Cover

1.

 

„Die häufigste Darstellung eines Drachen zu Zeiten des Mittelalters ist eine schlangenartige Kreatur mit dem Kopf eines Hirsches, den Flügeln eines Adlers, Klauen eines Löwen und dem Schwanz eines Fisches. Ich hab hier mal ein paar Bilder vorbereitet…“

Möglichst unauffällig hob Lina die Hand vor den Mund und gähnte. Das war nun schon der fünfte Vortrag in Folge, den sich die Klasse heute antun durfte. Nach Minnesängern und dem Teufel nun Drachen. An sich hätte sie dem Thema auch durchaus etwas abgewinnen können. Aber der Typ da vorne brachte es einfach nicht. Sie wusste noch nicht einmal seinen Namen, da sie nur diesen einen Kurs mit ihm hatte und er sonst im Unterricht keinen Ton sagte. Zu den gut Aussehenden zählte er auch nicht. Ihr Traumprinz wäre er definitiv nicht. Und das lag nur zum Teil an dem schlabberigen Wollkragenpulli in lindtgrün, der farblich so absolut nicht zu der Cargo Hose in olive passte. Nun hantierte dieser Typ am PC herum, damit seine Präsentation, die vom Beamer an die Wand geworfen wurde, endlich auf die nächste Folie wechselte.

Lina stützte ihren Kopf auf die Hand, vergrub die Finger in ihrem kurzen Stufenschnitt. Wenn der Namenlose dort vorne wenigstens nicht alles nur ablesen würde. Dauernd verhaspelte er sich und seine Stimme klang wie eine Gute-Nacht-Geschichte. Die ungeteilte Aufmerksamkeit der Klasse hatte er dementsprechend nicht. Alle außerhalb der Lehrer-Sichtweite daddelten ungehemmt auf ihren Handys, einer machte tatsächlich schon die Mathe-Hausaufgaben.

Sie sah zu ihrer Freundin hinüber, die mit dem Kopf auf dem Tisch irgendetwas auf ihren Block kritzelte. Die Beine in den schwarzen Strumpfhosen ausgestreckt ließ sie unrhytmisch die Spitzen ihrer blaugrauen Absatzschuhe gegeneinander ticken. Glasig blickte Lina wieder an die Wand, wo mittelalterliche Abbildungen von Drachen viel zu hektisch durchgeklickt wurden.

„Bis zum Beginn der Neuzeit waren Drachen als Lebewesen anerkannt.“ Tatsächlich senkte er für seinen nächsten Satz den Zettel, den er in seinen schwitzigen Händen umklammert hielt. „Klingt doch so, als hätte es sie wirklich gegeben.“ Er freute sich richtig über diese Aussage, musste dann suchen, um seinen Anschluss wieder zu finden.

Lina grinste bloß. Drachen. Was für eine Idee. Dann vielleicht auch noch Nessi und der Yeti?

Ihr Blick wanderte von dem großen, leuchtenden Fragezeichen an der Wand hinüber zum Whiteboard, das außer in diesem Unterricht von kaum einem Lehrer genutzt wurde. Weiter über die Tür, die jetzt schon Freiheit versprach, mit dem vergilbten Raumnutzungsplan daran. Dort war vermerkt, dass sie noch… fünfzehn Minuten in diesem Raum auszuhalten hatte. Nach den aufgeschobenen graugelben Vorhängen lockte der Blick nach draußen. Zwar hatten weiße Wölkchen den Himmel zugezogen, aber die Temperaturen waren Frühlingshaft. Hier aus dem zweiten Stock ließen sich die vor dem Gebäude stehenden Baumwipfel erkennen, deren Knospen und erste Blätter in satten Farben strahlten. Weiter hinten noch mehr Grünanlage, von dem Asphaltplatz sah man aus diesem Winkel lediglich den äußersten Streifen.

Neben ihr begannen zwei Mitschüler zu tuscheln. Reichlich laut dafür, dass sich einer von ihnen gerade dort vorn abmühte. Verübeln konnte Lina es ihnen nicht. Sie sprachen über eine bevorstehende Party und der Name Jason fiel.

Ein Räuspern ließ sie augenblicklich verstummen. Lina sah zum Ursprung dieser Maßnahme verstohlen über ihre Schulter. In der letzten Reihe saß der Herr Lehrer. Ein Klemmbrett auf dem Schoß und die Brille mit den dünnen Rändern auf der Nase. Ordentlich für den Unterricht angezogen, in einem kastanienbraunen Hemd mit dezentem Muster, dass in einem geringfügig hellen Farbton schnörkelige Streifen über den schönen Stoff zog. Er war noch reichlich jung und der heimliche Schwarm vieler Schülerinnen und eines Schülers. Obwohl er gerüchteweise eine Freundin hatte. Die kleidete ihn dann wahrscheinlich auch so geschmackvoll ein, oder ob er selbst ein Händchen dafür hatte? Wachsam ruhte sein Blick noch kurz auf den Störenfrieden, sank dann wieder auf seinen Block.

Lina drehte sich wieder um. Herr Maier war schon viel eher ihr Typ, als der Rollkragenträger dort vorne. Ob er wohl auch Strichmännchen und kleine Katzen neben seine Notizen malte? Kurze Zeit amüsierte sie der Gedanke, dann ließ sie die monotone Stimme des Vortragenden wieder wegtreten. Ihr eigener Notizblock war reich verziert mit Blümchen, Schriftzügen und Smileys. Ab und an fand sich auch der Name Jason in Kombination mit einigen Herzchen. Die Stifte lagen über ihren Tisch verteilt. Gedankenlos starrte sie den vor ihr liegenden Fineliner an. Pinkfarben. irgendwie so viel spannender als Drachen in Sagen und Erzählungen. Siegfried konnte bleiben, wo er war. Es war die verdammte letzte Stunde. Nur noch dieser eine Vortrag der sie und die anderen vom Wochenende trennte.

So ein schönes Pink…

Halb war Lina eingedöst, ihre vom Mascara dunklen Wimpern zeigten die Welt wie durch einen magischen Vorhang. So ließe sich auch der schwebende Stift erklären. Erst langsam, dann schlagartig weiteten sich ihre Augen. Ihr pinkfarbener Fineliner schwebte gut eine Handbreit über der Tischplatte. Was zum…

Sie blinzelte, schüttelte den Kopf. Klappernd fiel der Stift hinunter, rollte vom Tisch und klapperte weiter. Lina kniff die Augen zusammen. Der Vortragende hatte inne gehalten und viele hatten sich zu ihr umgedreht.

„Tschuldigung“, flüsterte sie, bückte sich eilig, um den Stift wieder aufzulesen. Als sie sich aufsetzte, fiel ihr Blick auf den Lehrer. Er starrte sie an.

Augenblicklich saß Lina wieder gerade, schob ihre Stifte zusammen, damit keiner von ihnen mehr vom Tisch rollen konnte. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Der Lehrer hatte sie nicht wie einen gewöhnlichen Störenfried angesehen. Da hatte mehr in seinem Blick gelegen. Irgendwie…

Die Hände in ihre Jeans gekrallt, unternahm sie einen weiteren Versuch, dem Drachen-Vortrag zu lauschen. War da eben ernsthaft ihr Stift geschwebt?

„Drachen in modernen Inszenierungen.“ Einige Filme und Computerspiele mit Drachen folgten. Lina lauschte so gut es ging und meinte noch immer, diesen bohrenden Blick in ihrem Rücken zu spüren.

„Noch Fragen?“

Stille kehrte ein. Keiner stellte Fragen, alle wollten bloß ins Wochenende. Einer fing an und schon klatschte ihn die Klasse von der Bühne. Erleichtert tappte der Namenlose zu seinem Platz, musste noch einmal nach vorne, um seinen USB abzuziehen.

Herr Maier gab ihm eine 3, erinnerte an die gestellte Hausaufgabe und wünschte der Klasse ein erholsames Wochenende. Das große Lärmen und Stühlerücken ging los. Von allen Seiten piepte und klingelte es, als die Telefone ihren Ton wieder an stellten. Reißverschlüsse wurden unsanft zu gezogen und mit den während des Vortrags beschmierten Blättern Zielwerfen auf den Papierkorb neben der Tür veranstaltet. Einige riefen sich Verabredungen zu und diskutierten schon, wie der Abend verbracht werden sollte.

Lina wollte mit ihrer Freundin Anni noch im Center einen Kaffee trinken gehen und packte einigermaßen gemächlich ihre Stifte ein. Sie fuhr regelrecht zusammen, als sie von pink lackierten Fingernägeln in die Seite gepiekt wurde.

„Ich warte draußen“, flötete Anni ihr zu, warf die braunen Locken zurück und folgte dem Schülerstrom nach draußen. Wie üblich wollte sie wohl dem einen oder anderen Schönling aus den höheren Stufen schöne Augen machen. Lina seufzte, schenkte ihrem pinkfarbenen Stift noch einen langen Blick und war mit die Letzte, die das Klassenzimmer verließ.

„Alina? Kann ich dich noch einmal kurz sprechen?“

Ertappt trat die Angesprochene vors Lehrerpult, während die letzten Schüler nach draußen flüchteten. Was kam jetzt?

Hatte Herr Maier den Stift schweben sehen? War das etwa keine Einbildung gewesen? Hielt er sie dann für einen Psycho oder Mutanten und so? Was machte man, wenn man sah, dass jemand Stifte durch die Gegend fliegen ließ?

„Es geht um deinen Aufsatz von letzter Woche. Das freie Schreiben zu einem alternativen Handlungsstrang für Goethes Faust“, konzentriert schob er Zettel in seiner Mappe zurecht. „Du hast viel Fantasie und in Punkto Wortschatz und Formulierung können sich deine Mitschüler noch viel von dir abgucken. Könntest du dir vorstellen, an einem Deutsch-Förderkurs teilzunehmen?“

Sie war bemüht, nicht allzu erleichtert aufzuatmen. Was hatte sie denn erwartet? Ihre Müdigkeit hatte ihr bloß einen Streich gespielt. Niemals hätte sie etwas zum Schweben bringen können.

„Ok?“, Lina wusste nicht recht, was sie von dem Angebot halten sollte. Doch, der Aufsatz hatte schon Spaß gemacht. Sie hatte sich austoben können und die Szenen, die ihr ohnehin im Kopf herum schwirrten einfach mit anderen Namen aufgeschrieben.

„Kreatives Schreiben und so“, Herr Maier räusperte sich und beobachtete seine Schülerin aus dem Augenwinkel. Seine Finger tippten auf den Metallverschlüssen seiner Tasche, vor ihm auf dem hölzernen Pult lagen sein Klemmbrett und eine Mappe. Neben den Notizen zum Vortrag waren keine Katzen, aber rot umkringelt stand dort die 3. „Schreibtechniken, Spannungsaufbau, … sowas eben.“ Er zog erstaunlich zielsicher aus seiner Mappe einen Zettel hervor und reichte ihn ihr.

„Das sind die Informationen für deine Eltern. Hättest du denn Interesse?“

Sie nickte, „Ich denke schon.“

 

Natürlich wartete Anni schon ungeduldig auf sie. Die Frühlingssonne spielte in ihren beneidenswerten Locken, die mit dem voluminösen Tuch um den schlanken Hals noch einmal so viel wirkten. Über der weißen Bluse trug sie eine schokobraune Jacke mit gelb-goldenen Applikationen, trotz der angenehmen Wärme war eben noch nicht Sommer. Die Schultasche hing lässig über der linken Schulter und enthielt keines der schweren Schulbücher, dafür aber zuverlässig Lipgloss und Lidschatten, falls es mal einen Notfall gab. Zwar schaute die hübsche Brünette reichlich gebannt auf ihr Handy, ließ es aber in der Tasche verschwinden, als Lina aus dem Gebäude trat. Mit einer Hand stopfte sie den Infozettel in ihre Umhängetasche.

