Prolog
Mein Vater sagte mir einmal: "Die Erinnerung ist der Schlüssel zu der Vergangenheit. Vergisst du etwas, und sei es noch so unwichtig, verlierst du einen Teil deiner Vergangenheit." Damals hatte ich nicht wirklich den Ernst und den Sinn hinter seinen Worten verstanden, ich war damals erst zehn gewesen und doch hatte ich seine Worte nie vergessen. Ich hatte schon damals das Gefühl gehabt, dass sie eines Tages von äußerst großem Nutzen sein würden und nun war dieser Zeitpunkt eingetreten. Nun war die Zeit gekommen, mich zu erinnern. Aber es scheint eine enorme Herausforderung zu sein, zu wissen, dass man sich an etwas erinnern muss, man aber nicht weiß, an was. Die Erinnerung, nach der ich suchte, musste irgendwo tief in meinem Gehirn eingegraben sein. Ein wichtiges Ereignis, tief verwurzelt in meinem Unterbewusstsein, das ich jedoch irgendwie verdrängt zu haben schien. Aber ich musste mich erinnern, ich musste... Sonst würde ich niemals den Schlüssel zu dem jeweiligen, überaus wichtigen Teil meiner Vergangenheit finden und das Geheimnis niemals lüften können.
Kapitel 1
Ich schaute in den Spiegel... Ich sah in den Spiegel und blickte in grüne Augen. Smaragdgrüne, tränengefüllte Augen. Und die Person, der die Augen gehörten, war nicht wieder zu erkennen. Das war ich und doch war ich es irgendwie nicht. Ich wusste nicht mehr, wer ich war. Oder.. was ich war. Ich war verwirrt. Verwirrt und verloren. Verloren im See all meiner Fragen, Fragen über meine Vergangenheit, über meine Identität, über meine Eltern... Und ich wusste nicht, wie ich jemals Antworten auf diese Fragen finden sollte. Ich schüttelte den Kopf, um meine düsteren Gedanken zu vertreiben und wischte mir die Tränen von den durchnässten Wangen. Dann kämmte ich nochmal mein langes, kastanienbraunes Haar und entschied, dass man mir nicht anmerken würde, dass ich geweint hatte und verließ das große, hellbelichtete Badezimmer. Ich machte noch kurz einen Abstecher in Quinns Zimmer, um die noch immer rücksichtslos, weitaufgerissene Schublade seines Garderobenschranks richtig zu verschließen, damit ihm nicht auffallen würde, dass ich in seinem Zimmer gewesen war. Dann wollte ich noch kurz mein eigenes Zimmer betreten, als ich am alten Arbeitszimmer meines Vaters vorbeikam. Es war eine kleine, dunkelbraune Tür aus Kastanienholz, die beinahe unsichtbar zu sein schien so im Dunkeln des Flurs. Sie war über all die Jahre, in denen mein Vater nun tot war, nicht vorhanden gewesen, stets verschlossen. Keiner von uns hatte sich je wieder getraut, es zu betreten. Vermutlich, weil die Erinnerung an ihn und somit der Schmerz noch stärker gewesen wäre. Ich war öfters verführt dazu gewesen, die Tür zu öffnen und das Zimmer endlich wieder zu betreten, ich war bereit gewesen, mich meinem Verlust zu stellen, wäre da nicht die klare Ansage meiner Mutter gewesen, dass sie es auf keinen Fall gutheißen würde, wenn mein Bruder und ich uns auch nur in die Nähe des Zimmers begeben würden. Und nun... Nun war es nur noch irgendeine Tür, die über die Jahre fast mit der Wand verschmolzen war, ein langweiliger, staubiger Rechteck, der seine Funktion und seine Existenz verloren hatte. Genauso wie ich... Aber jetzt, wo ich mich schon vor dem Arbeitszimmer meines Vaters befand, konnte es doch sicher nicht schaden, es mal wieder zu betreten, oder? Meine Mutter würde es schließlich nie erfahren. Es wäre so, als wäre es niemals passiert. Ich näherte mich ganz langsam dem Türknauf, machte einen winzigkleinen Schritt nach vorne, streckte meine rechte Hand aus und...
"Rina!"
