PROLOG
Dinge passieren immer genau dann, wenn du sie am wenigsten erwartest. Veränderungen, die dein ganzes Leben auf den Kopf stellen und es noch nicht ein Mal in deiner Macht steht, sie zu ändern oder gar zu verhindern. Mir persönlich fällt es schwer Veränderungen anzunehmen und mit ihnen zu leben, dafür brauche ich Zeit. Also wie zur Hölle sollte ich mit der Veränderung zurechtkommen, die mir noch bevorstand? Die Veränderung, die mit hundertprozentiger Sicherheit mein ganzes Leben auf den Kopf stellen würde. Die Veränderung, die ich nur schwer annehmen konnte, mit der ich aber zu leben lernen musste. Eine Veränderung, dessen Folgen sogar der Tod oder vielleicht noch Schlimmeres sein konnte.
Kapitel 1
Mein erster Schultag und schon ging alles schief. Nicht nur, dass ich heute Nacht total schlecht geträumt hatte und ich meinen Lieblingspulli nicht finden konnte, nein, jetzt musste ich auch noch feststellen, dass mein Bruder noch immer im Bett lag und tief und fest schlummerte. Ich stürmte in sein Zimmer, riss die Vorhänge auf, woraufhin eine Lichtflut das Zimmer erhellte und zog ihm die Decke vom Körper. Ich rief:
"Quinn! Steh' verdammt noch mal auf, du Schlafmütze! Heute fängt die Schule an, hast du das etwa schon vergessen?"
Quinn drehte sich langsam und beschwerlich in meine Richtung und murmelte verschlafen:
"Aaahhh... Ich wünschte,ich hätte es vergessen..."
Ich seufzte tief und entriss ihm die Decke nun endgültig.
"Tja, ich bin zutiefst getroffen, dass ich dich daran erinnern muss, aber du wirst an deinem ersten Tag nicht zu spät kommen! Hast du mich verstanden?", fragte ich wütend.
Er grummelte mürrisch und erwiderte in sarkastischem Ton:
"Ja, Mum..!"
Ich seufzte erneut genervt und verließ sein Zimmer. Mir war durchaus bewusst, dass Quinn kein Freund der Schule war, doch so schlimm wie neuerdings ist es noch nie gewesen. Nun, darüber musste ich mir leider später Sorgen machen. Ich hatte nämlich ein Frühstück vorzubereiten und einen Lieblingspulli zu finden...
Nach den etlichen Rufen an Quinn, er solle endlich seinen Hintern aus dem Bett heben und den zwei Kaffee, die ich bereits intus hatte, steckte ich mir noch einen Keks in den Mund und raste hoch ins Badezimmer, um mir die Zähne zu putzen. Ich betrachtete mich im Spiegel, wo mir zwei smaragdgrüne Augen entgegenstarrten. Ich sah ziemlich von der Rolle aus und selbst der Kaffee hatte die Müdigkeit nicht aus meinem Gesicht verschwinden lassen. Ich entschloss, einbisschen Puder aufzutragen, damit ich an meinem ersten Tag nicht allzu zerstreut aussah und kämmte anschließend mein taillelanges, braunrotes Haar. Plötzlich klopfte es an der Tür und ich vernahm die Stimme meines Bruders.
"Hey Rina, wenn du den ganzen Morgen das Bad besetzt, dann kann ich mich auch nicht fertig machen für die Schule und dann waren deine nervtötenden Versuche, mich aus dem Bett zu bekommen, völlig umsonst. Willst du das etwa?", fragte er herausfordernd.
Ich öffnete die Tür und starrte ihm fassungslos in die blaublitzenden Augen.
"Dir ist schon klar, dass das gerade eine gut versteckte Erpressung war, oder?", fragte ich ihn misstrauisch.
"Voll und ganz!" Er grinste mich besserwisserisch an und drückte sich an mir vorbei ins Badezimmer. Ich blieb einen Augenblick lang regungslos stehen und dachte über die Worte und das freche Grinsen meines Bruders nach. Was war bloß los mit ihm? War er etwa mit dem falschen Fuß aufgestanden? Ach, es war vermutlich bloß die Pubertät... Ja, die Pubertät war immer eine gute Ausrede, um sich keine Sorgen machen zu müssen...
Ich saß im Bus, alleine und mit Kopfhörern in den Ohren. Ich hörte meinen Lieblingssong, meine Art mich mental auf die Schule vorzubereiten. Die Schule selber war kein Problem, es waren eher die Menschen, die sie besuchten. Die ganze High-School war überfüllt von Idioten, oberflächlichen Idioten. Menschen, die reingarnichts anderes interessierten als sie selbst. Natürlich gab es auch Ausnahmen, aber die waren eher seltener anzutreffen. Abgesehen von meiner besten Freundin Romy, die zwar ebenfalls einbisschen eigenartig war, ich aber gut damit zurecht kam, weil ich sie sehr mochte und meinem besten Freund Gabriel, den ich schon beinahe mein ganzes Leben lang kannte und dem ich am meisten vertraute, waren fast alle Menschen in meiner Schule ignorante, arrogante und reiche Schnösel. Das kam davon, wenn man in so einer Gegend, wie ich aufwuchs. Fast nur verwöhnte Kids, die alles von ihren reichen und erfolgreichen Eltern geschenkt bekamen. Ich wollte damit keinesfalls behaupten, dass meine Mutter nicht viel Geld als Anwältin verdiente, vor allem da sie ziemlich erfolgreich war, aber ich war trotzdem auf dem Boden geblieben und lief nicht rum wie eine arrogante Zicke, dessen einzigen Sorgen waren, ob die Nägel auch ja nicht abbrechen würden im Sportunterricht oder ob die neue Pradahandtasche nicht schmutzig wurde. Ich war es so leid, aber das sollte mich nun wirklich nicht kümmern. Schließlich kümmerte es mich für gewöhnlich auch nicht. Ich stieg aus dem Bus, nachdem er an der Schule haltgemacht hatte und stülpte meine Kapuze über, weil es angefangen hatte zu regnen. Ich ließ meine Kopfhörer in den Ohren, um das Geplapper und das große Wiedersehen von allen auszublenden. Manche sahen mich mit den gewohnten, verächtlichen Blicken an wie immer, die ich dann anschließend mit meinem gewohnten Abwehrmechanismus ignorierte. Meine Mitschüler empfanden mich als kühl und abweisend und glaubten ernsthaft, dass das an mir läge. Dabei realisierten sie nicht, dass ich sie einfach nicht leiden konnte. Ich betrat das Schulgebäude und betrachtete den Aushängezettel, der an der Pinnwand der Eingangshalle angeheftet war. Ich überflog schnell meinen Klassenzettel, nur um festzustellen, dass die aufgelisteten Namen sich kaum verändert hatten. Einige vom letzten Jahr mussten eine Klasse wiederholen, aber das waren nur sehr wenige. Und die neuen Namen waren mir leider alle bekannt. Noch mehr Idioten, yuppi... Doch auf ein Mal stach mir ein unbekannter Name ins Auge: Shane McLauren. Dieser Name sagte mir absolut reingarnichts. Ich zuckte die Achseln und machte mich auf den Weg in meine Klasse.
Es klingelte genau in dem Moment, in dem ich den Klassensaal betrat, aus dem übrigens unausstehlicher Lärm drang. Da war natürlich die "Schicki-Micki Clique", wie ich sie zu nennen pflegte, die den größten Teil des Saals einnahm und Tipps über Schminke austauschte. Ich verdrehte die Augen, drängte mich, noch immer mit Kapuze auf dem Kopf und Kopfhörern in den Ohren, an den großen, muskelbepackten Sportlern vorbei auf meinen Platz in der hintersten Ecke und strahlte, als ich endlich nette Gesichter sah: Gabriel und Romy. Ich nahm beide herzlich in die Arme und wünschte ihnen einen schönen Schulanfang.
"Ach nein, wie niedlich... Die Loser-Clique ist wieder vereint!", kam der hämische Kommentar von Brenda Merkins, die nun lauthals über uns lachte.
Ich warf ihr einen gleichgültigen Blick zu und fragte:
"Hast du nicht noch irgendwelche Schminktipps zu vergeben?"
Sie verdrehte übertrieben die Augen und antwortete:
"Die Einzige hier, die wirklich Schminktipps nötig hätte, bist du, Rina Felten! Naja, abgesehen von deiner kleinen Gruftie-Freundin natürlich. Aber für die kommt jede Hilfe zu spät!"
Brenda und ihre sogenannten Freundinnen lachten und kehrten an ihren Cliquentisch zurück. Ich hatte schon lange damit aufgehört, mir etwas aus ihren fiesen Kommentaren zu machen, aber leider fiel es mir immer schwerer, sie zu ignorieren. Romy knirschte mit den Zähnen und ließ ihre Totenkopfkette klimpern, als sie unheilverkündend sagte: "Eines Tages werde ich sie an ihren platinblondgefärbten Haaren nehmen und sie in der Toilette ertränken!"
Ich kicherte und fügte dann todernst hinzu:
"Oh, pass aber auf, dass keiner ihrer Fingernägel abbricht, sonst wird sie dir selbst noch als Geist das Leben zur Hölle machen."
Gabe und Romy lachten und anschließend trat unser neuer Englischlehrer ein, der sich als Conan Roseman vorstellte. Er war noch sehr jung, hatte goldbraunes, kurzes Haar und ich glaubte, einen goldenen Schimmer in seinen hellbraunen Augen entdeckt zu haben. Ich hörte, wie Romy neben mir erschrocken nach Luft schnappte und sich vor Begeisterung kaum noch halten konnte.
"Ist das echt unser neuer Englischlehrer? Ich glaube wohl eher, er ist der neue Schüler! Oh mein Gott, ich werde nie wieder Englisch schwänzen..."
Ich grinste und schüttelte den Kopf. Romy hatte nun definitiv etwas Neues gefunden, worauf sie sich konzentrieren konnte. Also würde Brenda noch einige Zeit länger leben. Ich hatte Mr. Roseman nur mit halbem Ohr zugehört, als er plötzlich verkündete:
"Darf ich euch euren neuen Mitschüler vorstellen: Shane."
Ein hochgewachsener Junge mit schwarzem, wuscheligem Haar trat ein und hob leicht die Hand zum Gruß. Er war in eine dunkle Jeans gekleidet, dazu trug er ein schwarzes T-Shirt, was ich ein wenig erstaunlich fand angesichts der nicht besonders hohen Temperaturen und dem Regen und schwarze Motorbikeschuhe. Er war recht gutaussehend, wie ich zugeben musste. Mr. Roseman fuhr fort:
"Shane ist gerade erst hierher gezogen und kennt sich hier noch nicht so gut aus, also wäre es sehr aufmerksam, wenn einer von euch ihn nach der Stunde einbisschen rumführen könnte. Ach, Shane, setz' dich doch einfach hinten auf den freien Platz neben Gabriel, ja?"
Shane kam mit lässigem Schritt auf die hinterste Reihe zu und ließ sich auf dem Platz neben Gabe nieder. Er hatte irgendetwas Vertrautes an sich, aber ich war mir ziemlich sicher, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Und doch kam er mir bekannt vor. Ich musste ihn wohl einbisschen zu auffällig gemustert haben, denn auf ein Mal wandte er mir den Blick zu und unsere Augen trafen sich. Ich wollte den Blick beschämt zur Seite wenden, doch irgendetwas hinderte mich daran. Ob es seine Augen waren oder sein Blick vermochte ich nicht zu sagen. Jedoch war mir bewusst, dass ich gerade in die gleichen smaragdgrünen Augen blickte wie heute morgen, als ich in den Spiegel geschaut hatte. Sie waren natürlich nicht völlig identisch, aber es war die gleiche Farbe. Ich hatte noch nie zuvor jemanden gesehen, der die gleiche Augenfarbe hatte wie ich. Ich hatte mich immer durch meine Augen ausgezeichnet, doch das war nun vermutlich vorbei, jetzt da dieser Junge aufgetaucht war. Ich konnte mich erst seinem stechenden Blick entziehen, als Gabe ihm seine Hand entgegenstreckte und sagte:
"Hey, ich bin Gabe. Wenn du möchtest, zeig' ich dir nachher einbisschen das Schulgebäude. Aber natürlich nur, wenn du möchtest."
Gabe lächelte sein strahlendes und ansteckendes Lächeln, das wirklich jeder hier kannte und mochte. Er war im Gegensatz zu mir und Romy eigentlich ziemlich beliebt, viele Mädchen begehrten ihn. Ich konnte es, ehrlich gesagt, auch nachvollziehen, er war ziemlich gutaussehend. Er hatte blondbraunes Haar und strahlende bernsteinfarbene Augen. Nicht zu vergessen, seine übertrieben weißen Zähne und sein Zahnpastalächeln. Niemand konnte seinem Lächeln widerstehen. Doch Shane schien es völlig kaltzulassen, denn er wandte seinen Blick nur äußerst widerwillig von mir ab und erwiderte Gabes Händeschütteln nur halbherzig. Er antwortete mit monotoner Stimme:
"Nein danke, ich finde mich schon zurecht. Aber trotzdem danke für das Angebot."
Gabe schaute kurz irritiert drein, dann erholte er sich wieder und sagte:
"Ähm... Kein Problem."
Ich senkte meinen Kopf und konzentrierte mich auf mein Heft, das vor mir lag. Ich kritzelte abwesend irgendetwas auf mein Blatt, während ich vergeblich versuchte, mich auf Mr. Roseman zu fokussieren, was Romy absolut nicht schwerfiel, denn als ich meinen Kopf kurz nach links drehte, sah ich in ihr verträumtes Gesicht, das förmlich an den Bewegungen unseres Englischlehrers klebte. Ich grinste und versuchte erst garnicht, sie aus ihrem Tagtraum zu befreien. Ich drehte meinen Kopf erneut zur Seite, nur um festzustellen, dass Shane mich immer noch ansah. Das wurde mir langsam unangenehm. Ich fuhr mir peinlichberührt durchs Haar und versuchte, es als Vorhang zu benutzen, damit er von mir abließ. Ich wusste nicht, ob es funktionierte, doch ich wusste, dass ich heilfroh war, als es klingelte. Ich erhob mich einbisschen zu ruckartig, denn ich verlor kurz mein Gleichgewicht und fiel beinahe zur Seite, als eine starke Hand meinen Unterarm packte und mich festhielt. Mir wurde es ein wenig schwindelig, doch ich hatte mich schnell wieder gefasst.
"Woah, langsam mit den jungen Wölfen..."
Er lachte amüsiert. Ich schaute erschrocken hoch und bemerkte erst jetzt, dass es Shane gewesen war, der mich festgehalten hatte. Ich sah ihm verblüfft ins Gesicht und hatte für einen kurzen Moment meine Sprache verloren. Doch dann sagte ich:
"Ähm, danke... Ich bin heute wohl einbisschen durch den Wind!"
"Bist du das nicht immmer, Rina?!", warf Brenda selbstgefällig ein. Ich ignorierte es einfach und fuhr fort:
"Nochmals danke." Er nickte und sagte:
"Kein Problem!"
Er schulterte seine Tasche und wollte sich gerade auf den Weg machen, um den Saal zu verlassen, als ich ihn verlegen fragte:
"Also, nicht, dass es mir was ausmacht, aber heißt es nicht eigentlich 'Langsam mit den jungen Pferden'?"
Er sah mich kurz verblüfft an, grinste dann und erwiderte:
"Eigentlich..."
Somit ging er mit seinem lässigen Schritt zur Tür hinaus und ich erwischte mich dabei, wie ich ihm hinterher sah.
Kapitel 2
Ich schlenderte gemeinsam mit Romy und Gabe durch den Flur, während wir uns ein wenig über unsere vergangenen Ferien unterhielten. Gabe war über zwei Wochen in Ägypten gewesen und Romy hatte die ganzen Ferien über in England bei ihrer Tante und ihrem Onkel verbracht. Tja, und ich Glückspilz konnte mal wieder die gewöhnliche Geschichte erzählen, wie ich die ganzen Sommerferien zu Hause verbracht hatte. Nach ein wenig geheucheltem Mitleid, das ich ihnen keinesfalls übel nahm, verkündete Romy, sie hätte jetzt Chemie, verabschiedete sich von uns und machte sich auf den Weg. Nun waren es nur noch Gabe und ich. Wir schwiegen eine Weile, als er plötzlich fragte:
"Was war das überhaupt vorhin in Englisch?"
Ich warf ihm einen unverständlichen Blick zu.
"Was meinst du?", fragte ich unwissend.
Er sah mich mit zweifelnden Augen an und antwortete:
"Ach komm schon... Du weißt ganz bestimmt, wovon ich rede!"
Mein Blick blieb verwirrt. Ich schüttelte langsam den Kopf. Er seufzte.
"Du kannst mir doch nicht im Ernst verklickern, dass dir das nicht aufgefallen ist..?"
"Würdest du bitte mal auf den Punkt kommen?! Was soll mir nicht aufgefallen sein?", fragte ich, allmählich in gereiztem Ton.
Er sah mich mit großen Augen an.
"Na, dass der Neue, dieser Shane, dich die ganze Zeit angestarrt hat."
Ich erstarrte. Das war also nicht nur mir aufgefallen. Ich hoffte, Gabe war der Einzige, der es bemerkt hatte, sonst würde es hier binnen weniger Stunden ein hübsches, neues Gerücht geben. Und ich konnte nun wirklich am ersten Schultag auf ein doofes Gerücht von dem Neuen und mir verzichten. Ich senkte beschämt den Kopf und erwiderte leise:
"Ach, das ist dir aufgefallen?"
Er schnaubte.
"Bitte, ich glaube sogar der neue Englischlehrer hat es bemerkt und Lehrer blicken grundsätzlich nie durch. Naja, ich muss zugeben, dadurch, dass er noch so jung ist, hat er einen gewissen Vorteil gegenüber den anderen Lehrern, was das Durchblicken angeht, aber trotzdem... Die Einzigen, die es wohl nicht bemerkt haben, waren Romy und Brenda. Unsere liebe Romy war viel zu sehr damit beschäftigt Mr. Roseman anzuschmachten und Brenda... nun ja, Brenda war wie immer zu sehr mit sich selbst beschäftigt."
Ich biss mir auf die Unterlippe und dachte nach. Dann sagte ich:
"Naja, solange Brenda nichts davon mitbekommen hat, ist doch alles okay, oder?"
Er kniff die Augen zusammen und hielt es noch nicht einmal für nötig darauf zu antworten. Ich wusste ja selbst, dass ich mir etwas vormachte. Wenn auch nur eine von diesen Barbiepuppen es bemerkt hatte, dann waren meine Chancen klein, dass Brenda es noch nicht wusste. Ich seufzte tief und Gabe legte mir tröstend eine Hand auf die Schulter.
"Sieh es doch mal so... Wenigstens ist Shane gutaussehend und das Einzige, was du vermutlich mit dem aufkommenden Gerücht bewirken wirst, ist, fast alle Mädchen, einschließlich Brenda, eifersüchtig zu machen.", versuchte er mich aufzumuntern.
Ich sah ihn zweifelnd an.
"Denkst du..?", fragte ich unsicher.
Er nickte felsenfest überzeugt und antwortete:
"Na klar, hast du die Blicke nicht bemerkt, die alle Mädchen ihm zugeworfen haben, als er durch die Klasse geschlendert ist?"
Ich schüttelte den Kopf und er lachte bloß und sagte:
"Mach' dir keine Sorgen, das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass Shane dich mit seinem Blick verschlingt!"
Ich boxte ihn in die Schulter und erwiderte:
"Haha, sehr witzig, Gabe! Naja, wie auch immer, ich muss jetzt los. Hab' jetzt Deutsch und muss noch einen Abstecher an meinen Spind machen. Bis nachher."
Und mit diesen Worten und einem kleinen Winken verschwand ich auch schon um die Ecke, wo ich dann zu meinem Spind eilte. Es hatte bereits geklingelt und ich musste schnell machen, somit riss ich meine Spindtür auf und zog mein Deutschbuch heraus. Als ich sie wieder zuknallte, blickte ich in das Gesicht des neuen, erstaunlich gutaussehenden Jungens, namens Shane. Ich erschrak beinahe zu Tode und hielt mir eine Hand ans rasende Herz. Ich atmete laut auf und versuchte mich wieder zu fassen, doch das schien leichter gesagt als getan.
"Sorry, hab' ich dich erschreckt?", fragte er überflüssigerweise.
"Nein, weißt du, ich krieg manchmal einfachso aus heiterem Himmel einen Herzinfarkt!", erwiderte ich sarkastisch. Er grinste bloß und schien sich nicht viel daraus zu machen, dass er mir einen Mordsschrecken eingejagt hatte. Er lehnte lässig am Spind und begutachtete mich. Ich blickte verlegen zu Boden und versuchte wieder verzweifelt meine roten Haare als Vorhang zu benutzen, doch irgendwie schien es nicht außerordentlich viel zu bringen, denn er sagte:
"Weißt du eigentlich, dass du ausgesprochen niedlich aussiehst, wenn du rot wirst? Das betont deine roten Haare so schön!"
Mir klappte die Kinnlade hinunter und ich war fassungslos über seine Direktheit.
"W..Wie bitte?", stotterte ich nervös.
"Du hast schon verstanden!", war das Einzige, was ich als Antwort bekam und das schien ihn nur noch mehr zu amüsieren. Ich schnaubte empört und erklärte:
"Falls es dir nichts ausmacht, würde ich jetzt gerne gehen. Ich habe jetzt Deutschunterricht und ich glaube, es macht keinen besonders guten Eindruck, wenn man am ersten Tag zu spät kommt. Das solltest du dir übrigens auch zu Herzen nehmen, Shane..."
Und ohne eine Antwort von ihm abzuwarten, drehte ich ihm den Rücken zu und spazierte in den Klassensaal.
Ich konnte seine dreiste Anmache immer noch nicht fassen. Der hatte vielleicht Nerven. Und warum hatte er es gerade auf mich abgesehen? Konnte er sich nicht an Brenda oder sonst einen ranmachen, anstatt mich zu belästigen? Was sollte so ein gutaussehender Typ wie er auch eigentlich von mir wollen? Er konnte eine viel hübschere haben... Er, mit seinen coolen Motorbikeschuhen, seinen schwarzen, glänzenden, wuscheligen Haaren und seinen ausgesprochen grünen Augen. Ich erstarrte und mein Filzstift fiel mir aus der Hand, als ich mich selbst beim Schwärmen für Shane McLauren ertappte. Ich verpasste mir eine innerliche Ohrfeige und verdrängte den Gedanken an ihn. Ich dachte stattdessen über meinen Bruder nach. Er fing wirklich an, mir Sorgen zu bereiten. Und außerdem hatte ich ihn heute noch überhaupt nicht gesehen. Wo konnte er sich nur rumtreiben? Ich schwörte bei Gott, wenn er die Schule schwänzte, dann würde er eine Menge Ärger bekommen. Aber was machte ich mir eigentlich vor..? Er hatte es noch nie für nötig gehalten auf mich zu hören. Seit unser Vater gestorben war, war er einfach nicht mehr der Gleiche. Er war damals zwölf gewesen und ich dreizehn. In der Tat kein gutes Alter, um einen Elternteil zu verlieren, aber wann gab es überhaupt ein perfektes Alter, um jemanden zu verlieren, den man liebte. Es schmerzte immer. Aber im Gegensatz zu mir, hatte Quinn sich nie wirklich von dem Schock erholt. Ich musste damals stark sein, für ihn und für meine Mutter. Natürlich ging mir der Tod meines Vaters immer noch sehr nahe, es war ein großer Verlust für uns alle gewesen, aber ich musste darüber hinwegkommen. Mein Vater hätte es so gewollt.
Ich wurde plötzlich aus meinen tiefen Gedanken gezogen, als meine Deutschlehrerin meinen Namen rief.
"Rina? Rina! Hast du gehört, was ich gesagt habe?"
Ich schrak, fürs zweite Mal heute, hoch und starrte in die vorwurfsvollen Augen meiner Lehrerin.
"Ähm... ähm, tut mir leid, Mrs. Hamilton. Ich habe leider nicht gehört, was sie gesagt haben. Ich war gerade ein wenig weggetreten. Mir ist nicht besonders wohl, könnte ich bitte kurz mal vor die Tür einbisschen Luft schnappen? Ich wäre auch gleich wieder da..?"
Ich schenkte ihr meinen besten Hundeblick und hielt mir auch noch demonstrativ den Bauch, als würde ich mich wirklich nicht wohl fühlen. Irgendwie stimmte es ja auch. Ich fühlte mich wirklich elend, auch wenn es nicht Bauchschmerzen waren, die mich plagten. Es waren eher meine Erinnerungen. Nach etlichen, nervenaufreibenden Minuten nickte sie schließlich und wies, um ihre Erlaubnis zu unterstützen, mit der Hand Richtung Tür. Ich erhob mich ruckartig vom Stuhl und stürmte hinaus. Die kühle Luft, die im Flur wehte, ließ mich tief einatmen und ich beruhigte mich ein wenig. Ich vergeudete jedoch nicht viel Zeit mit Rumstehen und ging die Treppe hinunter, um anschließend die große Eingangstür der Schule aufzustoßen, um in die Freiheit zu gelangen. Dort nahm ich erneut einige ausführliche Atemzüge und ließ die kühle Brise meine aufgewühlten Gedanken und meine aufgebrachte Stimmung hinwegfegen. Nach zahlreichen Atemzügen ging es mir bedeutend besser und ich wollte gerade wieder ansetzen, um ins Gebäude zurückzukehren, als mich das Lachen von einer Gruppe Jugendlicher davon abhielt. Ich drehte mich um und was ich dort erblickte, machte meine Atemübungen von vorhin augenblicklich zunichte. Dort schlenderte mein fünfzehnjähriger Bruder Quinn mit diesen assozialen, schuleschwänzenden Typen, lauthals lachend und mit einer Bierflasche in der Hand. Ich traute beinahe meinen eigenen Augen nicht. Mir stockte der Atem und das erste, was mir in den Kopf schoss, war, ihm gehörig die Meinung zu geigen, doch irgendwas hielt mich zurück. Nämlich die Tatsache, dass man solche Dinge auf keinen Fall mit Gebrüll und Wut regeln sollte. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und musste mich ziemlich zusammen reißen, um nicht sofort dorthin zu rennen und ihm die Bierflasche um die Ohren zu hauen. Doch ich entschied mich für die etwas klügere Option: Am besten keine Szene machen und warten, bis wir zu Hause waren. Somit wollte ich mich gerade umdrehen und ins Schulgebäude eintreten, als ich merkte, wie Quinn sich in meine Richtung drehte und seine Augen vor Schreck aufriss, als er mich erblickte. Ich sah ihm bedeutend in die Augen und vermittelte ihm anhand meines Blickes, dass ich verdammt enttäuscht von ihm war. Er verstand, denn er verzerrte wehleidig das Gesicht und wartete eine Reaktion von mir ab. Doch ich drehte ihm wie geplant den Rücken zu und betrat die Schule.
Kapitel 3
Bevor ich in die Deutschstunde zurückkehren konnte, hatte es bereits geklingelt und alle machten sich auf den Weg in die 'Fünfzehn-Minuten-Pause'. Ich machte mir nicht die Mühe, mich noch bei Mrs. Hamilton zu melden, sondern suchte einfach sofort meine zwei besten Freunde auf. Die ich dann auch binnen weniger Minuten fand und zwar in der Eingangshalle der Schule. Sie hatten es sich auf einer Bank gemütlich gemacht und redeten. Als ich näher kam, sah ich, dass noch eine dritte Person bei ihnen war. Und dieser schwarze Wuschelkopf war unverkennbar, es war Shane McLauren höchstpersönlich. Ich wollte gerade kehrtmachen, als dieser Trottel von Gabe mich zu ihnen winkte und mir ein schelmisches Grinsen schenkte. Ich seufzte tief und machte mich widerwillig auf den Weg zu der Bank. Ich warf Gabe einen funkensprühenden Blick zu, ehe ich mich anschließend mit dem wenigen Mut, den ich zusammenkratzen konnte, Shane zuwandte. Ich schenkte ihm ein halbherziges Lächeln und fragte:
"Was machst du denn hier?"
Er stutzte und antwortete:
"Das ist aber eine nette Begrüßung! Darf ich mich denn nicht zu euch gesellen, ist das nicht erlaubt?"
Ich verdrehte die Augen und irgendetwas an der Art, wie er das sagte, passte mir überhaupt nicht.
"Doch, natürlich ist es erlaubt, solange es einen Grund dafür gibt..."
Romy schenkte mir einen wütenden Blick und warf schlichtend ein:
"Rina, nun sei doch nicht so unhöflich... Es muss doch keinen Grund geben für ihn, sich zu uns zu gesellen...oder etwa doch?"
Shane erhob sich und stellte sich an meine Seite, instinktiv wich ich einige Schritte von ihm. Er warf mir einen verwirrten Blick zu und irgendwie hatte ich den Eindruck in seinen Augen einen Glanz von Schmerz zu erkennen. Doch ich ignorierte es und wartete ab, was er als nächstes zu sagen hatte.
"Nun, ehrlich gesagt, gibt es einen Grund, warum ich hier bin. Und das ist der, dass ich gekommen bin, um dir, Rina, dein Armband zu bringen..."