„Was war denn noch?“

Gerade wollte Lina zu einer Antwort ansetzen, als ihre Freundin vorerst abwinkte. „Erzähl es mir gleich. Unser Bus fährt in zwei Minuten.“

Der Bus brachte sie zur Einkaufsmeile und mit ihnen stiegen eine ganze Menge weiterer Schüler aus, die endlich ihr Wochenende genießen wollten. Auszusteigen war wieder einmal, als würde man einen Druckverband abnehmen. Die Frühlingsluft wurde durch einige Raucher an der Bushaltestelle geschmälert, aber nach einigen Schritten schlug ihnen ohnehin die warme Luft des Einkaufcenters entgegen. Goldenes Licht, die neueste Mode in den Schaufenstern und polierte Fliesen, auf denen ihre Absätze leise klackten. Anni plauderte unbekümmert vor sich hin, kommentierte Outfits in den Schaufenstern und lotste sie in einen Coffeeshop. Sie ergatterten einen Platz im hinteren Teil des Ladens. Dort war es ruhiger, das Licht gemütlich schummrig und die große Glasfront ließ sie vorbeikommende Leute beobachten. Hautsächlich Schüler und Erwachsene, die in Businesskleidung und mit Headset unglaublich wichtig wirkten. Das weiße Tischchen präsentierte neben Zucker und Kaffeeweißer eine Getränkekarte, die das Angebot des Monats, nämlich Erdbeer-Frappucino anpries. Die Barhocker mit den dicken Lederkissen ließen ein so schön groß wirken und die Absätze konnten prima in den Fußstützen einhaken. Erst als sie beide einen großen Schokocappuccino mit Caramelsirup vor sich stehen hatten schien Anni ihre Frage wieder einzufallen.

"Hat Jason dich um ein Date gebeten?“

„Ha, ha“, Lina streckte ihr bloß die Zunge heraus. Mit dem Plastikstäbchen rührte sie in ihrem Becher voll Schaum und Schokosplitter herum. Eigentlich schmeckte ihr das Zeug immer noch zu bitter. Als sie meinte, den Milchschaum glitzern zu sehen schaute sie schnell auf ihr Handy, das mit schwarzem Bildschirm neben ihr auf dem Tisch lag.

„Herr Maier wollte noch was.“

Anni verschluckte sich fast. Mit erwartungsvoll aufgerissenen Augen starrte sie Lina an.

„Nur… nur fragen, ob ich Interesse habe an einem… kreativen Schreibkurs.“

Die braunen Locken bauschten auf, als Anni sich kopfschüttelnd zurück lehnte.

„Er meinte, weil mein Aufsatz wohl so gut war.“

„Aha.“ Der Blumenduft ihres Parfums wehte bis zu Lina hinüber. Ihre Augen glitzerten und sagten auch ohne Worte „Hey, noch mehr Zeit mit Herrn Gutaussehend.“

Linas Blick glitt über die blaugrau gehaltene Kollektion der nahen Schaufenster. Jeder Luftzug und jedes Flimmern von Licht in der Luft kam ihr ebenso unwirklich vor wie etwa ein fliegender Stift. Einbildung? All die Merkwürdigkeiten um sie herum? Der Stift?

„Und?“

Lina zuckte zusammen, sah ihre Freundin wohl eine Spur zu erschrocken an, sodass diese grinsen musste.

„Machst du den Kurs und wirst Bestseller Autorin?“

Sie rollte mit den Augen und nahm einen Schluck Kaffee. Süßer Schaum und dieser bittere Schokodrink. „Ich denke schon. Ich kann es mir ja erstmal anschauen.“

Das sagte sie. Doch in ihrem Kopf schwebte ein Stift umher und immer wieder hörte sie Herr Maiers Worte, die er noch an sie gerichtet hatte, als sie schon halb aus der Tür war.

„Alina“, hatte er gerufen, als sie eben die ersten Stufen hinunter in die Freiheit genommen hatte. Sie hatte sich umgedreht und die blitzenden, braunen Augen ihres Lehrers hatten ihr einen Schauer den Rücken hinunter gejagt.

„Damit du es weißt, ich habe es gesehen.“

 

2.

 

Das Wochenende fühlte sich merkwürdig an. Ebenso die ganze darauffolgende Woche.

Egal was sie tat, Lina war nicht ganz bei der Sache. Die Party am Samstagabend, die Bioklausur am Dienstag, ihr Lieblingsfilm am Mittwoch im Abendprogramm. Sie fühlte sich merkwürdig. Irgendwie krank, aber nicht so, dass es ihr schlecht ging. Es war mehr so eine Kopfsache. In ihrem Kopf schwebte ein Stift durch die Gegend. Das war nicht normal. Alles andere als normal.

Dazu kam, dass sie überall meinte Unnatürliches zu entdecken. Ein in der Cola aufsteigender Strohhalm, die bunten Lichtpunkte, die der Kristall vor dem Fenster an die Wand warf und die Merkwürdigkeit, dass auch die Lieblingshose direkt nach dem Waschen nicht passte. Und auch wenn sich alles als Täuschung von Licht, Schatten und ihrem Verstand heraus stellte, so konnte sie den Gedanken doch nicht loswerden.

War etwas mit ihr? Stimmte etwas mit ihr nicht?

War sie ein Mutant, eine Genmanipulation, ein Experiment?

Sie hatte zu viele Filme gesehen, um diese Vorstellungen nicht ausschmücken zu können. Vor allem der erste Harry Potter mit den blöden schwebenden Federn war keine Hilfe gewesen, den Kopf frei zu bekommen.

Dabei war es wirklich passiert, oder? Ihr Lehrer hatte es doch auch gesehen.

Und hatte diese Förderkurs-Sache damit zu tun?

Förderkurs.

Nachdenklich drehte Lina einen ihrer Stifte in der Hand. Fliederfarben, genau wie ihr Nagellack. Förderkurs.

Für ihre Mitschüler hatte das Wochenende bereits begonnen. Anni war ein wenig enttäuscht mit einigen anderen Mädels abgezogen. Hatte die braunen Locken zurück geworfen, die Lippen geschürzt und auf beleidigt gemacht. „Lina, ich hab doch diesen süßen Rock gesehen. Wer soll mir denn jetzt sagen, ob der mir steht. Und welche Bluse dazu passt?“ Lina war sitzen geblieben und hatte Anni ziehen lassen. Auf morgen vertröstet und versichert, dass ihr dunkelblau auf jeden Fall gut stehen würde. Sie hatte ein mulmiges Gefühl in der Magengegend und beobachtete ihren Lehrer. Gemütlich saß er hinter dem Pult, machte Notizen in einem kleinen Büchlein. Das dunkle Jackett über der Stuhllehne und ein weißes Hemd mit einem kaum merklichen Farbstich ins Blaue. Nicht zum ersten Mal fragte Lina sich, ob es hier wirklich um kreatives Schreiben ging. Tische und Stühle standen unordentlich herum, Papierreste lagen auf einigen Tischen und natürlich diese komischen Radiergummiwürste. Richtig verlassen sah es aus. Freitag nach Unterrichtsschluss eben. Für Lina hatte das Ganze etwas von Nachsitzen. Obwohl sie sich nicht sicher war, ob Nachsitzen so funktionierte. Ungeduldig räusperte sie sich. „Wer kommt denn noch?“

Herr Maier sah von seinem Büchlein auf, seine Brillengläser spiegelten das Licht der eingeschalteten Lampen. Die Masse an aufgezogenen Wolken sorgte für einen reichlich düsteren, frühen Nachmittag.

„Niemand.“

Lina sah ihren Lehrer fragend an, eher noch so, als wüsste sie, dass er ihr Schwachsinn auftischen wollte. Mit einem hölzernen Klappern landete das Notizbuch auf dem Tisch.

„Außer dir ist niemand in diesem Kurs.“

Stille schwebte zwischen ihnen. War nicht in der Parallelklasse so ein Junge, der einen erfolgreichen Weblog über… Nerdkram hatte? Welcher Lehrer machte sich denn die Mühe, für nur einen Schüler solch einen Kurs auf die Beine zu stellen. Das lohnte sich doch überhaupt nicht. Und so überragend war ihr Aufsatz nun auch wieder nicht gewesen, das wusste sie selbst. Musste sie sich am Ende irgendwelche Sorgen machen?

„Okay“, bedächtig legte sie den Stift vor sich auf dem Tisch ab und ließ ihren Lehrer dabei nicht aus den Augen. „Was… was machen wir denn als erste Übung? Ich habe schon mal Schreibübungen gemacht-„

Er erhob sich und sie verstummte. Sah geradezu ehrfürchtig zu ihm hinauf, wie er sich die Brille den Nasenrücken hoch schob. Die andere Hand hatte er in der Tasche seiner Jeans vergraben. Es war Freitag, er trug immer Jeans am Freitag. Und nur dann. Casual-Freitag oder so, hatte er auf Nachfrage einmal erklärt. Und was war jetzt? Was sollte sie alleine, mit ihrem gut aussehenden Deutschlehrer?

„Als erstes“, langsam trat er vor ihren Tisch, „Als erstes möchte ich wissen, was du letzte Woche mit deinem Stift angestellt hast.“

Kein Gedanke ließ sich in ihrem Kopf festhalten. Ihr klappte einfach nur der Mund auf. Bedächtig legte sie den lilafarbenen Stift aus der Hand, ganz vorsichtig, damit er nicht vom Tisch rollte und begann unwillkürlich an den Rüschenärmeln ihrer Blümchenbluse zu zupfen. Nur die Ruhe bewahren.

„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

Seine Lippen kräuselten sich, als amüsiere er sich über einen Scherz. Herr Maier beugte sich vor, bis er mir ihr auf Augenhöhe war. So nah war er Lina, dass sie sein Rasierwasser riechen konnte.

„Sag mir, wie du den Stift zum Schweben gebracht hast.“

Sie starrten sich an. Linas Gedanken rasten immer noch, während der Blick ihres Lehrers so ernst und klar war, dass sich ihr Herzschlag wieder etwas beruhigte.

„Ich weiß es nicht.“ Das war die Wahrheit. Trotzdem blinzelte sie nervös. Es war merkwürdig, darüber zu reden. Noch dazu mit einem Lehrer. Mit keinem Wort hatte sie es Anni gegenüber erwähnt. Dabei erzählte sie ihr sonst alles. Zu groß war die Befürchtung, ihre beste Freundin könnte sie für verrückt erklären. Eigentlich hatte sie die letzten Tage sogar versucht, nicht einmal daran zu denken, weil es sie verwirrt hatte.

Herr Maier wandte seinen Blick ab, zog quietschend einen Stuhl heran und setzte sich. „Du weißt es nicht?“

Bestimmt schüttelte sie den Kopf. Ihre Ohrringe verfingen sich dabei schon wieder in einigen losen Haarsträhnen.

Ein Seufzen erklang. Er schob die Brille zurück und seine Haltung entspannte sich.

Dieses betretene Schweigen kehrte wieder ein. Lina wusste so ganz und gar nicht, was sie hiervon halten sollte. Herr Maier lächelte freundlich, als wäre nichts gewesen.

„Versuch es noch einmal.“

Sie riss die Augen auf, „Was?!“

Er deutete bloß auf den vor ihr liegenden Stift, „Bring ihn noch einmal zum Schweben.“

„Soll das ein Scherz sein?“

Sein Blick wurde ernst, „Ganz und gar nicht.“ Er lehnte sich in diesem unbequemen Schulstuhl zurück, überschlug die Beine und beobachtete sie.

Unschlüssig blickte Lina zwischen ihrem Lehrer und dem Stift hin und her. Der Stift, Herr Maier und wieder der Stift. Er wippte, fast schon belustigt, mit der Spitze seines braunen Lederschuhs. Insgeheim hatte sie schon einen Gedanken daran verschwendet, ob es noch einmal funktionieren könnte. Doch sie hatte nicht gewagt es auszuprobieren. Wenn es noch einmal funktionierte ließe es sich schließlich nicht mehr abstreiten. Eigentlich wollte sie es auch gar nicht können. Ihr gefiel die Normalität. Kaffeetrinken, Jungs, Nagellack, Klausurenstress, das Übliche eben.