Ich fuhr zusammen, als der laute Ausruf von Shane mich aus meiner Anspannung warf. Er hatte von unten aus der Eingangshalle gerufen und ich wandte mich hektisch und zittrig von der Tür ab, die nun einfach wieder in der schlichtgestrichenen Mauer versank. Ich drehte mich um und rannte die Treppen hinunter und wäre beinahe gestolpert, als ich sah, dass Shane lässig, mit verschränkten Armen, an der Wand lehnte und mich mit nachdenklichem und leicht grimmigem Gesichtsausdruck anschaute. Ich holte ein Mal tief Luft und sagte dann aufgebracht:
"Shane! Warum stehst du hier so blöd an der Wand gelehnt rum? Schon vergessen, dass du noch vor zwei Stunden kurz vorm Verbluten standst? Leg dich sofort wieder hin!"
Er stieß sich galant von der Mauer ab und löste die Verschränkung seiner Arme, um mir stolz seinen nun wieder verbandslosen, glatten und unverletzten Bauch zu präsentieren. Ich staunte nicht schlecht, als der wieder alte, selbstbewusste und coole Shane vor mir stand. Auch wenn ich wusste, dass das nur eine Fassade war, so musste ich mir doch ein leichtes Schmunzeln verkneifen, das sich meinen Mundwinkeln entwinden wollte. Ich errötete, als mir gerade erst klar wurde, dass er halbnackt und dämlich grinsend vor mir stand, somit überbrückte ich die letzten Treppenstufen und drückte mich, peinlich berührt, an ihm vorbei, um mich in die Küche zu begeben. Ich öffnete die Tür des Kühlschranks, um mir eine Flasche Wasser zu nehmen, als ich bemerkte, wie Shane mir folgte und nun ebenfalls die Küche betrat. Ich fragte:
"Willst du was trinken?"
Er schüttelte den Kopf und schenkte mir bloß ein sanftes Lächeln, während er sich auf einem Stuhl neben unserem Küchentisch niederließ. Bevor ich mich zu ihm gesellte, ging ich noch schnell zu den Kleiderhaken, die im Flur hingen, um ihm eine Jacke aus dünnem Stoff, die meinem Bruder gehörte, zu holen. Es war mir ein wenig unangenehm, ihn mir gegenüber sitzen zu haben, während seine Brust unbedeckt war und warf ihm die dunkelgraue Stoffjacke zu. Ich ging noch ein letztes Mal zum Kühlschrank und holte ihm trotz seines Ablehnens eine kühle Flasche Wasser heraus. Dann setzte ich mich ebenfalls an den Tisch und stellte die Flasche vor ihm ab. Er blickte einen kurzen Moment irritiert, doch er bedankte sich bloß. Als er die Jacke dann anzog, musste er sich einbisschen anstrengen, um in die Ärmel zu kommen, denn sie schienen zu eng zu sein. Shane schielte zu mir hoch und fragte:
"Wie alt ist dein Bruder noch gleich?"
"Fünfzehn! Und er ist nicht viel kleiner als du. Jetzt weiß ich auch, warum er die nie anhat...", erwiderte ich und sah ihn, mit Schelm in den Augen, an. Er seufzte und schien das nur halb so witzig zu finden wie ich. Als ich einen kleinen Schluck aus meiner Flasche nahm, senkte ich den Blick, damit ich ihn nicht ansehen musste. Ich wagte es immer noch nicht, ihn auf das vor kurzem Gesagte anzusprechen. Ich konnte es immer noch nicht glauben und ich wollte es auch garnicht, denn die Tatsache, dass ich mich in irgendein Tier verwandeln konnte, wollte immer noch nicht in meinen Kopf. Es war einfach zu abwegig. Und irgendwie auch lächerlich, warum sollte ausgerechnet ich, Rina Felten, eine Gestaltwandlerin sein? Meine Eltern waren es doch auch nicht... Oder etwa doch?
"Shane? Woher weißt du, dass ich so.. ein Gestaltwandlerding bin?" ,fragte ich zögerlich.
Er hob den Blick und verzog leicht das Gesicht, als er das Wort "Ding" hörte, aber dann erwiderte er:
"Rina... Es tut mir leid, dass mir das vorhin so rausgeplatzt ist, das wollte ich nicht, ich..."
"Beantworte meine Frage, Shane!"
Er sah mich aus erstaunten und auch traurigen Augen an und fing an zu erzählen:
"Ich weiß es, weil ich deinen Vater kannte. Als ich dich kennenlernte, wusste ich bereits durch deinen Namen, wer du bist, aber ich konnte dir das doch nicht einfach so sagen. Dein Vater, Darius, gehörte zu unserem Rudel, dem Wolfsclan. Er war ein sehr guter Freund meines Vaters. Ich kannte ihn schon mein ganzes Leben lang."
