Ein Ahornblatt, orange verfärbt, löst sich von einem Baum zu meiner Linken, und der kühle Herbstwind trägt es fort, sanft wiegt er es, transportiert das Blatt bis zur Brücke und lässt es dort fallen, übergibt es dem murrenden Fluss, der sich unter dieser schlängelt. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen und ich ziehe den dünnen Mantel noch enger um mich. Er war im Sonderangebot und ich habe ihn nur gekauft, weil er die Farbe ihrer Augen hat: Kastanienbraun. Meine Stiefel schlagen auf das Kopfsteinpflaster, das uneben und mit lauter Dellen versehen ist, manche verursacht durch die Absätzen hochhackiger Schuhe, andere durch das Spiel des Wetters oder dem eisernen Griff der Zeit.
Jetzt liegt dieser Stadtteil ruhig und friedlich da, doch tagsüber ist es hier voll und laut. Die Menschen drängeln sich unter Einsatz ihrer Ellenbogen vorwärts, wollen ins Innere der Stadt vordringen, wo sich der Duft frischer Brötchen mit dem Gestank der Abgase vermischt. Alle haben es eilig. Für sie ist das Leben weitergegangen. Ganz normal - nur für mich und meine Eltern ist es stehengeblieben. Es scheint, als ob wir alle auf ein und derselben Stelle treten und nicht vorwärts kommen. Ein Strudel voller Gefühle hält uns gefangen. Wir werden nach unten gezogen und an unserm Inneren wird gezerrt. Das Gefühl, gleich zu ertrinken, den Mund voller bitterem, kaltem Wasser, lebt in unseren Körpern. Vergeblich sind die Versuche zu entkommen. Das Glück ist erfroren und zersprungen, die scharfen Kanten der zersplitterten Teile schmerzen.
Das Klappern meiner Schuhe wird heftiger und hallt von den Hauswänden wider. Unter meinem Mantel raschelt etwas. Ein Papiertüte, die dort zwischen Arm und Körper gepresst ist. Es ist ein Geschenk für Mirou. Meine kleine, süße Schwester. Sie ist immer über diese Brücke gehopst, sodass die Münzen in der Tasche ihres Sommerkleides geklimpert haben. Und währenddessen hat sie ein Lied gesungen, in dem all die Dinge vorkamen, die sie sich von ihrem Taschengeld kaufen würde. Schokolinsen, Kaugummi, Zuckerstangen und Bonbons. Hin und wieder hat sie sich umgedreht und ungeduldig auf der Stelle getreten, mich mit funkelnden Augen böse angeguckt, wenn ich mich mal wieder in dem Anblick eines Schaufensters verloren hatte. Dann kam sie zurückgelaufen, hat mich, kräftiger als ihren dünnen Ärmchen zuzutrauen war, gepackt und mich hinter sich hergezogen und dabei leise vor sich hingeschimpft. Sie war erst wieder zufrieden, als man das Süßigkeitengeschäft sehen konnte. Die kleine Glocke, die an der Tür hing, bimmelte hoch und klar, wenn man das Geschäft betrat. Und auf dieses Läuten hin kam dann Frau Holder, die Inhaberin des kleinen Ladens, hinter die Theke gewatschelt und fragte mit ihrer kräftigen Stimme: "Was darf es diesmal sein, mein Zuckerschneckchen?" Und dabei haben ihre freundlichen Schweinsäuglein immer gutmütig geblitzt. "Ich bin keine Schnecke, die sind ekelig. Ich heiße Mirou!", hat meine Schwester dann verägert geantwortet. Und den letzten Teil ihres Namen hat sie immer gegurrt, wie eine Taube. Manchmal kann ich den Klang immer noch hören, doch er verblasst mehr und mehr.
Ich habe mein Ziel erreicht. Unter mir fließt nun das Flüsschen und gurgelt sein Lied, am Ende der Brücke erhellt eine alte Laterne den Weg und durchbricht mit ihrem Licht die kommende Dunkelheit. Ich bücke mich hinunter, zu dem kleinen Rahmen, den ich dort angebracht habe und der ein Foto meiner Schwester birgt. Lächelnd und stolz ihre Zahnlücke zeigend, so schaut sie mich an. Ihre knubbelige Nase, die nicht in das schmale Gesicht passt, ist über und über mit Sommersprossen bedeckt. An ihnen hat sie das Zählen geübt. Ein Lächeln huscht bei der Erinnerung über mein Gesicht. Im Arm hält sie Emma, ihre Plüschkuh, mit der rosa Schleife im Haar. Meine Hand streichelt zärtlich über das Bild und dabei fällt die Tüte auf die Straße. Sie öffnet sich, und ein eingewickeltes, rundes Bonbon rollt die Brücke hinunter. Ich schaue dem Bonbon hinterher, lege dann die Tüte neben das Bild, blicke in die runden, fröhlichen Augen und flüstere in die Stille: "Mirou. Ich habe ein Geschenk für dich. Deine Lieblingsnascherei. Karamellbonbons."
Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Bildmaterialien: Merdad Zaeri (Künstler) Kalenderblatt zum Tag der vermissten Kinder / Habe die Erlaubnis erhalten, dieses Werk vom Künstler zu verwenden!
Tag der Veröffentlichung: 20.08.2012
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