Andererseits…

Sie wollte wissen, ob es funktionierte. Ob sie es wirklich konnte. Wäre doch cool, oder?

Entschlossen fixierte sie den Stift. Wachsam. „Schwebe“, dachte sie. Formte die Worte in ihrem Kopf und sprach sie immer wieder in Gedanken. „Schwebe!“

Nichts.

Na gut, eine der Lampen flackerte, aber das war ganz normal.

Enttäuscht entspannte sich Linas Haltung. Was hatte sie auch erwartet? Sie war eben doch nur ein ganz normales, durchschnittliches Mädchen. Dabei hatte sie noch vor Augen, wie er letzten Freitag in der Luft gehangen hatte. Schließlich hatte sie sogar davon geträumt. Der Vortrag war in den Hintergrund gesunken und die einfache, längliche Form des Stifts war ihr perfekt vorgekommen. Ganz leicht und gut und sie wäre am liebsten aus dem Fenster in die Freiheit geschwebt.

Es klapperte, als das Plastik auf dem Tisch herum wackelte. Lina spürte vor Verblüffung erneut ihre Kinnlade herunter fallen. Herr Maier lächelte zufrieden.

Sie schaute ihn an. Seinen Blick, seine Reaktion. Das machte sie sicher. Sie bildete sich das nicht bloß ein.

Erwartungsvoll versuchte sie, den Blick seiner braunen Augen zu erhaschen.

„Was hat das zu bedeuten?“, lag ihr auf der Zunge. Doch die Worte wollten einfach nicht hervor kommen. Sicherheitshalber kniff sie sich selbst in die Wange. Alles echt. Ihre linke Hand befreite die Haarsträhnen aus ihrem Ohrring.

Der Stuhl quietschte über den Boden, als Herr Maier sich erhob und die Hände in den Hosentaschen zum Pult wanderte. Er setzte sich auf die Tischkante und drehte die Kopf nur ganz leicht, um nach draußen zu schauen.

„Hast du jemals daran gedacht, Magie zu lernen?“

Sie stutze. „Magie?“ Der Stift klapperte nicht mehr. „Sie meinen Kartentricks und so? Dafür bin ich nicht fingerfertig genug. Ich habe das schonmal ausprobiert, war so eine Phase.“

Er lachte, schüttelte den Kopf und wandte sich mit verschränkten Armen wieder ihr zu. „Nein, ich meine richtige Magie. Dinge wie…“

„Stifte schweben lassen?“

Ein Lächeln und ein Nicken. „Das ist nur der Anfang, versteht sich.“

Sie biss sich auf die Lippen, zupfte wieder an ihren Ärmeln. Vor ihrem inneren Auge wanderten Bilder von Magiern vorbei, die Sie aus Filmen kannte. Die Blitze schleuderten, Feuer erschufen und das Wetter beherrschten. Mit albernen Hüten, weiten Roben und Zauberbüchern. „Was denn so?“

Hoffnungsvoll erwartete sie seine Antwort. Irgendwie fand sie doch Gefallen an dem Gedanken. Fantastische Fähigkeiten. So lange sie keinen komischen Hut aufsetzen musste. Herr Maier suchte wohl noch nach den richtigen Worten. „Ich will dir keine falschen Hoffnungen machen. Wir werden sehen, wie weit du kommst.“

Enttäuscht stützte sie den Kopf auf die Hand. Das klang wie „Wenn du Pech hast bleibt es beim Stiftewackeln.“

Aber warum eigentlich?

„Warum kann ich das?“, schoss es aus ihr hervor. Warum sie? Warum nicht die Klassenstreberin? Warum nicht Anni? Warum nicht dieser Namenlose, der sich doch so für Fabelwesen und Sagen interessierte?

„Zufall?“, er zuckte die Schultern. „Einige trifft es einfach.“

Argwöhnisch hob sie eine Braue. Das klang doch reichlich willkürlich. Sie sollte also einfach ein normales Mädchen sein, dass zufällig Magie beherrschte? Andererseits wüsste sie auch nicht, dass in ihrer Familie schon einmal jemand Stifte durch die Gegend hatte fliegen lassen. Sie mochte ihre Eltern und Großeltern, aber zaubern konnten die nicht. Ihre Mutter machte tollen Käsekuchen, aber als Magie ging das wohl nicht durch.

„Und?“

Sie musste den Gedanken an frischen Käsekuchen aus ihrem Kopf vertreiben, als Herr Maier sie so plötzlich ansprach. „Willst du Magie lernen?“

„Ich –ich denke schon“, ausweichend fixierte sie wieder ihren Stift, „Das ist aber nicht gefährlich oder schädlich oder so?“

Er lachte auf, sodass sie sich fast schämte gefragt zu haben. „Nein gefährlich ist es eigentlich nicht. Schließlich bin ich dein Lehrer. Ich darf dich von Berufswegen gar nicht in gefährliche Situationen bringen.“

Lina zwang sich zu einem Lächeln. „Okay“, kam es leise von ihr.

„Gut“, mit ein paar langen Schritten stand er wieder vor ihrem Tisch. „Versuch es nochmal.“

Er setzte sich und sie war so unzuversichtlich wie vor der letzten Matheklausur. Offenbar aufgeregt schob ihr Lehrer die Brille zurecht.

„Dann ist hier auch gleich deine erste Lektion. Oder Übung.“

Vorgebeugt sah er ihr in die Augen. Seine Ruhe steckte an. „Du musst daran glauben. Du musst ihn vor dir sehen, wie er schwebt. Denk daran, wie es letzten Freitag war. Hab einfach nur das Bild vor Augen, der Rest kommt von allein.“

Sie zögerte, kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Du schaffst das, Lina.“ Was hatte sie schon zu verlieren? Gleichgültig schaute sie den Stift an, der da vor ihr auf dem Tisch lag. In ihrem Kopf war das Bild des in der Luft hängenden Schreibwerkzeuges vom letzten Freitag. Wie an einer unsichtbaren Schnur hatte er da auf der Stelle geschwebt.

Herr Maier pfiff durch die Zähne und sie sah wieder, was direkt vor ihr geschah. Sie hatte es geschafft. Der Stift schwebte wieder.

Ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen lehnte ihr Lehrer sich zurück.

„Ich muss sagen, ich bin sehr zufrieden.“

 

3.

 

Es war wie ein Traum. Ein Roman. Ein Fantasy-Film.

So hatte es sich für Lina angefühlt. Als wäre all dies nicht mehr als ein verrückter Traum, aus dem sie jeden Morgen unerwartet erwachen könnte.

Bisher war nichts dergleichen geschehen. Ihre… Fähigkeiten waren geblieben. So unwirklich sie auch erschienen.

Wie lange war ihre Stift-Schwebe-Nummer nun her? Zwei Monate? Inzwischen fühlte sich das, was sie konnte, richtig gut an. Herr Maier hatte ihr erklärt, welche Möglichkeiten sich ihr damit auftaten und den freundschaftlichen Hinweis gegeben, ihre Fähigkeiten geheim zu halten. Sonst steckte man sie noch in die Klapse oder verschrieb ihr irgendwelche Mittelchen.

Keinen Moment war Lina auch nur auf die Idee gekommen Anni oder irgendeinem anderen Menschen davon zu erzählen. Sie wollte nicht für verrückt gehalten werden. Klar, sie könnte es ihnen zeigen. Vor ihren Augen Stifte schweben lassen. Dann wäre sie ein Freak. Oder ein Spielverderber, weil sie nicht verraten wollte, welcher Trick dahinter steckte. Nein, sie mochte, wie es war. Sich mit Anni zum Kaffee treffen, ins Schwimmbad gehen und abends, wenn die Eltern glaubten, sie würde bei einer Freundin Fernsehen, heimlich auf Partys gehen. Dann war da noch die Zauberei, aber eigentlich hatte sie mit ihrem normalen Leben genug zu tun. Sie war eben ein normales Mädchen, das manchmal etwas zauberte.

Wieder und wieder sagte sie sich das. Und mit jedem Mal klang es ein Stück weit glaubwürdiger.

Auch ihre Eltern wussten natürlich von nichts. Und damit das so blieb schloss sie jedes Mal vorsorglich ihre Zimmertür ab, wenn sie übte.

Ja, sie übte. Zuhause, in ihrem Zimmer. Wiederholte fleißig all die Übungen, die ihr Lehrer ihr gezeigt hatte. Es war ein bisschen unheimlich, Dinge schweben zu lassen und derartiges Zeug. Aber hauptsächlich war es ziemlich cool. Lina fühlte sich mächtig, wenn sie den Stoffteddy von ihrer Großmutter vom Bett fallen oder ein Kartendeck auseinander fliegen ließ. Am wieder Einsammeln haperte es noch.

Die neueste Lektion war ein Wärmezauber. Das erste Mal hatte Herr Maier ihr demonstriert, dass er ebenfalls diese Fähigkeiten besaß. Davor war sie noch der festen Überzeugung gewesen, er wäre von einer geheimen Organisation ausgesandt, um Kinder mit besonderen Fähigkeiten ausfindig zu machen, zu schulen und in den Dienste des Staates zu beordern. Damit sie dann gegen Wesen kämpfen musste, die der normalen Menschheit gänzlich unbekannt waren, was auch so bleiben musste. Dann wäre bestimmt wieder eine Uniform gekommen, von der Lina nicht gewusst hätte, ob sie zu ihrem Stil passte. Aber keine Uniform, angeblich keine geheime Organisation und ein reichlich kalter Tag im Mai.

„Stell dir einen heißen Tag im Sommer vor. Eine Wärmflasche. Eine Kerzenflamme.“ Und mit diesen Worten hatte er ein Teelicht zur Hand genommen und eine Stichflamme auflodern lassen.

Daheim saß Lina nun vor ihrer Sammlung an hübschen Kerzen, die sie nie anzündete und verlor allmählich den Mut. Er hatte ihr gesagt, sie solle mit etwas Einfacherem üben, aber ein heißer Stein war nicht annähernd so eindrucksvoll wie eine Flamme.

Sie kramte noch einmal all ihre Entschlossenheit zusammen, setzte sich in ihrem Bett auf und nahm eine große, lilafarbene Kerze zur Hand. Ein klobiger Zylinder, den sie gerade gemütlich mit einer Hand umschließen konnte. Den Docht zwischen den Fingern schloss sie konzentriert die Augen.

Lina dachte an ihren einstigen Saunabesuch. Vor einigen Jahren im Ferienhaus in Dänemark. Eingebaut in das geräumige Badezimmer. Das warme Holz mit den tiefen Fasern, die trockene Luft, die geradezu beißende Hitze und die kleinen Schweißperlen, die sich überall auf die Haut setzten.

Die leichte Bluste klebte an ihrer Haut und das Wachs in ihrer Hand begann zu schmelzen. Auch der schwarz verkohlte Docht wurde warm, aber von einer Flamme keine Spur.

Enttäuscht seufzte sie, stellte die Blockkerze zurück auf ihren Nachttisch und rieb sich das Wachs von den Fingern. Schwungvoll ließ sie sich auf ihr Bett fallen, hinein in die flüchtig gefaltete Daunendecke, genoss die weiche Matratze und starrte an die Decke. Hoffentlich stellten ihre Eltern keine dummen Fragen, warum sie so verschwitzt war. Davon stundenlang in ihrem Zimmer zu sitzen. Sie würde sich einfach umziehen. Allmählich verflog die Hitze aus ihrem Körper. Ihr Blick wanderte an der Decke umher. Wohin sollte all das bloß führen? Sie würde Magie lernen. Nach und nach besser und mächtiger werden. Aber was stellte sie letztendlich damit an? Eigentlich hatte sie nicht vor, so etwas wie ein Superheld zu werden. Außerdem hatte Herr Maier ihr lachend versichert, dass ihre Zauber für Derartiges nicht annähernd mächtig genug sein würden. Und auf die Frage, was andere Magier denn so mit ihren Kräften anstellten hatte ihr Lehrer nicht so recht antworten können. Oder wollen.