Shane achtete ganz genau auf jedes Wort, das seinen Mund verließ und achtete auf die Reaktion, die mein Gesicht vielleicht zeigen ließ, doch ich hörte nur aufmerksam zu und versuchte, so gut es ging, mir so wenig wie möglich anmerken zu lassen. Obwohl alles, was er sagte, mich insgeheim zutiefst erstaunte und auch leicht verängstigte. All das war mir bisher unbekannt gewesen, die ganzen zwölf Jahre, in denen ich mit meinem Vater gelebt hatte, hatte ich nicht die leiseste Ahnung gehabt und jetzt kam ein mir fast völlig fremder Junge mit dieser Geschichte über die wahre Identität meines Vaters, die sehr schwer zu glauben war. Doch ich wollte es wissen, ich musste alles erfahren, somit fragte ich weiter nach.
"Dieser Wolfsclan... Existiert der noch?"
Shane wandte nun den Blick wieder von mir ab, lenkte ihn auf das Sofa im Wohnzimmer, auf dem er vorhin gelegen hatte und fuhr fort:
"Ja, es gibt diesen Clan noch, soweit ich weiß. Auch wenn viele Mitglieder, mich mit eingeschlossen, ihn nach dem Tod deines Vaters verlassen haben."
Er machte eine kurze Pause, sah mich nicht an, denn er erwartete vermutlich genau die Frage, die ich jetzt stellen würde.
"Moment mal, wieso haben sie ihn ausgerechnet nach dem Tod meines Vaters verlassen? Wieso sollten sie das tun? Das leuchtet mir nicht ein..."
Er schloss kurz die Augen, mein Magen krampfte sich zusammen, da ich nicht wusste, was mich erwarten würde, dann erwiderte er:
"Weil... Weil dein Vater einen besonderen Status hatte in unserem Clan. Er nahm vor seinem Tod einen äußerst hohen Rang ein. Ist dir der Begriff "Alphatier" bekannt?"
Ich erschrak, eine leichte Gänsehaut überzog meinen nackten Arm und ich hauchte:
"Er war der Anführer eures Clans?"
Shane nickte zögernd und wartete darauf, dass ich noch etwas hinzufügen würde, doch ich schwieg. Ich sah stillschweigend vor mich hin, fixierte die Tischkante, um mich irgendwie konzentrieren zu können, auch wenn es mir sehr schwer fiel. Shane wurde unruhig, das merkte ich daran, dass er sich nervös durch die Haare fuhr und mehrmals laut ausatmete. Das half mir nicht wirklich, mich auch nur im Geringsten besser zu fühlen, das machte es nur noch schlimmer. Das reichte jetzt. Ich erhob mich auf ein Mal so ruckartig, dass der Stuhl beinahe nach hinten umgefallen wäre und stürmte auf die Treppen zu. Shane schrak auf, erhob sich ebenfalls, um mir zu folgen.
"Rina?! Rina, wohin gehst du?"
Ich rannte wutschnaubend die Treppen hoch, ohne auf Shanes Frage zu antworten oder ihn auch nur zu beachten. Ich hatte nur ein Ziel vor Augen: das Arbeitszimmer meines Vaters.
Nun stand ich schon wieder vor dieser blöden, fast unsichtbaren Tür, die mich beinahe zu verspotten schien. Sie schien mir grimmig entgegen zu lächeln und wartete nur darauf, dass ich sie öffnen würde. Jedoch würde ich nicht zögern, ich würde nicht zurückschrecken, nein, dieses Mal war ich mir meiner Sache sicher. Somit nahm ich einen tiefen Atemzug, legte Hand an den Türknauf, ignorierte die Fragen, die der hinter mir stehende Shane mir stellte und drehte ihn herum. Es machte kurz 'Klick' und die Tür sprang quietschend auf. Anschließend wurde durch den kleinen Spalt der geöffneten Tür ein Teil des dunklen Arbeitszimmers freigelegt und nur das Pult meines Vaters wurde spärlich belichtet durch das gedämpfte Licht, das im Flur herrschte. Ich nahm einen tiefen Atemzug und kratzte den wenigen Mut zusammen, der noch übrig geblieben war, denn auch wenn ich vorhin von Entschlossenheit und Selbstsicherheit geleitet die Treppen hochgestiegen war, hatte beides mich unterwegs schon zum größten Teil verlassen. Nun war ich nur noch ein aufgekratztes Nervenbündel. Noch immer versuchte Shane mir verzweifelt eine Antwort zu entlocken, aber selbst wenn ich gewollt hätte, wäre ich nicht im Stande gewesen, ihm auch nur irgendwas zu erwidern, denn meine ganze Aufmerksamkeit galt nun einzig und allein dem Arbeitstisch meines Vaters.