Als er das sagte, erschrak ich und griff mir augenblicklich ans Handgelenk. Mein Armband war wirklich weg. Ich sah ihn wütend an, als er das silberne Armband mit dem Wolfsanhänger, das ich von meinem Vater für meinen zwölften Geburtstag geschenkt bekommen hatte, aus seiner hinteren Hosentasche herauszog. Er hob abwehrend die Hände, als er meinen Blick auffing. Ich erhob zornig die Stimme:
"Wo hast du das her?"
"Woah, hey, jetzt aber mal langsam, okay? Ich hab nichts damit zu tun! Du hast es vorhin am Spind verloren... Ich wollte es dir schon da zurückgeben, aber du hattest es ja so unglaublich eilig. Also bringe ich es dir jetzt zurück, übrigens, hübscher Anhänger!" Er zwinkerte mir zu.
Ich stöhnte genervt und erwiderte:
"Aber das ist nicht möglich, es war fest an meinem Handgelenk, ich habe es noch nie zuvor verloren."
Er zuckte die Schultern und sagte besserwisserisch:
"Tja, es gibt für alles ein erstes Mal, nicht wahr?"
Ich rollte mit den Augen und riss ihm das Armband, das mir sehr viel bedeutete, aus der Hand. Ich brachte es irgendwie nicht über mich, ihm zu danken, obwohl ich ihm dankbar war. Auch wenn mir das Ganze einbisschen verdächtig vorkam, denn es hatte sich noch nie zuvor von meinem Handgelenk gelöst. Er schien kein Dankeschön erwartet zu haben, denn kurz nachdem ich ihm das Schmuckstück abgenommen hatte, hatte er sich auch schon an Gabe und Romy gewandt und sagte anschließend:
"Hey Leute, danke nochmal, dass ihr mich so nett empfangen habt. Bis jetzt wurde ich nur von diesen merkwürdigen, übertrieben geschminkten Mädchen angemacht und die sind mir ganz und garnicht geheuer... Ihr scheint mir die Normalsten hier zu sein, soweit ich das beurteilen kann."
Er lächelte warmherzig und ich war aufrichtig überrascht. Ich sagte darauf zu ihm:
"Ach echt? Da bist du aber der Einzige, abgesehen von uns, natürlich. Du musst wissen, hier herrschen Reichtum und Schönheit, da ist kein Platz für solche Leute wie uns. Du musst mindestens eine Nasenop und ein Lifting hinter dir haben, damit sie dich als einigermaßen zivilisiert betrachten. Tja, und wenn du ihren Erwartungen nicht entsprichst, dann bist du sofort ein Außenseiter... So ist das nun mal hier."
Shane verzog angewidert das Gesicht und ehe er etwas dazu sagen konnte, erhob sich eine hinterlistige Stimme hinter meinem Rücken.
"Ach so, du gibst also uns die Schuld, dass du so ein Loser bist?"
Ich drehte mich um und blickte, ach, wer hätte das erwartet, in das Gesicht von Brenda Merkins. Ich verdrehte die Augen und erwiderte:
"Sieh mal, Brenda, ich bin wirklich nicht erpicht darauf mit dir zu reden, noch bin ich in der Stimmung deine falsche Nase und deine aufgespritzten Lippen zu sehen. Warum gehst du nicht einfach wieder deiner Wege und lässt mich in Ruhe?"
Sie schnaubte verächtlich und warf mir einen zerstörerischen Blick zu. Dann wandte sie sich an Shane und streichelte seinen Arm, den er aber sofort ihren Fingern entzog. Sie verzog verwirrt das Gesicht und sagte:
"Shane, was hast du denn? Ich dachte, wir würden uns so gut verstehen... Und außerdem, warum hältst du dich mit solchen Leuten auf? Die sind doch weit unter deiner Würde."
Ich stöhnte erneut laut auf und versuchte, so gut es eben ging, sie zu ignorieren. Was mir allerdings Minute zu Minute schwerer fiel und das würde kein schönes Ende für sie nehmen. Shane antwortete dann:
"Brenda, ich glaube, wir verstehen uns nicht wirklich, denn sonst hättest du meine Aussage 'Ich glaube nicht, dass das etwas zwischen uns wird' verstanden... Und ich denke, ich weiß selbst, welche Leute unter meiner Würde sind und welche nicht."
Sie sah ihn unverständlich an und schien nicht zu kapieren, dass das eine Abfuhr gewesen war. Dann warf Romy auf ein Mal ein:
"Ach so ist das, Brenda... Ich würde nur all zu gerne wissen, was Brad davon hält, dass du 'dich so gut mit Shane verstehst'?!" Sie machte Anführungszeichen mit den Fingern und sah die bereits fassungslose Brenda herausfordernd an. Diese schnaubte jetzt erneut und erwiderte:
"Ach Brad ist das doch schnuppe, der interessiert sich doch nur für seine blöden Footballspiele und wie viele Proteine er zu sich nimmt! Du kannst mir nicht drohen, Gruftie, nicht du!"
Romy warf ihr einen wütenden Blick zu, sagte darauf aber nichts mehr. Dann wandte sich Brenda wieder mir zu.
"Ich würde mich an deiner Stelle lieber klein halten, Rina.., mit so einem Bruder wie Quinn!"
Ich schnappte nach Luft und fragte:
"Wie meinst du das, mit so einem Bruder wie Quinn?"
Romy und Gabe warfen mir besorgte Blicke zu. Dann antwortete Brenda gehässig:
"Nun ja, nicht nur dass er mit diesen assozialen Punkern rumhängt, die nichts als Ärger bereiten, ich habe ihn auch noch Alkohol trinken und Drogen nehmen sehen!"
Ich spürte einen unerträglichen Schmerz in meiner Brust, als ich das hörte.
"Du lügst...", sagte ich mit brüchiger Stimme.
"Geh' doch raus und überzeug dich selbst!"
Ich hörte noch ihr selbstgefälliges Lachen hinter mir, als ich an ihr vorbeistürmte, um in den Hinterhof der Schule zu gelangen. Ich hörte wie Gabe Brenda Miststück nannte und dann mir hinterherlief. Ich wartete jedoch nicht auf ihn, sondern stieß mit zitternden Händen die schwere Tür auf und machte mich auf alles gefasst. Doch als ich meinen Bruder dort stehen sah, wie er mit diesen verantwortungslosen, Crackrauchenden Typen lachte und Alkohol trank, brannte bei mir eine Sicherung durch und ich konnte mich nicht mehr im Zaum halten. Als ich gerade auf Quinn losstürmen und ihm eine reinhauen wollte, hörte ich wie die Tür nochmals aufging und Romy und Gabe sich neben mir postierten. Ich kümmerte mich nicht um ihre Anwesenheit und rief aufgebracht:
"Quinn!"
Andere Schüler, die sich im Hinterhof aufhielten, drehten sich nach mir um und warfen mir erzürnte Blicke zu, doch ich stampfte einfach an ihnen vorbei und blieb vor meinem Bruder stehen. Dieser sah mich erschrocken an und warf augenblicklich seine Zigarette weg. Er glaubte doch wohl nicht im Ernst, dass ihm das auch nur im Geringsten helfen würde. Ich tötete ihn bereits mit meinem Blick, dann sagte ich:
"Ich weiß nicht, was du mit diesem Unsinn hier bezweckst, aber du brauchst nicht zu denken, dass es ohne Folgen bleibt!!"
"Ich will auch garnicht, dass es ohne Folgen bleibt!"
Ich sah ihn verständnislos an und fragte:
"Was soll das denn nun wieder bedeuten?"
Doch bevor er antworten konnte, hatte dieser Idiot von Grant Shielden, der größte Unruhestifter der Schule, schon das Wort ergriffen.
"Hey Quinn, wer ist denn diese scharfe Braut hier?"
Ich verzerrte angewidert das Gesicht und erwiderte:
"Diese scharfe Braut ist dein größter Albtraum und wenn du nicht gleich auf wenigstens fünf Meter Abstand gehst, dann machst du auch noch Bekanntschaft mit meiner Faust, alles klar?"
Er wirkte erst verdutzt, sagte dann aber:
"Oh, und gemein ist sie auch noch! Ich steh' auf böse Mädchen!"
Dabei analysierte er mich von oben bis unten und befeuchtete seine Lippen auf eine so ekelhafte Art, dass es nicht jugendfrei sein konnte. Ich verzog das Gesicht zu einer Grimasse und mir wurde speiübel.
"Ich mein's ernst!", warnte ich ihn nochmal.
"Ich auch, Süße!", erwiderte er.
Ich ballte meine Hände bereits zu Fäusten und war jeden Moment darauf gefasst, ihm sie ins Gesicht zu schlagen, falls er was Unangebrachtes wagen sollte. Doch Quinn griff ein:
"Hey Mann, lass gut sein, okay?"
Grant warf ihm einen missbilligenden Blick zu, ließ dann aber schließlich von mir ab und wandte sich seinen Kumpels zu. Ich funkelte Quinn an, einerseits enttäuscht, andererseits stinkwütend. Er verzog das Gesicht zu einer entschuldigenden Grimasse.
"Warum gibst du dich mit solchen Typen ab, Quinn? Du hast das doch garnicht nötig... Du ruinierst dir nur alles, wenn du dich mit diesen Idioten aufhältst!"
"Ach, was weißt du denn schon? Du hast doch keine Ahnung!", antwortete er aufgebracht.
"Nein, wie könnte ich auch, wenn du nie mit mir sprichst..?"
Auch wenn er etwas darauf erwidert hätte, hätte ich ihn vermutlich nicht gehört, denn die Schulglocke übertönte alles um uns herum.
Kapitel 4
Ich rannte bereits ins Schulgebäude, ohne auch nur einer einzigen Person um mich herum zu erlauben, mich einzuholen oder anzusprechen. Ich war heilfroh, dass ich jetzt Physikunterricht hatte, ganz bestimmt nicht des Schulfaches wegen, sondern weil sich in diesem Kurs keine meiner beiden Freunde befanden oder einer meiner Feinde. Ich konnte aufatmen und in Ruhe nachdenken, ohne dass mich irgendjemand über meinen Bruder ausfragte. Ich setzte mich auf meinen gewohnten Platz in der letzten Reihe, zog mir meine Kapuze hoch, bis der Lehrer kam und ließ mir meinen Lieblingssong mit maximaler Lautstärke durch meine Kopfhörer in die Ohren dröhnen. Somit übertönte ich sogar meine eigenen Gedanken. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich vollends auf den Songtext.
"So what if you can see, the darkest side of me. No one will ever change this animal I have become. Help me believe, it's not the real me. Somebody help me, tame this animal..."
Auf ein Mal wurde ich von hinten an der Schulter gepackt und mir fiel vor Schreck beinahe das Handy aus der Hand. Ich zog meine Kopfhörer aus den Ohren und drehte mich bedrohlich zu dem Störensfried um. Und als hätte ich es nicht schon gewusst, stand dieser grinsende Volltrottel Shane hinter mir und sagte:
"Hörst du immer so laut Musik?"
Ich warf ihm meinen Killerblick zu und erwiderte:
"Du scheinst es dir wohl zur Gewohnheit machen zu wollen, mir einen Schrecken einzujagen. Und nein, ich höre nicht immer so laut Musik, nur wenn ich mich von solchen Nervensägen wie dir abschotten will!"
Er sah nicht im Geringsten gekränkt aus, im Gegenteil, er fragte auch noch, ob er sich neben mich setzen durfte. Ich verweigerte es ihm natürlich, doch er schien von Anfang an nicht die Absicht gehabt zu haben, auf mich zu hören.
"Weißt du, was ich glaube, was du tust?"
Ich sah ihn nicht an, sondern starrte mit leerem Blick auf den Bildschirm meines Mobiltelefons.
"Ich glaube, du versuchst dich von deiner ganzen Umwelt abzuschotten..."
Nun sah ich ihm in die Augen und wie immer raubte die Ähnlichkeit, die sie mit meinen hatten, mir den Atem. Doch ich versuchte mir meine Verblüffung nicht anmerken zu lassen und antwortete:
"Nun ja, kann man es mir verübeln..?"
Er lächelte ein warmes Lächeln, das mich erneut aus der Bahn warf. Irgendwie fiel es mir immer schwerer, ihm böse zu sein. Doch ich musste mir selbst immer wieder vor Augen führen, dass diese ganze Masche von ihm nur ein dummer Trick war, um mich um den Finger zu wickeln und somit die Macht über mich zu haben. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mit Brenda irgendwas ausgeheckt hatte und dieser Auftritt in der Eingangshalle nur ein Teil ihres ganzen fiesen Plans gewesen war. Vielleicht war diese ganze Vermutung etwas weit hergeholt, aber ich hatte gelernt meinen Instinkten zu vertrauen und mein Bauchgefühl sagte mir lautstark, dass irgendetwas mit diesem Typen nicht stimmte. Ich wandte nun meinen Blick ab und entschied, ihn zu ignorieren. Die Stunde hatte sowieso gerade angefangen und das würde Shane hoffentlich dazu verleiten, die Klappe zu halten. Mein Physikprofessor Mr. Armstrong teilte Arbeitsblätter aus und forderte uns auf, sie mit unseren Nachbarn zu lösen. Mir wäre beinahe ein verzweifeltes Lachen entfahren. Man konnte doch nicht so viel Pech an einem Tag haben, oder etwa doch? Dann versuchte ich noch, so gut es ging, ihm aus dem Weg zu gehen und dann musste ich im Unterricht auch noch mit ihm zusammen arbeiten. Na das konnte ja heiter werden. Ich seufzte und sah mir die Aufgaben etwas genauer an. Shane nahm ebenfalls sein Blatt in die Hand und las. Er schielte zwischendurch mal rüber und beäugte mich argwöhnisch von der Seite, doch er schien nicht das erste Wort ergreifen zu wollen. Somit fing ich an zu reden.
"Ich hoffe, dass du irgendetwas von diesem Quark hier verstehst, denn ich tue es jedenfalls nicht. Ich bin eine Niete in Physik, nur damit du vorgewarnt bist, somit sind wir auf dein Wissen angewiesen."
Ich sah ihn unverwandt an, während ich auf eine Antwort von ihm wartete. Er ließ vom Arbeitsblatt ab und erwiderte meinen Blick. Ich wusste nicht, wie lange wir damit zubrachten, uns anzustarren, jedoch vergingen bestimmt schätzungsweise zwei Minuten. Als ich schon anfing zu denken, er würde heute überhaupt nicht mehr antworten, sagte er:
"Du bist eine sehr direkte Person, Rina, weißt du das?"
Ich warf ihm meinen 'Das-interessiert-mich-nicht-im-Geringsten'-Blick zu und antwortete:
"Hat das eben von dir Gesagte auch nur im Entferntesten etwas mit Physik zu tun? Nein! Ganz und garnicht. Also eben sagst du mir jetzt, dass du ein Physikgenie bist oder genauso eine Pfeife wie ich und dann wissen wir, wo wir stehen..."
Er lachte kurz auf und sah noch ein Mal aufs Blatt, dann sagte er:
"Bei Aufgabe 1 muss man zuerst das Volumen rechnen und als nächstes wäre es am besten, man würde die Dichte irgendwie herausfinden, damit man beim zweiten Schritt weniger Probleme hat. Bist du damit einverstanden?"
Er lächelte wieder sein warmes Lächeln, doch diesmal schwang auch ein leichter Glanz von Spott mit. Und das konnte ich ihm auch keines Falls verübeln, denn auf diese Lösung wäre ich vermutlich erst in fünf Jahren gekommen. Somit nickte ich zustimmend und fügte noch hinzu:
"Na geht doch! Warum nicht gleich so?!"
Und lachend machten wir uns an die Arbeit.
Nachdem es geklingelt hatte, packte ich meine Schulsachen schnell zusammen und schulterte meine Hängetasche, um schnellstmöglich diesem Saal und meinem Banknachbarn zu entkommen. Ich hatte es beinahe bis zum Türrahmen geschafft, da packte mich jemand am Handgelenk und hielt mich fest. Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es Shane war, der mich davon abhielt, hier rauszukommen. Ich fragte:
"Was willst du, Shane?"
Er ließ mich los, stellte sich an meine Seite und sah mir in die Augen.
"Warum bist du so abweisend mir gegenüber?"
"Warum bist du so aufdringlich mir gegenüber?", konterte ich mit harter Stimme. Er verzerrte wehleidig das Gesicht und antwortete:
"Du empfindest mich als aufdringlich?"
Ich trat nervös von einem Fuß auf den anderen und legte mir meine Antwort sorgfältig zurecht.
"Nicht direkt aufdringlich, aber ich habe den Eindruck, dass du von all deinen Mitschülern hier, mir am meisten Aufmerksamkeit schenkst und ich habe absolut keine Ahnung, wieso."
Bevor er näher auf das Gespräch eingehen konnte, setzte ich mich in Bewegung und verließ den Raum. Ich schlenderte den Flur entlang und legte extra ein langsames Tempo ein, damit er mich einholen konnte. Und wie ich es erwartet hatte, stand er nur wenige Sekunden darauf erneut an meiner Seite und erwiderte:
"Du fragst dich also, warum ich dir soviel Aufmerksamkeit schenke? Nun ja, erstens, weil es hier, wie ich bereits heute Morgen erwähnte hatte, nicht sehr viele normale Menschen gibt und zu denen einzigen, die normal sind, gehörst du. Zweitens scheinst du mir eine äußerst interessante Person zu sein und ich möchte mehr über dich erfahren. Drittens bist du nicht nur eine äußerst interessante Person, sondern auch eine äußerst verschlossene und ich sehe es als eine Herausforderung an, zu beweisen, dass du nicht halb so kalt bist, wie du dich gibst."
Ich blieb fassungslos stehen und dachte einen Augenblick über seine Antwort nach. Dann antwortete ich:
"Du denkst, ich gebe mich kalt?"
Er sah mich verwirrt an, so als ob meine Frage total obsolet gewesen sei. Doch dann sagte er:
"Ich denke nicht nur, dass du dich kalt gibst, ich weiß es!!"
Ich stöhnte auf und verdrehte die Augen über diese lächerliche Selbstsicherheit von ihm. Nach einigen mehreren Schritten gemeinsam, wandte ich mich ihm zu und sagte endgültig:
"Du glaubst offensichtlich mich zu kennen, doch du hast absolut keine Ahnung. Du lagst vielleicht mit einigen Einschätzungen richtig, aber es ist nicht schwer zu erraten, dass ich direkt und abweisend bin. Das ist allgemein bekannt. Also bilde dir ja nicht ein, mich zu kennen, denn du weißt reingarnichts über mich!"
Ich warf ihm noch einen stechenden Blick zu und drehte mich dann um. Ich wollte mich gerade von ihm entfernen, als er noch murmelte:
"Ich kenne dich besser, als du denkst..."
Ich blieb noch einmal kurz stehen, ließ ihm aber den Rücken zugedreht und ging nach einem letzten Schnauben meiner Wege.
Die nächsten Stunden vergingen wie im Flug und sie verliefen, Gott sei Dank, ruhig. Keine unangenehmen Fragen über meinen Bruder, keine Gehässigkeiten von der 'Schicki-Micki-Clique' und auch keine Spur von Shane. Selbst in der Mittagspause begegnete ich ihm nicht, aber das lag vermutlich auch daran, dass ich die meiste Zeit in der Bibliothek verbrachte, um etwas für Physik nachzuschlagen. Als ich meinen ersten Schultag dann endlich überstanden hatte, verabschiedete ich mich von Romy und Gabe und stieg in den Bus. Ich sah mich aufmerksam im Bus um, konnte meinen Bruder aber nirgends entdecken. Ich fing an, mir Sorgen zu machen und blickte durchs Fenster nach draußen. Als ich ihn dort schlendern sah, ausnahmsweise mal ohne Zigarette in der Hand, verlangsamte sich mein Puls und ich atmete erleichtert auf. Dann setzte ich mich auf meinen Stammplatz, wo ich dann erneut alleine und mit Kopfhörern in den Ohren entspannte. Die Fahrt war nicht sehr lange, doch es war genug Zeit, um das ganze heutige Erlebnis nochmal Revue passieren zu lassen. Die merkwürdigen Annäherungsversuche von Brenda, die Ungewissheit, ob Shane denn nun mit ihr unter einer Decke steckte oder nicht und die unglaubliche Enttäuschung meines Bruders. Wie sollte ich das mit Quinn nur jemals hinbekommen? Meine Probleme mit Shane und Brenda waren mir herzlich egal in Anbetracht des Problems mit meinem Bruder. Ich hatte keine Ahnung, was mit ihm los sein könnte. Er war schon immer rebellischer gewesen als ich, aber Drogen und Alkohol? Das klang absolut garnicht nach ihm. Es sah ihm nicht ähnlich, so aus der Reihe zu tanzen. Je näher ich meinem Haus kam, desto aufgeregter wurde ich. Denn zu Hause ankommen, hieß, mich der Konfrontation mit Quinn stellen. Und daran kam ich nicht vorbei, denn ich würde meiner Mutter vorerst nichts davon erzählen. Und auch wenn sie etwas davon wüsste, sie würde vermutlich noch nicht einmal die Zeit bekommen, um mit ihm zu reden. Wahrscheinlich würde sie ihn einfach so mir nichts dir nichts in eine Therapie stecken, nur um den leichteren Weg zu wählen. Ich ließ das wohl so klingen, als ob meine Mutter eine Rabenmutter wäre, doch das war sie garnicht. Sie war eine gute Mutter und ich liebte sie sehr, doch seit unser Vater und somit ihr Mann tot war, hatte sie unglaubliche Probleme mit uns klar zu kommen. Als alleinerziehende Mutter hatte man es gewiss nicht einfach, doch sie hatte seither versucht, ihren eigenen Schmerz in ihrer Arbeit als Anwältin zu ertränken und hatte sich dadurch in einen typischen Workaholic verwandelt. Und durch ihre Arbeit hatte sie mich und Quinn vernachlässigt. Vielleicht waren die jetzigen Probleme mit Quinn Folgen von der Vernachlässigung unserer Mutter. Das hatte also doch tiefere Spuren bei ihm hinterlassen, als ich gedacht hatte. Vielleicht lag die Lösung meines Problems darin, ihn auf unsere Mutter anzusprechen. Naja, es war zwar nur eine Vermutung, aber leider auch das Einzige, was ich hatte und das musste ich ausspielen. Der Bus hielt an und für mich hieß es Endstation. Ich schaltete die Musik aus, packte mein Handy in meine Jackentasche und stieg aus. Mein Bruder stand bereits draußen und hielt es nicht für nötig, auf mich zu warten. Er setzte sich mit rasantem Tempo fort und ich hatte Schwierigkeiten ihn einzuholen. Doch im Grunde genommen hatte ich es auch garnicht nötig, ihn einzuholen, denn ich würde zu Hause so oder so auf ihn treffen. Somit ließ ich ihn in Ruhe.
Ich zögerte kurz, als ich vor der Haustür unserer Villa stand. Ich atmete tief durch, drückte die Türklinke hinunter und trat schließlich ein. Die große Eingangshalle empfing mich und ich legte meine Schultasche und meine Jacke auf den runden Glastisch, der mit einer Vase mit Tulpen versehen war. Ich betrat die umfangreiche Küche und nahm mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. Ich ließ mir die kalte Flüssigkeit die Kehle hinunterrinnen und genoss die Kälte in meinem Hals. Sie schien mir eine Entspanntheit zu verleihen, die ich in einem Moment wie diesem nicht aus eigener Kraft hätte aufbringen können. Ich atmete noch einmal durch und betrat dann das Wohnzimmer, in dem sich Quinn befand, entspannt und unbesorgt auf der Couch liegend und Fernseh glotzend. Ich blieb regungslos am Ende der Couch stehen und betrachtete ihn in aller Ruhe. Er sah noch nicht ein Mal zu mir auf, als er sagte:
"Du brauchst garnicht erst anzufangen... Du kannst dir deine Predigt sparen!"
"Offensichtlich kann ich das nicht! Denn was du heute getan hast, scheinst du nicht demnächst einstellen zu wollen, oder etwa doch?"
Nun sah er auf und warf mir einen seiner 'Interessiert-mich-nicht-die-Bohne'-Blick zu, der mindestens genauso gut und abweisend war wie meiner. Doch er erwiderte:
"Warum kümmert es dich überhaupt, was ich tue?"
Ich staunte nicht schlecht, als er mir diese Frage stellte.
"Willst du mich verarschen, Quinn? Du bist mein Bruder, verdammt, deshalb kümmert es mich. Und solange du mir nicht sagst, was dieser ganze Schwachsinn soll, werde ich dir das Leben solange schwer machen, bis du es mir sagst! Hast du mich verstanden?", schimpfte ich ihn an.
Er sah mir gleichgültig in die Augen und antwortete:
"Warum sagst du es nicht einfach Mum?"
Ich seufzte und trat näher an ihn heran. Ich beugte mich über ihn und versperrte ihm somit die Sicht auf den Fernseher. Ich erwiderte:
"Weil ich erstens keine Petze bin, zweitens denke ich, ist das eine Sache zwischen uns beiden und ich glaube nicht, dass Mum bei alles gleich alarmiert werden muss. Schließlich sind wir doch zwei vernünftige Menschen. Und drittens, wie schon gesagt, du bist mein Bruder, Quinn, und Geschwister halten zusammen und ich versuche nur, dir zu helfen... Aber wie soll ich dir helfen, wenn du dich vor mir verschließt?"
Ich sah ihn flehend an und einen Moment glaubte ich allen Ernstes, ich hätte ihn weichgeklopft. Doch anscheinend wollte das Schicksal mir es nicht so einfach machen und er sagte:
"Ich brauche keine Hilfe und schon garnicht von dir, alles klar?"
Somit erhob er sich aufgebracht vom Sofa und stampfte die Treppen hoch in sein Zimmer. Ich seufzte tief.
Kapitel 5
Ich war so aufgebracht wegen dem Gespräch mit meinem Bruder, dass ich entschied einbisschen an die frische Luft zu gehen. Ein Spaziergang konnte nie schaden. Somit griff ich mir meine Jacke und ich verließ das Haus. Während ich den Pfad in den Wald entlang schritt, dachte ich nach, was ich nur falsch gemacht haben könnte. Ich hatte doch nichts so Schlimmes gesagt, dass er gleich wütend in sein Zimmer rennen musste, oder etwa doch? Er konnte froh sein, dass ich mich an den Geschwisterkodex hielt und Mum nicht alles petzen ging. Aber sowas war nicht meine Art und ich würde das jetzt auch nicht ändern, nur weil die erste Konfrontation mit Quinn so scheiße gelaufen war. Ich bemerkte, dass es recht kühl geworden war und schloss die Jacke enger um mich. Der Wind wehte stark und brachte meine langen Haare durcheinander. Ich wehrte mich jedoch nicht dagegen, sondern empfing die kalte Luft mit Freuden. Sie schien meine Sorgen hinwegblasen zu wollen und das wusste ich sehr zu schätzen. Ich tauchte immer tiefer in den Wald ein und das wenige Sonnenlicht, das heute herrschte, schien nur mit Beschwerden durch die dichten Baumkronen dringen zu können. Aber das machte mir nichts aus, denn die Dunkelheit schien mich zu empfangen, wo hingegen das Licht erdrückend auf mich wirkte. Ich betrachtete die alten, gigantischen Bäume, die die ganze Umgebung dominierten. In ihren kraftvollen Ästen floss die Weisheit, nach der die ganze Menschheit strebte. Wie viele Jahrhunderte mussten diese prächtigen Hervorgänge der Natur wohl durchlebt haben... Wenn sie sprechen könnten, würden sie die erstaunlichsten Geschichten erzählen. Ich lauschte dem Flüstern der Blätter und dem Heulen des Windes. Es herrschte beinahe komplette Stille, nur die Natur erhob die Stimme und sprach zu mir. Ich versuchte zu verstehen, was sie zu sagen hatte, doch es war ein sinnloses Unterfangen, denn ich beherrschte die Sprache der Natur nicht, niemand tat das.
Auf ein Mal hörte ich ein Knacken hinter mir und ich schrak auf. Ich drehte mich langsam um, als ein tiefes Knurren mir die Gänsehaut über den Körper jagte. Ich wagte kaum hinzusehen, doch als ich den Blick hob, fiel er auf einen schwarzen Wolf, der mich aus grünen Augen anfunkelte. Ich schnappte geschockt nach Luft und der erste Gedanke, der mir erstaunlicherweise durch den Kopf jagte, war: Seit wann hatten Wölfe grüne Augen? Ich begutachtete den Wolf genau und stellte fest, dass er nicht die durchschnittliche Größe eines Wolfes hatte. Er war riesig. Sein kohlrabenschwarzes, struppiges Fell ließ die Umgebung noch düsterer erscheinen und seine leuchtenden Augen ließen mich gleichzeitig Angst und Faszination spüren. Wo kam dieser Wolf her? Kein wildes Tier traute sich so weit aus dem Wald heraus, schon garnicht so nah an bewohntes Land. Dieser Wald war ein Schutzgebiet und es herrschte Jagdverbot, doch trotz allem hatte man hier noch nie einen Wolf zu Gesicht bekommen. Ab und zu begegnete man mal einem Reh oder einem Hirsch, doch die ergriffen augenblicklich die Flucht, wenn sie einen Menschen erblickten. Doch dieser Wolf hier bewegte sich nicht vom Fleck und sah mir immer noch ununterbrochen in die Augen. Langsam sollte ich mir mal einen Fluchtplan überlegen, aber ehrlich gesagt empfand ich die Situation als hoffnungslos. Ich würde hier vermutlich nicht lebend rauskommen. Würde ich auch nur einen Schritt wagen, würde der Wolf mich höchstwahrscheinlich anfallen. Also was tun in so einer aussichtslosen Lage? Mir fiel nichts besseres ein, als mit dem Riesentier zu reden.