Lina seufzte, drehte sich auf die Seite und langte nach ihrer Tasche. Eine reichlich große Lederimitattasche mit Metallschnallen, in die ihr Schreibblock für die Schule hinein passte. Freitags hatte sie die dabei, weil das der einzige Tag war, an dem sie keine zusätzlichen Bücher mit sich herum schleppen musste. Lina tastete zwischen Stiften und einer Wasserflasche hindurch, bis ganz unten am Boden. Damit es niemandem beim Hereinschauen auffiel. Langsam zog sie es hervor. Einige Stifte fielen aus der Tasche und der pinkfarbene kullerte unter das Bett.

„Das hilft dir bei deinen Übungen“, hatte es geheißen.

Ein Stein.

Lina war von Anfang an nicht begeistert gewesen, diesen Klotz durch die Gegend zu schleppen. Das Ding war doch reichlich schwer und jedes Mal schmerzte ihre Schulter davon. Ein dunkler Farbton, Anthrazit oder so. Immerhin unsichtbar vor dem dunklen Innenfutter ihrer Tasche. Dezente helle Sprenkel darauf. Ein Stein eben.

Nachdenklich wog sie das graue Ding in der Hand. Sie hatte es schon zum Schweben gebracht. Etwa einen Zentimeter über der Tischplatte hatte es in der Luft gehangen. Das war bisher ihre Höchstleistung gewesen. Vielleicht könnte sie schneller Erfolge erzielen, wenn sie deutlich mehr übte. Aber sie hatte immer noch so etwas wie ein Leben. Freunde und Hobbys. Das würde sie nicht sausen lassen um Steine schweben zu lassen.

Lina legte den Stein neben sich auf ihr zweites Kissen, legte die Hand auf und übte den Wärmezauber. Der Stein wurde schön warm, das Kissen darunter auch, aber richtig zufrieden machte sie das nicht. Wieder seufzte sie. Das war heute aber auch ein seufzter-lastiger Tag.

Sollte sie es noch einmal mit der Kerze versuchen? Nein, wenn sie ehrlich war hatte sie keine Lust mehr. Lieber ein bisschen Musik hören und die Zeit vergessen. Kaum war sie an ihre Anlage herangetreten und wollte ihre Wiedergabeliste starten, als ihr Telefon klingelte. „Heartbeat“ verkündete, dass Anni anrief.

Kurzerhand griff Lina sich ihr zimmereigenes Festnetztelefon, warf sich wieder aufs Bett und nahm ab.

„Hallo Anni.“

„Na Süße.“

Sie grinste. Mit ihrer Freundin zu reden würde sie auf andere und ohne Zweifel bessere Gedanken bringen.

„Nächsten Freitag treffen wir uns bei Sarah. Horrorfilme gucken.“

„Horrorfilme?“ Nicht ihr Filmgeschmack.

„Jaaa, pass auf. Sie ist doch mit Leon zusammen und er sorgt dafür, dass auch ein paar Kerle da sind. Jason zum Beispiel.“

Lina wusste genau, wie breit das Grinsen in Annis Gesicht jetzt gerade wahr. Von einem Ohr zum anderen. Ein verärgertes Schnauben, doch bevor Lina protestieren konnte quasselte Anni weiter.

„Die Jungs müssen auf uns aufpassen, damit wir uns nicht so fürchten. Du weißt doch, was ich meine?“ Schrilles Lachen erklang, sodass Lina das Telefon etwas auf Abstand bringen musste. Sie wartete geduldig, bis Anni sich wieder beruhigt hatte.

„Ich bin dabei.“

„Dachte ich mir.“ Ihre Freundin gluckste noch immer vor sich hin. „Willst du vorher zu mir kommen, damit wir dich für Jason so richtig hübsch machen können?“

„Nee, lass mal.“

Die Antwort war ein enttäuschtes Seufzen.

„Wäre doch ein bisschen merkwürdig, wenn ich mich zum Filmegucken so aufdonnere, oder?“

„Ganz wie du meinst.“

Kurze Zeit herrschte Schweigen in der Leitung. Nach und nach realisierte Lina, was da auf sie zu kam. Einen Abend mit Jason. Und Filme, bei denen sie sich spontan an seinem Arm festklammern durfte. Wow.

„Hast du Mathe schon fertig?“

Und so schnell war das Gespräch wieder bei den trivialen Zügen ihres Lebens angelangt.

Sie schweiften dann auch noch ab zu der neuen Serie, die gerade im Fernsehen anlief und dem neuesten Eintrag in dem Mode-Blog, den sie beide lasen.

„Bis morgen dann“, hieß es letztendlich und Lina legte auf. Nachdenklich hielt sie noch den Hörer in der Hand. Langsam rollte sie auf den Rücken und starrte an die Decke, während die Gedanken nach und nach ihren Kopf ausfüllten.

Der süße, gut aussehende Jason. Sein Bild erschien vor ihren geschlossenen Augen. Wie er sie in den Arm nahm und küsste.

Er hielt bestimmt auch nichts von unerklärlichen Zaubertricks.

Ernüchtert öffnete Lina die Augen wieder. Niemals würde ihr der Zauberkram so wichtig sein, dass sie es einem Jungen wie Jason vorzog. Dafür war es dann doch nicht toll genug.

Ihr Gesicht glühte von all den verzückten Gedanken und sie nahm den Stein wieder zur Hand. Dachte an Jason. Ihren Jason. Und spürte, wie ihr warm wurde. Warm ums Herz.

Regelrecht heiß wurde der Stein. Ein übereifriger Taschenwärmer. Und komisch fühlte er sich mit einem Mal an. Nicht mehr so wie ein Stein eben. Eher… weich. Lina hob ihn vors Gesicht und ihre Augen weiteten sich. Der Stein glühte. Glühte rot wie von innen heraus. Neugierig sah sie genauer hin.

Es war, als könnte sie durch das Leuchten durch eine äußere Hülle hindurch sehen. Etwas war in dem Stein, das nicht noch mehr Stein war. Ein Schatten zeichnete sich ab. Schemenhaft. Nicht annähernd ließ sich erkennen, was und ob es etwas darstellte. Vielleicht so ein eingeschlossener Kristall? Sie kannte das aus dem Mineralmuseum.

Mit einmal Mal war sie sicher, dass das, was sie in ihrer Hand hielt kein Stein war. Die Oberfläche fühlte sich mehr wie Leder an.

Und dann bewegte sich das Ding in dem Stein.

Lina stieß einen spitzen Schrei aus, das Steinding flog von ihrem Bett und landete unter ihrem Schreibtisch. Es lag dort und glomm noch etwas.

Sie starrte hinüber, gefasst darauf, dass es jederzeit anfangen könnte zu krabbeln oder Geräusche zu machen. Als nichts dergleichen geschah ließ Lina sich in ihr Kissen zurück fallen. Das Ding sah wieder aus wie ein Stein und lag Harmlosigkeit heuchelnd unter ihrem Schreibtisch.

Inzwischen wusste sie ja, dass sie sich solche Dinge nicht bloß einbildete, sondern sie Wirklichkeit waren.

Etwas war in dem Ding. In dem Stein. Und es lebte.

 

4.

 

Das kleine Glockenspiel über der Tür schellte, als Jona die Tür zum Laden aufstieß. Die wohlbekannte würzige Luft stieg ihm in die Nase und seine Augen brauchten einige Zeit, um sich an die hier vorherrschenden Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Mit einem leisen Knartschen fiel das Schloss wieder zu. Der alte Mann hinter dem Tresen nickte seinem Gast freundlich zu. Das Lächeln grub tiefe, aber ebenso angenehme Falten in sein Gesicht. Bob McGulloch hieß er, aber schon seit Jahren durfte Jona Bob zu ihm sagen. Schließlich war er gewissermaßen Stammgast in diesem kleinen, zwielichten Laden. Bis zu den hohen Altbaudecken stapelten sich Regale voll mit grauen und braunen Kisten und Kästen. Bücher, Buddelschiffe, Zylinder, ein wahres Sammelsurium an Kuriositäten eben. Bob hustete und es mochte daran liegen, dass er trotz des Staubes, der in hereinfallenden Sonnenstrahlen tanzte, so gut wie nie lüftete. Aber wenn man so alt war konnte man sich seine Eigenheiten wohl erlauben.

Jona fuhr mit den Fingern über die alten Kartenspiele. Skatblätter, Tarotkarten und natürlich gezinkte Karten. Was sonst erwartete man in einem Zauberladen?

Der Tresen war eingerahmt von weiteren Regalen. Eine uralte, bestimmt Gusseiserne Kasse stand dort. Überall dunkle Holzvertäfelungen und wie Jona einmal durch Zufall herausgefunden hatte waren auch die Tapeten hinter den Regalen scheußlich braun. Unzählige kleine Zettelchen klebten als Beschriftung auf den meisten Kartons. Alle in Bobs enger, krakeliger Handschrift, sodass nur er selbst sie lesen konnte. Viele Kunden hatten hinterher auch eines dieser Zettelchen unter dem Schuh kleben, sodass es mit der Zeit immer mehr Kisten gab, von denen nicht einmal mehr Bob wusste, was in ihnen war, bis er nachschaute. Die Suche nach einer rückwärts laufenden Uhr, nach der eine junge Dame gefragt hatte, war erst nach einer geschlagenen Stunde erfolgreich gewesen.

Zauberstäbe, Metallringe, Tücher, Plüschkaninchen, eben alles, was man meinte zum Zaubern gebrauchen zu können. Ein Husten riss Jona vom Anblick der glitzernden Schneekugeln los. Er bahnte sich seinen Weg zum Tresen, wo der alte Mann eben einen Schluck aus seinem Flachmann herunter stürzte. Noch ein kehliges Husten, dann hatte Bob sich schon wieder eingekriegt. Sein faltiges Gesicht war ganz rot angelaufen und die Augen unter den buschigen Augenbrauen tränten.

„Was kann ich für dich tun, Junge?“ Ein Lächeln aufgesetzt rückt er seine braunkarierte Baskenmütze zurecht. Jona stützte sich mit verschränkten Armen auf den hölzernen Tresen und ließ den Ladenbesitzer nicht aus den Augen.

„Ich will, dass Sie mir Ihre Tricks beibringen.“

Bob musste lachen und bekam dabei beinahe einen weiteren Hustenanfall.

„Was denn für Tricks, Junge?“

„Alles eben.“ Sein Blick folgte dem alten Mann, wie er um die Kasse herum ging und Gummipuppen in einem Regal zurecht rückte. Ein wenig krumm ging er und hielt die linke Hand dabei auf dem Rücken. Der Anblick täuschte. Jona wusste genau, wie er beim Kartenmischen die Hände und vor allem die Karten fliegen ließ. In einem Bogen durch die Luft, eine Brücke zwischen den Händen und dabei ratterten die Karten, als würden sie singen. Zielsicher zog Bob dann jede erdachte Karte, erzählte Geschichten mit den Bildern und die kleinen Jungen, die Knallfrösche kaufen wollten ließ er mit Herz und Karo Rechenaufgaben lösen.

„Sie haben ein paar echt beeindruckende Sachen drauf. Wäre doch schade, wenn die einfach irgendwann mit Ihnen verloren gehen.“

Verwundert wurden die Augenbrauenbüsche gehoben.

„So alt bin ich nun auch wieder nicht.“ Wie um sich selbst zu widersprechen kam er wieder ins Husten.