Ich machte einen tiefen Atemzug, füllte meine Lungen mit frischer, neuen Mut bringender Luft und stieß die Tür anschließend bis zur Gänze auf. Dann ließ ich den Anblick auf mich wirken. Obwohl alles im Zimmer noch genauso war wie zu der Zeit, als mein Vater noch gelebt hatte, so erschien es mir doch auf eigenartige Weise fremd. Es wirkte so düster und unheimlich und ich war mir irgendwie sicher, dass das nicht nur am dämmrigen Flurlicht lag. Ich zögerte noch immer, es zu betreten und als ich meinen Blick schweifen ließ, erblickte ich einen Stapel Kartons. Ich legte meinen Kopf schief, weil ich aus meiner Entdeckung nicht schlau wurde, doch als mich allmählich ganz leise eine Ahnung beschlich, wurde mir klar, dass es die Kartons waren, in die meine Mutter vorgehabt hatte, die Arbeitssachen meines Vaters einzupacken. Sie hatte sich das schon damals kurz nach seinem Tod vorgenommen und hatte offensichtlich auch angefangen, doch sie hatte vermutlich nicht die Kraft gehabt, ihr Vorhaben auch zu Ende zu führen. Mich durchfuhr ein unangenehmer Schauer, Gänsehaut überzog meine Arme und ein Schwall lauter schlechter Erinnerungen überflutete mich. Anschließend überkamen mich Angst und Schrecken und mein Mut verließ mich nun endgültig. Wie ein Feigling wandte ich mich wieder um, um diesem Zimmer und somit den Erinnerungen und meinem Verlust zu entkommen und rannte gleich daraufhin in eine steinharte, nackte Brust, die Shane gehörte. Ich war nicht darauf gefasst gewesen, da ich seine Anwesenheit völlig vergessen hatte und als ich wieder zu mir gekommen war, wollte ich mich an ihm vorbeidrücken, doch er versperrte mir den Weg. Wenn ich einen Schritt nach rechts tat, tat er es auch, wenn ich nach links trat, machte er es mir nach. Egal was ich auch tat, er folgte mir bei jedem Schritt, zu dem ich auch bloß ansetzte. Ich stöhnte genervt auf und nun musste ich meinen Blick heben, ob ich wollte oder nicht. Ich durchbohrte Shane mit einem funkensprühenden Blick und anstatt mir ebenfalls einen wütenden Blick zuzuwerfen, so wie ich es erwartet hatte, wurde sein Blick sanft und mitfühlend und seine Augen sahen wehleidig in meine. Sein samtweicher Blick hinterließ gleichzeitig ein Stechen in meinem Herzen, als auch ein angenehmes Ziehen in meinem Magen und eine geballte Ladung von widersprechenden Gefühlen staute sich in mir auf. Ich versuchte, jedes einzelne Gefühl, das sich auf ihn bezog, zu unterdrücken und wieder dahin zu befördern, von wo es hergekommen war, bevor es sich ganz in meinem Körper ausbreiten konnte, doch als sein Blick starr und hartnäckig auf mir ruhen blieb, riss mir der Geduldsfaden und alles in mir schien vor Anspannung und Zurückhaltung zu platzen.
Ich ballte meine Hände zu Fäusten, biss meine Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer anfing zu schmerzen und anschließend versuchte ich vergeblich, die überwältigende Wut, die in mir hochstieg, zu unterdrücken. Ich öffnete meinen Mund einen kleinen Spalt, aber ich war noch viel zu wütend, um mir jetzt zutrauen zu können, etwas zu sagen. Deswegen biss ich mir auf die Unterlippe und gleich daraufhin verteilte sich der ekelhafte, metallische Geschmack von Blut auf meiner Zunge. Der Geschmack von meinem Blut...