"Hey...", sagte ich schüchtern. "Wolltest wohl auch ein bisschen frische Luft schnappen, was?"
Er starrte mich nach wie vor an, doch er legte den Kopf jetzt leicht auf die Seite, als würde er nicht verstehen, was ich meinte. Ich fuhr fort:
"Hatte einen echt scheißen Tag heute und musste mal raus... Kennst das ja bestimmt, oder? Deine Wolffreunde gehen dir bestimmt auch oft auf die Nerven..."
Ich wusste nicht, ob ich mir das nur einbildete, doch der Wolf schien allen Ernstes zu nicken. Ich lachte verunsichert, doch die Angst verflüchtigte sich allmählich. Er wagte sich langsam wenige Schritte in meine Richtung, blieb jedoch stehen, als ich zusammenzuckte. Und dann ließ er sich auf dem Boden nieder und legte seinen schweren Kopf auf die Vorderpfoten. Ich grinste und setzte mich auf einen dicken Baumstumpf nur einige Meter von ihm entfernt. Er ließ mich gewähren. Dann sahen wir uns noch einige Minuten lang an, als ich sagte:
"Weißt du, Smalltalk ist echt nicht meine Stärke, aber bei dir brauch ich mir wohl keine Sorgen zu machen, dass ich was Falsches sage, oder?"
Er schüttelte schnaubend den Kopf und ich musste lachen.
"Haha, dann ist gut... Sag, kommst du öfters hierher?", fragte ich einbisschen besorgt.
Er sah mich unverständlich an und irgendwie wusste ich sofort, was er wissen wollte.
"Naja, weißt du... Man bekommt hier in der Gegend nie wirklich einen Wolf zu sehen. Das kommt vermutlich daher, dass sie sich vor der Menschheit fürchten. Was ich absolut nachvollziehen kann, glaub' mir! Aber was ich nicht verstehe, ist, warum du dich so weit vorwagst. Mein Haus befindet sich nur einige hundert Meter weiter und Menschen könnten dich hier entdecken. Man weiß nie, was sich diese Idioten dabei denken, sich einem Wolf zu nähern... Was mich dann eigentlich auch zu einem Idioten macht, denn ich rede gerade mit einem Wolf!"
Ich fasste mir an die Stirn und schüttelte, über mich selbst lachend, den Kopf. Auf ein Mal erhob sich der prächtige Wolf und kam mit vorsichtigen Schritten auf mich zu. Ich zog mich instinktiv einbisschen zurück, doch ich verhinderte ruckartige Bewegungen, um ihn nicht zu verschrecken oder wütend zu machen. Er ließ sich vor meinen Füßen nieder und streckte seine feuchte Schnauze aus. Ich grinste und hob unsicher die Hand. Als er jedoch sanft gegen meine Finger stieß, nahm ich die Erlaubnis an und streichelte ihn. Sein Fell fühlte sich weich und kuschelig an, bequemer als ein Kissen und sein großer, schwerer Kopf legte sich auf meinen Schoß. Ich kraulte ihm den Nacken und als mein Armband seinen Blick streifte, sah er neugierig auf. Er betrachtete den Wolfanhänger mit großen Augen und ich erklärte:
"Sagen wir, ich hatte schon immer eine gewisse Faszination für deinesgleichen."
Ich lachte, als er meine Hand mit seiner rauen Zunge ableckte und sich noch mehr in meinen Schoß drückte. Ich streichelte ihn nun wilder und er rieb seinen Kopf in meine Hände. Ich war erstaunt über die Zutraulichkeit dieses Tieres. Wilde Tiere waren doch menschenscheu, doch dieser Wolf hier führte sich wie das reinste Haustier auf. Naja, mir sollte es recht sein, ich wollte schon immer mal einen Wolf streicheln. Doch als auf ein Mal ein markerschütterndes Heulen ertönte, hob der Wolf erschrocken den Kopf und sah sich in der Umgebung um. Er erhob sich und stellte sich zu voller Größe auf. Er warf mir aus diesen laubgrünen Augen einen entschuldigenden Blick zu und ich flüsterte sanft:
"Geh nur... Wir sehen uns irgendwann wieder, das verspreche ich!"
Er leckte mir noch ein Mal die Wange, verschwand kurz hinter einem Baum und kehrte mit einer kleinen, gelben Blume im Maul zurück. Er legte sie mir auf den Schoß und ich bedankte mich herzlich. Dann war der Wolf in der Dunkelheit des Waldes verschwunden.
Ich streichelte zärtlich die Blüten der weißen Blume, die ich als Winterrose identifiziert hatte. Es wunderte mich ein wenig, dass die Winterrose schon blühte, da es erst Anfang Herbst war, doch mich wunderte im Moment reingarnichts mehr, denn schließlich hatte ich die Blüte von einem Wolf erhalten. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht ging ich zurück nach Hause. Ich konnte es immer noch nicht fassen, dass ich mich mit einem Wolf angefreundet hatte. Und er schien mich wirklich verstanden zu haben, als würde er die Menschensprache beherrschen. Und dass ein wilder Wolf einen Menschen, eine potentielle Bedrohung, nicht angriff, war schon etwas fragwürdig. Doch ich war sehr froh, dass er es nicht getan hatte. Warum sagte ich eigentlich dauernd "er"? Es konnte ja auch genauso gut eine "sie" sein. Doch nur wenige Augenblicke darauf wurde mir bewusst, dass es doch nicht so logisch klang. Erstens hatte er eher wie ein Männchen ausgesehen und trotz meiner mangelhaften Kenntnis an Tierkunde war ich mir dessen ziemlich sicher. Zweitens hatte der Wolf mir eine Blume geschenkt, was zwar eine menschliche Geste war und das mich einbisschen überraschte, aber trotzdem eine Geste zwischen Mann und Frau. Und drittens... ach, mir fiel kein dritter Punkt ein. Aber trotz allem war ich mir ziemlich sicher, dass mein neuer Wolffreund männlich war. Wolffreund... wie sich das anhörte. Ich schüttelte lächelnd den Kopf und betrat mein Zuhause. Bevor ich die Tür schloss, bemerkte ich das Auto meiner Mutter in der Auffahrt und war aufrichtig verwundert, dass sie schon so früh zuhause war. Sie kam sonst erst so gegen acht oder neun Uhr abends von der Arbeit. Vielleicht war ja etwas passiert... Ich stürmte in die Küche und erblickte meine Mutter, wie sie auf dem langen, gläsernen Küchentisch saß und Zeitung las. Ich hoffte inständig, dass sie nichts von der Sache mit Quinn erfahren hatte. Schließlich redeten die Leute in dieser Gegend sehr gerne und sehr schnell, und auch wenn meine Mutter herzlich wenig auf Klatsch und Tratsch gab, eilte ich hastig zu ihr und fragte ein wenig hurtig:
"Mum, was machst du denn schon so früh hier? Ist irgendwas passiert?"
Sie blickte auf und hob eine Augenbraue.
"Nein, wieso? Sollte denn was passiert sein, Rina?"
Ich stutzte und schüttelte den Kopf. Ich drehte ihr misstrauisch den Rücken zu und nahm mir einen Erdbeerjoghurt aus dem Kühlschrank und einen Löffel aus der Schublade. Dann setzte ich mich zu ihr an den Tisch und fing an, meinen Joghurt zu essen. Dabei begutachtete ich meine Mutter über den Becherrand hinweg. Sie sah ziemlich abgeschafft aus, sie hatte tiefe Augenringe und ihre Körperhaltung war schlaff. Trotzdem war sie nach wie vor eine wunderschöne Frau. Sie hatte die gleichen roten Haare wie ich, nur trug sie sie in Form eines Bobs. Die grünen Augen hatte ich weder von meinem Vater noch von meiner Mutter, wo die herkamen hatte keiner von beiden gewusst. Sie hatte die gleichen eisblauen Augen wie Quinn und ihre Haut war genauso bleich wie meine, nur dass ihre von einigen Sommersprossen geziert wurde. Sie bemerkte, dass ich sie anstarrte und ließ von der Zeitung ab. Dann fragte sie misstrauisch:
"Rina, was ist los?"
Ich sah sie mit meinem Hundeblick an und antwortete vollkommen unschuldig:
"Nichts... Was sollte denn los sein, Mum?"
"Ich weiß nicht, deswegen frage ich ja..."
Ich schüttelte erneut meinen Kopf, sagte nochmals: "Nein, es ist aber nichts..." und stand auf. Ich warf meinen leeren Joghurtbecher in den Mülleimer, ging noch ein Mal zu meiner Mutter, drückte ihr einen dicken Schmatzer auf die Wange und fügte noch hinzu:
"Mach dir nicht immer so viele Sorgen, Mum! Davon bekommst du bloß Falten..."
Und mit diesen letzten Worten verließ ich die Küche und stieg die Treppen hoch in mein Zimmer.
Ich hockte auf meinem Bett mit meinem Laptop vor der Nase und surfte einbisschen im Internet. Das kam dabei heraus, wenn man nichts Besseres zu tun hatte. Ich langweilte mich zu Tode und als sich 'im Internet stöbern' als keine bessere Beschäftigung herausstellte, schaltete ich den Computer aus und warf mich in mein Kissen. Heute schien ich nichts anderes fertigzubringen, als die ganze Zeit nachzudenken. Und... mit Wölfen Freundschaft schließen, aber das zählte ich besser nicht dazu, denn es erschien mir nach wie vor total verrückt. Allmählich redete ich mir ein, dass es bloß ein Traum gewesen war, wenn da nicht diese weiße Blume gewesen wäre... Diese kleine Winterrose war der Beweis, dass die Begegnung mit dem schwarzen Wolf wirklich stattgefunden hatte. Oh mann, dieses viele Nachdenken bereitete mir langsam, aber sicher höllische Kopfschmerzen. Ich wollte schon garnicht erst anfangen über eine Lösung für mein Problem mit Quinn nachzudenken, geschweige denn für meine Verdächtigung Shane gegenüber mit Brenda Zusammenarbeit zu leisten. Das waren alles Probleme von Morgen, somit steckte ich mir Kopfhörer in die Ohren und hörte lautstark Musik, bis ich einschlief.
Kapitel 6
Als mein dröhnender Wecker mich aus meinen gewohnt unruhigen Träumen riss, erhob ich mich schlaftrunken aus dem Bett und zog mich, halb im Delirium, an. Als ich fertig war, hatte ich trotz der Umstände ein halbwegs passables Outfit hingekriegt: Ich war mit einer schwarzen Röhrenjeans, einer weißen Bluse, worüber ich meine beigefarbene Jacke anzog, und meinen neuen, schwarzen, bis zum Knöchel reichenden Stiefeln bekleidet. Dazu trug ich natürlich mein Wolfsarmband, ein Paar glitzernde Ohrringe und meine Lieblingskette. Ich betrachtete mich zufrieden im Spiegel und kämmte meine Haare noch einmal kurz durch, dann konnte die Reise in die Schule aufs Neue beginnen.
Die Busfahrt verlief wie gewöhnlich sehr ruhig und ich wurde von niemandem gestört. Bei der Schule angekommen, ging ich gelassen ins Schulgebäude und war nicht darauf gefasst, was mich dort erwartete. Oder besser gesagt, wer mich dort erwartete. Dort, an der Eingangstür der Schule, stand Shane, in wahrer Größe, und hielt mir gentlemanhaft die Tür auf. Ich warf ihm einen verwirrten Blick zu und sobald ich eingetreten war, erschien er an meiner Seite.
"Guten Morgen, Milady! Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt hierhin...", sagte er in einem übertrieben überschwänglichen Ton. Ich ging mit vorsichtigen Schritten die Treppen zum ersten Stockwerk hoch, während Shane mir auf dem Fuße folgte. Ich ließ ihn nicht aus den Augen, sondern durchbohrte ihn nach wie vor mit nichtswissenden Augen.
"Sag mal, was hat dich denn heute geritten? Prince Charming?"
Er stutzte und sah mir amüsiert in die Augen.
"Hast du mich gerade gefragt, ob Prince Charming mich geritten hat?"
Er lachte und ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.
"Ja, das war jetzt einbisschen unglücklich ausgedrückt. Tut mir leid...", entschuldigte ich mich kichernd. Er lachte erneut und erwiderte:
"Ich verzeihe ihnen natürlich, meine Teuerste!"
Ich hob eine Augenbraue und sagte:
"Auch wenn Prince Charming dich nicht geritten hat, irgendwas stimmt nicht mit dir! Ich wurde in meinem Leben noch nicht Milady oder Teuerste genannt und mir die Tür aufzuhalten, hat auch noch niemand zu tun gepflegt. Also was ist los?"
Er zuckte die Achseln und erwiderte:
"Nichts, ich bin einfach gut drauf, okay?! Und... dir hat echt noch niemand die Tür aufgehalten?"
Ich schüttelte den Kopf und er schnaubte.
"Was gibt es aber auch Idioten auf dieser Welt, was?"
"Wem sagst du das?", antwortete ich seufzend und wir schlenderten in die Klasse.
Als Shane und ich gemeinsam die Klasse betraten, drehten sich alle Blicke nach uns um. Einigen klappte die Kinnlade hinunter, weil sie nicht glauben konnten, dass sich der neue, gutaussehende Typ mit mir Versagerin blicken ließ, aber wir ignorierten es beide und hielten auf unsere Plätze in der hintersten Reihe zu. Doch bevor wir die Chance gehabt hätten, dort anzukommen, hatte sich Brenda uns schon in den Weg gestellt und anschließend argwöhnisch beäugt. Dann fragte sie Shane gehässig:
"Ach so, du bist jetzt also offiziell mit dieser wandelnden Freakshow zusammen, hab ich das richtig verstanden?"
Ich schnaubte und wollte gerade etwas erwidern, als Shane mir zuvorkam.
"Leider bin ich das nicht, aber ich wüsste auch nicht, was dich das angeht...", erwiderte er gelassen und als ich hörte, wie er 'leider' sagte, blieb mir das Herz stehen. Hatte er gerade wirklich zugegeben, dass er es bedauerte, nicht mit mir zusammen zu sein? Mein Atem setzte aus, doch Brendas Atem beschleunigte sich und sie war nun fuchsteufelswild. Sie brüllte schon beinahe:
"Nicht zu fassen, dass du diese rothaarige Hexe MIR vorziehst!! Was stimmt nicht mit dir? Tja, es ist dein Verlust... Und dir sollte klar sein, dass du damit ab heute offiziell auf der Loserseite stehst!"
Er zuckte die Schultern und trat einen Schritt näher an sie heran. Er war nur noch wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt und sagte mit hämischer Stimme:
"Es ist mir ganz egal auf welcher Seite ich stehe, solange es nicht deine ist!"
Und mit diesen letzten Worten schlenderte er gelassen auf seinen Platz und ließ eine fassungslose Brenda und eine überraschte Rina zurück. Ich fasste mich aber weitaus schneller als Brenda und bevor ich ebenfalls ging, wollte ich noch einbisschen Salz in die Wunde streuen.
"Wow, das hab' ich aber auch noch nicht erlebt. Brenda Merkins hat in der Tat einen Korb bekommen!", sagte ich provokativ und lachte herzhaft. Sie kochte vor Wut und packte mich fest am Oberarm. Ich verzerrte das Gesicht, einerseits wegen des Schmerzes, andererseits wegen der Überraschung über die ruckartige Bewegung. Sie knurrte:
"Ich weiß nicht mit welchem Zauber du ihn belegt hast, Hexe, aber lass dir gesagt sein, dass ich ihn brechen werde!"
Ich sah sie gelangweilt an, entriss ihr meinen Arm und sagte im Vorbeigehen:
"Brenda, lass dir helfen, ja?"
Dann setzte ich mich neben Gabriel und ignorierte die feuersprühenden Blicke von Brenda, die mich die ganze Französischstunde über durchbohrten.
Als es endlich zur Mittagspause klingelte, fühlte es sich beinahe wie eine Erlösung an und ich stürmte mit meiner schwarzen Hängetasche auf der Schulter auf den Flur. Ich wartete weder auf Romy noch auf Gabriel, sondern machte mich sofort auf den Weg zu meinem Spind. Dort warf ich mein Geschichtsbuch und mein Französischheft hinein und packte stattdessen mein Matheheft und den Physikordner in die Tasche. Dann machte ich mich auf den Weg in die Schulbibliothek. Als ich die massige Flügeltür aufstieß, sah ich, dass die Bibliothek wie gewöhnlich, bis auf einige Angestellte, völlig leer war. Ich begab mich leise auf meinen Stammplatz am Computer und packte mein Notizbuch aus. Als ich es aufschlug, sprang mir die weiße Winterrose ins Auge, die ich am Abend zuvor hineingelegt hatte, um sie zu trocknen. Ich nahm sie in die Hand, hielt sie hoch und lächelte, während ich sie genauer betrachtete. Ich hoffte inständig, dass ich den schwarzen Wolf wiedersehen würde. Plötzlich ertönte eine tiefe, sanfte Stimme von hinten.
"Du hast einen Verehrer? Du hättest mich wirklich über meine Konkurrenz aufklären sollen!"
Shane lachte und begab sich nun in meinen Blickwinkel. Ich seufzte und fragte:
"Sag mal, verfolgst du mich?"
Er setzte sich mir gegenüber an den Tisch und erwiderte unschuldig:
"Vielleicht... Vielleicht bin ich aber auch nur auf der Suche nach einer alten Ausgabe von J.R.R.Tolkiens "Der Herr der Ringe"..."
Er grinste selbstgefällig und ich grinste humorlos zurück. Dann stand ich auf, ging zu dem Regal, in dem ich das gesuchte Buch zuletzt gesehen hatte und zog es heraus, als ich es erblickte. Ich hielt ihm den dicken Schinken vor die Nase und fügte noch hinzu:
"Gib bitte Acht auf den Einband! Das Buch ist schon ziemlich alt und es war schon am Auseinanderfallen, als ich es ausgeliehen hatte, aber wenn du es mit Vorsicht behandelst, sollte es heil bleiben."
Er nahm es zögernd entgegen und betrachtete es eingehend. Dann sah er zu mir auf und sagte grinsend:
"Du bist immer wieder zu Überraschungen gut, Rina Felten!"
Ich setzte mich wieder vor den Computer und legte die Winterrose zurück ins Notizbuch. Dann erwiderte ich:
"Warum? Nur weil ich wusste in welchem Regal J.R.R.Tolkiens "Der Herr der Ringe" zu finden sein würde?"
Er lachte und legte das vielseitige Buch vor sich auf den Tisch. Dann antwortete er kopfschüttelnd:
"Nein, weil du J.R.R.Tolkiens "Der Herr der Ringe" gelesen hast!"
Ich sah überrascht auf und blickte in die waldgrünen Augen von Shane, der mir nun erschreckend nahe war. Ich schnappte nach Luft und spürte, wie meine Wangen anfingen, zu glühen. Ich senkte verlegen das Haupt und erwiderte:
"Wie denn? Hast du noch nie ein Mädchen getroffen, das "Der Herr der Ringe" gelesen hat?"
Ich schnaubte verächtlich und reagierte wieder ein Mal überrascht, als ich Shanes kecke Antwort vernahm.
"Nein, ehrlich gesagt bist du die Erste!"
Ich verharrte regungslos auf meinem Drehstuhl und erwiderte nun nichts mehr. Ich schenkte Shane nur noch einen letzten, kurzen Blick und ein Achselzucken und machte mich dann daran, meine Physikaufgaben zu beenden. Schließlich war heute Abgabetermin angesagt.
Shane folgte mir automatisch, als ich mich beim Klingeln der Schulglocke erhob. Ich ignorierte es einfach so gut es ging, obwohl es nicht besonders leicht fiel, einen süßen und auch etwas schrägen Jungen, der dich auf Schritt und Tritt verfolgte, nicht zu beachten. Dann, am Ausgang der Bibliothek, ergriff er meinen Arm und hielt mich fest.
"Hey, bist du sauer auf mich, oder so?", fragte er verwirrt. Ich drehte mich um, sah ihm in die Augen und versank erneut in diesem wunderschönen, glänzenden Meer aus Bäumen. Ich senkte sofort wieder den Blick, weil ich noch nicht in der Lage war, seinem Blick standzuhalten.
"Warum sollte ich auf dich sauer sein? Du hast doch überhaupt nichts gemacht.", erwiderte ich achselzuckend.
Er versuchte meinen Blick zu erhaschen, doch ich wich ihm gekonnt aus. Er seufzte und fuhr fort:
"Nein, das nicht, aber du scheinst mir irgendwie aus dem Weg gehen zu wollen..."
Ich sah auf meine Uhr und bemerkte, dass der Mathematikkurs, den ich eigentlich besuchen sollte, schon vor fünf Minuten angefangen hatte. Ich stöhnte genervt.
"Ah verdammt! Sorry Shane, ich kann jetzt echt keine Diskussion mit dir führen! Ich hab' jetzt Mathe und da kann ich mir echt nicht erlauben, zu spät zu kommen, glaub mir..."
Und mit diesen letzten Worten ließ ich ihn einfach dort an der Flügeltür der Bibliothek stehen und rannte zu meinem Klassensaal.
Ich hatte zum Glück nur eine Verwarnung von meinem Mathematikprofessor bekommen, aber ich merkte, dass er großen Wert auf erste Eindrücke legte und der war jetzt aber gründlich in die Hose gegangen. Die Stunde verging schleichend langsam und das langweilige Thema quälte mich beinahe zu Tode. Wie immer saß ich einfach bloß gelangweilt auf meinem Stuhl und kritzelte in mein Notizbuch. Ich würde eigentlich gut daran tun zuzuhören, aber irgendwie war ich zu sehr in meine Gedanken versunken, als dass ich auch nur ein einziges Wort, das aus Mr. Turners Mund kam, verstehen könnte. Als mir auch noch ein Gähnen entfuhr, drehte sich mein alter, faltiger Professor zu mir um und fragte empört:
"Langweilige ich Sie, Miss Felten?"
Ich zuckte leicht zusammen und schalte mich für meine Nachsicht. Ich antwortete leicht stotternd:
"Ähm, nein, Mr. Turner, Sie langweilen mich nicht, ich habe nur letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen, das ist alles. Tut mir leid..."
Er durchbohrte mich noch eine Weile mit seinen stechend blauen Augen, ließ dann aber von mir ab und wandte sich wieder seinen komplizierten Formeln an der Tafel zu. Ich atmete erleichtert auf, aber diesmal so leise, dass höchstens mein Nachbar es mitbekam. Als es endlich klingelte, bereitete ich mich bereits mental auf die Physikstunde mit Shane vor. Ich packte meine Sachen zusammen, nahm mein Notizbuch in die Hand und wollte gerade zur Tür raus, als Mr. Turner mich zu sich rief.
"Miss Felten, könnten Sie bitte nur noch für einen Moment hier bleiben? Nur ganz kurz..."
Ich verharrte an der Türschwelle und dachte allen Ernstes
darüber nach, die Flucht zu ergreifen, doch ich riss mich zusammen, holte tief Luft und wandte mich seufzend dem Lehrer zu. Ich postierte mich ihm gegenüber und fragte ganz unschuldig:
"Stimmt etwas nicht, Mr. Turner?"
Er setzte sich an den Rand seines Lehrerpults und faltete geschäftsmäßig die Hände ineinander. Ich verdrehte bereits innerlich die Augen, doch ich lauschte aufmerksam. Dann sagte er mit sachlicher Stimme:
"Miss Felten, ich habe den Eindruck, dass Sie sich herzlich wenig für meinen Unterricht interessieren..."
Ich sah hoch und blickte ihm in die glasklaren Augen und ich konnte rein gar keinen Vorwurf darin erkennen. Ich erwiderte mit fester Stimme:
"Wissen Sie, Mr. Turner, das liegt keinesfalls an ihrem Unterricht, es liegt allein an dem Fach! Ich bin noch nie ein Ass in Mathematik gewesen und das wird auch nie so sein, aber Sie dürfen nicht denken, dass ich mir keine Mühe gebe, Sir! Ich lerne sehr viel, damit ich es auch nur annähernd mit den ganzen Formeln und Figuren und was weiß ich noch aufnehmen kann... Auch wenn ich heute einen anderen Eindruck gemacht habe. Was mir übrigens leid tut, aber ich hatte wirklich eine schlechte Nacht!"
Er überlegte kurz und starrte mich weiterhin durchdringend an. Dann sagte er einverstanden:
"Na gut, Miss Felten! Aber ich erwarte von ihnen, dass sie das soeben Gesagte einbehalten, sonst muss ich ihnen doch mehr als nur eine Verwarnung geben."
"Ja, Sir! Natürlich, Sir!", antwortete ich nickend und stürmte anschließend aus dem Klassensaal. Ich erreichte den Physiksaal zum Glück noch rechtzeitig, als alle Schüler gerade eintraten und ich mich schleunigst hinten dran hängte. Mr. Armstrong beäugte mich noch mit einem bedächtigen Blick, den ich bewusst an mir vorbei ziehen ließ und dann suchte ich meinen Platz auf. Ich konnte Shane nirgends sehen, somit entspannte ich mich ein wenig und ließ mich noch einbisschen tiefer in meinen Stuhl in der letzten Reihe sinken. Ich blätterte noch ein Mal kurz durch meinen Ordner mit den abzugebenden Aufgaben und erklärte sie als einigermaßen annehmbar, auch wenn Shane die meisten Aufgaben davon gelöst hatte. Was mir irgendwie ein schlechtes Gewissen eintrieb, da es ja eigentlich eine Partnerarbeit gewesen war und ich meinen Anteil nicht so ganz erfüllt hatte. Ich hatte mir zwar Mühe gegeben und auch erstaunlicherweise einiges gewusst, aber Shane hatte trotzdem mehr Arbeit geleistet als ich. Mr. Armstrong ging gerade durch die Reihen, um die Ordner einzusammeln, als er an meinem Tisch ankam und dort stehen blieb. Dann fragte er misstrauisch:
"Wo ist denn Mr. McLauren?"
Ich zuckte ahnungslos die Achseln und erwiderte wahrheitsgemäß:
"Ich habe keine Ahnung, Sir."
Er nahm meinen Ordner in die Hand und fügte noch, mehr zu sich selber als zu mir sprechend, murmelnd hinzu:
"Anscheinend erachtet unser Wunderknabe uns als seiner nicht würdig!"
Dann stolzierte er von dannen und ließ mich mit verblüffter Miene zurück. Wunderknabe? Hatte er von Shane geredet? Und wie man so schön sagte "Wenn man vom Teufel spricht", trat Shane wie auf Kommando ein. So lässig, cool und gutaussehend wie immer. Er beachtete Mr. Armstrong und dessen verärgerten Gesichtsausdruck keineswegs und schlenderte gelassen auf seinen Platz neben mir.
"Seid gegrüßt, meine Schöne!", sagte er gutgelaunt.
Ich verdrehte die Augen und erwiderte genervt:
"Ooh, geht das schon wieder los..!"
Er lachte ein bittersüßes Lachen und es klang wie Musik in meinen Ohren. Sofort ohrfeigte ich mich für diesen Gedanken und konzentrierte mich auf die wutschnaubende Gestalt vorne an der Tafel. Die jetzt jeden Moment auseinander zu fahren drohte wie Hulk. Ich nahm mich bereits in Deckung, als er anfing brüllend zu fragen:
"Mr. McLauren, wenn Sie es nicht für nötig halten, pünktlich zu meinem Unterricht zu erscheinen, dann brauchen Sie überhaupt nicht mehr zu kommen. Haben Sie mich verstanden?"
Er räusperte sich kurz und erwiderte dann:
"Ähm, verzeihen Sie, Mr. Armstrong, aber ich wurde aufgehalten!"
"Aufgehalten? Womit denn, wenn ich fragen darf?! Brauchten Sie etwas länger, um ihre Haare wieder neu zu richten?", fragte er in giftigem Ton.
Shane lachte kurz ein spöttisches Lachen und verneinte mit monotoner Stimme:
"Nein, Sir! Ich bin Direktor Hartland vorhin zufällig über den Weg gelaufen und er hat mich auf die Physiklandesmeisterschaft angesprochen. Ich bin zwar nicht im Schulphysikclub, doch er hat meine Leistungen in Physik auf meiner Zensur der letzten Schule gesehen und mich für qualitativ befunden."
Nun konnten alle mit freudiger Erwartung beobachten, wie Mr. Armstrong langsam aber sicher in sich zusammen schrumpfte. Shane hatte ihn mit dieser Aussage nicht nur fertig gemacht, sondern auch noch vor der ganzen Klasse gedemütigt. Er versuchte sich mit aller Mühe noch einbisschen Stolz und Würde zu bewahren und sagte daraufhin:
"Nun gut, Mr. McLauren, aber seien Sie versichert, dass ich diese Aussage überprüfen werde!"