„Aber wenn du unbedingt willst, dann kann ich dir ein paar Sachen zeigen.“

Unter Jonas wachsamen Blicken zog er ein Kartenspiel aus dem Regal und holte das Deck heraus. Behutsam legte er die Pappschachtel mit den angestoßenen Kanten bei Seite, ließ die Karten einmal durch seine Hände sprudeln, dass das blaue Schnörkelmuster auf der Rückseite vor den Augen verschwamm. Schnell suchte er vier Karten heraus und zeigte sie.

„Hier habe ich die vier Buben. Den ersten schiebe ich unter den Stapel, den zweiten mitten hinein-„

„Den kenne ich schon.“, unterbrach ihn der Junge. Bobs altes Gesicht wirkte getroffen.

„Ich will einen von den Tricks lernen, die nicht in irgendwelchen Büchern stehen.“

Die Karten in der Hand schlurfte der alte Mann zurück hinter den Tresen. „Wohl um ein Mädchen zu beeindrucken?“

„Nein“, beleidigt legte er das Kinn in die Hand. „Einfach weil ich wissen will, ob ich sowas kann.“

„Achso.“ Bob lächelte gutmütig, legte den Kartenstapel zwischen ihnen auf den Tisch.

„Wenn das so ist, dann zeigt dir der alte Bob mal einen Trick, den du nie beherrschen wirst.“

Jonas Augen leuchteten, obwohl er bemüht war, seine Begeisterung nicht allzu offen zu zeigen.

„Mischen.“

Er tat, wie ihm geheißen und ließ die Karten durch die Finger sprudeln. Bob deutete an, dass er eine Karte ziehen wollte und mit geübtem Schwung wurde das Kartendeck über den Tisch aufgefächert. Alle zweiunddreißig Karten lagen dort auf dem Tisch. Nicht ganz so regelmäßig, wie es bei dem alten Herrn aussah, aber immerhin. Die weißen Ränder um das blaue Muster herum ließen es ein bisschen, wie einen altmodischen Porzellanteller wirken.

„Sieh gut hin.“

Das brauchte er bestimmt nicht zu sagen. Jona achtete auf wirklich jede Bewegung, die der Alte tat. Zaubertricks hießen immer auch Ablenkung. Aber er würde sich nicht ablenken lassen.

Die knotigen Finger zogen eine Karte heraus und als er sie aufdeckte war es das Pik Ass. Eine zweite Karte förderte Herz Ass zu Tage, eine dritte Karo Ass.

Jonas Gedanken rasten. Er zählte nichts ab, sondern schien einfach wahllos irgendwelche Karten heraus zu ziehen. Die eben zufällig die Asse waren. Ein frisches Kartendeck. Alle Karten lagen gleich herum. Es gab diesen Trick, bei der man die Karten umgedreht in das Deck schob, um sie an der Rückseite zu erkennen. Das war es auch nicht. Markierungen konnte Jona auch keine erkennen. Und wenn er dort überall nur das gleiche Muster sah, dann galt das erst recht für seinen Gegenüber.

Als Bob mit der vierten Karte das Kreuz Ass empor hielt nahm der Junge ihm kurzerhand die Karten aus der Hand und suchte auf der Rückseite nach irgendwelchen Markierungen. Erhebungen, spiegelnde Oberflächen, irgendwas. Wie hatte er das gemacht?

Der Ladenbesitzer lächelte. „Tja, Junge. Zauberei.“

Er kam wieder ins Husten und schaute verwirrt aus der Wäsche, als Jona ihm das Kartendeck entgegen hielt.

„Mischen Sie für mich.“

Zuversichtlich brachte der Mann die Karten durcheinander, legte den Stapel auf den Tisch und fächerte sie von dort schwungvoll auf.

Mit konzentriert zusammen geschobenen Augenbrauen saß Jona davor, starrte die Karten an. Wie hatte Bob das gemacht? Es hatte so zielsicher ausgesehen, wie er nach den Assen gegriffen hatte. Er hatte genau gewusst, welche Karten er hatten aufdecken müssen.

Die Nase dicht davor sah der Junge jede Karte einzeln an. Welche Karte schrie „Ich bin ein Ass“? Die blauen Schnörkel flossen umeinander, bildeten tanzende Ranken, so dicht war er an sie heran gerückt. Sein Blick verharrte bei einer Karte und ganz langsam griff er nach ihr und deckte sie auf. Herz Ass.

„Anfängerglück“, kam es belustigt von Bob.

Doch Jona glaubte nicht länger an Zufall. Auch die nächste Karte war ein Ass. Der alte Mann wurde still und sah ihm zu. Jona wusste selbst nicht genau, wie er das bewerkstelligte. Er schien einfach zu wissen, welche Karte er umdrehen musste. Als würden sie zu ihm sprechen. Als würden die blauen Muster auf den Rückseiten ihm die richtige Karte zeigen. Eine herrliche Einbildung.

Noch ein Ass.

Die hohen, staubigen Regale verströmten noch mehr Stille als sonst üblich. Mit vor Aufregung zitternden Fingern griff Jona die letzte Karte. Pik Ass.

Er atmete tief durch, die Karte in der Hand. Ganz allmählich wurde sein Grinsen breiter und er warf dem alten Mann einen triumphierenden Blick zu.

Ein „unerhörtes Anfängerglück“ oder aber anerkennendes Nicken hätte er erwartet. Doch stattdessen verfinsterte sich die alte Mine, er schlurfte zur Tür, drehte das Schild auf „Geschlossen“ und ließ den Riegel zu schnappen.

Was war jetzt los?

In der oberen Wohnung rummste es, dass Putz von der Decke rieselte und Flaschenschiffe in ihren Regalen leise klirrten.

„Wie hast du das angestellt, Junge?“, fragte er leise, beinahe schon drohend.

Sich keiner Schuld bewusst zuckte Jona die Schultern.

„Ich hab einfach die Asse rausgezogen, so wie Sie auch.“

Er nickte zwar, doch nicht aus Zustimmung.

„Woher wusstest du, welche Karten du ziehen musstest?“

Grinsend verschränkte er die Arme vor der Brust. „Ein Zauberer verrät seine Tricks nicht.“

Bob blieb ihm gegenüber stehen und sah ihn lange und tiefsinnig an. Was war jetzt wieder nicht in Ordnung? War er beleidigt, weil sein Trick so mir nichts, dir nichts nachgeahmt wurde?

Er starrte noch immer.

Nervös schaute Jona in eine andere Richtung. Was wollte der alte Mann mit einem Mal?

Schließlich holte er tief Luft und die unheimliche Stille wurde endlich gebrochen.

„Was weißt du über Magie, Junge?“

„Bitte was?“, er lachte auf. „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“

Jonas Grinsen verebbte, als der alte Mann ihn nach wie vor todernst ansah.

„Ich weiß gerade absolut nicht, was Sie von mir wollen.“

„Ich will wissen, ob du ein Magier bist, Junge.“

Scheinbar meinte er es wirklich ernst.

„Ein paar Kartentricks kann ich, das wissen Sie doch.“

Bob schüttelte den Kopf und seine Augenbrauen tauchten seinen Blick in unergründliche Schatten.

„Keine Kartentricks. Ich spreche von richtiger Magie.“

Langsam klappte dem Jungen der Mund auf.

„Sie meinen mit Zaubersprüchen und Stäben und Büchern und so?“

Wieder Kopfschütteln, doch diesmal schaute der alte Mann erleichtert.

„Du weißt also nicht, was du eben getan hast.“

Er verstummte. Jona wälzte seine Worte im Kopf hin und her, bis sie einen Sinn zu ergeben schienen. Langsam nahm er die Karte mit dem Kreuz Ass zur Hand. Betrachtete das schwarze Pik und die kleinen As auf der Karte und drehte sie um. Das blaue Muster schien still zu stehen. Er wartete, hob die Karte dicht vor das Gesicht. Die Illusion der tanzenden, blauen Ranken kam wieder. Mit einem Mal fragte er sich, ob der ganze Plunder in diesem Laden wirklich nur unnützes Zeug war.

„Sie meinen, ich habe eben gezaubert, ohne es zu merken? Und deswegen die Asse gezogen?“ Ganz leise sprach er, als fürchtete er, jemand könnte an der Tür lauschen. Er sah Bob an und der alte Mann nickte langsam.

„Wahnsinn!“ Vor Begeisterung bekam er seinen Mund gar nicht mehr zu.

„Bob, heißt das ich bin ein Magier? Bob, heißt das, Sie sind auch ein Magier? Bob, was können Sie noch für Tricks?“

Bob McGulloch schüttelte immer wieder den Kopf und wollte sich wohl schlurfenden Schrittes davon machen, als Jona auf ihn zu sprang und ihn am Arm festhielt. Er suchte den Blick des alten Mannes und hielt die müden Augen in den seinen gefangen.

„Bob, bringen Sie es mir bei!“

 

5.

 

Spielkarten flogen in die Luft. Schossen bis unter die Decke um hinab zu segeln wie bunte Federn. Sie tanzten im Kreis und bildeten sprudelnde Kaskaden zwischen Jonas Händen. So mancher mochte beim Zuschauen glauben, sein Verstand habe ihn verlassen. Die Wahrnehmung konnte einem schon tolle Streiche spielen.

In die ausgestreckte Hand des Jungen fielen all die Karten auf einen geraden Stapel. Einen Moment lang betrachtete er das blaue Muster auf der Rückseite. Wie es noch vor Aufregung zitterte und dann endlich still stand. Zufrieden stellte er das Deck auf den Tisch, ließ sich auf einem Stuhl nieder und griff sich den Stein, den Bob ihm gegeben hatte. Der alte Mann war dabei, seine Regale zu sortieren. Die, in denen bloß verstaubte Kisten und Kästen standen. Noch mehr Staub als sonst hing in der Luft, eben blies Bob die graue Decke von einer weiteren Kiste.

„Was zeigen Sie mir heute, Bob?“

Der alte Mann ließ vor Schreck beinahe seine Kiste fallen, als er so plötzlich angesprochen wurde.

„Üb erst einmal weiter den Wärmezauber, Junge.“ Bedächtig hob er den Deckel von der grauen, ehemals schwarzen Kiste. Liebevoll ließ er seine alte Hand hinein gleiten und nahm vorsichtig ihren Inhalt heraus.

Da das Licht in seinem Rücken war sah Jona es in Bobs Hand bloß glänzen und strahlen. Wie ein Licht brechender Kristall, nur dass es von selbst leuchtete.

„Was ist das, Bob?“

Der alte Mann lächelte, erinnerte sich wohl an längst vergangene Tage. Grübchen drückten tief in seine Wangen und er schloss die Augen, um den Bildern aus seinem Kopf zuzusehen. Jona stand auf und stellte sich, einen heißen Stein in der Hand, hinter den alten Mann.

Das Ding in seinen Fingern war eine Blume. Feingliedrig und schörkelig aus farblosem Material. Glas vermutlich.

Bob drehte es in seinen Fingern, sodass sich das Licht in allen Facetten fing. „Es ist ein Souvenir.“, sagte er leise, wie zu sich selbst.

„Darf ich mal?“

Nur zögernd gab der alte Mann das kunstvolle Gebilde aus der Hand. Jona hätte es beinahe fallen gelassen, da es ihn, kaum hatte er es in die Hand genommen, mit unerwarteter Kälte durchfuhr.

Das Kristallding sah ganz nach einer echten Pflanze aus, die versteinert und verglast war. Allerdings kein Gewächs, das ihm bekannt war.

Jona war zwar absolut kein Kitschfreund, doch die filigranen Einzelteile beeindruckten ihn.

„Wo bekommt man sowas her, Bob?“

Fernweh lag in dem alten Blick, als er das Ding wieder an sich nahm.

„Von weit her.“ Wehmütiges Seufzen gesellte sich zu seinen Worten.

„Wo denn nun genau?“

Bob schwieg. Seine Gedanken schienen nur langsam ins Hier und Jetzt zurück zu kehren. Er sah Jona an, schüttelte prompt den Kopf und sah ausweichend zur Ladentür.