Ich senkte beschämt meinen Blick auf den Holzboden, auf dem ich stand und nahm einige sehr tiefe Atemzüge. Und bevor ich zu einem Satz ansetzen konnte, schnappte Shane mir das Wort vor der Nase weg.
"Rina, was ist los? Du zitterst am ganzen Körper und du hörst dich an, als würdest du gleich in die Luft gehen? Ist es wegen mir, habe ich dich verärgert? Wenn ja, dann tut es mir leid, ich..."
"Es ist nicht nur wegen dir, Shane! Kapierst du denn nicht, es ist wegen all dem hier. Diese ganze Situation hier, in der ich feststecke... Es frisst mich auf, es nagt an mir, nicht zu wissen, warum mein Vater mir sechzehn Jahre lang vorenthalten hat, dass ich zur Hälfte Gestaltwandlerin bin. Dafür muss er doch einen Grund gehabt haben, verdammt! Und jetzt finde ich mich vor seinem Arbeitszimmer wieder und alles kommt wieder hoch, was ich über die letzten vier Jahre so mühevoll in dem hintersten Winkel meines Bewusstseins verstaut hatte und du... Du machst alles bloß noch schlimmer! Du tauchst eines Tages einfach so aus heiterem Himmel auf, kommst mit deiner stylischen, verwuschelten Perücke da anmarschiert... Schenkst mir eine Aufmerksamkeit, wie noch keiner vor dir und du kennst mich noch nicht einmal! Und dann rettest du mir auch noch so nebenbei das Leben und dann lässt du diese Bombe platzen, was soll denn das, bitteschön?!"
Ich schluchzte mittlerweile wie ein heulendes Wrack und gestikulierte heftig, bis Shane mich in meiner Tirade stoppte, meine Handgelenke packte, damit ich ihm nicht plötzlich unfreiwillig in meinem Aufruhr eine runterhaute und versuchte laut auf mich einzureden:
"Rina, hör auf! Rina, stopp, jetzt hör mir doch mal zu, verdammt noch mal! Rina!"
Ich hielt die Klappe und ließ ihn gewähren. Und erst, als er meine Handgelenke allmählich und vorsichtig losließ, spürte ich den stechenden Schmerz in meinen Handflächen. Ich hob meine Hände hoch und betrachtete mit Furcht und Erstaunen die blutenden Kratzspuren auf meinen Handoberflächen. Mir entfuhr ein stöhnender Aufschrei der Verblüffung, als ich das Blut und die kleinen Hautfetzen unter meinen Nägeln bemerkte. Ich hatte mir das selbst angetan. Und ich hatte es noch nicht einmal bemerkt, weil ich mich so in meine Wut hineingesteigert hatte. Das war mir noch nie zuvor passiert. Aber eigentlich hatte ich auch noch nie meine Wut auf diese Art und Weise zur Geltung gebracht. Ich hatte das, was ich gerade gesagt hatte, noch nie zuvor laut ausgesprochen. Und jetzt war es mir vor Shane rausgerutscht, ausgerechnet vor ihm...
Ich hatte meine Augen immer noch auf meine blutigen Handflächen gerichtet, als Shane seine sanft und etwas zögerlich auf meine vor Wut glühenden Wangen legte und mir tröstend zuflüsterte:
"Rina, ich weiß, dass das alles ein Riesenschock für dich sein muss und ich weiß auch, dass ich keinerlei Recht habe auch nur den kleinsten Platz in deinem Leben einzunehmen, aber... So merkwürdig es auch klingen mag, aber ich fühle mich auf absurde Art und Weise verantwortlich für dich und dein Vater hätte gewollt, dass ich an seiner Stelle auf dich Acht geben würde. Und das werde ich auch in Zukunft tun, ob du es nun gutheißt oder nicht, denn unser Verfolger von vorhin im Wald wird nicht eher Ruhe geben, bis er bekommen hat, wonach er verlangt. Und ich weiß ebenfalls, dass es schwer sein muss, dich wieder mit dem Verlust deines Vaters konfrontiert wiederzufinden, aber du musst reinen Tisch machen. Willst du denn nicht unbedingt mehr über die wahre Identität deines Vaters herausfinden, Rina? Wissen, wer er wirklich war?!"
Ich hörte ihm konzentriert zu und fühlte mich eigenartig, irgendwie berauscht. Shanes besänftigende Stimme redete mir Mut zu, Mut, mich wieder dem Vermächtnis meines Vaters zu stellen. Und somit nickte ich, drehte mich langsam um und betrat das dunkle Arbeitszimmer meines Vaters.