Shane nickte verständnisvoll und erwiderte:
"Aber natürlich, Sir!"
Somit schien das Thema abgehakt und der Unterricht konnte beginnen. Ich sah Shane verwundert an und fragte:
"Physiklandesmeisterschaft?"
Er grinste und zwinkerte mir zu. Ich lachte und fügte noch hinzu:
"Ich wusste ja, dass du gut in Physik bist, aber so gut..."
Ich starrte ihn noch immer fassungslos an und das schien ihn zu amüsieren. Er sagte:
"Ich hab an meiner letzten Schule zahlreiche Preise bei Physikwettbewerben gewonnen!"
Ich grinste und erwiderte neckend:
"Sieht man dir garnicht an... Du bist immer zu Überraschungen gut, Shane McLauren!"
Er lachte und sah mich dann eine Weile lang an. Keiner von uns sagte etwas, wir sahen uns nur lächelnd in die Augen. Ich befreite mich als erstes aus der Starre und ich kam wieder zur Vernunft. Ich wandte den Blick ruckartig ab und ließ das peinliche Grinsen aus meinem Gesicht verschwinden. Ich hatte schon wieder zugelassen, dass er mich um den kleinen Finger wickelte und diese Schwäche, die neuerdings immer öfter in seiner Nähe zu Tage zu kommen schien, musste ich mir schleunigst abgewöhnen. Auch wenn ich heute Morgen einen Beweis geliefert bekommen hatte, dass diese angebliche Zusammenarbeit zwischen Shane und Brenda nur meine Paranoia gewesen war, konnte ich mir dennoch nicht ganz sicher sein. Verdammt, warum musste ich eigentlich immer so misstrauisch und übertrieben vorsichtig sein? Okay, Vorsicht war besser als Nachsicht und man war besser misstrauisch als naiv, aber ich war über die Jahre an dieser Schule durch die Hölle gegangen und ich hatte mein Vertrauen in die Menschen vollkommen verloren. Doch vielleicht war es ja auch besser, ihm nicht zu vertrauen, dann würde ich möglicherweise auch vor einer Enttäuschung bewahrt werden.
"Woran denkst du?", warf mich Shanes Stimme aus meinen unglücklichen Gedanken. Ich schrak leicht auf und fokussierte meinen Blick auf mein Notizbuch, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Dann antwortete ich:
"Ach, dies und das..."
Er schnaubte und sagte lachend:
"Wow, was für eine detailgetreue Antwort!"
Diese Antwort regte mich auf und ich erwiderte wütend:
"Du musst ja auch nicht alles wissen! Meine Gedanken gehen dich nämlich überhaupt nichts an! Verstanden?"
Er wirkte keinesfalls beleidigt oder wütend, nein, er sah mich eher mitleidig an. Das war noch schlimmer und ich wandte genervt meinen Blick ab. Einige Schüler aus den vorderen Reihen hatten sich mit aufgebrachten Gesichtern zu uns umgedreht und sich über den Lärm beschwert. Ich ignorierte sie einfach und Shane schenkte ihnen auch nur einen halbherzigen Blick. Wir schwiegen eine Weile und mir wäre es durchaus lieber gewesen, hätte die Ruhe auch weiterhin geherrscht, doch mein hartnäckiger Banknachbar wollte anscheinend nicht nachgeben.
"Warum bist du so verschlossen?", fragte er sanft.
Ich kritzelte wieder in mein Notizbuch, um mich einbisschen abzuregen und antwortete bissig:
"Ach, nur weil ich dir meine Gedanken nicht anvertraue, heißt das sofort, dass ich verschlossen bin?"
Er schüttelte den Kopf und erklärte besänftigend:
"Es geht mir nicht darum, dass du mir deine Gedanken nicht anvertraust, es geht darum, dass du dich garniemandem anvertraust! So scheint es mir jedenfalls... Ich kenne dich noch nicht sehr lange und vielleicht auch noch nicht besonders gut, aber ich beobachte dich schon lange genug, um zu wissen, dass du die meiste Zeit allein bist und du noch nicht einmal mehr mit deinen zwei besten Freunden redest! Oder irre ich mich da?"
"Ich bin nun mal nicht der Typ, der viel redet!"
Das war die einzige Antwort, die mir einfiel und eine andere würde er auch nicht bekommen. Ich wusste, dass sie ziemlich lahmarschig war, aber das war mir egal.
"Ganz offensichtlich...", sagte Shane enttäuscht und ich fragte mich inständig, warum er sich überhaupt so viele Gedanken über mich machte. Er kannte mich ja noch nicht einmal richtig.
Ich kopierte die Formeln, die an der Tafel standen, in mein Heft, hörte aber nicht darauf, was Mr. Armstrong sagte. Es interessierte mich einfach nicht und mir war wirklich die Lust vergangen. Ich wollte bloß noch nach Hause, um dann schnellstmöglich von dort abhauen zu können und in den Wald zu dem schwarzen Wolf zu gehen.
"Hat es was mit deinem Bruder zu tun?", riss mich Shane erneut aus meinen Überlegungen und ich musste mich erstmal wieder fangen. Ich fragte:
"Wie bitte?"
Er zögerte, offenbar war er besorgt, wie ich reagieren würde, aber er stellte die Frage noch ein weiteres Mal.
"Hat deine Verschwiegenheit etwas mit deinem Bruder zu tun?"
Ich sah ihn fassungslos an und für einen Moment war ich wirklich sprachlos. Dann antwortete ich wütend:
"Was erlaubst du dir eigentlich, mir so eine Frage zu stellen? Du weißt reingarnichts über meinen Bruder und du weißt reingarnichts über mich! Also hast du auch nicht das Recht, mir so eine Frage zu stellen! Was mein Bruder macht, ist allein meine Sorge und das geht weder dich noch sonst irgendeinen Schüler an dieser verdammten Schule etwas an, alles klar?"
Er sah mich entschuldigend an und er wirkte aufrichtig bestürzt. Ich versuchte die Welle von Schuldgefühlen, die mich zu überfluten drohte, mit aller Kraft zurückzudrängen, doch sein verletzter Blick versetzte mir unwiderruflich einen Stich direkt ins Herz. Dann erwiderte er mit brüchiger Stimme:
"Es...tut mir leid! Du hast Recht, das war anmaßend von mir und ich habe nicht das Recht, dir so eine Frage zu stellen... Aber ich will, dass du weißt, dass ich nichts auf die Gerüchte gebe, die erzählt werden. Ich weiß, dass es Lügen sind und..."
"Weißt du was? Hör einfach auf über meinen Bruder zu reden, okay?! Ich habe einfach keine Lust mehr darauf...", unterbrach ich ihn gnadenlos und er nickte einverstanden. Ich seufzte tief und ersehnte das Ende dieser Stunde mit jeder Minute, die verging, mehr herbei. Das Kritzeln in mein Notizbuch brachte mir auch keine Beruhigung mehr, also gab ich es auf. Das Einzige, was mich heute noch retten konnte, war der schwarze Wolf.
Als es zum Schulschluss klingelte, rannte ich einfach aus dem Gebäude, wartend auf nichts und niemanden. Ich stand vor der Bushaltestelle, aber irgendwie verspürte ich das Bedürfnis zu Fuß nach Hause zu gehen. Somit entfernte ich mich vom Bus und den zahlreichen Schülern und bog in eine etwas abgelegene Straße ein, die eine Abkürzung zu meiner Straße darstellte. Ich schulterte meine Tasche, während ich den Bürgersteig entlang schlenderte und mich in der Umgebung umsah. Dies war die einzige Straße in der Stadt, in der man keine protzigen Villen vorfand. Es war das sogenannte "schlechte Milieu" hier, obwohl es im Grunde genommen nicht so schlimm aussah. Die Häuser waren zwar klein und schmal und eng aneinander gereiht, doch eigentlich ganz hübsch. Ich sah mich fasziniert um, da ich noch nicht so oft in dieser Gegend gewesen war und verlangsamte mein Tempo. Ich war so in meine Gedanken und Vorstellungen vertieft, dass ich die schlurfenden Schritte hinter mir nicht sofort wahrnahm. Als neben mir plötzlich dieser Widerling von Grant Shielden auftauchte, schrak ich auf. Er grinste mich schmutzig an und fragte:
"Hey, bist du nicht die große Schwester von Quinzy?"
Ich verzog angewidert das Gesicht, versuchte auch garnicht es vor ihm zu verbergen und antwortete:
"Er heißt Quinn, Shielden, nicht Quinzy! Wow, ihr müsst ja echt gute Freunde sein, wenn du seinen Namen noch nicht einmal kennst..."
"Woah, jetzt aber mal langsam hier, okay?! Quinzy und ich sind keine Freunde, er chillt nur ab und zu gerne mit uns! Und er bezahlt meistens das Bier, also...", sagte er mit seiner nervtötenden, leiernden Kratzstimme.
"Also haben du und deine Junkiefreunde euch mal gedacht, einen fünfzehnjährigen Jungen auszunutzen, damit ihr euer Bier trinken könnt?! Boah, ihr seid echt erbärmlich...", stellte ich wütend fest. Er schnaubte und erwiderte:
"Jetzt komm mal wieder runter, große Schwester, alles klaro? Dein kleiner Bruder hat sich selbst dafür angeboten das Bier zu bezahlen! Als kleine Gegenleistung für die Drogen..."
Ich blieb ruckartig stehen und sah diesem ekelhaften Typen ins hämische Gesicht.
"Drogen? Welche Drogen?", fragte ich mit zittriger Stimme.
Er lächelte und seine gelben Zähne kamen zum Vorschein.
"Oh, haben wir das etwa noch nicht gewusst..? Ach nein, ich befürchte, ich habe gerade ein kleines Quinzygeheimnis ausgeplaudert. Tja, da wird dein kleiner Bruder wohl nicht so glücklich drüber sein, aber was soll's..?", murmelte er vor sich hin. Ich hörte ihm nur noch mit halbem Ohr zu, denn ich hatte mich bei dem Wort 'Drogen' bereits ausgeklinkt. Ich sah wie sich seine Lippen bewegten und ich vernahm auch ein fernes Murmeln, doch ich verstand keines seiner Worte. Es war, als würde ein dumpfes Rauschen in meinem Kopf herrschen, das meine Ohren und auch meinen Verstand außer Gefecht setzte. Als Grant mit seinen widerlichen, knochigen Fingern vor meinem Gesicht herumschnippte, kam ich allmählich zur Besinnung und sagte wie aus allen Wolken gefallen:
"Www...was? Hast du was gesagt? Verzeihung, war grad' irgendwie in Gedanken..."
"Das hab' ich gemerkt... Naja, jedenfalls hab' ich dich gefragt, ob du nicht mal Lust hättest, mit mir und ein paar Kumpels abzufeiern..? Ich weiß, dass du nicht viel von der Sache mit den Drogen und dem Alkohol hälst, aber ein paar Schlückchen Wodka und ein kleiner Joint und du wirst abgehen wie 'ne Rakete! Vielleicht könnten wir beide dann auch mal was miteinander machen...", sagte er mit dunkler Stimme und das Kratzen darin wurde dadurch noch verschlimmert. Jetzt machte er wieder diese Sache mit dem über die Lippen lecken und mir kam beinahe mein Frühstück hoch. Ich stieß ihn genervt von mir und erwiderte:
"Nicht mal in deinen kühnsten Träumen, Shielden!"
Und mit diesem Statement hatte ich vor, einen Abgang zu machen, doch dieser Typ war hartnäckiger als gedacht. Heute war einfach nicht mein Tag. Ich ließ den Kopf hängen und musste die Gegenwart dieses Schleimbeutels offenbar immer noch ertragen.
"Hey, kein Grund gleich gemein zu werden, ich weiß, dass du bloß auf so abweisend tust... Ich hab die Gerüchte gehört, du bist 'ne harte Nuss und es gab noch niemanden der dich knacken konnte, aber das kann sich ja noch ändern. Na, was denkst du..?!", versuchte er erneut mich zu überreden und jetzt riss mir definitiv der Geduldsfaden. Irgendwo musste auch Schluss sein. Somit drehte ich mich zu ihm um und sagte ihm meine Meinung ins Gesicht.
"Hör mir mal zu, du schmierige, perverse Arschgeige, was an 'Nicht mal in deinen kühnsten Träumen' hast du nicht verstanden? War es das 'nicht' oder vielleicht das Wort 'kühn', das deinem Erbsengehirn Schwierigkeiten bereitet hat?! Nun gut, hier bekommst du es noch mal ganz ausführlich erklärt, damit auch der letzte Idiot es versteht: Ich würde nicht mal mir dir abfeiern, wenn du der letzte Mensch auf Gottes Erdboden wärst! War das jetzt deutlich genug?", fragte ich wutschnaubend. Und dann wurde ich so schnell gegen die kalte, feuchte Wand gedrückt, dass ich noch nicht einmal aufschreien konnte. Grant drückte mir seinen Arm gegen die Kehle und es wurde immer schwieriger zu atmen. Er sah mich aus glänzenden Augen an und das Einzige, was mir entgegenstarrte, war purer Hass. Furchteinflößender, abgrundtiefer und bedingungsloser Hass. Ich fing an zu zittern, dabei hatte ich, so gut es ging, versucht zu verhindern, mir meine Angst anmerken zu lassen. Aber wenn er es nicht durch die Berührung mit dem Arm mitbekam, dann konnte er es bestimmt sehen. Ich versuchte vergebens die Luft in meine Lungen zu befördern, doch er verstärkte seinen Griff noch weiter und es wurde mir beinahe unmöglich zu atmen. Dann sagte er mit bebender Stimme:
"Ich hatte es wirklich noch auf die nette Tour versucht, doch du scheinst ja nicht darauf eingehen zu wollen, also... Also müssen wir es anscheinend auf die harte Tour verrichten!"
Dann versuchte er unter meine Bluse zu greifen, um mich dort zu begrabschen. Seine kalten, rauen Hände strichen mir über den nackten Bauch und mich durchfuhr ein Frösteln. Eine unglaubliche Gänsehaut legte sich über meinen ganzen Körper und das Zittern wurde stärker. Ich war kein Angsthase, ganz und garnicht, doch jetzt fing ich an, mir wirklich Sorgen zu machen. Er legte seine Wange an meine und flüsterte mir ins Ohr:
"Weißt du, bereits das erste Mal, als ich dich gesehen habe, da fand ich dich einfach bezaubernd. Deine schönen langen roten Haare, deine blasse Haut und diese wunderschönen smaragdgrünen Augen. Es war wirklich faszinierend, wie sie gefunkelt haben, als du mir gedroht hast! So lebendig und gefährlich! Ich mag das, du hast Feuer!"
Er strich mir durchs Haar und fuhr mir mit dem Daumen über die Lippen, dabei konnte ich das gierige Verlangen in seinen Augen aufblitzen sehen. Er widerte mich einfach bloß an. Doch ich war nicht im Stande, mich gegen ihn zu wehren. Ich war wie versteinert. Dann bewegte er seine Hand langsam meinen Bauch hinauf und erreichte beinahe meine Brust, die immer noch, verzweifelt nach Luft ringend, heftig bebte. Dann hauchte er nochmals leise:
"Es ist wirklich schade, dass es soweit kommen musste, doch ich kann meine Begierde einfach nicht in Zaum halten! Tut mir wirklich leid, aber es ist ja nicht so, als ob ich mein Interesse nicht angemerkt hätte..!"
Dann grinste er schelmisch und wollte gerade mit seiner Grabscherei fortfahren, als ich die wenige Luft zusammen nahm, die ich noch hatte und zurückflüsterte:
"Weißt du, was ich nicht in Zaum halten kann? ... Meine Wut!"
Und somit staute ich all meine Wut und den ganzen Ekel in mir auf, nahm all meinen Mut zusammen und spuckte ihm mit voller Ladung ins Gesicht, mir sehr wohl bewusst, dass diese Aktion meine Situation bloß noch verschlimmern würde. Er verringerte unbewusst den Druck auf meine Kehle, als er sich wutschnaubend die Spucke aus dem Gesicht wischte und ich die Gelegenheit beim Schopf ergriff und ihn von mir stieß. Er taumelte nach hinten und wollte gerade ausholen, um mir eine runterzuhauen, als ich mit vollem Schwung ausholte und ihm in die Weichteile trat. Er schrie auf vor Schmerz und seine Raserei steigerte sich von Minute zu Minute mehr. Ich beschloss, nicht noch länger hier blöd rumzustehen und ergriff die Flucht. Doch ich war nicht weit gekommen, da packte er mich brutal an den Haaren und brachte mich somit zum Stehen. Nun war ich diejenige, die qualvoll aufschrie und mir brannten dicke, nasse Tränen in den Augen. Der Schmerz war ungeheuerlich, es fühlte sich beinahe so an, als ob er mir fast alle Haare vom Kopf reißen würde. Er wirbelte mich zu sich herum und nun durchbohrte mich die ungeheure Kraft seines gestörten Blickes. Er schrie:
"Ich schwör' dir bei Gott, du miese Schlampe, dass ich dir dein schönes Genick brechen werde, wenn du so etwas nochmal versuchst! Haben wir uns verstanden?"
Ich antwortete nicht, sondern sah ihn einfach aus hasserfüllten, feuchten Augen an. Er zog noch ein Mal an meinen Haaren und ich stöhnte erschrocken auf.
"Hast du mich verstanden?", wiederholte er mit bedrohlicher Stimme und dieses Mal nickte ich ängstlich.
"Gut, na dann lass' uns mal einen Neuanfang starten..."
Und dann beugte er sich wieder über mich und wollte erneut unter meine Kleider, als er plötzlich von einer schemenhaften Gestalt, die ich nicht erkennen konnte, von mir runter gerissen wurde. Ich erlaubte mir einen tiefen und langen Atemzug, bevor ich mich vollständig erhob und meinen Retter identifizierte. Und was ich dann sah, raubte mir gleich wieder meinen neugewonnenen Atem. Dort stand Shane in seinen stilvollen schwarzen Klamotten, die Schultasche rücksichtslos auf den Boden geworfen und meinen Peiniger am Kragen gepackt. Er schrie wutentbrannt:
"Wie kannst du es wagen, du mieser Wurm?! Ich sollte dir all deine mickrigen Eingeweide herausreißen und sie dir einer nach dem anderen die Kehle runterwürgen!"
Dann hob er ihn hoch und boxte ihm mit voller Kraft ins Gesicht. Ich hörte es ekelhaft knacken und Grant schrie schmerzvoll auf. Ich erschrak und konnte nicht fassen, dass Shane ihm gerade mit beinahe hundertprozentiger Sicherheit den Kiefer gebrochen hatte. Ich sah zu, wie er diesen miesen Feigling mit voller Wucht auf den Boden warf und ihn somit zu vollständiger Bewusstlosigkeit trieb. Ich hielt mir eine Hand vor den Mund und war geschockt und fasziniert zugleich über die Stärke dieses außergewöhnlichen Jungens. Totenstille legte sich über die bereits düstere, enge Straße und das Einzige, was deutlich zu hören war, war mein starkes, unregelmäßiges Atmen, das langsam aber sicher außer Kontrolle zu geraten schien. Ich atmete immer schneller und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich fürchtete, allmählich zu kollabieren. Dann wandte sich Shane mir zu, kam schnellen Schrittes zu mir und fing mich gerade rechtzeitig auf, als ich total unter Schock zusammenbrach. Er stützte mich mit seinen starken Armen und ließ sich ganz langsam und geschickt auf dem Boden nieder. Er hielt mich im Arm und streichelte meine Haare und meine Wange. Er fragte besorgt:
"Alles okay? Bist du verletzt? Hhh..Hat er dir was getan?"
Ich schüttelte traumatisiert den Kopf, unfähig etwas zu erwidern. Er seufzte tief und fügte hinzu:
"Aaahh... Wäre ich doch bloß früher hier gewesen! Gott, ich sollte diesem verdammten Mistkerl den Kopf abreißen!"
Er knurrte und es klang beinahe unmenschlich. Doch ich kümmerte mich nicht darum, sondern legte ihm besänftigend eine Hand auf die glühende Wange und flüsterte:
"Nein, du hast ihn schon bewusstlos geschlagen, das reicht! Was übrigens ziemlich beeindruckend war..."
Ich konnte mir ein schwaches Lächeln abringen, doch sein Ausdruck blieb ernst und besorgt. Da machte ich ihm mal ein Kompliment und dann guckte er bloß mürrisch. Er sah mich aus seinen laubgrünen Augen an und seine Sorge legte sich beinahe wie eine zweite Haut um mich. Ich fuhr ihm durchs Haar und sagte mit nun einer etwas festeren Stimme:
"Hör' auf dir Sorgen zu machen, okay? Mir geht es gut!"
"Gut?", fragte er aufgebracht. "Ist das deine Definition von gut? Du zitterst am ganzen Körper, du warst gerade kurz davor zu hyperventilieren und diesem Scheißkerl hast du es vermutlich auch noch zu verdanken, dass du ein lebenslanges Trauma erleidest! Und du behauptest, dir ginge es gut?"
Ich zuckte zusammen und er bemerkte, dass er mich ein wenig eingeschüchtert hatte. Er sah mich entschuldigend an und drückte mich noch einmal fest an seine warme, bequeme Brust. Ich schmiegte mich an ihn und empfing die wohlige Hitze seines Körpers mit Freuden.
"Danke, dass du mich gerettet hast..! Ich möchte nicht wissen, was passiert wäre, wärest du nicht gekommen...", hauchte ich ihm in seine schwarze Lederjacke. Er fasste mir behutsam in die zerstreuten Haare und versuchte sie ein wenig zu glätten, indem er über meinen Kopf streichelte. Ich seufzte erleichtert. Dann erwiderte er mit leicht bebender Stimme:
"Ich auch nicht..!"
Ich bemerkte, dass er immer noch aufgebracht war, deswegen strich ich ihm sanft über die steinerne Brust und sah ihm ins Gesicht. Mein Blick wurde erneut verschleiert durch die drohenden Tränen und ich sagte mit zittriger Stimme:
"Bringst du mich bitte nach Hause?"
Er nickte sofort und legte seine beiden Arme um meinen kleinen, zierlichen Körper und hob mich hoch. Er ging noch kurz rüber zu seiner Tasche, bückte sich und ich hob sie hoch. Dann würdigten wir den verletzten Grant, der nach wie vor bewusstlos am Boden lag, keines weiteren Blickes mehr und Shane trug mich in Richtung Zuhause.
Kapitel 7
Er trug mich immer noch, als wir in meine Straße einbogen. Ich war verwundert über seine Kraft und Ausdauer, der Weg zu meinem Haus war nicht gerade kurz gewesen und er war noch nicht einmal außer Atem. Er trug mich, als wäre ich eine Feder, dabei brachte ich aber gute fünfzig Kilo auf die Waage. Als ich mir allmählich dumm dabei vorkam, von ihm getragen zu werden, anstatt selber zu laufen, protestierte ich:
"Weißt du, ich glaube, ich kann auch selber laufen. Schließlich hat er mir nur am Kopf ein wenig weh getan und nicht an den Beinen! Also lass mich jetzt bitte runter!"
Er sah mich besorgt an und fragte verunsichert:
"Bist du sicher?"
Ich nickte felsenfest überzeugt und dann stellte er mich nach langem Zögern widerwillig auf die Beine. Ich dankte ihm und hielt mich noch kurz an ihm fest, als mich ein leichter Schwindel überkam. Als er meinen nicht allzu sanften Griff an seinem Arm verspürte, fragte er:
"Alles in Ordnung?"
Ich musste ihm ja nicht unbedingt die Wahrheit sagen, sonst würde er noch einen riesen Hehl draus machen und darauf bestehen, mich erneut zu tragen. Somit ließ ich ihn schnell wieder los, nachdem meine Beine etwas sicheren Stand auf dem Bürgersteig gefunden hatten. Ich tätschelte ihm behutsam den Arm und erwiderte:
"Alles okay! Mein Gott, du führst dich ja so auf, als hättest du es hier mit einer Sterbenskranken zu tun... Ich habe höchstens einen kleinen Schock erlitten, mehr nicht! Und du tust so, als ob ich jetzt nie wieder ein normales Leben führen könnte."
Er ließ kurz den Kopf hängen und ich musste zugeben, dass ich ihm vielleicht etwas dankbarer entgegen kommen sollte, doch ich hatte nicht Unrecht mit dem, was ich gesagt hatte. Er war etwas zu fürsorglich. Aber ich war trotzdem überaus froh, dass er rechtzeitig gekommen war, bevor dieser Mistkerl von Shielden mir noch schlimmeres zufügen konnte. Somit nahm ich ihn in den Arm, wofür ich mich auf die Zehenspitzen stellen musste, da ich ihm gerade mal bis zur Brust reichte und spürte, wie er überrascht zusammenzuckte. Ich flüsterte an seinem Ohr:
"Danke nochmal, dass du mich gerettet hast... Ich weiß es wirklich zu schätzen!"
Er erwiderte die Umarmung und streichelte über meine Haare. Er erwiderte:
"Jederzeit! Du kannst immer zu mir kommen, wenn du Hilfe benötigst."
Ich löste die Umarmung zaghaft und sah ihm in die Augen. Ich nickte ihm dankbar und auch etwas verlegen zu und bedankte mich nochmals. Dann wollte ich gerade gehen, als er mich noch ein Mal zurückhielt und fragte:
"Soll ich dich nicht besser noch nach Hause begleiten?"
Ich lachte und antwortete:
"Shane, es sind nur noch knapp hundert Meter! Ich glaube, die schaff ich auch alleine."
Ich zwinkerte ihm grinsend zu und sagte zum Abschied:
"Wir sehen uns morgen in der Schule, okay?"
Dann schlenderte ich nach Hause.
Als ich erschöpft die Haustür aufdrückte und in die Eingangshalle trat, rief ich noch nicht ein Mal mein alltägliches "Hallo", sondern lief sofort in mein Zimmer. Ich würde meinen Hintern darauf verwetten, dass meinem Bruder meine Abwesenheit noch nicht ein Mal aufgefallen war. Ich ließ mich total fertig auf mein Bett fallen und atmete heftig ein und aus und meine Gedanken schweiften erneut zu Shane. Er wollte mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gehen. Wie er so dagestanden hatte, Grant am Kragen gepackt, als sei das garnichts. Er hatte wie einer dieser vielen Filmhelden ausgesehen, nur für meinen Geschmack noch viel besser. Aber eigentlich war er ja auch ein Held, denn ich hätte vermutlich keine Kraft mehr aufbringen können, um mich selbst gegen dieses Ekelpaket zu wehren. Ich konnte einfach nicht fassen, dass ich wirklich gerade von Shane schwärmte, aber ich konnte auch nicht weiter so tun, als ob ich mich nicht zu ihm hingezogen fühlte. Denn das tat ich, und wie. Aber ich war einfach angesichts seiner Vertrauenswürdigkeit so unsicher. Und auch wenn er offensichtliches Interesse an mir zeigte, es sei denn, es war wirklich bloß ein fieser Plan von Brenda, was ich mittlerweile ernsthaft bezweifelte, konnte ich ihm einfach nicht das Gleiche entgegenbringen. Ich zierte mich einfach davor und ich hatte keine Ahnung, warum. Jedes Mädchen würde mir bei so einem Kerl wie Shane raten, sofort zuzugreifen und es war ja auch nicht so, als ob ich es nicht wollte, aber irgendwie ging es nicht. Ich hatte so ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube, so als ob mir Shane etwas verheimlichen würde. Aber wie konnte ich bloß über eine Person richten, die ich gerade mal ein paar Tage kannte? Aber da stellte sich auch die Frage: Wie konnte Shane mir solches Vertrauen und solches Interesse entgegenbringen, wenn er mich auch erst bloß seit kurzer Zeit kannte? Ich war total verwirrt und konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen, da fiel mir ein, dass ich ja eigentlich noch den schwarzen Wolf besuchen gehen wollte. Über den ganzen Trubel und die ganze Aufregung hinweg, hatte ich das total vergessen, somit stand ich auf, zog mir anstelle meiner weißen Bluse einen dunkelblauen Pullover an und machte mich auf den Weg in den Wald.
Ich stand ungeduldig wieder an der gleichen Stelle wie am Tag zuvor und sah mich erwartungsvoll in der Umgebung um, aber der schwarze Wolf schien nicht auftauchen zu wollen. Ich ließ mich auf dem Baumstammstumpf nieder, stützte meinen Kopf in die Hände und wartete. Als das Rauschen der Blätter und die beruhigende Stille des Waldes über mich kamen, fielen mir beinahe die Augen zu und ich merkte, wie erschöpft ich eigentlich war. Somit ließ ich mir von der Musik der Natur ein Schlaflied singen und schloss die Augen. Ich merkte wie ein innerer Frieden mich überkam und der ganze Stress, die ganze Aufregung und Anspannung des Tages von mir abfielen und mein Kopf leer wurde. Kein einziger Gedanke, der mehr in meinem Kopf herumstöberte und mich wachhielt. Ich döste einfach bloß in ein Nickerchen und kümmerte mich nicht mehr um meine Umgebung, sie war mir lediglich egal. Ich versank jetzt einfach bloß in meinen Träumen.