„Ich weiß nicht, woher es kommt. Ich habe es gefunden. Es ist… Strandgut.“

Argwöhnisch verzog der Junge seine Mine.

„Genau, Strandgut.“ Zufrieden nickend legte er die gläserne Blume zurück in ihre Kiste.

Jona nahm den Stein zwischen beide Hände und die entstehende Hitze ließ die Luft flimmern. „Strandgut? Bob, eben haben Sie noch behauptet, es wäre ein Souvenir.“

Ertappt huschten die Augen im Schatten der buschigen Brauen hin und her. „Ist es auch. Ein Souvenir vom Strand.“

Der Stein wurde im Regal abgelegt, wo er dampfend das Holz ankohlte. Jona leckte sich über die trockenen Lippen und schmeckte Salz.

„Ist das irgendein magisches Ding, Bob?“

„Mag sein.“ Bob zuckte die Schultern und stellte das Kästchen zurück ins Regal.

„Und sowas liegt einfach so rum? Erkennen Nicht-Magier denn, dass etwas Magisches an solchen Dingen ist? Und wie entstehen sie?“

Der Ladenbesitzer lachte, was in einen leichten Hustenanfall überging. „Sie kommen von weit her, von einem magischen Ort. Ab und zu kommt eben etwas von dort in unsere Welt.“

Manchmal wusste Jona ehrlich nicht, ob der Alte sich bloß verplapperte, oder ob er diese Dinge erzählen wollte. Er hob den Stein wieder auf und hoffte, dass Bob den schwarzen Brandfleck einfach nicht bemerken würde.

„Unsere Welt? Bob, heißt das, es gibt noch eine andere Welt? Eine magische?“

Bob hielt in seiner Bewegung inne und starrte den Jungen fassungslos an. Offenbar hatte er sich unabsichtlich verplappert.

„Was? Nein. Nur unsere Welt.“ Ausweichend drehte er den Kopf. Auf der Suche nach einer Beschäftigung, mit der er sich vor der Wahrheit drücken konnte.

Jona trat vor ihn und fixierte seinen Blick. Fast hatte er Mitleid mit dem alten Mann, der doch so überrumpelt wirkte.

„Was ist das für eine Welt, Bob?“

„Eine… eine magische Welt. Eine böse Welt.“ Kopfschüttelnd wandte er sich ab. „Es gibt dort Elfen. Nein, eine böse Welt ist das.“

„Und ab und zu landen Gegenstände von dort in unserer Welt?“ Jona strahlte vor Begeisterung.

Eine Parallelwelt. Erst lernte er zaubern, nun gab es eine geheimnisvolle Magiewelt… Vor einem Monat noch hätte er sein Leben als absolut langweilig und durchschnittlich beschrieben.

„Wie ist es in dieser anderen Welt? Erzählen Sie doch, Bob.“

Er schüttelte zwar immer wieder den Kopf, doch berichten tat er trotzdem. „Es gibt dort mehr Magie als hier. Und Magier. Kein Strom, keine Autos, es ist sehr ruhig dort. Grüne Hänge, an denen Flüsse hinauf fließen und verzauberte Wälder, in denen die Bäume denken können.“ Er verstummte wieder.

Und mehr bekam Jona am heutigen Tag auch nicht aus ihm heraus. Kein Verplappern mehr, keine sehnsüchtigen Selbstgespräche. Das war ärgerlich und für seine Neugier ganz und gar unbefriedigend, doch ihm blieb nicht als zu hoffen, dass der Alte morgen wieder gesprächiger wäre.

Jona verabschiedete sich und ging, den Stein in der Tasche, aus dem Laden.

 

Draußen dunkelte es. Die hohen Pappeln vorm Haus wiegten sich ganz leicht im Abendwind. Jona saß drinnen im Wohnzimmer und bespaßte seine zweijährige Schwester, indem er ihre Spielsachen um sie herum schweben ließ. Sie freute sich über die Zauberkunststücke und würde sich in ein paar Jahren bestimmt ohnehin an nichts mehr erinnern. Anders der Schläger aus der Schule, den er sich mit einem Zauber vom Leib gehalten hatte. Bestimmt wälzte er sich heute Nacht im Bett herum und zermürbte sich sein kleines Hirn darüber, warum er nicht näher als einen Meter an Jona heran gekommen war. Und wer würde ihm schon glauben wenn er erzählte, eine unsichtbare Macht habe ihn fern gehalten? Bei dem bloßen Gedanken musste er Grinsen. Er ließ der Kleinen einen Stoffball in die Hände schweben und sie quietschte vergnügt.

„Ball!“

Ebenso einfach wie jetzt hatte er die Bahnen des Fußballs lenken können. Noch nie hatte er sich den anderen gegenüber so gut dargestellt, wie heute Nachmittag auf dem Bolzplatz. Eigentlich hatte er noch nie großartiges Ballgefühl besessen. Aber es war auch deutlich einfacher, wenn der Ball von den Gedanken geführt wurde und man sich nur dazu bewegte. Es musste ja nur so aussehen, als ob.

Von all dem erzählte er Bob wohl besser nichts. Nichts von seiner unfreundlichen Nachbarin, der er im Supermarkt die Pyramide aus Saftorangen hatte entgegen rollen lassen. Und von dem zufälligen Luftzug, als seine Klassenkameradinnen allesamt leichte Röcke getragen hatten.

Bob sprach immerzu davon, dass er seine Gabe geheim halten sollte. Aber warum? So etwas Großartiges gehörte doch ausgenutzt. Es machte sein Leben so viel angenehmer.

Nachdenklich nahm er seiner Schwester den Ball aus der Hand und ließ in gerade nach oben schweben. Die Kleine sah hinterher, legte das Köpfchen nach hinten und plumpste schließlich auf den Rücken.

Was mochte es mit dieser geheimnisvollen Parallelwelt auf sich haben? All das klang nach einem tollen Abenteuer, das nur darauf wartete, dass man sich hinein stürzte.

Jona trug seine kleine Schwester zu ihrem Gitterbettchen hinüber und setzte sie hinein. Das Spielzeug flog wie von selbst hinterher. Er ließ sich im Sessel nieder, seufzte und holte den Stein hervor. Keine fünf Minuten und der Junge hatte ihn zum Glühen gebracht, als sei er aus heißem Eisen. Im Hintergrund brabbelte die Kleine vor sich hin und die Wanduhr tickte. Nur die Stehlampe neben ihrem Bettchen hatte er eingeschaltet. Die Vorhänge waren vorsorglich zugezogen, damit besagte Nachbarin nur den dunklen Stoff, nicht aber fliegende Stoffbälle erspähen konnte. Zwischen den beiden Ledersesseln lag ein Spitzendeckchen auf dem kleinen Tischchen, darunter die vielen Zeitschriften, in denen sein Vater immer blätterte. Er ließ seine Füße von dem hellen Teppich streicheln, der noch immer das gesamte Wohnzimmer auskleidete, obwohl sein kleines Schwesterchen schon etliche Flecken darauf verteilt hatte. Jona mochte den Teppich und konnte nachvollziehen, dass seine Eltern ihn erst erneuern wollten, wenn die Kleine aus dem Gröbsten raus war. Die Gläser in der ihm gegenüber stehenden Vitrine klirrten leise und Jona dachte wieder an Magie.

Wie man wohl in diese wundersame Welt gelangte? Durch ein Portal? Einen Zauber?

Jona beobachtete das kleine Etwas, das sich im Inneren des Steines bewegte. Wie ein… Wie ein Lebewesen, das in einer Blase eingeschlossen war. Er legte die zweite Hand auf den Stein, um noch mehr Hitze erzeugen zu können. Die Luft flimmerte und wurde so trocken, dass Jona sich über die Lippen lecken und ständig blinzeln musste.

Ein Abenteuer in einer anderen Welt. Das wäre schon was. Er musste Bob unbedingt überzeugen.

Das Ding in seiner Hand bewegte sich. Wand sich und trat von innen gegen die Hülle. So mochte es sich anfühlen, ein rohes Ei in der Hand zu halten, das nur noch die Haut, aber nicht mehr die Kalkschalte um sich hatte. Irgendwie ekelig.

Jona spürte Stöße gegen seine Finger, wie sich das kleine Etwas streckte und drehte. Vorsichtig hob er die eine Hand an um zu sehen, was dort drinnen vor sich ging. Vor Schreck hätte er den ehemaligen Stein beinahe fallen gelassen.

Was zuvor grau gewesen war offenbarte nun sein Inneres. Eine gräuliche, gummiartige Kugel, die ein kleines, dunkles Wesen umschloss. Es sah aus wie eine Kaulquappe oder eine Eidechse. Länglich und mit vier kleinen Beinchen. Nur undeutlich ließen sich Einzelheiten erahnen. Es schien von kleinen Höckern überzogen. Ein Köpfchen mit spitzer Schnauze und winzigen Hörnchen. Um es herum waberten Luftblasen, Schlieren und Splitter, die aussahen als hätten sie sich von der Innenseite des Steins abgelöst und trieben nun umher.

Die beinahe unerträgliche Hitze spürte Jona nicht mehr. Wie gebannt folgte er dem Schauspiel. Wie sich die kleinen Glieder durch die Haut kämpften. Füßchen, die ihn traten und kleine Krallen daran, die sich durch die Hülle bohrten, sie immer dünner werden ließ, bevor sie dem Druck nachgeben würde.

Es schlüpfte.

 

6.

 

Jona hätte ohne Unterlass fluchen können. Gerade als es spannend geworden war hatte er das Klimpern von Schlüsseln an der Haustür vernommen. Seine Mutter kam heim.

Sein Zauber verflog und das Ei nahm wieder seine steinerne Gestalt an. Die Lippen waren ihm aufgesprungen und hastig suchte er nach einem Versteck für den noch immer heißen Stein.

„Jonathan! Ich bin wieder da!“, schallte es durch den Flur.

Er schob den Stein vorerst unter ein mit Bärchen bedrucktes Kissen im Gitterbettchen seiner kleinen Schwester.

„Ball“, quietschte sie.

Den Finger an den Lippen zischte Jona ihr ein „Pssst“ zu.

 

„Warum nicht, Bob?“

Der alte Mann schob ungehalten die buschigen Augenbrauen zusammen. Seit bestimmt einer halben Stunde redete Jona unablässig auf ihn ein, dass er ihm den Weg in diese geheimnisvolle Welt zeigen sollte. Er lief dem alten Mann auf seinen verschlungenen Wegen durch den kauzigen Laden hinterher und diskutierte mit seiner Baskenmütze. Dem grünen, ausgeblichenen Schottenmuster.

„Ich will wissen, was das für eine Welt ist. Wie es dort aussieht. Was für Menschen oder andere Wesen dort leben. Hören Sie, Bob. Sie haben mir davon erzählt, jetzt zeigen Sie es mir auch.“

„Nein.“ Bestimmt schüttelte er den Kopf. „Es ist viel zu gefährlich dort.“

Jona lachte auf. „Sie wissen doch genau, was ich kann, Bob. Schließlich haben Sie mir all das beigebracht. Was sollte mir noch gefährlich werden können."

Demonstrativ streckte er dem Ladenbesitzer das Ei in der offenen Hand entgegen. Der alte Mann stutzte und die Falten in seinem Gesicht zitterten. Jona vergewisserte sich, dass er zusah. Dass er nicht gleich wieder weiter schlurfte, um die Kartenspiele im Regal gerade zu rücken. Kurz konzentrierte er sich, dann stand das Ding in Flammen. Rote und gelbe Feuerzungen, die an dem Stein und seiner Hand leckten, ohne ihn zu verletzen. Die Hitze ließ sein Blut pochen, Schweiß verdampfte und seine Haut wurde unangenehm trocken.

"Raus mit der Sprache, Bob.“

„Du bist zu jung“, schnauzte der alte Mann endlich. „Diese Welt ist kein Ort für Kinder.