Kapitel 2
Die Dunkelheit umhüllte uns, jedoch fühlte ich mich nicht bedroht, anders als vorhin, denn nun spürte ich Shanes Körperwärme in meinem Rücken, die mir Geborgenheit und Schutz spendete. Auch wenn ich immer noch eine intensive Wut auf Shanes Verrat hin verspürte und diese mich erneut aufzuwühlen drohte, beschloss ich, dass die Suche nach der Wahrheit über meinen Vater wichtiger war und ich mich jetzt darauf konzentrieren musste, gemeinsam mit Shane, ob ich es nun mochte oder nicht, in seinen alten und längst verstaubten Besitztümern zu stöbern. Ich ging zuallererst mal zum Schreibtisch und schaltete die Tischlampe ein, die dort stand, damit wir wenigstens einbisschen Licht hatten. Denn die eigentliche, große Lampe, in Form eines Kerzenleuchters, funktionierte schon seit Jahren nicht mehr und es hatte sich auch nie jemand die Mühe gemacht, sie zu reparieren.
Ich ging rüber zu den zahlreichen Kartons, die einerseits den Boden bedeckten und auch den ganzen Platz auf der Couch einnahmen, die nicht allzu weit vom Schreibtisch entfernt stand. Ich öffnete den erstbesten Karton, der mir ins Auge stach und durchforstete ihn. Ich sah zu Shane auf, der sich etwas hilflos im Zimmer umsah. Ich musste mir ein spöttisches Grinsen verkneifen, als ich bemerkte, wie unangenehm ihm die ganze Situation war und ging selbstsicheren Schrittes auf ihn zu. Ich packte ihn unvermittelt bei der Hand und zog ihn mit bis zum Karton, wo ich mich anschließend auf dem Rand der Couch niederließ.
"Dies sind alles Sachen, die meinem Vater einst gehört haben und die meine Mutter wegzugeben niemals übers Herz gebracht hat. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was wir in all diesen Kisten finden werden. Möglich, dass ich die Hälfte davon noch nie in meinem Leben gesehen habe, aber ich bin mir sicher, dass wir Hinweise auf meinen Vater entdecken werden, die uns weiterhelfen. Lass' uns keine Zeit verlieren, denn ich habe keine Ahnung, wann meine Mutter und mein Bruder nach Hause kommen.", erklärte ich etwas außer Atem und machte mich, meine letzten Worte unterstützend, augenblicklich an die Arbeit. Shane machte es mir gleich. Ich nahm mir die Kiste vor, die sich direkt neben mir befand und durchsuchte sie gespannt. Jedoch schienen sich in dieser bloß Kleider meines Vaters zu befinden, deswegen schloss ich sie gleich wieder. Ich erhob mich und ging zum Schreibtisch. Er sah noch genauso aus, wie an dem Tag, als mein Vater morgens das Haus verließ und abends nicht mehr zurückkehrte. Die Blätter lagen immer noch durcheinander auf dem Tisch verteilt, unordentlich, so wie mein Vater war. So wie mein Vater gewesen war...
Ich schnappte mir den roten Filzstift, der sich im Kugelschreiberhalter befand, und beschriftete anschließend die Kisten, in denen Kleider verpackt waren. Diese stellte ich dann zur Seite, damit sie nicht mehr unnötig im Weg rumstanden und fuhr mit meiner Suche fort. Aber eigentlich konnte man es nicht Suche nennen, denn ich wusste ja noch nicht einmal, wonach ich eigentlich suchen sollte.
Als ich weitere Kisten untersuchte und bloß Bücher über Business und Management fand, wurde ich langsam nervös, da nichts davon mir wirklich weiterhalf. Mein Vater war ein Bankmanager gewesen, so hatte man es mir jedenfalls erzählt. Aber vermutlich war auch das eine Lüge gewesen. Dieser Clan, von dem Shane mir vor nicht einmal einer halben Stunde erzählt hatte, in welchem mein Vater Anführer gewesen sein sollte, schien von größerer Wichtigkeit zu sein, als ich bisher realisiert hatte. Es war nicht irgendeine Gruppe von Leuten, die sich zusammen getan hatten, weil sie irgendwas gemeinsam hatten. Nein, diese Gemeinschaft schien tatsächlich abgeschottet von dem Rest der Welt und ihrer Zivilisation, denn Shane hatte gesagt, dass kein Mensch von der Existenz der Gestaltwandler wusste und dieses Wissen auch niemals in die Welt der Menschen gelangen durfte. Diese Gestaltwandler lebten in ihrer eigenen Welt, unter ihresgleichen. Das bedeutete, dass sie sich dort auch ein ganzes Leben aufgebaut hatten, mit Arbeit, Freunden und Familie, genauso wie wir. Doch wenn mein Vater deren Anführer gewesen sein sollte, wie war es dann möglich, dass er gleichzeitig ein Leben bei den Gestaltwandlern und ein Leben hier, bei uns, seiner Familie, geführt hatte? Wie war es ihm möglich gewesen, solch ein Geheimnis vor uns zu bewahren? Wie, wenn nicht auch meine Mutter davon gewusst hatte...
