Schocks die Hand ans Herz. Der Mann sah mindestens genauso erschrocken aus wie ich mich fühlte und er warf mir augenblicklich einen entschuldigenden Blick zu. Er stammelte verlegen:
"Oh, verzeihen Sie, ich wollte sie nicht erschrecken."
Ich war immer noch sprachlos und musterte den Mann bloß mit neugierigen Augen. Er war noch relativ jung und in eine dunkle Robe gekleidet. Es war das Gewand eines Pfarrers und das kleine, goldene Kreuz, das er um den Hals trug, verdeutlichte seinen Berufsstand noch um einiges mehr. Als mir klar wurde, dass er auf eine Erwiderung meinerseits wartete, setzte ich verlegen zu einer Antwort an:
"Ähm... Ach, das macht doch nichts, ich hatte Sie bloß nicht kommen hören, das ist alles."
Ich machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand und schenkte ihm ein schüchternes Lächeln. Er erwiderte es und zuckte kurz darauf ein wenig irritiert zurück, als wäre ihm gerade etwas eingefallen. Dann trat er ein paar Schitte auf mich zu, verharrte jedoch mitten in der Bewegung, als er meine Zurückhaltung registrierte. Dann sagte er höflich:
"Ach herrje, wo bleiben meine Manieren?! Mein Name ist Pater Samuel McAlistair, aber Sie können mich gerne Bruder Samuel nennen."





Engelskraft


"Ich bin Raphael, Gott heilt.
Ich bin der Engel an deiner
Seite bei Tag und bei Nacht,
zu Hause und unterwegs, in
Liebeskummer und Krankheit,
in Verlassenheit und Schmerz,
in Verfolgung und in Trauer,
im Leben und im Sterben.

Du spürst mich oft nicht,
doch ich bin da.
Wohin immer du gehst und dich
verirrst, ich bin bei dir.
Ich höre deine Klagen, ich sehe
deine Tränen, ich weiß deinen
geheimen Kummer, ich kenne
deine Scham und Schuld.

Ich trage deine Gebete zu Gott.
Ich weiß Auswege aus auswegloser
Lage, ich kenne Heilung bei
jedem Leiden. Ich halte und trage
dich. Ich bin nicht dazu da, dir
Leiden zu ersparen, sondern dazu,
dass du Heilung findest.

Ich bin Bote der höheren Weisheit,
die aus Erfahrung wächst und dich
mit Barmherzigkeit und Liebe
auffängt, so dass auch du barm-
herzig und voller Liebe wirst."


"Ich bin Michael. Wer ist wie Gott?
Ich bin die Standfestigkeit im
Streit, ich bin der Mut, wenn alle
wanken. Ich bin die Treue, wenn alle
sich verkriechen. Ich bin der Held,
an dem sich die Zaghaften aufrichten.

Ich bin der Wille, der nicht aufgibt.
Ich bin die Klarheit, wenn alles ver-
schwimmt. Ich bin der rettende Einfall
in aussichtsloser Lage. Ich bin der
Unbeugsame, wenn alles vergeblich
scheint. Ich bin der Glaube wider den
Augenschein, Licht in der Dunkelheit,
das rettende Ufer im Sturm.

Wo ich erscheine, müssen die Schatten
weichen, wo ich meine Stimme erhebe,
verstummen die Spötter. Ich bin dein
Helfer und Beistand in den Stürmen
der Zeit."


"Ich bin Gabriel, mein Name bedeutet:
Gott ist meine Kraft. Ich bin das
leuchtende Farbenspiel der Blumen,
ich bin der Duft der Blüten im
Sonnenlicht. Ich bin der Glanz der
Morgenstunde und die Kraft des er-
wachenden Frühlings. Ich bin das
Wehen des sanften Windes und der Ge-
sang der Nachtigall in der Sommernacht.

Ich bin das Lächeln des Kindes, wenn es
die Augen aufschlägt. Wo ich erscheine,
beginnt das Leben neu, taufrisch wie
am Morgen der Schöpfung. Ich bringe
dir die Träume vollkommenen Glücks
und die Ahnung eines neuen Anfangs.
Ich bin der Bote von Erneuerung und
Schönheit und der Vision einer
besseren Welt.

Ich bin die kleine Schwester Hoffnung.
Ich bin die Rose, die aufblüht aus dem
geheimen Grund deines Herzens."


"Ich bin Uriel, Gott ist mein Licht.
Ich durcheile mit den Strahlen der
Sterne das Universum. Ich erleuchte
die Erde, vor meinem Erscheinen
schwinden Schatten und Dunkelheit.