Er schlich sich ganz leise und behutsam an die schlafende Rina heran und betrachtete ihr schneeweißes Gesicht. Sie musste wohl wirklich sehr erschöpft sein. Ob er sie aufwecken sollte? Dieser Wald war nicht wirklich der richtige Ort, um ein Nickerchen zu halten. Doch dann entschied er, dass es wohl besser war, sie etwas schlafen zu lassen, sie musste ein wenig zu Kräften kommen. Und er fand, dass sie ausnahmsweise mal nicht mürrisch aussah. Sie hatte sonst immer diese Trauer in den Augen und eine gewisse Wut in den Gesichtszügen, es war mal eine schöne Abwechslung sie so still und friedlich zu sehen. Er legte sich langsam neben sie und begutachtete sie eingehend: Ihre langen, gewellten, braunroten Haare, die in den Schatten der Bäume blutrot schienen, ihre vollen, tiefroten Lippen, die zu einem Kuss einluden, die leicht rosigen Wangen, die in dem bleichen Antlitz herausstachen und ihn verzückten. Sie war wahrlich wunderschön und er konnte nicht länger verleugnen, dass er sie begehrte. Nicht allein wegen ihrer Schönheit, sondern auch wegen ihres Charakters. Auch wenn sie so viel Schmerz und Zorn in sich zu tragen schien und ihn immer von sich stieß, so wusste er doch, dass sie einen Grund dazu hatte, doch den genauen Grund nicht zu wissen, machte ihn schier wahnsinnig. Sie war keine schlechte Person, auch wenn sie abweisend und beinahe dauerhaft zornig wirkte. Sie war einfach verschlossen und hatte Schwierigkeiten ihren Mitmenschen zu vertrauen, was man auch irgendwie nachvollziehen konnte, wenn man sich ihre Mitmenschen mal genauer ansah. Aber er hatte jetzt schon so oft versucht, ihr klar zu machen, dass es in Ordnung war, ihm zu vertrauen, dass er allmählich zu der Schlussfolgerung gekommen war, dass sie vielleicht garnicht mehr im Stande war, zu vertrauen. Aus welchem Grund auch immer, er hoffte ihn irgendwann zu erfahren. Er wusste, dass diese abweisende Art nur eine Fassade war, um sich zu schützen, denn als er das erste Mal in Wolfsgestalt vor ihr erschienen war, hatte sie so anders gewirkt. Irgendwie... verletzlich und schüchtern. Und wenn er ihr als Mensch gegenübertrat, hatte sie gleich wieder die Mauer vor sich aufgebaut und wehrte ihn ab, ließ ihn nicht an sie heran. Doch er würde herausfinden, wovor sie solche Angst hatte und versuchen, ihr die Angst zu nehmen. Als Rina sich plötzlich zur Seite drehte und mit ihrer Hand gegen seine Pfote stieß, verzerrte sie kurz verwirrt das Gesicht, doch sie wachte nicht auf. Sie seufzte ganz kurz auf und fing sogar an im Schlaf zu sprechen. Sie murmelte irgendetwas Unverständliches, doch als er sein Ohr näher an ihren Mund hielt, erschrak er. Sie flüsterte seinen Namen: Shane.
Da dachte ich, ich wäre meinen Gedanken entkommen und dann träumte ich von Shane. Eigentlich war mein Plan gewesen, nicht mehr an ihn zu denken und vor ihm zu fliehen, doch anscheinend sah mein Unterbewusstsein das ein wenig anders. Naja, ich konnte mich eigentlich nicht beschweren, der Traum war, ehrlich gesagt, ziemlich toll. Shane und ich saßen auf einer Wiese im Wald, umringt von Blumen. Der Wind strich uns über das Gesicht und wirbelte unsere Haare auf. Sein Kopf lag auf meinem Schoß und ich streichelte seine schwarzen, geschmeidigen Haare. Er sah mir tief in die Augen und lächelte mich an, ich lächelte zurück. Ich fühlte mich so glücklich und erleichtert in dem Moment, so friedlich, so... geliebt. Mein Herz raste wie verrückt und ich hatte Schmetterlinge im Bauch, nein, keine Schmetterlinge, es waren Bienen. Sie waren nicht unangenehm, aber auch nicht wirklich angenehm. Es fühlte sich beinahe wie ein Adrenalinstoß an, bloß besser. Dieses merkwürdige, fremde Glücksgefühl floss durch meine Adern und endete an meinem Herzen, welches es erneut zurück in meinen Körper pumpte. Und somit war es ein nicht endender Kreislauf, der zugleich aufregend und berauschend war. Ich fühlte mich so gut wie seit langem nicht mehr und genoss den Moment in vollen Zügen. Doch auf ein Mal fing Shane an zu verschwinden. Nein, er verschwand nicht, er verwandelte sich. Seine Gestalt begann sich zu verändern, und aus einem Menschenkörper wurde die Gestalt eines Wolfes. Eines schwarzen Wolfes. Es war der Wolf, den ich im Wald zu treffen gehofft hatte. Aber warum hatte Shane sich in diesen Wolf verwandelt? Sollte das irgendein Zeichen oder eine Nachricht meines Unterbewusstseins sein? Dass ich Shane tief in meinem Herzen mit dem schwarzen Wolf gleichsetzte und ich ihm in Wirklichkeit vertraute? Oder vielleicht vertrauen sollte? Noch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, wachte ich auf und fühlte das feuchte Laub unter mir. Ich war doch nicht allen Ernstes hier im Wald eingeschlafen, oder etwa doch? Ich öffnete langsam die Augen und blickte anschließend in grüne, animalische Augen, die mich neugierig beobachteten. Ich schrak auf und der schwarze Wolf, der die ganze Zeit neben mir gelegen hatte, setzte sich verwirrt auf alle vier Pfoten. Ich atmete heftig und versuchte mich zu beruhigen.
"Du meine Güte, hast du mich aber erschreckt!", sagte ich völlig außer Atem. Der Wolf legte den Kopf schief und trat langsam an mich heran, um seinen großen, flauschigen Kopf an meiner Schulter entlang zu schmiegen. Ich lachte und sagte daraufhin:
"Keine Sorge, ich verzeihe dir!"
Dann leckte er mir zufrieden über die Wange und ließ sich erneut neben mir nieder. Ich streichelte sein Fell und legte mich erneut hin, den Kopf auf seinem Rücken abgestützt. Es überraschte mich noch immer, dass dieser Wolf absolut nichts unternahm, um mich abzuwehren, anscheinend war er felsenfest davon überzeugt, dass ich keine Gefahr für ihn darstellte. Naja, tat ich ja auch nicht, einerseits weil ich ihm ganz und garnichts antun wollte und andererseits hätte ich auch gar keine Chance gegen ihn gehabt. Aber ich war froh, dass er mir vertraute und mich so nah an ihn heranließ. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass viele wilde Wölfe das tun würden. Ich atmete langsam ein und aus und mein Herzschlag nahm den Takt meiner Atmung an. Ich war wieder völlig ruhig und friedlich, hier im Wald in Gegenwart des Wolfes, meines Wolfes, fand ich einfach eine Stille und Ruhe, die ich sonst nirgendwo fand. Dieser Ort war etwas Besonderes, hierhin würde ich höchstens Gabriel mit hinnehmen, ich glaubte, noch nicht ein Mal Romy, was einbisschen kaltherzig klang, aber ich war ja auch nicht als wirklich gutherzig bekannt. Aber sie nahm einfach keinen so hohen Status wie Gabe in meinem Leben ein. Da kam mir die Frage in den Kopf, ob ich Shane auch mit hierhin mitnehmen würde und die einzige Antwort, die mir darauf einfiel, war: Ja. Ja, ich würde ihn mit hierhin nehmen, ich glaubte sogar noch eher als Gabriel. Verdammt, wieso dachte ich bloß so darüber, da stimmte doch was nicht. Ich musste dringend mit jemandem darüber sprechen. Da sagte ich einfach so gerade heraus:
"Es gibt da diesen Jungen..."
Der Wolf regte sich unter meinem Kopf und ich wandte ihm meinen Blick zu. Er beäugte mich neugierig. Somit fuhr ich fort:
"Weißt du? Irgendwie ist er total anhänglich und nervig kann er auch sein, aber dann ist er gleichzeitig auch charmant und witzig und intelligent. Und...naja, das darfst du ihm aber unter keinen Umständen sagen, hörst du? Und er ist auch ziemlich gutaussehend. Er hat diese beeindruckenden smaragdgrünen Augen, die meinen irgendwie beängstigend ähnlich sehen, aber was soll's..? Und seine onyxfarbenen Haare, die immer so süß von seinem Kopf abstehen, als wäre er gerade erst aus dem Bett aufgestanden." Ich musste bei dem Gedanken unwillkürlich lachen und der Wolf gab ein ebenso witziges Schnaufen von sich, das ich einfach mal als ein Lachen interpretierte. Ich sah verträumt gen Himmel und konnte den Gedanken an Shane einfach nicht mehr verdrängen und ich glaubte das auch garnicht mehr zu wollen, dazu fühlte es sich viel zu gut an. Und ich lachte seit langem mal wieder so, dass ich es auch wirklich meinte. Ich fuhr fort:
"Weißt du, irgendwie mag ich ihn und, auch wenn das jetzt wirklich verrückt klingt, ich glaube, er mag mich auch. Doch aus irgendeinem total paranoiden Grund habe ich das Gefühl, dass er mir etwas verheimlicht... Was denkst du? Kann ich ihm vertrauen?"
Ich sah meinen tierischen Freund fraglos an und er kam näher an mein Gesicht ran, bückte dann seinen Kopf bis an mein Handgelenk und nahm dann das Ärmelende meines dunklen Pullovers in die Schnauze. Er hob meinen Arm sanft bis zu meiner Augenhöhe hoch und ich erblickte das Armband mit dem Wolfsanhänger, das ich von meinem Vater geschenkt bekommen hatte, wie es ganz unschuldig vor meinem Blick herumbaumelte. Ich sah den Wolf erschrocken an und ich fragte mich, was er mir sagen wollte. Er konnte doch nicht wissen, dass Shane gestern mein Armband wiedergefunden hatte. Nein, es musste etwas anderes sein. Sollte ich mich etwa fragen, was mein Vater mir raten würde? Da war ich ehrlich gesagt überfragt. Ich gab ihm zu verstehen, dass ich seine Antwort nicht wirklich verstand. Er erhob sich zu voller Größe und tippte mit seiner spitzen Schnauze gegen meine Brust. Ich zuckte zusammen. Nein, es war nicht einfach nur die Brust, es war die Stelle des Herzens. Ich fragte verwirrt:
"Ich soll auf mein Herz hören?"
Er nickte heftig und ich bekam ein wenig Zweifel an mir selbst. Ich hatte ihn doch genau deswegen gefragt, ich wusste nicht, was mein Herz mir sagte. Auf diesen Rat hin erwiderte ich:
"Ja, aber genau das ist doch das Problem: Ich weiß nicht, was mein Herz mir sagt. Okay, ja, eigentlich sollte mir die Lösung ohne Probleme in den Sinn kommen... Gutaussehender, süßer und netter Junge zeigt Interesse an paranoidem, total verunsichertem Mädchen. Da sollte die Antwort doch längst auf der Hand liegen, oder nicht? Aber ich weiß echt nicht... Naja, wenn man bedenkt, er ist im Grunde genommen der einzige Mensch in meinem Leben, der auch nur ansatzweise Interesse an mir zeigt. Na gut, da sind auch noch Romy und Gabe, aber Romy ist nicht wirklich die richtige Person, um mit ihr über meine Probleme zu sprechen und Gabe... Tja, zwischen Gabriel und mir ist es auch nicht mehr so wie es ein Mal war. Keine Ahnung, er ist zwar immer noch für mich da, aber irgendwie gibt er mir nicht das Gefühl, als ob er sich wirklich anhören möchte, was ich zu sagen habe. Irgendwie kann ich mich keinem mehr anvertrauen, also wieso sollte ich es bei Shane tun? ... Vermutlich aus dem Grund, dass er mir seinerseits Vertrauen entgegenbringt, deswegen. Es wäre nur fair, ihn mal an mich ranzulassen anstatt ihn immer abzuwimmeln, denn schließlich versucht er wirklich allen Ernstes herauszufinden, was mich bedrückt. Heute hat er mich zum Beispiel auf meinen Bruder angesprochen... Aber ich kann ihm doch nicht sagen, dass Quinn ein schuleschwänzender, alkoholsaufender, drogenrauchender und missratener Teenager ist, was würde das denn für ein Licht auf meine Mutter werfen? Hach, das kann ich nicht, er würde mich bestimmt für assozial halten, oder so..."
Der Wolf schüttelte energisch mit dem Kopf, als würde er diese Annahme verneinen. Ich fragte überrascht:
"Denkst du nicht?"
Er schüttelte erneut sein schweres Haupt, sodass das schwarze Fell in meinem Gesicht kitzelte. Ich lachte und sagte:
"Schon gut, schon gut! Dann eben nicht... Dann denkst du, ist es einen Versuch wert, ihm einen kleinen Vertrauensvorschuss zu geben?"
Der Wolf legte sanft seine Pfote auf meine Wange und mir fiel erst jetzt auf, dass diese fast die Hälfte meines ganzen Gesichts einnahm. Ich erschrak ganz leicht, wich aber nicht zurück, sondern sah ihm in die Augen und lächelte erfreut.
"Ich fasse das einfach mal als ein 'Ja' auf!"
Der Wolf nickte und ich musste lachen. Somit entschloss ich mich dazu, Shane ab jetzt etwas vertrauenswürdiger entgegenzukommen.
Kapitel 8
Nachdem der Wolf sich verabschiedet hatte, kam mir der Gedanke, dass es eigentlich ziemlich doof klang, ihn andauernd bloß "der Wolf" zu nennen. Ich bezweifelte, dass er einen Namen hatte und auch wenn dies der Fall wäre, so könnte er ihn mir nicht mitteilen. Somit entschloss ich, mir selbst einen Namen für ihn auszudenken, etwas das zu ihm passte. Mmhh... er hatte kohlrabenschwarzes Fell und wunderschöne smaragdgrüne Augen, welcher Name würde da zu ihm passen? Vielleicht Emerald? Nein, irgendwie klang das zu mädchenhaft. Vielleicht Nero, was "der Schwarze" bedeutete... Nein, der klang zu düster. Ach, vielleicht fiel mir ja später noch ein passender Name für ihn ein. Ich schlenderte den Waldpfad entlang und war nur noch wenige hundert Meter von der Hauptstraße entfernt, als ich plötzlich wegen eines Raschelns im Gebüsch hochschrak. Ich verharrte kurz und mein Atem beschleunigte sich, während ich auf eine Fortsetzung des Geräusches wartete. Es raschelte erneut und ich stellte fest, dass es von meiner linken kam. Ich ging ein paar Schritte auf den Holunderbusch zu und vernahm dann ein unheimliches Knurren, das so klang, als würde es aus den tiefsten Abgründen der Hölle kommen. Es jagte mir einen unglaublichen Schauer über den Rücken und meine Nackenhaare stellten sich auf, als wollten sie sich gen Himmel strecken. Eine warnende Gänsehaut schüttelte mich und ich sollte wirklich aufhören hier noch weiter blöd rumzustehen. Doch da kam mir eine Vermutung: Vielleicht war es mein Wolf. Doch ich verwarf den Gedanken gleich wieder, denn ich wusste wie sein Knurren klang und es ähnelte diesem noch nicht einmal annähernd. Ich ging ein paar Schritte rückwärts, um nicht zu viel Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, als das Knurren noch ein weiteres Mal einsetzte und diesmal lauter, tiefer und kehliger. Ich blieb vor Angst erstarrt stehen und beäugte den Busch mit Argwohn. Als ich auf ein Mal zwischen den Blättern zwei stechendglühende, eisblaue Augen aufblitzen sah, entfuhr mir ein leiser Aufschrei und das Knurren wurde zu einem Grollen. Okay, das war mein Stichwort: Nun rannte ich wie eine Verrücktgewordene, schreiend wie am Spieß und drehte mich immer wieder angsterfüllt um, ob auch ja niemand aus den Büschen gesprungen kam, um mich zu attackieren. Ich glaubte in meinem Leben noch nie so schnell gerannt zu sein.
Ich kam völlig außer Atem und heftig schnaufend an meiner Haustür an und stützte mich an der Hauswand ab, um wieder zu Atem zu kommen. Ich atmete so schnell und hektisch, dass meine Atmung sich beinahe überschlug. Ich fing allmählich an, mich zu beruhigen und sah mich noch ein letztes Mal misstrauisch in der Umgebung um. Doch weder waren blaue Augen zu sehen, noch ein unheimliches Knurren zu hören. Somit lief ich schleunigst ins Haus und rannte in mein Zimmer, wo ich mich den restlichen Tag nicht mehr hinauswagte. Ich machte nur meine Hausaufgaben, las noch einbisschen in meinem Buch und ging dann schlafen. Mein letzter Gedanke, der mir durch den Kopf ging, war: Versuche Shane zu vertrauen...
Der gestrige Tag erschien mir nur noch sehr vage in Erinnerung und ich hatte Schwierigkeiten, mich an alles zu erinnern. Ich glaubte der Grund dafür war dieses unheimliche Knurren und diese furchteinflößenden blauen Augen. Sie hatten einen merkwürdigen Schock ausgelöst und meinen Verstand vernebelt, aber ich wusste noch, was ich mir vorgenommen hatte: Ich sollte Shane vertrauen. Auch wenn diese merkwürdige Begebenheit gestern nach meinem Treffen mit dem Wolf mich nicht loslassen wollte, so versuchte ich doch mein Bestes, um mich abzulenken. Ich betrat das Schulgebäude und machte noch schnell einen Abstecher an meinen Spind, bevor ich in meine Klasse ging. Ich gab den Code ein, drehte am Türknauf und nahm mein Geschichtsbuch heraus, das ich für die zweite Stunde brauchen würde. Als ich plötzlich leise Schritte hinter mir hörte, fing mein Herz schneller an zu pochen und meine Nackenhaare stellten sich auf. Irgendwie hatte ich ein ganz merkwürdiges Gefühl in der Magengrube. Ich wagte noch nicht einmal mich umzudrehen, so versteinert war ich. Doch gleich darauf schalt ich mich einen Angsthasen und schlug, die Angst von mir abschüttelnd, die Spindtür zu. Wer auch immer nur einige Meter hinter mir stand, wollte ganz bestimmt nicht zu mir. Somit drehte ich mich selbstbewusst um und ignorierte meine anhaltende Gänsehaut. Als ich den Kopf hob und mich zwei eisblaue, glühende Augen durchbohrten, ließ ich vor Schreck meine Bücher fallen. Vor mir stand ein großer, breitgebauter Mann, den ich Mitte dreißig schätzen würde, wie er mich neugierig musterte und sich nun langsam zum Boden hinunterbeugte, um meine Bücher aufzuheben. Ich stand nach wie vor regungslos da und kam mir einbisschen unhöflich vor, da ich keine Anstalten machte, ihm zu helfen. Aber diese Augen... Wieso kamen sie mir so bekannt vor? Wo hatte ich sie schon mal gesehen? Der Mann stellte sich vor mich und hielt mir mit einem freundlichen Lächeln meine Bücher vor die Nase. Er wirkte gleichzeitig unglaublich nett und unglaublich angsteinflößend. Dieses übertriebene Grinsen wirkte aufgesetzt und ich würde wetten, dass es das auch war. Aber das, was mir sofort an ihm auffiel, abgesehen von seinen Augen, das war eine recht große Narbe, die sich genau durch seine rechte Augenbraue zog und bis zur Mitte seiner Wange verlief. Sie sah noch nicht besonders alt aus, sie war noch rosarot und wulstig. Ich zwang mich, sie nicht anzustarren und griff mir stattdessen meine Bücher. Als ich gerade ansetzen wollte, um zu gehen, sagte er:
"Verzeihen Sie, dass ich Sie erschreckt habe. Ich wollte mich nicht an sie heranschleichen."
Ich sah wieder hoch und wagte kaum, ihm in die Augen zu schauen. Der Klang seiner Stimme brachte mich zum Frösteln, so als würde er Eispartikel durch meine Adern fließen lassen. Irgendwie wirkte alles an ihm kalt. Doch ich erwiderte:
"Oh, das macht doch nichts. Ich bin in letzter Zeit nur einbisschen schreckhaft, das ist alles. Danke für das Aufheben meiner Bücher."
Er nickte und sah mir dabei fest in die Augen, als würde er etwas darin suchen. Ich zuckte unwillkürlich zusammen und ich war mir sicher, dass er es bemerkt hatte, denn ich erhaschte ein kurzes Zucken seines Mundwinkels. Dann sprach er seelenruhig weiter:
"Der Grund, warum ich mich überhaupt an sie herangeschlichen habe, ist der, dass ich fragen wollte, wo sich der Nordflügel befindet. Ich kann ihn nämlich nicht finden."
Ich stutzte und antwortete leicht irritiert:
"Ähm, Sie befinden sich gerade im Flur des Nordflügels."
Er sah kein bisschen überrascht aus, so als hätte er das bereits gewusst und als hätte er mir diese Frage nur gestellt, um mir irgendeine Frage stellen zu können. Dann sagte er noch kurz:
"Ach so, was bin ich aber für ein Tollpatsch! Danke für ihre Hilfe, Miss...?"
"Felten. Mein Name ist Rina Felten.", sagte ich höflich.
Nun machte er einen übertrieben erstaunten Gesichtsausdruck, der mich innerlich die Augen verdrehen ließ. Dann erklärte er:
"Felten? Warum kommt mir dieser Name so bekannt vor? Mmmhh... Sie sind nicht zufällig mit Darius Felten verwandt, oder?"
Ich erschrak und sah ihn verwundert an. Dann antwortete ich:
"Woher kennen Sie meinen Vater?"
Ein leichtes Aufblitzen in seinen Augen und schon fing er an zu erzählen.
"Ach, wissen Sie..? Das ist eine recht interessante Geschichte. Ihr Vater und ich..."
"Rina!"
Shanes Ruf hallte durch den leeren Flur und mein Gegenüber zuckte fast unmerklich zusammen. Als ich meinen Blick Shane zuwandte, der ein wenig gestresst wirkte, hörte ich noch ein kurzes "Ich muss jetzt gehen!" von meinem Gesprächspartner und schon war er um die Ecke verschwunden.
Wow, der hatte es vielleicht eilig, dachte ich misstrauisch und sah ihm noch kurz hinterher. Woher er wohl meinen Vater kannte? Als Shane mich erreicht hatte, fragte er mit leicht bebender Stimme:
"Wer war das?"
Ich sah ihm ins Gesicht und bemerkte die tiefen Furschen auf seiner Stirn. Dann sagte ich:
"Ganz ehrlich? Ich habe keine Ahnung! Das Einzige, was ich weiß, ist, dass dieser Typ ziemlich merkwürdig war..."
Shane wandte seinen starren Blick nun von der Ecke, an der der Mann blitzschnell verschwunden war, auf mich und forschte in meinem Gesicht nach weiteren Antworten. Anschließend hakte er nach:
"Ist das alles? Ist dir sonst nichts aufgefallen?"
Er wirkte ziemlich aufgekratzt und ich fing allmählich an, mir Sorgen zu machen.
"Shane? Ist alles in Ordnung mit dir?"
Er sah mir in die Augen und schien zwischen der Wahrheit und einer Lüge hin und her zu wechseln. Dann erwiderte er:
"Ich bin mir nicht ganz sicher... Irgendwie kam mir dieser Typ bekannt vor, auch wenn ich ihn nur ganz kurz gesehen habe. Kannst du mir sein Aussehen beschreiben?"
Ich sah ihm verwirrt in die Augen und fragte mich, woher er diesen Mann kennen sollte. Doch ich tat ihm den Gefallen und fing an, sein Gesicht zu beschreiben.
"Naja, er hat kein Allerweltsgesicht, das steht jedenfalls fest. Ich schätze ihn vom Alter her auf fünfunddreißig oder so und wenn ich ehrlich bin, wirkte sowohl seine Freundlichkeit als auch sein Lehrerbenehmen vollkommen aufgesetzt. Und er hatte diese stechenden, blauen Augen, die ich irgendwie total angsteinflößend finde. Oh, und eine Narbe..."
"Eine Narbe? Wo? Im Gesicht?", fragte Shane beinahe hysterisch.
Ich zuckte zusammen und erwiderte leicht stotternd:
"Jjja, warum?"
"Wo genau? Du musst mir jetzt genau beschreiben, wo sich die Narbe befindet!", befahl er.
Ich zeichnete mit dem Finger eine Linie in sein Gesicht, die oben an der rechten Augenbraue anfing und in der Mitte seiner Wange aufhörte. Dann sah ich nur noch, wie sich seine Augen vor Schreck weit öffneten und er mich einbisschen zu fest am Handgelenk packte. Ich fragte leicht verängstigt:
"Was..was ist denn los? Shane? Bleib doch stehen! Shane!"
Ich riss mich los und sah ihn wütend an. Dann sagte ich:
"Du sagst mir jetzt sofort, was los ist und was es mit diesem Typen auf sich hat, eher bewege ich mich nicht von diesem Fleck!"
Er sah sich nervös um und schien leicht mit sich zu kämpfen. Dann sagte er:
"Bitte Rina, ich habe jetzt keine Zeit, dir das zu erklären. Aber ich werde es, das verspreche ich dir. Nur müssen wir jetzt schleunigst von diesem Flur verschwinden!"
Ich löste die noch vor kurzem verschränkten Arme und sah ihn besorgt an.
"Wir gehen aber in die Klasse, okay? Ich schwänze nämlich nicht, dass das klar ist!"
Er nickte einverstanden und packte erneut meine Hand, um mit mir dann schnellen Schrittes in die Klasse zu gehen. Ich wehrte mich nicht, auch wenn seine Hand meine beinahe zerdrückte. Als wir endlich am Klassensaal angekommen waren und wir, die gaffenden Blicke ignorierend, unsere Plätze einnahmen, seufzte Shane erleichtert auf und wurde anschließend von meinem fragenden Blick durchbohrt. Er zuckte unter meinen wütenden Augen leicht zusammen und hob abwehrend die Hände. Dann rückte er ganz nah an mich ran, um mir was ins Ohr zu flüstern.
"Rina, ich weiß, du bist wütend! Und du hast auch ein gutes Recht dazu, aber ich werde es dir erklären!"
"Wann? Wann wirst du es mir erklären?", konterte ich aufgebracht und zog somit die Aufmerksamkeit unserer vorderen Banknachbarn auf mich. Ich duckte mich leicht und Shane und ich steckten die Köpfe noch näher zusammen. Als sich unsere Haare berührten und unsere Wangen sich streiften, setzten die Schmetterlinge in meinem Bauch ein und ich brüllte innerlich: Jetzt ist ja wohl kaum der richtige Zeitpunkt für sowas! Dann fuhr er fort:
"Bald! Du musst mir nur vertrauen. Schaffst du das?", fragte er mit sanfter Stimme.
Ich wusste nicht recht, was ich darauf antworten sollte. Er hatte mich an diesem Punkt voll getroffen und da ich mir ja vorgenommen hatte, ihm mehr zu vertrauen, so schwer es mir auch fiel, nickte ich widerwillig und gab mich geschlagen. Irgendwie kam mir das merkwürdig vor, so als hätte er gewusst, dass ich die Klappe halten würde, sobald er diese Worte aussprechen würde. Aber jetzt fing ich ja schon wieder an, ihm zu misstrauen, somit zog ich meine Schachtel aus meiner Schultasche, legte meine Englischbücher parat und kurz darauf trat unser Englischlehrer ein.
Die ganze Englischstunde über konnte ich an nichts anderes mehr denken als an diesen merkwürdigen, fremden Mann und an das, was Shane mir von seinem Wissen vorenthielt. Ich war neugierig und konnte es nicht erwarten, zu erfahren, was er wusste. Aber vielleicht würde ich nicht mehr so denken, sobald ich die Wahrheit erfahren hatte. Ich war mir nicht ganz sicher, aber ich hatte irgendwie im Gefühl, dass es mit diesem Mann nichts Gutes auf sich hatte. Ich hatte ein mulmiges Bauchgefühl und für gewöhnlich lag ich mit meinen Vermutungen richtig. Plötzlich wurde ich sanft in die Seite gestoßen und ich bemerkte, wie Shane etwas auf mein Arbeitsblatt kritzelte. Dort stand in geschwungener Handschrift: "Nach der Schule im Hof?" Ich nickte und er nickte zurück. Als es klingelte und ich mich mühsam erhob, weil ich ziemlich träge und müde war wegen meiner unruhigen Träume von letzter Nacht, drückte ich mich an Shane vorbei, der noch am Einpacken war. Er sagte, als sich unsere Körper berührten: "Wir sehen uns nach der Schule..."
Ich errötete und machte mich schleunigst aus dem Staub. Als ich mich auf den Weg in den Geschichtssaal machte und den noch leeren Raum betrat, setzte ich mich mal sofort in die hinterste Bank und wartete darauf, dass der Unterricht begann. Der Raum begann sich zu füllen, doch noch immer war keine Spur von dem neuen Geschichtslehrer. Wir warteten ganze fünfzehn Minuten bis ich das Öffnen der quietschenden Tür hörte und ich vor Schreck fast vom Stuhl fiel. Da stand doch allen Ernstes dieser merkwürdige, fremde Mann von heute Morgen vor der Tafel. Seine Haare standen etwas wirrer als beim letzten Mal, als ich ihn gesehen hatte, doch sonst sah er haargenau so aus. Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass er es war. Als ich mich wieder einigermaßen zusammengerissen hatte, wurde ich erneut fast vom Stuhl geworfen, als mir dieser neue Geschichtslehrer doch wirklich ein hämisches Grinsen zuwarf. Mein Gott, was wollte der von mir? Hatte der nicht mehr alle Tassen im Schrank?, dachte ich schockiert.