Ich ließ das schwere Buch über Bankmanagement fallen, das ich in der Hand hielt, und schreckte damit Shane auf. Er drehte sich fragend zu mir um und kam anschließend auf mich zu, als er sah, wie ich wie versteinert an meiner jetzigen Stelle stand. Langsam fügte sich das Puzzle zusammen... Ich fing an, zu begreifen, dass nicht nur mein Vater mir dies all die Jahre verheimlicht, sondern auch meine Mutter mich angelogen hatte. Sie musste von all dem gewusst haben, andernfalls hätte es nie soweit kommen können, dass sie ein gemeinsames Leben mit zwei Kindern aufgebaut hatten. Nun fühlte ich mich noch weitaus mehr betrogen und auch wenn ich keine handfesten Beweise für meine Vermutung hatte, so konnte es doch nicht anders sein.
Ich hatte Shanes Anwesenheit für einige Momente ausgeblendet, als mich eine Hand auf ein Mal am Handgelenk packte und mich zu sich umdrehte. Er erhob die Stimme und durchbrach somit die angespannte Stillen. Er fragte:
"Rina, worüber denkst du gerade nach?"
Ich fixierte irgendeinen Punkt in der Ferne des spärlich beleuchteten Zimmers und versuchte, das Ausmaß und die Konsequenzen meiner zu treffenden Entscheidung zu berechnen. Ich war mir nicht sicher, ob es weise war, meine Mutter auf die Enthüllung des heutigen Tages anzusprechen, schließlich bestand immer noch die Möglichkeit, auch wenn sehr gering, dass sie von allem keine Ahnung hatte. Sollte ich dieses Risiko tatsächlich eingehen?
"Rina?", ertönte es erneut leise.
Ich sah ein, dass ich nicht lange mir der Entscheidung warten durfte, ich musste das Risiko eingehen, ich musste es einfach!
"Ich glaube, ich weiß, wo wir Antworten auf meine Fragen finden können!", erwiderte ich mit fester Stimme und warf Shane ein vielversprechendes Lächeln zu.
Ich entschloss mich dazu, Dads alten schwarzen Jeep zu nehmen und wies Shane an, auf der Beifahrerseite einzusteigen. Ich hatte schon seit einigen Monaten nicht mehr hinter einem Steuer gesessen, deswegen war ich ein wenig nervös. Shane warf mir einen Blick voll Skepsis zu und fragte:
"Bist du sicher, dass du weißt, wie man dieses Ding fährt?"
Ich verdrehte die Augen und erwiderte:
"Du redest, als müsste ich ein Flugzug steuern."
Er schmunzelte und antwortete provokativ:
"Mit dir hinterm Steuer und deinem Blick zu urteilen, könnte man fast meinen, es wäre so!"
Ich gab ein gehässiges Lachen von mir und warf ihm anschließend einen bösen Blick zu. Er hörte augenblicklich auf zu lachen und sah vor sich auf die Straße. Dann startete ich den Motor, löste die Handbremse und nahm einen tiefen Atemzug. Dann sagte ich noch:
"Übrigens, der Sicherheitsgurt an deiner Seite ist nicht zur Dekoration da!"
Er verstand und lächelte noch einmal verlegen. Dann hob ich den Fuß von der Bremse und wir rollten aus der Ausfahrt.
Als ich vor der Anwaltskanzlei meiner Mutter parkte, stiegen Shane und ich beinahe gleichzeitig aus und liefen in das Gebäude hinein.
Texte: Die Rechte der Geschichte und Charaktere liegen bei mir :)
Tag der Veröffentlichung: 22.02.2012
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