Jona brauchte einen Moment, ehe er seine Sprache wieder fand. Er hatte wieder das grüne Karomuster vor sich, der alte Mann wanderte zurück zum Tresen. „Zu jung?“ Er spuckte die Worte regelrecht aus.

„Bob, keine Ahnung, wie das in Ihrer Jugend war, aber heutzutage ist man mit sechzehn kein Kind mehr!“

Der alte Mann schlurfte hinter die Theke. Die knotigen Hände suchten Halt an der abgerundeten Holzkante. „Du bist noch nicht so weit, Junge.“

Die Flammen in seiner Hand schlugen höher und Jona spürte, wie die Hitze aus seinem gesamten Körper strömte. Es zischte und knackte um ihn herum, die Luft schraubte sich um ihn herum nach oben und riss sein Hemd und Haare mit sich. Gleißend hell leuchtete es und der Tresen flackerte Wild vor seinen Augen.

„Wann bin ich Ihrer Meinung nach denn so weit, Bob? Wenn ich erwachsen bin? Damit das klar ist, ich bin erwachsen genug, um mich in einer fremden Welt zurecht zu finden. Ich bin häufig genug umgezogen in den vergangenen Jahren.“

Immer wieder schüttelte Bob den Kopf. Der Junge achtete genau darauf, ob seine Augen vielleicht verräterisch in die Richtung zuckten, die ihm den Weg in die andere Welt offenbarte.

„Behandeln Sie mich nicht wie ein Kind, Bob!“

Aus Jonas ganzem Körper schlugen Flammen bis unter die Decke. Die hölzernen Regale ächzten und Knackten und es roch nach verbranntem Staub. Der Stein glühte weiß und doch spürte er nicht mehr als die Hitze und ein angenehmes Prickeln. Das Gewicht in seiner Hand fühlte sich gut an. Wie Macht, die man mit sich herum tragen konnte.

„Junge, der Laden!“

Bobs Augen waren vor Schrecken weit geöffnet. Wie er vor Angst um sein Geschäft hektisch umher schaute.

Jona wusste nicht, wie weit es noch gekommen wäre. Ob er letztendlich doch den Laden in Brand gesteckt hätte. Seiner Laune nach wäre er auf jeden Fall dazu bereit gewesen. Was ihn jedoch davon abhielt war ein plötzliches, durchdringendes Knacken.

Außer dem Stein in seiner Hand nahm Jona nichts anderes mehr wahr. Nicht das trockene Knacken der hölzernen Regale und nicht die angestrengten Atemzüge des alten Mannes. Er ließ die Flammen sterben, um besser sehen zu können. Ein paar Mal musste er noch Blinzeln, dann hatte er freie Sicht. Die Luft knisterte leicht und das Ding in dem Stein bewegte sich wieder.

Seine durchsichtige Hülle war hart geworden, nach und nach. Vom glühenden Metallklumpen hatte es sich in weißen Kalk verwandet. Ganz so wie ein großes, unförmiges Hühnerei. Und hartgekocht hatte er es zum Glück auch nicht, sondern würde es jetzt nicht herum wackeln. Es klebte an seiner Hand fest, hatte sich wohl eingebrannt. Poren zeigten sich auf der Oberfläche, das langsame Abkühlen ließ gräuliche Schattierungen sichtbar werden.

Der Junge wollte es auf der Theke ablegen, um es nicht doch noch aus Versehen fallen zu lassen, doch Bob hielt ihn zurück. Er sagte kein Wort, doch seine Augen verrieten, dass er das Ei besser in der Hand behielt.

Das Zucken im Inneren wurde heftiger. Etwas schlug von Innen auf die Schale ein. Jona überlegte kurz, ob er nachhelfen sollte. Es gegen die Tischkante schlagen, wie wenn er sich Rührei machte. Dann ließ er es doch lieber.

Die Neugier trieb ihn immer näher an das Ei heran. Er meinte fast, die kleinen Schläge sehen zu können. Endlich bildeten sich Risse. Erst haarfein, dann wurde die Schale auseinander gedrückt.

Mehr und mehr platzten weiße Stücke ab. Rieselten zu Boden oder flogen durch die Luft. Ein Knatschen wie von Leder und endlich bekam Jona das kleine Wesen zu Gesicht. Er hob das letzte, große Schalestück an. Mit offenem Mund und ganz und gar sprachlos gaffte er.

Eng zusammen gefaltet, unförmig und mit eitrigem Glibber überzogen, lag dort eine kleine Eidechse auf seiner Handfläche. Obwohl es für eine Eidechse doch schon reichlich kräftig aussah. Und ein gewöhnliches Viech hätte er schon längst gar gekocht.

Es streckte die kleinen Füßchen in die Luft und rollte den Schwanz aus. Die Augen geschlossen riss es sein kleines Mäulchen auf und ließ ein niedliches Fiepen ertönen. Mit der Hilfe von Jonas Zeigefinger rollte es sich auf den Bauch und die Augen des Jungen weiteten sich vor Erstaunen.

Einmal war der kleine Rücken sehr höckrig, wie von Zacken, die dort einmal wachsen wollten und dann waren da noch die Flüge. Wie ein zusätzliches Paar sehr dünner Ärmchen mit sehr langen Fingern und Häuten dazwischen, die wegen dem Glibberzeug aneinander klebten. Die Gliedmaßen wirkten jetzt schon ausgesprochen kräftig und kleine Krallen bohrten sich in Jonas Handfläche. Wenn er genau hinschaute, so meinte er Schuppen auf dem gesamten Körper zu erkennen. Noch winzig und weich, aber mit einem atemberaubenden Farbenspiel.

„Das ist ein Drache, Junge.“

Der Angesprochene hatte schon beinahe vergessen, dass der alte Mann auch noch da stand. Ein Drache. Natürlich. Ganz vorsichtig berührte er den kleinen Kopf mit dem Finger, strich über die raue Haut und die vielen kleinen Höcker. Auch fühlte es sich erstaunlich kalt an, wenn man bedachte, dass Jona ihn mit seinem Hitzezauber so gut wie gegrillt hatte. Genüsslich wurde das Köpfchen in die Höhe gereckt und kleine Füßchen stemmten sich in das Fleisch seiner Hand.

„Davon wussten Sie, oder Bob?“

Der Alte nickte stumm. Ein Kopfschütteln wäre ebenso glaubwürdig gewesen, angesichts seiner leuchtenden Augen. Als wäre er durchaus überrascht, dass es funktioniert hatte.

„Er kommt aus dieser anderen Welt, oder?“ Jona erwartete keine Antwort, er kannte sie bereits.

Er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. In seiner Hand saß ein richtiger, echter Drache. Zappelte und streckte sich. Wie fantastisch konnte es jetzt noch werden? Magie, eine andere Welt, ein Drache.

Vorsichtig ließ er die Hitze wieder durch seine Hand strömen. Der kleine Drache schien sich zu freuen. Schmiegte sich an seine Hand und Jona spürte die raue Haut an der seinen reiben. Das glibbrige Zeug begann zu schmelzen und gab das kleine Wesen mehr und mehr frei. Die schuppige Haut unter dem Schleim hatte einen rotbraunen Erdton.

„Kann ich ihn behalten, Bob? Und wie heißt er? Wie groß kann so ein Drache werden?“

Der Ladenbesitzer lächelte mild.

„Du solltest dich um ihn kümmern, bis er kräftig genug ist, in seine Welt zurück zu kehren.“

Jona verkniff sich, die Diskussion wieder anzufangen. „Und einen Namen?“

Der Alte lachte und schlurfte zur Ladentür um sicher zu gehen, dass auch niemand zugesehen hatte.

„Einen Namen darfst du dem kleinen Ding selbst geben. Ob es darauf hört hängt von dir ab.“

Das Lächeln des Jungen spannte sich über sein ganzes Gesicht. Vor zwei Jahren hatte er einen Namen für sein kleines Geschwisterchen aussuchen dürften. In der festen Überzeugung, er würde einen kleinen Bruder bekommen. Als es ein Mädchen geworden war, hatte man ihn nicht noch einmal zu Rate gezogen.

„Ich nenne dich… Bronx.“

Den Namen oder das Wort hatte er mal irgendwo gehört oder gelesen und er mochte den Klang irgendwie.

„Du weißt, dass das ein Stadtteil in New York in Amerika ist, Junge?“

Eifrig wurde genickt. „Klar doch.“, log er.

„Und wenn er eine Sie ist, dann passt der Name immer noch.“ Entschlossen trat er an die Theke. Er wollte das kleine Wesen dann doch einmal absetzen, um sich die Hände zu waschen. Dieses glibbrige Zeug klebte nämlich und begann, nach faulen Eiern zu riechen.

Vorsichtig legte er die Finger um die kleinen Glieder, spürte den weichen Bauch und hob den Drachen hoch. Gänzlich unbegeistert begann Bronx zu zappeln und zu fiepen. Jona kannte das schon von seiner kleinen Schwester und setzte ihn sicher auf dem dunkel geölten Holz ab.

„Bob, ich gehe mir eben die Hände waschen.“

Kaum hatte er sich den ersten Schritt entfernt, begann der kleine Drache herzzerreißend zu quieken. Und als Jona sich umwandte erkannte er ein gelbes Leuchten. Bronx hatte die Augen geöffnet. Der kleine Schwanz kringelte sich und der Hals war dem Jungen entgegen gereckt. Die Faszination nahm ihn gefangen. Solche Augen hätte er sich nicht einmal im Traum vorstellen könne. Goldgelb leuchteten sie, mit einem schwarzen Schlitz in der Mitte. Die klebrigen Hände wurden noch einmal unwichtig. Jona trat näher und starrte Bronx in die Augen. Kleine orangefarbene Sprenkel glitten in dem Gold umher, wie in einer Lavalampe. Oder wie Sprudel im Mineralwasser.

Der Drache schaute ihn an und schien ihn wirklich zu sehen. Nicht wie seine kleine Schwestern in ihren ersten Monaten.

Bronx blinzelte und Jona meinte, in den Augen zu versinken. In den goldenen Fenstern zur Seele, die so viel Tiefe versprachen, obwohl das kleine Wesen eben erst geschlüpft war.

„Keine Sorge, ich komme sofort wieder“, flüsterte Jona.

 

7.

 

„Du sagst ab?!“ Anni klang regelrecht entsetzt.

Ihre Freundin biss sich auf die Unterlippe, das Telefon ans Ohr gepresst.

„Ich habe meine Tage, Anni. Ich fühle mich furchtbar. Und du weißt genau, wenn ich könnte, dann würde ich kommen.“

Am anderen Ende der Leitung erklang ein Seufzen. „Ach Süße, dein Timing ist echt bescheiden.“

Den Hörer am Ohr ließ Lina sich zurück in ihr Kissen sinken und rückte die Wärmflasche auf ihrem Bauch zurecht. Ihr Körper hätte sich auch keinen besseren Tag aussuchen können, als den seit einer Woche geplanten Filmabend mit ihrem Jason.

Wieder ein Seufzen. „Na gut du, dann halt die Ohren steif. Wir sehen uns.“

Nach einem beidseitigen „Tschüss“ wurde aufgelegt. Lina legte das Telefon auf ihrem Nachttisch ab und rollte sich leidend auf die Seite.

Was würde Jason davon halten, wenn sie so kurzfristig absagt? Würde sich so eine Gelegenheit jemals wieder ergeben? Fluchend drückte sie ihr Gesicht ins Kissen und schimpfte auf den wummernden Schmerz in ihrem Körper.

 

Jason.

Die Sonne stand tief und die letzten rot glühenden Strahlen tauchten den See in warme Farben. Rosafarbene Wölkchen und dahinter strahlendes Himmelblau, das bereits die Nacht ankündigte.