Ich schaffe Leben aus der Nacht. Ich
bin die Heiterkeit und der Humor,
ich bin das weiße Glühen in deinem
Geist, ich bin das Aufblitzen neuer
Gedanken, die Intuition und die
göttliche Erleuchtung.

Ich blühe auf in dir wie der Vulkan
der Ekstase, ich durchglühe das Alte
und schaffe Raum für das Neue. Ich
bin die Gegenwart des Himmels in dir,
die Leichtigkeit des Seins, das Lachen
neuschaffenden Geistes. Ich nehme mich
leicht und wer sich leicht nimmt, dem
wachsen Flügel aus Licht."


Kapitel 13

"Heil den unbekannten, höheren Wesen, die wir ahnen!
Ihnen gleiche der Mensch; sein Beispiel lehr uns
jene glauben. Der edle Mensch sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff er das Nützliche, Rechte, sei uns
ein Vorbild jener geahneten Wesen!"

- Johann Wolfgang von Goethe in "Das Göttliche"


Aaron trat in den Flur, den er nun schon seit geraumer Zeit nicht mehr betreten hatte und er hätte genauso gut eine Augenbinde tragen können, er hätte sich immer noch zurecht gefunden. In den letzten zwei Jahren war dieses Haus hier mehr sein Zuhause gewesen als jenes, in dem er aufgewachsen war. Er hatte hier mehr Zeit verbracht als zu Hause bei seiner Mutter. Aber der war das noch nicht einmal aufgefallen. Oder es wollte ihr nicht auffallen, wer wusste das schon so recht?! Sie war wohl zu beschäftigt damit gewesen in ihrer eigenen Schande zu baden und in Selbstmitleid zu ertrinken, um seine Abwesenheit zu bemerken. Er war insgeheim sehr dankbar dafür, dass er von Ramiel und Sura unterrichtet wurde, denn er wusste nicht, was er getan hätte, wenn sie nicht im Winter vor genau zwei Jahren vor seiner Haustür aufgetaucht wären und ihm gesagt hätten, dass er ein auserwählter Prophet sei. Natürlich hatte er ihnen kein Wort geglaubt und ihnen die Haustür vor der Nase zugeschlagen, aber schließlich hatten sie ihn doch davon überzeugen können, dass er einer der drei letzten Propheten auf dieser Welt war und nun war er hier angelangt. Unterrichtet in der Kunde von Religion, Engeln und Dämonen bei seinen zwei Wächtern Sura und Ramiel, die übrigens alle beide Engel der dritten Ordnung waren, in einem schmucken, teuren Haus, in dem er praktisch wohnte. Es gab Zeiten, in denen seine Mutter schwere Alkoholprobleme gehabt und er es nicht mehr länger alleine zu Hause mit ihr ausgehalten hatte und da hatten Sura und Ramiel ihn mit offenen Armen bei sich zu Hause aufgenommen und dort übernachten lassen. Er hatte das Haus jedoch praktisch die ganze Zeit über für sich allein gehabt, da seine beiden Betreuer viele Nebenaufträge bekamen und somit viel unterwegs waren. Das hatte ihn aber keineswegs gestört, im Gegenteil, er hatte es sogar toll gefunden, ein ganzes Haus für sich zu haben. Sura war für ihn die Schwester, die er sich schon immer gewünscht, aber nie gehabt hatte und Ramiel... Nun ja, Ramiel ersetzte den Vater, der sich vor zehn Jahren feige aus dem Staub gemacht und Aaron und seine Mutter im Stich gelassen hatte. So gesehen hatte Aarons Schicksal, als Prophet der dritten Ordnung zu fungieren, ihm praktisch sein ganzes Leben erleichtert und verbessert und dafür war er sehr dankbar.
Er betrat die hellbeleuchtete Küche und setzte sich an den Küchentisch, um seinen kalten Füßen etwas Ruhe zu gönnen. Anschließend kam Sura übertrieben freudigen Gemüts in den Raum gehüpft, mit Ramiel im Schlepptau, der im Gegensatz zu ihr etwas weniger gut gestimmt schien, und gesellte sich zu ihm an den Tisch. Als Ramiel näher trat, erhob sich Aaron ruckartig und postionierte sich ihm gegenüber. Sie sahen sich einen Moment lang mit ernstem Gesichtsausdruck in die Augen, ließen dann ihren Mundwinkeln ein Lächeln entweichen und anschließend breitete Ramiel die Arme aus und schloss seinen Schützling in eine väterliche Umarmung.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.05.2012

Alle Rechte vorbehalten

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