Anfangs dachte ich noch, ich hätte es mir bloß eingebildet, doch als dieses dämliche Grinsen auch nach zehn Sekunden nicht aus seinem Gesicht gewichen war und seine eisblauen, furchteinflößenden Augen mich immer noch fixierten, bestand kein Zweifel mehr: Dieser Mann führte was im Schilde und irgendetwas sagte mir, dass er kein Geschichtslehrer war. Als er endlich von mir abließ, nahm er Platz an seinem Pult und zog die Liste mit unseren Namen aus dem Klassenbuch. Dann fing er an die Namen alphabetisch aufzusagen. Mein Name kam noch recht am Anfang, da ich ja mit Nachnamen 'Felten' hieß und streckte somit die Hand aus, als er meinen Namen in einem sehr besorgniserregenden Ton sagte. Ich zuckte leicht unter seinem kalten Blick zusammen und irgendwie schien nur mir diese merkwürdige Art und Weise von ihm, mich anzuschauen, aufzufallen. Ich wandte den Blick ab und versuchte so gut es ging für den Rest der Stunde meine mentale Anwesenheit im Klassensaal zu reduzieren. Ich hörte so gut wie garnicht zu, was er zu sagen hatte und ich schrieb nur das mit, was er an die Tafel schrieb. Dieser Mann war mir sowas von unheimlich und unsympathisch. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien ich die Einzige zu sein, die dieser Meinung war, denn die anderen amüsierten sich köstlich über das, was er sagte und ich konnte mir keinen Reim darauf machen, da es sich in dieser Schulstunde ziemlich sicher um Geschichte handelte. Somit entschied ich, einbisschen zuzuhören und musste feststellen, dass er seinen Unterricht ziemlich interessant und witzig gestaltete. Doch das änderte rein garnichts an meiner Meinung über ihn. Wir redeten gerade über die Renaissance und den Humanismus. Er sprach von den Universalgenies und nahm als Beispiel Leonardo da Vinci. Es war interessant und deshalb hörte ich jetzt auch besser zu, auch wenn ich mit den Gedanken öfters abschweifte. Mein Verstand füllte sich jetzt mit Vorahnungen über das, was Shane wohl nach der Schule vorhatte. Vermutlich würde er mir das sagen, was er über den merkwürdigen Mann alias mein neuer Geschichtslehrer wusste, so wie er es versprochen hatte, doch aus irgendeinem absurden Grund dachte ich etwas abwegiger. Ich stellte mir vor, wie er mit mir im Wald spazieren ging und ich fragte mich, wie ich auf so einen Schwachsinn kam. Plötzlich hörte ich, wie mein Name gerufen wurde und ich wurde total aus meinem Tagtraum gerissen. Ich blickte auf und bemerkte den strengen Blick meines Geschichtslehrers. Ich fragte:
"Ja, Mister...?"
Ja, wie hieß er eigentlich? Hatte er sich überhaupt vorgestellt? Er beäugte mich misstrauisch und fing an, ungeduldig mit dem rechten Fuß auf den Boden zu tippen, als würde er auf etwas warten. Ich warf ihm nur solange einen ahnungslosen Blick zu, bis er seine Worte wiederholte.
"Miss Felten, ich habe ihnen eine Frage gestellt! Was war die Hauptveränderung in der Renaissance, was macht diese Zeitepoche überhaupt aus?"
Ich setzte mich etwas gerader auf den Stuhl und rieb mir durch die Augen, um meine Müdigkeit abzuschütteln und antwortete dann gelassen:
"Mmmhh, die Hauptveränderung in der Renaissance..? Nun, was die Renaissance ausmacht ist ja wohl ganz klar die Tatsache, dass der Mensch in den Mittelpunkt des Geschehens rückt. Er ist nun Zentrum von allem, Zentrum der Kunst, Zentrum in der Wissenschaft. Ja, jetzt interessieren die Menschen sich erst einmal für die Wissenschaft und die Mathematik." Es war ganz leise in der Klasse geworden, niemand gab mehr einen Mucks von sich und mein Geschichtslehrer horchte gespannt auf, somit fuhr ich fort:
"Es ist offensichtlich, dass die Kirche und im Großen und Ganzen die Religion in den Hintergrund rücken und der Mensch nun anfängt, seinen Verstand zu benutzen. Im Mittelalter war es genau das Gegenteil gewesen: Die Menschen glaubten alles, was die Kirche und die Heiligen ihnen verklickerten und sie zweifelten nie auch nur ein einziges Wort an, das in der Bibel stand. In der Renaissance denkt der Mensch, er forscht und entdeckt. Und ich bin der Meinung, dass diese Epoche die prägendste von allen war, da unsere heutige Gesellschaft wohl kaum den gleichen Status und das gleiche Niveaux hätte, wie den, den sie hat, als wenn die Renaissance nicht gewesen wäre."
Totenstille. Jetzt fehlte nur noch das Grillenzirpen. Meine Mitschüler sahen mich noch erstaunter an als mein Lehrer, dessen Blick jetzt bewundernd und überrascht auf mir liegen blieb. Irgendwie fühlte ich mich ziemlich beleidigt, da meine ganze Klasse so überrascht reagiert hatte, doch ich ließ mir nichts anmerken und blickte alle nur unschuldig an. Dann sagte mein Geschichtslehrer:
"Sehr gut, Miss Felten. Das war eine außerordentlich zutreffende Antwort und Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. In der Renaissance geht es um den Menschen und nur um den Menschen. Daher auch der Begriff 'Humanismus', von 'human' der Mensch. Auch stimmt es, dass im Mittelalter..." Driiing! Die Schulklingel unterbrach ihn und ich atmete erleichtert auf. Ich packte meinen Schulkram zusammen und stürmte so schnell aus der Klasse, dass mein unheimlicher Geschichtslehrer überhaupt nicht die Chance bekam, um noch irgendetwas zu sagen.
Ich trat auf den Flur, wo sich nun zahlreiche Schüler versammelten, um in die Pause zu gehen. Ich drückte mich durch die großen Menschentrauben und machte mich auf den Weg zum Stammplatz von Romy, Gabe und mir. Als ich mich auf die noch leere Bank setzte und mir wegen der herrschenden Kälte die Hände rieb, wartete ich geduldig auf meine Freunde. Ich begutachtete mein Umfeld und die Menschen, die an mir vorbeizogen. Als ich einen kurzen Blick nach draußen auf den Hinterhof warf, wo mein Bruder für gewöhnlich mit seinen unbeliebten 'Freunden' stand, sah ich, dass sich Grant Shielden nicht unter ihnen befand und das bereitete mir ein wenig Sorgen. Was wohl nach diesem kleinen Zwischenfall von neulich mit ihm passiert war? Ich befürchtete das Schlimmste und als ich gerade aufstehen wollte, um mich nach draußen zu begeben, um Quinn nach ihm zu fragen, stieß ich mit jemandem unsanft zusammen.
"Oh, Verzeihung, das war nicht meine Absicht..."
Ich sah auf, um zu sehen, in wen ich gerannt war, als ich in das hämische und, ach du meine Güte, Blutergussübersäte Gesicht von Grant Shielden schaute. Er hatte überall blaue und violette Flecken am Kinn und am Kiefer und ein weißer Verband war um seine Hand gewickelt, dessen Haut wohl aufgeschürft worden war, als Shane ihn zu Boden geworfen hatte. Ich schnappte nach Luft und versuchte meine plötzlich aufkommende Angst zu unterdrücken, doch mir schossen augenblicklich wieder die traumatisierenden Bilder von dem schrecklichen Ereignis in den Kopf und meine Atmung fing an, sich unwillkürlich zu beschleunigen. Als ich auch weiterhin ohne jegliche Bewegung an meiner Stelle verharrte, den dicken Kloß im Hals hinunterschluckend, sah ich plötzlich einen Glanz der Angst und des Schreckens in seinen Augen leuchten und er fing an, sich beunruhigt und nervös in seiner Umgebung umzuschauen. Dann erwiderte er mit leicht zitternder Stimme:
"Ach, das macht doch nichts... Absolut gar kein Problem, Rina, ich ... Ich muss los!"
Er lächelte schüchtern und unsicher und entblößte dabei gelbe Zähne. Ich lächelte nicht zurück, sondern stand bloß da mit überraschtem Blick und überlegte, ob er sich über mich lustig machte. Doch als er sich dann auch noch, von der Angst gepackt, hastig an mir vorbeidrängte, um seinen Weg fortzuführen, sah ich ihm noch einmal kurz nach, um sicher zu gehen, dass er mich auch wirklich in Ruhe ließ. Und auch jetzt noch sah er sich paranoid und nervös in der Gegend um. Wow, Shane musste ihm wohl wirklich heftig zugesetzt haben. Er war es wohl nicht gewohnt, für seine Taten bestraft zu werden. Wenigstens hatte ich nicht den Eindruck, als würde er mir folgen. Somit atmete ich wieder etwas ruhiger und regelmäßiger und meine Muskeln entspannten sich wieder. Als ich in den Flur des Südflügels einbog, etwas enttäuscht darüber, weder Romy noch Gabe in der Pause gesehen zu haben, fiel mir auf, dass sich keine Menschenseele im dunklen Korridor befand. Ich suchte nach einem Lichtschalter an der Mauer, da der lange Flur mir im Dunkeln doch etwas gespenstisch erschien, doch auch nach etlichem Tasten an der kratzenden Fassade konnte ich nichts finden. Naja, was soll's, dachte ich. Durch die kleinen Fenster drang einbisschen Sonnenlicht, das sollte genügen. Ich ging etwas unruhig über den mit Fliesen belegten Gang entlang und versuchte so geräuschlos wie möglich zu sein. Als ich auf ein Mal das leise Quietschen einer Tür nicht weit entfernt vernahm, beschleunigte sich mein Herzschlag und meine Atmung holperte ein wenig. Ich riet mir selbst, jetzt nicht unnötig zu panikieren, denn schließlich war dies hier eine Schule und die wurde bekanntermaßen von mehr als nur einem Schüler besucht. Jedoch beschleunigten sich meine Schritte automatisch und ich verspürte eine unkontrollierbare Erleichterung, als die Ausgangstür immer näher kam. Ich hatte es gleich geschafft, nur noch ein paar Schritte und ich würde einen weniger unheimlichen Ort betreten, wo dieser stetige Klang von stampfenden Schritten mich nicht mehr verfolgen würde. Gleich würde ich in Sicherheit sein... Ich wollte gerade den letzten Schritt zur Tür machen, als mich eine warme Hand am Unterarm packte und ich wie am Spieß zu schreien anfing. Ich riss mich aus dem Griff meines Verfolgers und schrie:
"Lass mich los! Lass mich los, du Irrer!"
Als ich unsanft herumgeschleudert wurde und gerade zu einer Ohrfeige ansetzen wollte, wurde ich an den Schultern festgehalten. Eine sanfte, mir sehr bekannte männliche Stimme redete laut auf mich ein:
"Verdammt Rina, beruhige dich! Ich bin's doch bloß, Gabe!"
Anfangs war ich so damit beschäftigt gewesen, mich von ihm loszureißen, dass ich ganz vergessen hatte, aufzuschauen. Doch als ich anfing, mich zu beruhigen und aufhörte wie eine Verrücktgewordene um mich zu schlagen, hob ich den Blick und sah in die sandfarbenen Augen von meinem besten Freund. Ich sah ihn geschockt und zugleich entschuldigend an und als er merkte, dass ich ihm keine Ohrfeige verpassen würde, ließ er mich los. Er sah mir erschrocken in die Augen und fragte:
"Es tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe, aber musstest du gleich so ausflippen?"
Ich atmete heftig und hielt mir, aufgrund meines laut pochenden Herzens, die bebende Brust. Als mein Puls sich einigermaßen beruhigt hatte und ich wieder fähig war, zu sprechen, antwortete ich:
"Es..es tut mir echt leid, Gabe! Ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Für gewöhnlich bin ich nicht so schreckhaft, aber irgendwie ist heute ein total schräger Tag. Naja, eigentlich nicht bloß heute, im Großen und Ganzen die letzten Tage. Ich bin irgendwie total durch den Wind... Tut mir total leid, aber natürlich ist es auch nicht gerade von Vorteil, sich in einem dunklen und leeren Flur an eine Person ranzuschleichen, das solltest du dir nächstes Mal vielleicht überlegen, bevor du jemanden am Unterarm packst!"
Gabe sah mir entschuldigend in die Augen und erwiderte:
"Du hast Recht, tut mir leid..."
Ich lächelte sanft und sagte:
"Schon gut."
Dann verließen wir gemeinsam den düsteren Flur und traten in einen viel helleren Korridor, so hell, dass ich sogar gezwungen war meine Augen zusammenzukneifen. Gabe und ich gingen nebeneinander her, gelassen und ohne ein Wort zu sagen. Irgendwie fühlte ich mich merkwürdig in seiner Gegenwart, ich konnte das Gefühl nicht definieren, aber irgendetwas war anders. So als hätte ich schon seit einer Ewigkeit nicht mehr mit ihm geredet und so als sei er mir völlig fremd geworden. Was, um ehrlich zu sein, ziemlich besorgniserregend war, da er ja mein bester Freund war. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie er unauffällig zu mir herüberschaute und ich merkte, dass ihm etwas auf der Seele lag. Er schien nicht das erste Wort ergreifen zu wollen, somit tat ich es und fragte ganz beiläufig:
"Und? Gibt es irgendwas Neues?"
Er schien durch meine Frage wie aus allen Wolken gefallen zu sein und zögerte ein wenig mit seiner Antwort. Dann aber nach einigen Augenblicken erwiderte er:
"Ach, du weißt schon, immer das Gleiche... Schule nervt, meine Mutter nervt und die Mädchen lassen mich auch nicht in Ruhe!"
Er lachte sein draufgängerisches Lachen und ich fiel unwillkürlich mit in sein Lachen ein. Dann sagte ich:
"Du tust mir wirklich unendlich leid, Gabe, aber du musst wissen, die Schule nervt jeden, mit der Mutter hat man auch nicht immer leichtes Spiel und die Mädchen... tja, die werden erst dann Ruhe geben, wenn du ihnen das gibst, was sie wollen."
Ich lachte hämisch und Gabriel blieb abrupt stehen. Ich hielt inne und drehte mich zu ihm um. Er sah etwas verdutzt aus und ich dachte schon, ich hätte was falsches gesagt, als er plötzlich in einem absichtlich übertriebenen, ängstlichen Ton sagte:
"Aber..aber, ich bin noch nicht bereit, Vater zu werden..."
Einen Moment herrschte Stille und dann brachen wir beide gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. Er nahm wieder seinen Platz neben mir ein und ich sagte, zwischen Freudenschluchzern hindurch:
"Gabriel Mason Jeffrey, du hast in der Tat eine Vollmaise!"
Er lachte nochmals laut auf und somit schlenderten wir, von den anderen angesehen, als wären wir aus einem Irrenhaus geflohen, zusammen in den Chemiesaal.
Kapitel 9
Gabe und ich nahmen in der zweiten Reihe nebeneinander Platz und packten unsere benötigten Schulutensilien aus. Der Lehrer war noch nicht da und es herrschte ziemlicher Lärm in der Klasse, aber Gabe versuchte so gut es ging, über ihn hinwegzureden.
"Und? Gibt es bei dir irgendwas Neues? Etwas von Shane?"
Er wackelte mit den Augenbrauen und ich stöhnte genervt auf. Dann erwiderte ich:
"Ehrlich gesagt, verbringe ich neuerdings ziemlich viel Zeit mit ihm, auch wenn das größtenteils nur auf dem Grund beruht, dass er mir andauernd hinterherläuft. Naja, aber was soll's... Er ist ziemlich nett und auch witzig und stell dir vor, er ist ein Genie in Physik. Kein Scherz! Ja, eigentlich mag ich ihn ziemlich gerne und ich glaube, er mich auch."
Gabe sah mich mit einem undefinierbaren Blick an und ich hätte nur zu gern gewusst, was in diesem Moment in seinem Kopf vorging. Er sah mir ziemlich lange in die Augen, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Allmählich machte ich mir ein wenig Sorgen, dass ich ihn wegen irgendetwas verärgert haben könnte, doch dann sagte er, als wäre reingarnichts gewesen:
"Ja, ich habe schon gemerkt, dass du in letzter Zeit ziemlich viel mit ihm zusammen bist, du hast dich ja kaum noch bei Romy und mir blicken lassen. Aber wir dachten uns schon, dass Shane dahinterstecken würde..."
Er wollte noch etwas sagen, doch das Eintreten unseres Chemielehrers hielt ihn davon ab und er wandte sich nun endgültig von mir ab. Die ganze Stunde über beachtete er mich nicht mehr und ich kam nicht umhin zu denken, dass er irgendwie sauer auf mich war.
Als das Klingeln das Ende der Chemiestunde ankündigte, erhob sich Gabriel ohne ein Wort des Abschieds und stürmte zur Tür hinaus.
"Nanu? Was war denn jetzt los?", dachte ich verwundert und ich nahm mir vor, ihn bei unserem nächsten Aufeinandertreffen darauf anzusprechen. Ich packte schleppend langsam meine sieben Sachen ein und machte mich auf in die nächste Stunde. Scheiß Mathematik... Das war nun wirklich das Allerletzte, worauf ich Lust hatte. Na, das konnte ja heiter werden. Ich entschied mich, dieses Mal etwas Interesse vorzuheucheln, damit mein Mathematiklehrer glaubte, ich würde mir jetzt erheblich mehr Mühe geben, so wie ich es versprochen hatte. Aber natürlich flogen meine Gedanken wieder ganz woanders umher. Ich konnte einfach nicht anders, als vom eigentlichen Thema abzuschweifen.
Ja, jetzt wo ich so darüber nachdachte, hatten Romy und Gabe in der Tat einen Grund wütend auf mich zu sein. Ich hatte mich jetzt schon ein Weilchen nicht mehr bei ihnen gemeldet und das tat mir auch aufrichtig leid, aber das hatte nicht wirklich was mit Shane zu tun. Er war zwar einer der Gründe, aber es gaben momentan in meinem Leben auch noch andere Dinge, die mich davon abhielten mit meinen Freunden Zeit zu verbringen. Da waren Quinn und meine Mutter, wo ich immer noch keinen Schimmer hatte, wie ich dieses Problem lösen sollte, und Grant Shielden, der sich aber hoffentlich, nun da er von Shane ziemlich runtergeputzt worden war, von mir fern halten würde und dieser merkwürdige Geschichtslehrer, der irgendwie in Verbindung mit meinem Vater stand. Ich schüttelte den Kopf, um meine Gedanken loszuwerden, ein lächerlicher Versuch, meine Sorgen abzuschütteln. Ich warf einen Blick auf die Tafel und versuchte, ein wenig Motivation aufzubringen, um auch nur einer dieser komplizierten, mir total fremden Formeln zu entziffern, doch schon nach einigen Minuten, in denen es in meinem Kopf rumort hatte und nach etlichem Zusammenkneifen meiner Augen gab ich es auf und schloss meine Augen. Ich duckte mich unauffällig hinter meinen vorderen Banknachbarn, damit die Sicht meines Lehrers auf mich versperrt war und konzentrierte mich nur auf meine Atmung. Ein und aus, ein und aus... Ruhe und Frieden durchflutete mich und mir kam der Gedanke, dass ich mich ruhig mal öfters so entspannen könnte, dann hätte ich vielleicht auch weniger Wutausbrüche. Somit fokussierte ich mich komplett auf die Stille in meinem Innern und blendete das Gerede meines Mathelehrers und das Gähnen meines Banknachbarn aus. Ich hatte noch immer die Augen geschlossen und versuchte, mir irgendein Bild ins Gedächtnis zu rufen. Als erstes fiel mir der Wald ein, in dem ich mich immer mit dem schwarzen Wolf traf. Mit dem Ort verband ich nämlich am meisten das Gefühl der Entspanntheit. Dann rief ich mir das Antlitz des Wolfes in den Kopf, wie er hinter den Bäumen hervortrat und schleichend auf mich zu kam. Er kam immer näher, voller freudiger Erwartung, mich wiedersehen zu können. Die ganze Szene in meinem Kopf spielte sich wie von selbst ab, ich brauchte überhaupt nichts mehr zu tun. Es war, als würde ich einen Film in meinen Gedanken anschauen. Doch irgendwie fehlte der Ton, aber das machte nichts. Als der Wolf mich beinahe erreicht hatte und ich bereits die Arme öffnete, um ihn zu empfangen, kam wie aus dem Nichts ein grauer Wolf ihm entgegen gesprungen und griff ihn an. Der fremde grauweiße Wolf stürzte den schwarzen Wolf zu Boden und schnappte mit den Zähnen nach seiner Kehle. Er wusste sich aber zu wehren und stieß ihn mit voller Wucht von sich runter. Sie wollten wieder aufeinander losgehen, als mein angsterfüllter Schrei die Szenerie in meinem Kopf in Zeitlupe ablaufen ließ und ich mich schweißgebadet auf meinem Stuhl in der Klasse wiederfand. Alle anderen schauten mich verdutzt an und auch mein Mathematiklehrer drehte sich mit wutverzerrtem Gesicht zu mir um. Ohne eine Erklärung stürmte ich, noch immer mit pochendem Herzen, aus dem Saal. Die Tür hinter mir knallte zu und ich rannte den Flur entlang auf die Mädchentoilette. Meine Atmung überschlug sich beinahe, Schweißtropfen klebten mir an der Stirn und meine Augen waren gerötet. Was war da gerade passiert? War ich eingeschlafen und hatte einen Albtraum bekommen? Nein, irgendwie war es mir nicht vorgekommen, als hätte ich geschlafen. Ich war eher in einem Trancezustand gewesen. Aber was hatte es mit dieser Szene mit den zwei Wölfen, die sich gegenseitig bekämpften, auf sich? Ich wurde daraus nicht schlau. Ich war mir ganz sicher, dass der schwarze Wolf mein Wolf gewesen war, aber wer war dieser graue, fremde Wolf gewesen, der ihn angefallen hatte? Ich hätte es einfach bloß als meine blühende Fantasie abgestempelt, hätte ich nicht zum Schluss der Vision die Augen des Wolfes erblickt. Als die Zeitlupe eingesetzt hatte, hatte ich den Blick des Wolfes gestreift und seine eisblauen Augen hatten einen eiskalten Schauer über meinen Rücken gejagt. Diese Augen wollten einfach nicht mehr aus meinem Gedächtnis verschwinden, dieser kalte Blick hatte sich ganz tief in meinem Gehirn festgesetzt und ich war mir sicher, diesen Anblick nicht so schnell mehr vergessen zu können.
Als ich mich nach einigen Minuten wieder beruhigt hatte, verließ ich das Mädchenklo und wanderte durch die Flure wie ein ruheloser Geist. Aber das war mir tausendmal lieber als wieder in die Mathestunde zurückzukehren, wo mich alle, inklusive Mr. Turner, für irre hielten. Aber vielleicht lagen sie da mal nicht so falsch. Ich traute mir im Moment selber nicht so richtig. Ich inspizierte die Korridore und begegnete auch einigen leeren Sälen, die ich mit Neugierde betrat und analysierte. Tja, das kam dann dabei heraus, wenn man wegen einer Schreckensvision aus dem Mathematikunterricht flüchtete, sich auf dem Mädchenklo vom Schock erholte und dann nicht wusste, was man tun sollte. Dann durchstreifte man einfach mal die Schule und brach in Klassensäle ein, in denen man nichts zu suchen hatte. Als ich dann im Nordflügel der Schule ankam, erinnerte ich mich an mein Gespräch mit dem "Geschichtslehrer" und mich überkam erneut eine Gänsehaut. Ich schlich mit leisen Schritten den dunklen, leeren Flur entlang und als ich an der Besenkammer rechts von mir vorbeikam, überkam mich plötzlich eine ziehende Kraft. Ich war schon an ihr vorbei und hatte nun zahlreiche Spinde neben mir, doch die Kraft wollte nicht nachlassen. Es war, als würde sie mich förmlich dazu zwingen, umzudrehen. Ich wusste nicht, ob ich mir sie bloß einbildete oder ob ich ihr überhaupt nachgeben sollte, doch mein Körper nahm mir diese Entscheidung ab, als ich mich selbst dabei erwischte, wie ich umdrehte und auf die kleine, dunkle Holztür der Besenkammer zuschritt. Meine Schritte waren langsam und schleichend, wie die einer Raubkatze. Mein Atem kam stockend und meine Hände fingen an vor Aufregung zu zittern. Irgendetwas befand sich hinter dieser Tür, ich wusste nur nicht was. Noch nicht. Mein Verstand sagte mir bereits mit sarkastischem Unterton:
"Natürlich befindet sich etwas hinter dieser Tür und zwar zahlreiche Besen und Putzutensilien! Dummkopf..."
Doch mein Verstand hatte gerade nichts zu sagen, nur mein Körper hatte das Wort und ich vermochte nicht, etwas dagegen zu unternehmen. Als ich genau vor der Tür stand und sich meine zitternde Hand auf die kleine, silberne Türklinke legte, wurde die Kraft sogar noch stärker und ich sah meiner Hand dabei zu, wie sie die Klinke runterdrückte, ohne dass ich es ihr befohlen hatte. Dann schwang die Tür auf und der Anblick, der sich mir dann bot, überflutete mich mit Ekel, Schrecken und Todesangst. Vor mir lag die Leiche eines älteren Mannes, dessen spießige Kleidung von Blut durchtränkt war und der mir mit weit aufgerissenen Augen und schmerzverzerrtem Gesicht entgegen starrte. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, damit der aufkommende Schrei ihm nicht entwich und bemerkte ganz nebenbei, dass ich wieder die Kontrolle über meinen eigenen Körper hatte. Mir rollte eine einzige, dicke Träne die Wange hinunter und ich schloss die Augen. Ich hielt noch kurz eine Totenandacht für den fremden Mann und ging dann, völlig kraftlos, in die Knie, um in leises, unkontrollierbares Schluchzen zu verfallen.
Ich wusste nicht, wie lange ich nun schon dort am Boden saß, leise zu weinen. Ich hatte jegliches Gefühl für Raum und Zeit verloren und konnte nur mit leerem Blick auf die Leiche starren. Der einzige Gedanke, der mir im Kopf herumschwirrte war der, wie irgendein Mensch bloß im Stande sein konnte, so eine grausame Tat zu begehen. Als ich mir mit einem flauen Gefühl im Magen den Mann genauer anschaute, bemerkte ich, dass er auf außergewöhnliche Art und Weise umgebracht worden war. Die Wunden, woraus inzwischen kein Blut mehr sickerte, schienen nicht durch ein Messer entstanden zu sein. Es sah eher so aus, als wären es Kratzspuren, die ein wildes Tier ihm zugefügt hätten. Die blutverschmierte Kleidung erschwerte es, die Wunden genauer untersuchen zu können, aber mir wurde kurz darauf bewusst, dass ich das auch garnicht wollte. Auch wenn ich den Anblick nach der langen Zeit des Anstarrens nun einigermaßen ertragen konnte, so war ich mir sicher, dass ich mich doch glatt übergeben würde, würde ich mich dem Leichnam auch nur noch um einige Zentimeter nähern. Jedenfalls stand fest, dass dieser Mann nicht von einem gewöhnlichen Menschen getötet worden war. Es sei denn, es war ein wirklich, wirklich kranker Mensch gewesen auf dessen Konto dieses Menschenleben ging. Aber mein Instinkt sagte mir irgendwie, dass es etwas mit diesem Mord auf sich hatte. Etwas äußerst Merkwürdiges und auch Angsteinflößendes. Ich fing wieder an zu zittern und meine Hände wurden feucht. Mich drohte ein erneuter Weinkrampf zu schütteln, als ich plötzlich leise Schritte vom Ende des Flurs vernahm. Ich schrak hoch und warf einen tränenverschleierten Blick den Gang hinunter. Die Schritte wurden schnell lauter und ich stand auf, um mich hinter der geöffneten Tür der Besenkammer zu verstecken. Die dumpfen Schritte kamen immer näher und als sie plötzlich stehen blieben, vernahm ich eine männliche Stimme, die völlig entgeistert sagte:
"Was zur Hölle..."
Ich verkrampfte mich, als ich die Stimme erkannte. Es war die tiefe und sanfte Stimme von Shane. Ich trat langsam hinter der Tür hervor und schritt ängstlich und zitternd an ihn heran. Sein Blick war starr auf den Leichnam gerichtet, doch als er mich plötzlich aus dem Augenwinkel entdeckte, sah er mich erschrocken an und fragte:
"Hast du ihn etwa gefunden?"
Ich antwortete nicht, da ich befürchtete, dass meine Stimme brechen würde, deswegen nickte ich nur und wischte mir eine aufsteigende Träne aus dem Winkel meines Auges. Shane sah mich mit unendlich traurigen und mitleidigen Augen an und ich konnte meine Tränen fast nicht mehr zurückhalten. Weiteres Schluchzen packte mich wieder und ich lief Shane in die Arme, der mich fest an sich drückte. Er streichelte tröstend meine Haare und sagte, um mich zu beruhigen:
"Sssch.. Es ist alles gut!"
"Nichts ist gut, da liegt ein toter Mann in der Besenkammer! Oh mein Gott, wer würde bloß so etwas Grausames tun, das ist doch unmenschlich."
Ich schluchzte heftig und krallte mich förmlich an Shanes starke Schultern. Aber ihm schien das nichts auszumachen, er zog mich nur noch fester an sich und hielt mich, bis meine Tränen versiegt und mein Schluchzen eingestellt waren. Ich fühlte mich noch nicht im Stande, mich von ihm zu lösen und außerdem wollte ich nicht, dass er mein, wegen des Weinens, verquollenes Gesicht sah. Somit standen wir noch einige Augenblicke an Ort und Stelle, eng aneinander geschmiegt, wie mir gerade bewusst wurde. Doch das war mir gerade egal, ich empfand die Situation nicht als angebracht, um verlegen zu werden. Ich flüsterte Shane ins Haar:
"Wer könnte so etwas getan haben? Noch dazu in einer Schule?! Ich versteh das einfach nicht, wie..."
Meine Stimme brach nun endgültig und ich sagte nun nichts mehr. Shane ergriff sanft meine Oberarme und hielt mich wenige Zentimeter von sich. Er sah mir tief in die Augen und erwiderte:
"Ich weiß es nicht... Aber wir werden es mit Sicherheit erfahren. Aber zuerst müssen wir den Mord melden, die Polizei muss davon erfahren!"
Shane wischte mir mit seinem Daumen eine Träne von der Wange und sah mich immer noch mit wehleidigem Blick an. Irgendwie überkam mich das Gefühl von Verletzlichkeit und Schwäche, wenn er mich mit diesem Blick ansah. Als wäre ich ein schwaches, kleines Mädchen, das man beschützen müsste. Aber ich wusste auch, dass Shane es nicht so meinte, wenn er mir diesen Blick schenkte. Ich glaubte nicht, dass er mich für schwach hielt und trotzdem wurde mir dieser Blick langsam unangenem. Ich löste mich nun endgültig von ihm und sagte dann, mit so fester Stimme, wie es mir in dem Moment bloß möglich war:
"Dann lass uns keine Zeit verlieren!"
Rina und Shane hasteten den Gang entlang. Sie wussten nicht so recht, an wen sie sich wenden sollten, doch sie schlugen den Weg ins Sekretariat ein, da sie es für das Beste hielten, den Mord zuerst dort zu melden. Shane war schon geschockt gewesen, als er gesehen hatte, dass im Besenschrank eine Leiche lag, doch was ihn noch mehr schockiert hatte, war, auf welche Art und Weise der Mann umgebracht worden war. Ihm kam es viel zu bekannt vor. Er hatte es schon einmal gesehen, doch das war schon eine Weile her. Ungefähr vor vier Jahren hatte der Mörder, Julius Black vier Menschen getötet, darunter auch Shanes Vater und Onkel. Seine eigenen Leute, seine Freunde hatte dieser Verräter auf dem Gewissen. Er hatte den Mord an seinem Onkel mitansehen müssen, dem seines Vaters war ihm, Gott sei Dank, erspart geblieben. Es hatte davor schon zwei weitere Morde gegeben, den seines Vaters und den eines seiner Arbeitskollegen. Die Ermittlungen liefen, doch niemand hatte auch nur den leisesten Hauch einer Ahnung, dass der Mörder die ganze Zeit vor ihrer Nase herumspazierte. Niemand hätte ihn je verdächtigt, bis zu dem Tage, als Shane Zeuge eines seiner zahlreichen Morde wurde. Er brachte Shanes Onkel auf die gleiche Art und Weise um, wie auch die anderen Opfer gestorben waren. Den Brustkorb geöffnet durch Krallen so scharf wie Messerklingen. Es war ein grausamer Anblick gewesen und Shane war nach diesem Vorfall nicht mehr der Gleiche wie vorher. Er war außer sich vor Wut, da ihm anfangs niemand Glauben schenken wollte und als er es dann selbst in die Hand nahm, um sowohl seinen Vater als auch seinen Onkel zu rächen, wäre er beinahe auch getötet worden. Er konnte ihm lediglich eine Kratzwunde in der rechten Gesichtshälfte zufügen und sonst war er klar im Nachteil gewesen. Was war auch anderes zu erwarten gewesen, er war damals noch ein Neuling, ein sogenannter "Welpe", er hatte sich gerade erst verwandelt. Er hatte noch erstaunlich lange gegen ihn bestehen können, doch schlussendlich überwältigte er Shane und wollte gerade ansetzen, um ihn zu töten, als der Anführer einschritt und ihm somit das Leben rettete. Doch indem er Shane das Leben rettete, opferte er sein eigenes. Er fochte einen erbitterten Kampf mit seinem Rivalen und jeder ging davon aus, dass er gewinnen würde, da er nicht nur der Anführer war, sondern auch älter und erfahrener. Doch er war schwer verwundet worden, bei dem Versuch Shane aus der Schusslinie zu nehmen und verlor schließlich den Kampf. Und somit wurde er zu Julius Blacks viertem Opfer und das war allein Shanes Schuld gewesen. Er hatte es sich bis heute noch nicht verziehen und das würde er vermutlich auch nicht. Er hatte sich an dem Tag, an dem der Anführer starb, geschworen, Julius Black zu finden und ein für alle Mal zur Strecke zu bringen. Er hatte nach diesem Vorfall seine sieben Sachen gepackt, seiner Mutter einen Abschiedsbrief geschrieben und für immer sein Zuhause verlassen. Er hatte sich an Blacks Fersen geheftet und ihn über die Jahre verfolgt. Nach etlichen, fehlgeschlagenen Versuchen, ihn aufzuspüren, gab er es schließlich auf, fürs Nächste. Er war sich sicher, dass er sich mit der Zeit aus seinem Versteck hinauswagen würde, um ihn herauszuforden. Und irgendwie hatte er das Gefühl, dass es nun soweit war. Nur hätte er nicht gedacht, dass er einen wehrlosen, alten Schullehrer umbringen und in einer Besenkammer verstecken würde. Aber es passte zu ihm. Er musste nun auf der Hut sein, Tag und Nacht. Und er musste auch noch zusätzlich auf Rina Acht geben, denn Shane war sich sicher, dass sie Blacks Ziel war. Sein nächstes Opfer. Denn schließlich war sie die Tochter des ehemaligen Anführers, des vierten Opfers von Julius Black. Darius Felten...
Shane blickte mürrisch drein und schien komplett in Gedanken versunken zu sein. Woran er wohl dachte? Wir hatten endlich das Sekretariat erreicht, als Shane mir befahl, draußen vor der Tür auf ihn zu warten, bis er mit Hilfe zurückkam. Ich nickte einverstanden und stützte mich an die Wand neben der Tür zum Sekretariat, die Shane anschließend öffnete. Ich betrachtete abwesend meine Umgebung, um mich irgendwie von den Bildern, die noch immer in meinem Kopf herumschwirrten, abzulenken, doch die war nicht außerordentlich interessant, deswegen fing ich an, unruhig zu werden und lief aufgekratzt auf und ab, hin und er, um die Zeit rumzukriegen. Als dies nicht so recht funktionieren wollte, rief ich mir schöne Erinnerungen aus meiner Kindheit ins Gedächtnis, inklusive Erinnerungen an meinen Vater. Eine Melodie, die ich aus Kindertagen kannte, erschien in meinen zerstreuten Gedanken und ich entschied mich darauf einzulassen und sie mitzusummen. Ich kannte die Melodie besser als jedes andere Lied, das ich jemals gehört hatte und doch wollte mir nicht mehr einfallen, wo ich sie gehört hatte. Wenige Augenblicke später kam Shane mit einer schwarzhaarigen Frau an seiner Seite aus der Tür gestürmt und ich wurde ruckartig aus dem Konzept geworfen. Mein Gesumme verstummte und ich musste meine Schritte erheblich beschleunigen, um mit den beiden mithalten zu können. Die junge Frau mit den schwarzen Haaren, die mit einem eleganten, schwarzen Rock und einer weißen Bluse bekleidet war, eilte den gleichen Weg entlang, den Shane und ich vor kurzem eingeschlagen hatten, um zu ihr zu gelangen. Ihre schwarzglänzenden, hohen Schuhe verbreiteten einen stetigen und rhythmischen Klang auf dem mit kleinen Fliesen belegten Boden. Ich fokussierte mich auf den Takt und fing wieder an, die Melodie in meinem Kopf zu summen. Es half mir, die Tatsache zu vergessen, dass wir gerade auf dem Weg zu einer Leiche waren, die in einem Wandschrank verstaut worden war. Ich folgte meinen Begleitern beinahe automatisch und schien fast in eine Art Trance zu verfallen. Die Melodie in meinem Kopf wurde immer lauter und lauter und ich vermochte nicht, mich ihr zu entziehen. Ich wollte unbedingt wissen, woher ich sie kannte, doch je stärker ich nachdachte, desto weniger wollte es mir einfallen. Plötzlich merkte ich, wie mich jemand am Arm rüttelte und meinen Namen rief. Die Melodie in meinen Gedanken wurde leiser, verebbte mit jedem Rütteln, das meinen Arm erschütterte, bis sie plötzlich komplett verstummte und dann war ich von der Trance befreit. Es fühlte sich so an, als ob ich aus einem jahrelangen Schlaf aufgewacht wäre, nur dass es gerade mal erst ein paar Minuten gewesen waren. Ich schüttelte irritiert den Kopf und nahm die sanfte Stimme von Shane wahr, die von meiner rechten Seite her zu mir drang.
"Rina? Rina! Hörst du mich?"
Ich wandte ihm meinen noch leeren Blick zu und ich merkte, wie er verwirrt zurückzuckte. Ich sah ihm in die Augen und stammelte:
"Ähm... Jjja, ich denke schon. Ja, es ist alles in Ordnung, es ist bloß gerade was Eigenartiges passiert. Ich..."
Ich verstummte, als ich die vielen Menschen um uns herum erblickte. Ich erkannte Polizisten, die einige Schüler und Lehrer befragten und da waren auch Sanitäter, die die Leiche, die in einen schwarzen, aus Plastik hergestellten Leichensack eingehüllt war, davontrugen. Ich war verwirrt. Wie waren all diese Menschen so schnell hierher gekommen? Der Flur war doch gerade noch menschenleer gewesen. Hatte ich das etwa alles verpennt? Ich sah Shane wieder an, der mich mit besorgtem Blick musterte. Ich sah, dass er versuchte, meinen Blick zu deuten, doch nach zahlreichen Versuchen fehlschlug. Dann sagte ich:
"Wann sind denn all diese Menschen hier gekommen?"
Er stutzte und erwiderte:
"Die sind vor fünfzehn Minuten hier eingetroffen. Miss Random hatte sofort die Polizei gerufen, sobald sie die Leiche gesehen hatte. In der Zwischenzeit hatte es geklingelt und zahlreiche Schüler beziehungsweise Schaulustige hatten sich hier eingefunden. Hast du das denn nicht mitbekommen?"
Ich sah ihm nochmals tief in die Augen, um sicher zu gehen, dass er mich nicht veräppelte, denn es konnten unmöglich bereits mehr als fünfzehn Minuten vergangen sein.
Ich schüttelte auf seine Frage hin den Kopf und flüsterte:
"Nein, ich habe reingarnichts mitbekommen. Wie kann das denn bloß sein? Was ist nur los mit mir?"
Ich hatte die ganze Zeit eher mit mir selbst geredet und starrte nun auf den Boden, während ich mir die Stirn rieb. Shane fragte mit besorgter Stimme:
"Rina, bist du sicher, dass alles in Ordnung mit dir ist?"
Ich sah nun wieder hoch und antwortete diesmal wahrheitsgemäß:
"Nein, ehrlich gesagt, bin ich mir überhaupt nicht sicher. Ich... ich will einfach nur hier raus."
Shane ließ sich das nicht zweimal sagen und nahm mich bei der Hand, um mich durch die Menschentrauben zu führen. Er erzählte mir, dass alle Schüler sowieso für die letzten zwei Stunden entlassen worden waren, damit den Ermittlungen nichts im Wege stand. Aber offenbar klappte das nicht außerordentlich gut, da sich noch immer sehr viele Schaulustige am Tatort befanden. Doch Shane und ich konnten diesen Platz nicht schnell genug verlassen. Als wir fast am Ende des Flurs angekommen waren, wurden unsere beiden Namen gerufen und wir drehten uns gleichzeitig um. Da sahen wir, wie die schwarzhaarige Frau aus dem Sekretariat, die Miss Random hieß, wie ich mittlerweile wusste, mit schnellen, lauten Schritten auf uns zugerannt kam und einen großen, muskelbepackten Polizisten hinter sich herzog. Ich seufzte tief, da ich nichts Gutes vermutete und ich bemerkte, wie Shane einen Schritt näher an mich heran trat und sich nun unsere Arme berührten. Er warf mir noch schnell einen aufmunternden Blick zu und dann standen Miss Random und der Polizist auch schon vor uns. Dann sagte Miss Random ein wenig außer Atem:
"Officer Kent, das sind Shane McLauren und Rina Felten. Das sind die beiden, die die Leiche entdeckt haben und mich anschließend aufgesucht haben, um den Mord zu melden."
Der Officer nickte mit ernstem Gesichtsausdruck und kritzelte irgendetwas in sein Notizbüchlein, als Shane schnell einwarf:
"Oh, also theoretisch hat Rina die Leiche entdeckt, ich bin nur zufällig zu ihr gestoßen!"
Ich stöhnte innerlich, da er diese Information ruhig für sich hätte behalten können. Jetzt fiel die Aufmerksamkeit des Officers natürlich sofort auf mich und er fragte:
"Nun, Miss Felten, wie und wann haben Sie die Leiche denn entdeckt?"
Na toll, das fing ja schon gut an. Wie sollte ich das denn bitteschön erklären? Ach, Officer, wissen Sie, im Grunde genommen war das nicht mein Verdienst, nein, eine unsichtbare, ziehende Kraft hat mich dazu verleitet, die Tür der Besenkammer zu öffnen. Das würde auch überhaupt kein merkwürdiges, wenn nicht gar verdächtiges Licht auf mich werfen. Nachher würden die mich noch für den Mörder halten. Ich musste mir schleunigst eine Ausrede einfallen lassen und zwar eine glaubwürdige. Deswegen erwiderte ich:
"Ach, wissen Sie, Officer Kent, mir war plötzlich während des Matheunterrichts übel geworden und deswegen hatte ich den Klassensaal verlassen, um auf die Toilette zu gehen. Dort hatte ich mich dann einigermaßen erholt, darum machte ich mich wieder auf den Weg in meine Klasse. Als ich dann am Besenschrank vorbeikam, bemerkte ich, wie eine rote Flüssigkeit unter der Türspalte hervorlugte. Ich hatte es anfangs für rote Farbe gehalten, also dachte ich mir nichts weiter dabei und öffnete die Tür. Und, ja, Sie können sich ja denken, was ich dann gesehen habe..."
Er nickte und notierte erneut etwas in seinem schwarzen, dünnen Buch. Ich merkte, wie das Zittern wieder versuchte, mich zu packen und ich tat mein Bestes, um es abzuschütteln. Shane bemerkte es und ergriff unverwandt meine Hand. Auch wenn ich kurz verwirrt aufschrak, so war ich doch dankbar für die Wärme und Sicherheit, die seine große, leicht gebräunte Hand mir bot. Als der Officer zu einer weiteren Frage ansetzen wollte, unterbrach ich ihn und sagte:
"Verzeihen Sie, Officer, doch ich fühle mich wirklich nicht wohl. Sie müssen wissen, es ist auch für mich nichts alltägliches eine blutüberströmte Leiche zu finden, die in einer Besenkammer versteckt worden ist. Ich würde jetzt bitte gerne nach Hause gehen, wenn es Ihnen recht ist. Ich habe sowieso nichts weiteres zu berichten."
Er sah etwas enttäuscht aus, denn er hatte womöglich auf nützliche, noch nicht bekannte Informationen gehofft, doch die hätte ich ihm so oder so nicht geben können, ob Wohlbefinden oder nicht. Somit nickte er widerwillig und fügte noch hinzu:
"Aber wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte, dann rufen Sie mich bitte an, ja?"
Er reichte mir eine Visitenkarte seines Polizeireviers und ich nahm sie zögernd entgegen. Ich nickte und bestätigte:
"Ja, das werde ich."
Ich steckte das kleine Stück Papier schleunigst in meine Jackentasche und zog Shane, der noch immer meine Hand hielt, zügig zum Ende des Flurs. Vielleicht hätte es weniger verdächtig ausgesehen, hätte ich einen etwas langsameren Schritt draufgehabt, doch das war mir jetzt sowas von egal. Ich wollte einfach bloß hier raus und an die frische Luft. In die Freiheit, weg von diesen furchterregenden Erinnerungen, diesen grausamen Bildern. Und dieser beinahe angsteinflößenden Melodie, die irgendwie noch in der Atmosphäre zu schweben schien.
Kapitel 10
Ich stürmte raus auf die Straßen und auch da machte ich keinen Halt. Ich ging einfach weiter, da ich noch nicht einmal mehr in der Gegend dieser Schule sein wollte. Die Straßen und Bürgersteige waren leer, was mich ein wenig verwunderte und es war äußerst still. Shane ging mit schnellen Schritten hinter mir her und versuchte nicht, mich irgendwie zu bremsen. Er erduldete meine Hast und folgte mir stillschweigend. Als ich mehr oder weniger hundert Meter zurückgelegt hatte, verlangsamte ich mein Tempo und versuchte wieder zu Atem zu kommen. Ich stützte meine Hände auf meinen Oberschenkeln ab und konzentrierte mich auf meine Atmung. Ich stellte mich wieder auf und raufte mir die Haare. Ich versuchte das Bild des toten Mannes aus meinem Kopf zu vertreiben, doch es fiel mir erheblich schwerer, als man meinen sollte. Ich hatte schon etliche Horrorfilme gesehen und weder hatte ich Angst gehabt, noch hatte ich Albträume bekommen, denn was Gruselfilme anging hatte ich echt starke Nerven. Aber wenn man erst etwas so Abscheuliches in Wirklichkeit gesehen hatte, war es etwas ganz anderes. Denn man wusste, dass es real war und kein Film. Ich nahm noch einmal einen tiefen Atemzug und drehte mich dann um, wo Shane mich mit besorgter Miene musterte. Er fragte mit sanfter Stimme:
"Alles in Ordnung? Ich weiß, das ist eine blöde Frage und ich sollte sie auch nicht stellen, aber ich mache mir ernsthafte Sorgen um dich... Du schienst vorhin total abwesend zu sein und dann hast du wieder diese merkwürdige Melodie gesummt und..."
"Was? Melodie? Ich habe eine Melodie gesummt?", fragte ich etwas stürmisch.
Er stutzte und zögerte kurz, dann nickte er und erwiderte:
"Ja, als wir auf die Polizei gewartet haben und sie dann letzendlich eingetroffen waren, warst du irgendwie abwesend, ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe, dich wachzurütteln, aber dann nach ungefähr fünfzehn Minuten warst du endlich aus der Starre erwacht. Rina, was ist los? Was bedrückt dich, du verhältst dich in letzter Zeit ein wenig eigenartig..? Du kannst es mir erzählen."
Ich lächelte schwach und antwortete:
"Ich weiß das, Shane und dafür bin ich dir auch sehr dankbar, aber ganz ehrlich... Ich weiß selber nicht, was mit mir los ist! Mir ist komischerweise auch schon aufgefallen, dass ich mich in letzter Zeit noch merkwürdiger aufführe als sonst, aber mir ist absolut schleierhaft, wieso... Okay, es ist kein alltägliches Unterfangen, eine Leiche zu finden und auch nicht, von irgendwelchen ekelhaften Junkies belästigt zu werden, aber trotzdem..."
Shane unterbrach mich, als er mich sanft an den Unterarmen packte und sagte:
"Ssshh, beruhige dich, Rina, ich glaube, du brauchst einfach nur eine Auszeit. Einfach nur einen ruhigen, entspannten Tag, an dem du alles stehen und liegen lassen kannst, um dich nur auf dich zu konzentrieren. Was hältst du davon?"
Ich schloss kurz meine Augen, um mir diesen entspannten, ruhigen Tag bildlich vorstellen zu können, öffnete sie dann, lächelte und nickte einverstanden. Dann fügte ich noch hinzu:
"Das klingt fantastisch, aber dann muss ich zuerst noch meiner Mutter und meinem Bruder Bescheid sagen, dass ich später nach Hause komme... Ach, was soll's? Die sind doch sowieso zu viel mit sich selbst beschäftigt! Und ich denke, das probiere ich jetzt auch mal..."
Somit hakte ich mich bei Shane unter und dachte an einen Platz, an dem ich mich ruhig und entspannt fühlte. Da kam mir sofort der Wald nahe meinem Haus in den Kopf und jetzt musste ich mich entscheiden, ob ich bereit war, Shane dorthin mitzunehmen oder nicht. Ich vertraute ihm zwar noch nicht hundertprozentig, doch ich vertraute ihm genug, um ihm meinen geheimen, ganz persönlichen Zufluchtsort zu zeigen. Somit führte ich ihn dorthin...
Er schien nicht außerordentlich überrascht über die Tatsache zu sein, dass ich ihn in einen Wald führte. Ich dachte aber nicht weiter darüber nach, denn ich hatte es sowas von satt, die ganze Zeit bloß nachzudenken. Ich wollte jetzt einfach nur noch meinen Kopf klar bekommen von all dem Stress in letzter Zeit, dass ich all meine Paranoia und all mein Misstrauen über Bord warf und einfach nur den Augenblick mit Shane zusammen im Wald genoss. Wir setzten uns gemeinsam auf den moosbewachsenen Baumstamm, auf dem ich für gewöhnlich saß, wenn der schwarze Wolf mich mal wieder besuchte und schwiegen ein paar Minuten lang. Dann flüsterte Shane in die berauschende Stille hinein:
"Dieser Platz ist schön. Bist du hier öfters?"
Ich nickte und lächelte.
"Ja, ich liebe diesen Wald. Ich verbinde viele Erinnerungen mit ihm. Mein Vater und ich machten oft Spaziergänge über den Waldweg, den wir vorhin entlang gegangen sind. Vor allem im Sommer und im Winter ist es hier atemberaubend schön. Es beruhigt mich einfach hierhin zu kommen, ich fühle mich sowohl der Natur als auch.. meinem Vater verbunden. Ich weiß, es klingt komisch, aber jedes Mal, wenn ich hier bin, scheint es, als spürte ich meinen Vater ganz in meiner Nähe... Tss, irgendwie lächerlich, oder?", fragte ich ein wenig verunsichert.
Shane sah mich aus diesen wunderschönen, tiefen Augen an, mit einem Blick, der so sanft und zerbrechlich war, dass er sofort wie ein anderer Mensch wirkte. Ich versuchte den coolen, lässigen und leicht nervenden Shane, der mich vor Grant Shielden gerettet hatte, mit diesem Shane zu vergleichen, der gerade so verletzlich und traurig erschien, dass ich Angst hatte, ich könnte ihn durch ein falsches Wort zum Weinen bringen. Als er mich so ansah, kam mir der Gedanke, dass er vermutlich schon viel Schlimmes in seinem Leben erlitten haben musste. Ich wusste nicht recht, wie ich darauf kam und ich konnte auch nicht sagen, welch schlimme Erlebnisse er durchlebt haben sollte, doch ich war mir schlagartig sicher, dass er keine einfache Vergangenheit gehabt hatte. Auf ein Mal verspürte ich den Drang, ihn zu trösten, doch er war es, der stattdessen mir Trost spendete.
Dann antwortete er:
"Nein, das ist ganz und garnicht lächerlich. Es ist verständlich und auch irgendwie tröstlich, nicht wahr? Es ist doch schön einen Ort zu haben, an dem du an deinen Vater erinnert wirst und du dich ihm verbunden fühlst, oder nicht? Dann vermisst du ihn auch weniger..."
Ich reagierte mit Verwunderung, da ich nicht wirklich auf diese Antwort gefasst gewesen war, doch dann schenkte ich ihm ein sanftes Lächeln und nickte. Ich erwiderte anschließend:
"Ja, da hast du Recht, auch wenn ich ihn noch immer schrecklich vermisse. Aber ich bezweifle, dass das irgendwann aufhören wird. Es ist über die Jahre bloß einfacher geworden, doch der Schmerz des Verlustes eines geliebten Menschen lässt niemals nach... So empfinde ich jedenfalls, ich weiß ja nicht, wie manch andere darüber denken. Was glaubst du? Hört es irgendwann auf?"
Er sah mich kurz an, als sich auf ein Mal ein nicht zu deutender Ausdruck auf seine Gesichtszüge legte und er den Blick von mir abwandte. Er schien lange über seine Antwort nachzudenken und ich wartete geduldig. Ich hörte, wie ein Vogel aus weiterer Entfernung ein fröhliches Liedchen anstimmte und irgendwie kam es mir unpassend für diese Situation vor, doch es war trotz allem ein wunderschöner Klang, dem ich mit aufmerksamen Ohr lauschte. Shane starrte auf seine Füße und schien auf eine merkwürdige Art und Weise abwesend, so als wäre er tief versunken in seinen Gedanken, oder in seinen Erinnerungen... Ich sagte leise seinen Namen, rief ihn, um seine Aufmerksamkeit wieder zu erlangen und als er mich nicht zu hören schien, fasste ich seine Schulter und rüttelte ihn leicht. Er schrak hoch und als er mich erblickte, kam er wieder allmählich zu sich und realisierte, wo er war. Ich sah ihn fragend an und gab ihm zu verstehen, dass ich noch immer auf eine Antwort von ihm wartete. Er schüttelte kurz den Kopf, so als ob er seine Gedanken vertreiben wolle und setzte dann zu einer Antwort an:
"Also, ich... Ich bin deiner Meinung. Der Schmerz lässt nie wirklich nach, doch ganz ehrlich... Einfacher ist es für mich nicht geworden..."
Ich ließ mir seine Worte kurz durch den Kopf gehen und verstand erst dann, was sie bedeuteten. Ich tat nicht überrascht, denn ich war es auch garnicht, irgendwie hatte ich mir so etwas schon gedacht. Ich senkte einfach nur den Blick, genauso wie er und fragte dann:
"Wen hast du verloren?"
Kurzes Schweigen, dann erwiderte er mit fester Stimme:
"Meinen Vater!"
Nun zuckte ich leicht zurück, denn diese Antwort überraschte mich. Ich seufzte und sagte:
"Das tut mir Leid, Shane... Ich weiß nicht, ob dieses Beileid dir irgendein Trost ist, ich glaube wohl eher nicht, denn ich war jedes Mal kurz davor durchzudrehen, wenn mir jemand sein herzliches Beileid aussprach, als mein Vater starb. Es hatte mir nie wirklich was bedeutet, da ich wusste, dass sie das bloß sagten, weil es sich so gehört. Und auch wenn sie wirklich trauerten, dann wussten sie aber nicht, wie es war, in meiner Lage zu sein. Doch du sollst wissen, dass ich weiß, wie es ist in deiner Lage zu sein und dass ich wirklich mit dir leide... Verstehst du?"
Er hob den Kopf und sah mir in die Augen. In seinem Blick war soviel Schmerz zu sehen, soviel Trauer, dass er mich an mich selbst erinnerte. In einer gewissen Hinsicht war er genauso wie ich, er hatte seinen Vater verloren und wurde den Schmerz und die Wut nicht los. Doch was uns unterschied, und worum ich ihn sehr beneidete, war die Tatsache, dass er es sich nicht anmerken ließ. Er zeigte seine Wut nicht, im Gegensatz zu mir.
"Danke, ich weiß das zu schätzen. Und ja, dein Beileid ist mir ein Trost, weil ich weiß, dass es ernst gemeinst ist und dass du mich verstehst. Niemand hatte damals meinen Schmerz und meine Wut verstanden, noch nicht einmal meine Mutter!"
Ich blickte ihn verwundert an und wollte gerade nachfragen, was er damit meinte, als Shane plötzlich den Zeigefinger an die Lippen hob und "Ssshhh" sagte. Ich schwieg, versuchte sogar leiser zu atmen, während wir beide lauschten. Ich beobachtete ihn, wie er misstrauisch die Umgebung überblickte und er alles bis aufs kleinste Detail zu untersuchen schien. Dann flüsterte er:
"Hörst du das?"
Ich sah ihn verwirrt an und antwortete, ebenfalls in flüsterndem Ton:
"Was denn? Ich höre reingarnichts!"
"Eben, reingarnichts ist zu hören... Sogar der Vogel hat aufgehört zu singen."
Ich erhob mich und postierte mich an Shanes rechter Seite, blickte mich nun auch um und wartete auf das kleinste Geräusch, das diesem Wald entwinden würde. Dann war das Knacken eines Zweiges zu hören und ich zuckte zusammen. Ich wollte nun wirklich nicht diese typische, blöde Frage stellen "Was war das?", da ich mir sicher war, dass Shane es auch nicht wusste, aber ich hätte es trotzdem zu gerne erfahren. Doch als dann auf ein Mal ein merkwürdiger Wind um mich wehte, das schon beinahe einem Heulen gleichkam und ein Frösteln mich überkam, rückte ich näher an Shane heran, der bereits lauerte. Mein Blick war fest in die Richtung fixiert, aus der das knackende Geräusch gekommen war und ich hielt meinen Atem gespannt an. Nun sah man eine tierähnliche schattenhafte Silhouette hinter den Bäumen vorbeihuschen und dann trat ein grauer Wolf an dessen Stelle. Ich ergriff vor Schreck Shanes Hand, der noch immer unbeweglich in lauernder Position an Ort und Stelle stand. Er drückte meine kalte, zitternde Hand und seine Körperwärme beruhigte mich, da sie bei mir ein Gefühl der Sicherheit auslöste. Und auch wenn ich wusste, dass Shane und ich absolut keine Chance gegen diesen äußerst großen Wolf hatten, überkam mich doch nicht die Panik. Angst empfand ich schon, aber ich blieb ruhig und bewahrte einen kühlen Kopf, denn solange Shane gelassen war, war ich es auch. Ich schielte kurz zu ihm rüber und sah, wie er mit eiskaltem Blick in die Augen des Wolfes starrte. Und als ich seinem Blick folgte, traf mich der Blitz. Ich blickte in die selben eisblauen Augen wie am Tag zuvor, als ich von dem Treffen mit dem schwarzen Wolf auf dem Weg nach Hause gewesen war. Die selben einschüchternden Augen, die aus den Hecken jeden einzelnen meiner Schritte verfolgt hatten. Und die selben Augen, die mich heute im Geschichtsunterricht so durchdringend und merkwürdig fixiert hatten. Ich fröstelte erneut und flüsterte Shane, so unauffällig wie möglich, zu:
"Shane..? Was sollen wir jetzt tun?"
Er atmete tief ein und aus, ich sah, wie sich sein Brustkorb gleichmäßig hob und senkte und dann erwiderte er in lautem, sicheren Ton:
"Du wirst garnichts tun. Ich werde etwas unternehmen! Rina, geh bitte ein paar Schritte zurück!"
Ich blieb wie angewurzelt stehen, verstand nicht, was er damit meinte, dass er etwas unternehmen würde. Wie um alles in der Welt hätte er in diesem Moment eine Chance gegen diesen Riesenwolf gehabt? Ich sah ihn nur nichtswissend an und er sah mir in die Augen, um mir in ernstem Ton, die Frage zu stellen, die ich am meisten zu vermeiden suchte.
"Rina, vertraust du mir?"
Ich zögerte einen Moment, aber ich wusste, dass ich ihm eine Antwort darauf schuldig war und ich hatte auch nicht alle Zeit der Welt, um über die Antwort nachzudenken, da der Wolf bereits in Angriffsstellung ging. Shane sah mich mit bittenden, ja beinahe flehenden Augen an und ich wusste die Antwort schlagartig, als ich einen nicht zu deutenden Glanz in seinen Augen erblickte. Ich konnte wirklich nicht sagen, was dieser Glanz zu bedeuten hatte oder was er darstellen sollte, aber ich wusste augenblicklich, dass ich ihm vertraute, als ich ihn bemerkte. Somit nickte ich und antwortete zügig:
"Ja! Ja, Shane, ich vertraue dir!"
Bei dieser Antwort trat ein Strahlen in seine Augen und seine weißen Zähne grinsten mir glücklich und gerührt entgegen. Ich lächelte zurück und dann fügte er hinzu:
"Gut, dann vertrau mir jetzt und geh ein paar Schritte nach hinten, bitte... Du brauchst keine Angst zu haben, ich weiß, was ich tue."
Ich zögerte noch einen kurzen Augenblick, tat jedoch dann wie geheißen und entfernte mich ungefähr zwei bis drei Meter von ihm. Mein Magen zog sich zusammen, bei dem besorgniserregenden Anblick, der sich mir nun bot. Shane stand dem grauen, großen Wolf mutterseelenalleine gegenüber, ohne Waffe oder sonstige Verteidigungsmöglichkeiten. Ich fragte mich wirklich, wie er das anzustellen vermochte. Und dann, als Shane eine merkwürdige, tierhafte Haltung annahm, dauerte es keine zehn Sekunden, da wusste ich die Antwort auch schon. Shanes Körper sah nun noch gebückter, noch kleiner aus, seine Silhouette fing an zu verschwimmen, seine Gliedmaßen sich zu verformen. Mein Herz hatte einen Aussetzer, als Shanes muskulöse Gestalt, sich in die Gestalt eines Wolfes umformte. Er verwandelte sich in einen Wolf, der mir nur zu bekannt vorkam. Viel zu bekannt... Anstelle von Shane stand nun der schwarze Wolf, mein schwarzer Wolf, unserem bedrohlichem Gegner gegenüber.
Kapitel 11
Mein Herz hämmerte mir bis zum Hals und meine Atmung kam stockend. Meine Gedanken und Empfindungen überfluteten mich mit solcher Intensität, dass ich sie kaum zu fassen bekam. Was hatte ich gerade gesehen? Oder besser gesagt, was sah ich gerade? Hatte sich Shane McLauren gerade wirklich in einen Wolf verwandelt? In den Wolf, mit dem ich über meine Gefühle geredet und mit dem ich meine Gedanken geteilt hatte? Dem Wolf, dem ich von meinen Gefühlen für Shane erzählt hatte? Letzten Endes sollte sich herausstellen, dass nach allem, was ich ihm erzählt hatte, er, Shane, dieser Wolf war? Das konnte ich einfach nicht glauben... Wie konnte er mich nur so hintergehen? Wieso hatte er mir nicht die Wahrheit gesagt? Na gut, es ist nicht sehr einfach jemandem zu erzählen, dass man sich in einen großen, schwarzen Wolf verwandeln konnte, aber hätte er es nicht genau in dem Moment tun können, als ich angefangen hatte, über meine Gefühle zu reden..? Gott, ich fühlte mich so entblößt, als stünde ich vollkommen nackt hier. Das war mir irgendwie total peinlich, vor allem, da ich auch noch mit ihm geschmust hatte, als wäre er ein Kuscheltier. Argh, würde ich nicht gerade in einem hitzigen Gefecht zwischen zwei Wölfen stehen, würde ich mir die Haare raufen und meinen Kopf gegen den Baum rammen. Ich war so ein Volltrottel, aber darum würde ich mich später kümmern, nur weil ich wegen Shanes Verrat am Boden zerstört war, brauchte ich ihn doch nicht sterben zu lassen. Ich verfolgte den Kampf aufmerksam und der graue Wolf schien zu meinem Bestürzen die Oberhand zu haben. Kein Wunder, er wirkte viel älter und erfahrener und auch wenn Shane in Wolfsgestalt eine beträchtliche Größe erreichte, so war der graue Wolf doch ein gutes Stück massiger und stämmiger. Der blauäugige Wolf versuchte Shane in die Kehle zu beißen, versuchte es immer und immer wieder, doch Shane wich jedes Mal gekonnt aus. Doch wie lange würde er noch ausweichen können? Auch er würde irgendwann außer Puste geraten, aber er kam einfach nicht zum Angriff. Ich musste irgendwas unternehmen, nur was..? Nun wurde Shane zu Boden geschleudert und der feindselige Wolf warf sich auf ihn. Ich schrie verzweifelt auf, als er Shane in die Kehle zu beißen versuchte. Dieser lag wehrlos unter seinem großen, schweren Körper und konnte nur mit großer Mühe jedes Mal in letzter Sekunde sein mit messerscharfen Zähnen besetztes Maul mit der Pfote wegstoßen. Ich suchte mit angsterfülltem Blick nach etwas Handfestem, etwas, das ich als Waffe verwenden konnte. Als ich nichts besseres fand als einen knorrigen, schäbigen Ast, der zwar ziemlich groß war, ich jedoch von Minute zu Minute immer mehr befürchtete, dass er in sich zusammen fallen würde, seufzte ich ergeben auf und schleuderte den Ast mit unglaublicher Wucht auf den Wolf. Dieser hielt abrupt inne, als der schwere Ast ihn am Rücken traf und er hob den eisigen Blick, um den Unruhestifter ausfindig zu machen. Ich zuckte angstvoll zusammen, als er mich ins Visier nahm und schon zum Sprung ansetzte, um mich nun anzugreifen. Doch soweit kam es nicht, denn Shane nutzte mein Ablenkungsmanöver, um ihn von sich runter zu werfen und ihm anschließend eine Wunde am Bauch zuzufügen. Er jaulte schmerzvoll auf und Shane vergeudete keine Sekunde, um zu rasten, denn er kam rasend schnell auf mich zugelaufen und wies mir anhand seines Blickes an, aufzusteigen. Ich antwortete mit einem geschockten und protestierenden Blick, doch als ich bemerkte, wie der feindliche Wolf sich wieder rührte und langsam zu sich kam, ließ ich es mir nicht zweimal sagen und stieg auf Shanes Rücken. Er rannte los wie ein Verrücktgewordener und ich wäre beinahe runtergefallen von der ruckartigen Bewegung. Ich hatte mich schnell wieder von dem Schock erholt und hielt mich nun an seinen langen Nackenhaaren fest, die im Wind gegen mein Gesicht wehten, das ich ganz nah an ihn gekuschelt hatte. Irgendwie hatte sein warmes, kuscheliges Fell etwas Tröstliches, genau wie er selbst. Nein, Stop! Ach, Rina, was denkst du denn da, du bist doch eigentlich wütend auf ihn! Mensch, reiß dich zusammen, er hat dich und dein Vertrauen ausgenutzt, kein Grund, irgendetwas an ihm tröstlich zu finden. Somit riss ich mich erneut zusammen und schloss die Augen, da ich befürchtete, sobald ich aufsah, ich alles vollkotzen würde. Mein Magen und Achterbahnfahrten waren noch nie dicke Freunde gewesen, wieso sollte es hier denn anders sein, denn wir bewegten uns mit einer beeindruckenden Geschwindigkeit fort. Ich hoffte bloß, dass dieser verdammte Wolf uns nicht verfolgte. Zu schade, dass ich Shane nicht fragen konnte, aber leider beherrschte ich kein Wölfisch. Somit versuchte ich, meine Angst hinunterzuschlucken und mir nicht in die Hose zu machen und drehte mich ermutigt um. Erneut wehte der Wind mir mit erstaunlicher Kraft in den Rücken und ich drehte mich schnell wieder um. In dem kurzen Augenblick, wo ich mich umgedreht hatte, hatte ich weder eine Spur von blauen Augen noch von grauem Fell gesehen. Wann beabsichtigte Shane denn stehen zu bleiben? Ich sah mich nun doch kurz um, da Shane sein Tempo etwas verlangsamt hatte und mein Magen sich ein wenig beruhigt hatte. Wir befanden uns ganz in der Nähe meines Hauses. War es das, was Shane zu erreichen versuchte, mein Zuhause? Die Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten, als wir endlich den Wald verließen und sich die große, helle Weide, einige Meter von meinem Haus entfernt, vor uns auftat. Ich spürte wie mir ein Stein vom Herzen fiel und ich lautstark aufatmete. Noch nie war ich jemals so froh gewesen, mein Haus zu sehen. Als wir die Auffahrt erreicht hatten, blieb Shane stehen und ließ mich hinuntersteigen. Ich trat einige Schritte zurück und versuchte seinen Blick einzufangen, doch er wich meinem ganz offensichtlich aus. Er wusste, dass ich wütend auf ihn war und senkte beschämt den Kopf. Auf ein Mal bemerkte ich, wie eine Spur von Blutstropfen den Asphalt unserer Auffahrt bedeckte und ich realisierte, dass sie von Shane stammte. Ich erschrak, als ich sah, wie eine Stelle seines Fells von seinem eigenen Blut verklebt war und trat wieder näher an ihn ran. Dann sagte ich ernsthaft besorgt:
"Oh mein Gott, Shane! Du bist verletzt! Du hast schon reichlich Blut verloren, wir müssen uns sofort um deine Wunde kümmern. Kannst du dich zurückverwandeln? Tut mir Leid, ich darf keine Wölfe mit ins Haus bringen..."
Und als ich das sagte, entwich mir ein kleines Schmunzeln, da sich das irgendwie auf absurde Weise witzig anhörte. Shane sah mich verwirrt an und ich schüttelte einfach den Kopf. Somit wiederholte ich nochmal meine vorherige Frage, ob er sich zurückverwandeln könnte und er verschwand einfach, ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, hinter dem Haus. Ich stutzte und fragte leicht verärgert:
"Hey, was soll denn das? Shane, komm zurück, ich will dir doch bloß helfen! Du brauchst doch nicht gleich beleidigt zu sein..."
Und dann vernahm ich ein leises Aufstöhnen, anschließend Shanes schwache Stimme, die meinen Namen rief. Somit rannte ich, so schnell ich konnte, hinters Haus, von wo ich die Stimme vernommen hatte und sah, wie Shane verletzt und, ach du meine Güte, nackt in unserem Garten lag. Ich schrie kurz auf und drehte mich verlegen um.
"Verdammt, Shane! Du hättest mir ruhig sagen können, dass du nackt bist!", schimpfte ich.
Er lachte kurz ein kehliges Lachen und erwiderte:
"Wieso denn? So ist es doch viel witziger!"
Er lachte erneut und die Röte stieg mir in die Wangen. Ich war immer noch umgedreht und antwortete nichts, dann fügte er noch hinzu:
"Wieso stehst du da wie 'ne Salzsäule? Ich bin doch bloß nackt, es ist ja nicht so, als würde ich beißen, oder so..."
Und erneut entwich ihm dieses rauchige Lachen, das mir die Gänsehaut über den Rücken laufen ließ. Ich musste mir nun jedoch selbst ein Kichern verkneifen und dann antwortete ich schnaufend:
"Boah! Du hast echt keine Hemmungen, was? Also falls es dir nichts ausmacht... Ich geh dir jetzt ein paar Klamotten von meinem Bruder besorgen, die du dir dann überziehen kannst. Ich bin gleich zurück!"
Und dann rannte ich schell ins Haus, denn ich wusste, dass es ihm viel schlechter ging, als er sagen wollte. Er machte jetzt wieder auf stark und lässig, indem er seine blöden Witze riss, aber ich war mir sicher, dass er Schmerzen hatte. Als ich im Innern des Hauses bloß Totenstille und gähnende Leere vorfand, wurde meine Vermutung bestätigt, dass sich niemand außer mir im Haus befand. Auch wenn es mich jederzeit aufgeregt hätte, die Abwesenheit meines Bruders bestätigt zu finden, so war ich dieses Mal doch dankbar dafür. Ich übersprang einige der großen Treppen und flog regelrecht zum Zimmer von Quinn. Ich riss rücksichtslos die Schubladen seiner Garderobe auf und zog die erstbeste Hose raus, die ich zu packen bekam. Anschließend rannte ich wieder runter und zum Haus hinaus. Ich hoffte, dass ihm in der Zwischenzeit nichts passiert war und mein Herz schlug noch aufgeregter als vorher, als ich um die Ecke des Hauses stürmte. Und ein lautes Aufseufzen entfuhr mir, als ich Shane noch immer an der vorherigen Stelle wie zuvor hocken sah. Ich warf ihm schleunigst die Hose meines Bruders zu, die mehr oder weniger die passende Größe haben musste und wartete ungeduldig mit umgedrehtem Rücken. Ich tippte nervös mit dem Fuß auf den Boden, hörte wie Shane mit einem Rascheln hinter dem kleinen Gebüsch hervorkam und sich neben mich stellte.
"Warum so nervös, meine Teuerste, ich bin schließlich der Verletzte!"
Ich würdigte ihn nur mit einem genervten Blick und zog ihn an der Hand, als ihm plötzlich ein leichtes Zischen entfuhr und ich mich erschrocken zu ihm umdrehte. Er hielt sich die blutende Wunde, die sich an seiner linken Bauchhälfte befand und die doch größer war, als eingeschätzt. Er krümmte sich leicht und ich entschied, ihm Stützhilfe zu geben, die er aber irgendwie nicht annehmen wollte. Er wehrte meinen Arm sanft ab und sagte:
"Schon gut, du brauchst mir nicht zu helfen. Ich kann das auch alleine."
Und somit versuchte er weiterzugehen, immer noch mit schwerblutender Wunde und gekrümmter Haltung. Nun wurde ich wütend, denn er brauchte meine Hilfe ganz offensichtlich. Ich trat nun vor ihn und schimpfte:
"Meine Oma hat 'nen schnelleren Schritt drauf als du und die hat eine Hüftprothese. Du brauchst hier nicht auf starken Macker zu machen nur um mir was zu beweisen, du bist halb am Verbluten und willst dich noch nicht ein Mal von mir stützen lassen. Du und dein blöder Männerstolz! Du schadest dir nur selbst damit und weil ich mir merkwürdigerweise einbisschen Sorgen um dich mache, lässt du dir jetzt eben von mir helfen oder ich finde einen Weg, dich gegen deinen Willen ins Haus zu bekommen. Und sei es mit der Schubkarre!"
Ich stand, mit in die Hüften gestemmten Händen und vorgereckter Nase, stark und selbstsicher vor ihm und machte ihm klar, dass ich kein 'Nein' gelten lassen würde und somit hatte er keine andere Wahl als klein beizugeben und sich von mir stützen zu lassen. Ich nickte zufrieden und anschließend schafften wir es, Gott sei Dank, ins sichere Haus.
In der Eingangshalle brach Shane dann endgültig zusammen und ich rannte schleunigst in die Küche, um ein sauberes Handtuch zu holen. Ich nahm die bereits mit Blut vollgesogene Jacke, die übrigens mir gehörte, von der Wunde runter und presste dann das nun desinfizierte Küchenhandtuch stattdessen darauf. Er verzog das Gesicht zu einer schmerzverzerrten Grimasse und ich wusste, nun war der Zeitpunkt gekommen, wo es ernst wurde, denn Shane machte keine Witze mehr. Er hatte wohl wirklich starke Schmerzen. Als ich merkte, wie Shane allmählich schlapp machte und sein Kopf beinahe zur Seite fiel, fing ich ihn ab und verpasste seiner Wange sanfte Schläge.
"Shane! Werd' mir jetzt bloß nicht ohnmächtig, hörst du?! Ich muss dir noch die Leviten lesen, dafür dass du mich angelogen und mein Vertrauen missbraucht hast.", sagte ich in keinem vorwurfsvollen Ton. Seine Augenlider flatterten und zwei grüne, traurige Augen sahen mich an. Dann flüsterte er:
"Es tut mir so unendlich leid, Rina. Ich wollte es dir sagen, aber..."
"Ja ja, spar' dir das für später auf, jetzt muss ich zuerst dein Leben retten!", unterbrach ich ihn. Und dann rannte ich in die Küche, griff mir den Erste-Hilfe Kasten, der sich im Schrank unter dem Spülbecken befand und eilte zu Shane zurück. Ich kniete mich neben ihn und entfernte das blutdurchtränkte Handtuch von seinem Bauch. Anschließend öffnete ich den weißen Koffer und nahm einige Kompressen und zwei Verbände heraus. Ich legte die Kompressen auf die Wunde und bat Shane daraufhin, sich kurz aufzusetzen, damit ich den Druckverband anlegen konnte. Als ich dann zum Schluss einen festen Knoten in den Verband gemacht hatte, legte ich Shane wieder sanft zurück auf den Fliesenboden und beäugte ehrfürchtig meinen tollen Druckverband. Dann fragte Shane mit nur einem Flüstern:
"Hey, woher kannst du denn so gut Druckverbände machen?"
Ich schnaubte und erwiderte eingeschnappt:
"Pff, was klingst du denn so überrascht? Ich bring halt auch mal was auf die Reihe, auch wenn das nicht in Physik der Fall ist. Es kann ja nicht jeder so ein Genie sein wie du, Shane McLauren! Ich..."
Meine Schimpftirade war eigentlich noch längst nicht beendet gewesen, doch Shane hatte plötzlich meine Hand ergriffen und mich zu sich runtergezogen. Ich erschrak, als ich mich selbst auf ein Mal nur noch wenige Zentimeter vor seinem Gesicht wiederfand, wir uns tief in die Augen schauten und sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten. Ich errötete und wollte mich seinem Griff entwinden, doch selbst in seinem jetzigen, schwachen Zustand, war er stärker als ich. Ich bekam leicht Panik, denn ich hasste es, mich in die Enge gezwungen und hilflos zu fühlen, doch ich wusste auch, dass Shane mir niemals etwas antun würde und somit wehrte ich mich nicht weiter gegen ihn. Er raunte verführerisch an meinem Ohr:
"Es tut mir leid, wenn ich überrascht geklungen habe, das war nicht meine Absicht. Ich wollte mich eigentlich für deine Hilfe bedanken, ohne dich wäre ich jetzt bestimmt ziemlich scheiße dran. Also, danke Rina, danke für alles!"
Er lockerte seinen Griff um mein Handgelenk ein wenig und somit konnte ich meinen Kopf auch wieder etwas von seinem entfernen. Ich sah bestimmt gerade aus wie eine Tomate. Mann, das war mir irgendwie peinlich, deswegen sagte ich schnell:
"Schon gut, nichts zu danken. Tu' mir nur den Gefallen und werd schnell wieder gesund, ja?"
Und somit erhob ich mich und fügte noch hinzu:
"Es wäre besser, wir würden dich auf das Sofa legen, der Fliesenboden ist doch sicher kalt und unbequem. Kannst du aufstehen?"
Er nickte leicht und setzte sich langsam auf. Ich reichte ihm die Hand, die er nach kurzem Überlegen und einem drohenden Blick meinerseits zögernd entgegennahm und zog ihn an meine Seite, wo ich ihn dann anschließend erneut stützte. Wir gingen mit langsamen Schritten ins Wohnzimmer, wo ich ihn behutsam auf die beige Couch niederließ und ihn halb zudeckte. Ich fragte:
"Soll ich dir ein T-Shirt bringen? Dir ist bestimmt kalt so mit nacktem Oberkörper..."
Er sah mich mit so intensiven und durchdringenden Augen an, dass ich wieder unweigerlich rot wurde. Ich wusste nicht, was dieser intime und ungewohnte Blick seinerseits zu bedeuten hatte, doch er verunsicherte mich und ich senkte geniert den Kopf. Dann fragte ich:
"Was denn? Was schaust du mich so an?"
Als er begriff, dass er mich die ganze Zeit über unverhohlen angestarrt hatte, wandte auch er den Blick ab und versuchte, sich verlegen zu rechtfertigen.
"Weißt du, Rina, es ist schon lange her, dass sich jemand so fürsorglich um mich gekümmert hat und ich bin es nicht gewohnt, so viel Aufmerksamkeit entgegengebracht zu bekommen..."
"Ach echt? Ich glaube, das sehen die Mädchen, die dir die ganze Zeit hinterherlaufen, aber anders!", unterbrach ich ihn und lachte höhnisch auf. Er sah mich nun wieder an und grinste:
"Was? Bist du etwa eifersüchtig?"
Nun hatte ich erst recht, einen Grund zum Lachen und somit antwortete ich mit hämischer Stimme:
"Pah! Ich und eifersüchtig? Da hast du dir aber die Falsche ausgesucht, Shane!"
Sein Grinsen wich nicht von seinem Gesicht, aber in seinem Blick hatte sich etwas verändert. Hatte ihn meine Aussage etwa getroffen? Irgendwie war das schwer zu glauben... Nun breitete sich eine etwas unangenehme Stille zwischen uns aus und niemand schien sie durch weiteres Gerede durchbrechen zu wollen. Doch als ich bemerkte, dass Shane stark schwitzte, überkam mich wieder große Sorge und ich ging neben ihm in die Knie. Er wirkte wieder kränklicher, seine Atmung ging flach und selbst jetzt, einige Zentimeter außer Reichweite, spürte ich die Hitze, die von ihm ausging. Ich erhob mich wieder und holte ihm einen nassen Lappen, dem ich ihm auf die Stirn legte. Er seufzte erleichtert und ich sagte besorgt:
"Shane, du hast sehr hohes Fieber! Das ist nicht normal. Ich sollte lieber einen Arzt rufen, denkst du nicht?"
Ich wollte schon zum Hörer greifen, als Shane meine Hand ergriff, um mich daran zu hindern. Ich sah ihn fragend an und dann erklärte er:
"Rina, das.. ist normal. Das Fieber gehört zum Heilprozess dazu."
Ich trat wieder näher an ihn ran und fragte noch ein Mal:
"Heilprozess? Was für ein Heilprozess?"
Er nahm kurz Luft und ließ sich etwas Zeit mit seiner Antwort, ich merkte, dass ihm das Reden schwerfiel.
"Wir heilen anders als die Menschen. Wir heilen schneller, denn unsere Muskeln sind anders aufgebaut. Sie sind stärker, fester und anders struktuiert. Deswegen können wir auch eine andere Form annehmen, zum Beispiel die eines Wolfes. Aber zum Heilen braucht der Körper extreme Hitze, die er, sobald er merkt, dass er in Lebensgefahr schwebt, sofort von selbst produziert."
Ich versuchte diese vielen Informationen alle auf ein Mal aufzunehmen, anders struktuierte Muskeln, Heilprozesse, das war alles Neuland für mich. Somit fragte ich verwirrt nach:
"Moment mal! 'Wir'? Wer ist 'wir'?"
Shane sog erneut scharf die Luft ein und antwortete dann widerwillig:
"Die Gestaltwandler."
Ich verstummte für einen Moment völlig, ließ mir dieses Wort lange durch den Kopf gehen, während ich versuchte, mir etwas darunter vorzustellen. Okay, Gestaltwandler waren Personen, die ihre Gestalt wandeln konnten. Ja, sehr gut, Rina, du bist echt schlau, dachte ich sarkastisch. Auch wenn ich das Wort verstand, so wollte es doch ungern in meinen Kopf rein. Es war, als würde sich alles in mir dagegen sträuben. Warum, war mir ein Rätsel, ich wusste nur, dass mir dieses Wort ein Begriff war, ich hatte es schon irgendwo mal gehört, doch mir wollte einfach nicht einfallen, wo. Genauso wie dieses gespenstische Lied, das ich früher an diesem Tag die ganze Zeit im Kopf hatte. Wo hatte ich das alles schon gehört, warum kam es mir so bekannt vor?
"Rina... Rina!"
Shanes Stimme riss mich heute schon zum zweiten Mal aus diesen Überlegungen und ich schrak leicht hoch. Ich blickte in Shanes besorgte Augen, die auf irgendeine Reaktion von mir warteten, doch ich fragte lediglich:
"Gibt es noch mehr von diesen Gestaltwandlern, so wie du einer bist?"
Shane sah mir verwirrt in die Augen, die immer noch leer und hypnotisiert wirken mussten und erwiderte:
"Du meinst solche, die sich in Wölfe verwandeln können? Ja, es gibt sogar ein ganzes Rudel. Die Menschen wissen nichts von unserer Existenz und das sollte auch so bleiben!"
Bei diesem Satz wurde ich nun endgültig aus meiner Starre gerissen und ich sah Shane beinahe bedrohlich an.
"Warum hast du es mir dann erzählt? Du hättest mich doch auch einfach wieder anlügen und mir erzählen können, du wärst der Einzige, der diese Verwandlungsgabe besitzt. Warum hast du mir von der Existenz der Gestaltwandler erzählt?"
Ich hatte mich so in Rage gesprochen, dass ich nun aufgeregt im Wohnzimmer auf und ab lief, Shane hatte inzwischen die Decke beiseite geschoben und sich aufgesetzt. Ich bemerkte seine Sorge über meinen Aufruhr, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass er mir immer noch etwas verheimlichte. Vorhin, als er von Gestaltwandlern gesprochen hatte und von der Unwissenheit der Menschen, hatte es so geklungen, als würde er mich nicht zu den Menschen zählen, sondern.. sondern zu diesen Gestaltwandlern. Ich sprach Shane darauf an und er senkte bloß den Blick. Ich regte mich nun noch weiter auf und sagte:
"Shane, was verschweigst du mir? Du hast doch irgendwas zu verstecken... Sag es mir! Warum hast du mir dein Geheimnis anvertraut? Warum?"
"Na weil du eine von uns bist!", schrie er und war dabei vor Wut aufgesprungen, weil er seine Verwundung ganz vergessen hatte. Er wurde aber schnell wieder daran erinnert, denn er zuckte anschließend vor Schmerz zusammen und wäre beinahe gestürzt, hätte ich ihn nicht rechtzeitig aufgefangen. Er landete sanft in meiner Umarmung und so standen wir nun da. Eng umschlungen, ich, kurz vor einem Nervenzusammenbruch, weil ich erfahren hatte, dass ich eine Gestaltwandlerin war, was auch immer das nun sein sollte, und er, sowohl körperlich als auch seelisch verletzt, weil er wusste, dass er mir mit seiner lautstarken Aussage unmissverstädlich klar gemacht hatte, dass ich kein Mensch und mein Leben eine riesengroße Lüge war.
Texte: Copyright für die Geschichte und die Charaktere liegen bei mir, die Bilder hab ich von Google :)
Tag der Veröffentlichung: 19.08.2011
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