Jason saß neben ihr und sie genoss seinen Anblick. Die Abendsonne spielte mit seinen Zügen. Der geraden Nase, die sein Profil so wunderbar betonte, reine Haut, auf die Lina allzu oft neidisch war. Strähnen braunen Haares, das ihm über die Augen fiel, sodass er es immer wieder lässig beiseite schieben konnte, seinen Kopf umfloss und im Nacken einige Locken schlug. Das Blaugrau seiner Augen war bisher auf den Sonnenuntergang gerichtet. Und sein Mund. Nichts auf der Welt würde Lina lieber tun, als von seinen Lippen zu kosten. Wie mochte ein Kuss von Jason schmecken?

Er drehte sich zu ihr und sie versank in seinem Blick. Grau und Blau die einander umflossen wie bei einem Aquarellbild. Und die Sonne zauberte noch ihr warmes Glänzen dazu.

Die obersten Knöpfe seines beige gemusterten Hemds waren offen und behutsam legte er seinen Arm um Lina. Sie konnte ihrem Herzen lauschen, wie es schneller schlug, wie das Blut durch ihre Adern rauschte. Sein Gesicht kam dem ihren näher und sie lauschte seiner Stimme.

„Ich habe lange auf diesen Augenblick gewartet.“

„Jason“, flüsterte sie leise. Lina genoss seine Berührung. Wie seine große, starke Hand über ihren Rücke glitt, ihre Taille umschmeichelte und sie näher an sich heran zog.

„Du bist etwas Besonderes. Du bist anders, als die anderen. Nur mit dir will ich zusammen sein.“

Fast unerträglich langsam und behutsam näherten sich seine Lippen zum Kuss. Sein Körper strahlte diese wohlige Wärme aus, in der man sich nur geborgen fühlen konnte.

Seine Lippen waren weich, schmiegten sich perfekt an die ihren. Liebkosten ihren Mund. Lina schlug die Arme um seinen Nacken und gab sich ganz dem Kuss hin. Die Sonne warf ihre wärmenden Strahlen auf die beiden und Jason brachte ihren Mund, ihr Gesicht, ihren ganzen Körper zum Glühen. Wie in einem Vulkan brodelte das Glücksgefühl in ihr.

Die Sonne versank, der See und die Landschaft verschwanden und als Lina genießerisch die Augen schloss war auch ihr Jason nicht mehr da. Das prickelnde Feuer umfing sie und ließ sie alles andere vergessen. Auf ihrem Bauch, gehalten von ihren Händen brodelte es am stärksten. Sie schmeckte den Kuss auf ihren Lippen, spürte wie die Wärme einen angenehmen Schauer durch ihren Körper jagte.

Ein Knacken ließ sie schlagartig die Augen öffnen.

Lina brauchte einige Herzschläge um zu begreifen, wo sie war. Kein Sonnenuntergang am See, kein Jason. Nur sie in ihrem Bett. Nur die Hitze war echt.

Ein weiteres Knacken ließ sie hektisch ihre Decke beiseite schlagen. Der Schlafanzug klebte unangenehm auf ihrer Haut und die kühle Zimmerluft wirkte geradezu erlösend. Lina setzte sich auf und konnte die Augen nicht von dem Ding in ihrer Hand lassen. Sie hatte den Stein zum Einschlafen auf ihren Bauch gelegt, damit die Wärme ihre Regelschmerzen betäuben konnte. Der einst dunkelgraue Stein leuchtete nun wie ein weißer Kiesel und feine Risse zogen sich über die Oberfläche. Und bei all der Hitze, die er ausstrahlte war es ein Wunder, dass das Bett kein Feuer gefangen hatte. Ihr Bauch hatte vielleicht leichte Verbrennungen abbekommen, aber das war sie gewohnt. Lina spürte die Hitzewogen. Wie ihr Blut warm durch ihre Arme floss. Sie fühlte, wie es in dem Stein rumorte und sich bewegte.

Und noch immer schmeckte sie Jasons Kuss auf ihren Lippen, der doch nicht mehr gewesen war als ein wunderbarer Traum.

Wieder ein Knacken und Teile des Steines lösten sich. Brachen heraus und rieselten auf ihr Bettlaken. Hervor schob sich ein schuppiges Füßchen.

Die restliche Schale zersprang und Lina hielt ein kleines Wesen in ihren aufgeregt zitternden Händen.

Eine glibschige, graue Schleimhaut lag über den Gliedmaßen und ohne darüber nachzudenken half sie dem kleinen Wesen, sich daraus zu befreien. Draußen war es dunkel und das Licht war nicht eingeschaltet. Nur ein Dämmerlicht wurde von den entfernten Straßenlaternen hinein geworfen. Lina schloss die Augen und tastete nach der Lampe auf ihrem Nachttisch. Mit leisem, elektrischem Sirren drang das Licht durch ihre geschlossenen Augenlider. Langsam wagte sie es, wieder hin zu sehen. Das hier war kein Traum. In ihrer Hand lang schwer und lebendig ein frisch geschlüpftes Wesen.

Es war ein… es sah aus, wie… Verdammt noch einmal, das war ein Drache.

Die vier Beinchen streckten sich und mühevoll entfaltete es seine Flügel. Im hellen Schein der Lampe betrachtete sie die dunklen Schuppen, die kleinen Höckerchen auf dem Rücken und den sich ringelnden Schwanz. Der Hals reckte sich Lina entgegen und das kleine Mäulchen stieß ein kaum hörbares Fiepen aus. Dann endlich öffnete es die Augen und zog Lina damit in seinen Bann.

Mit offenem Mund starrte sie, kümmerte sich nicht um Schalestücke und Glibber, sondern versank in den unglaublichen Augen, die das kleine Wesen auf sie gerichtet hatte. Sie hatten die Farbe von orangeroten Flammen, durchzogen von dunklen Schlieren, die Lina als lilafarben erkannte. Der kleine Drachen blinzelte mit einem zweiten Paar Augenlider, was sie unwillkürlich zusammen zucken ließ.

Und während Lina starrte und staunte, über die feinen Schuppen streichelte, begannen die Gedanken in ihrem Kopf wieder zu arbeiten.

Wie sollte sie ihn nennen? So ein Name wollte gut überlegt sein. Am besten durchforstete sie dafür erst einmal das Internet.

Ob Herr Maier gewusst hatte, dass aus dem Stein ein Drache schlüpfen würde? Unter Garantie. Warum sonst hatte er ihn in ihre Obhut gegeben. Doch wohl nur, damit sie ihn ausbrütete. Und wofür? Sollte oder musste sie ihn nun behalten, sich um ihn kümmern und großziehen? Und war es überhaupt ein Er? Vielleicht war es ja ein Weibchen.

Was fraß so ein Drache überhaupt? Am Ende musste sie ihm tote Mäuse anbieten oder etwas ähnlich Widerliches. Und wie groß würde er oder sie werden? Sollte sie das Tier in ihrem Zimmer verstecken? Konnte sie das überhaupt? Was, wenn ihre Eltern bemerkten, dass sie einen Drachen in ihrem Zimmer versteckte? Einen Drachen.

Inzwischen war es Samstag früh. Herr Maier konnte sie erst Montag befragen.

Hätte er sie nicht vorwarnen können? „Übrigens, wenn der Stein zu heiß wird, dann schlüpft daraus ein kleiner Drache.“

Vielleicht konnte sie ihn an irgendeine Drachenstation abgeben, die sich dann um ihn kümmerten. Aber erst einmal musste sie ihn verstecken.

Suchen glitt ihr Blick umher. Der Bambuskorb in ihrem Regal sah geeignet aus.

Ihre Regelschmerzen meldeten sich mit einem kurzen Stechen zurück als Lina aufstand und, den Drachen noch immer in der einen Hand, zum Regal hinüber tappte.

Sie zog den Korb heraus. Ein paar Kissen waren darin. Perfekt. Die obersten zwei nahm sie heraus. Das dritte nach kurzem Zögern auch noch, weil es eines ihrer Lieblingskissen war. Vorsichtig setzte sie das kleine Wesen in sein improvisiertes Körbchen.

Vorwurfsvoll blickten die feurigen Augen zu ihr hinauf. Sie biss sich auf die Unterlippe und redete sich ein, dass sie sich den vorwurfsvollen Teil bloß einbildete.

„Was mache ich jetzt bloß mit dir.“ Sie seufzte und ließ sich auf dem Teppichboden nieder. Der Drache stemmte die Beinchen in das weiche Kissen, kippte wieder um und kuschelte sich wonnevoll in das Schottenmuster. Glibber rieb sich in den Stoff und die so harmlos aussehenden Zacken und Krallen rissen einige Fasern heraus.

Das Kissen hatte ihre Tante ihr einmal mitgebracht. Lina mochte es nicht, weil das Muster bleich und ausgewaschen war, die Nähte langsam aufgingen und es schrie, dass sie ihrer Tante keine Neuware wert war.

Auf dem Kissen durfte der Drache wirklich anstellen, was er wollte.

Das von draußen durch die Vorhänge scheinende Licht wurde immer heller. Lina saß da und fühlte sich wunderbar und hilflos zugleich. Niemand hatte ihr je erzählt was zu tun war, wenn sie aus Versehen einen Drachen ausbrütete.

Lina seufzte, verbarg das Gesicht in den Händen und bemühte sich, all die wirren Gedanken in ihrem Kopf zu ordnen. Die, in denen der Drache entdeckt wurde und somit jeder wusste, dass sie zaubern konnte. Gedanken, die darin endeten, dass die Men in Black auftauchten, um sie und den Drachen in Gewahrsam zu nehmen. Überlegungen, wie schnell und wie groß das kleine Ding wachsen würde, und ob sie in ferner Zukunft vielleicht auf einem Drachen reiten durfte.

Sie schüttelte den Kopf und stand auf, um die Vorhänge beiseite zu schieben. Ein geübter Griff öffnete das Fenster und brachte den davor hängenden Glasstein zum klimpern. Mit Nebel durchsetzte Morgenluft flutete den Raum.

Vielleicht sollte sie sich keinen Kopf machen und zuerst einmal mit einfacher zu bewältigenden Problemen beschäftigen. Das kleine Wesen brauchte einen Namen.

Ein Knopfdruck fuhr ihren Rechner hoch. Die Zeit nutzte sie, um ihren schwitzigen Schlafanzug gegen Pulli und Jogginghose zu tauschen. Das Eingabefeld der Suchmaschine vor Augen kam sie wieder ins Grübeln. Nachdenklich sah sie zu dem kleinen Wesen hinüber, das die Flügel in die Luft gereckt hatte und damit herum wedelte. Einige Federn flogen empor. Er oder sie war aus einem Stein geschlüpft. So hatte das Ding zumindest ausgesehen. Es gab doch auch Kristalle oder Edelsteine, die in Steinen wuchsen. Drusen, teilte ihr das Internet mit. Und die violetten davon hießen Amethyst. Das klang schön und die Farbe passte zu den Schlieren, die sich durch das orangerot der Augen zogen.

„Was hältst du von Amethyst?“

Der Drache quiekte und sie lächelte.

Ein Klopfen an ihrer Zimmertür ließ sie regelrecht zusammen fahren.

„Alina, bist du schon wach? Wir wollen Frühstücken, kommst du?“

 

8.

 

Nein, der Drache war nicht gefährlich. Ja, Lina sollte sich um ihn kümmern, bis er kräftig genug war, in seine Heimat zurück zu kehren. Und die meisten Drachen aßen am liebsten Schokolade.

So viel mehr war aus Herrn Maier nicht heraus zu bekommen. Außer, dass das kleine Wesen jetzt schon seine eigene Persönlichkeit hatte und er nicht dazu fähig war ihr zu sagen, ob es ein Männchen oder Weibchen war.

Lina wusste noch immer nicht, ob sie sich wegen des kleinen Drachens freuen, oder besser heulen sollte. Er war ein Fabelwesen, ein kleines Wunder, ein schönes Geschöpf, dem man stundenlang beim Herumtollen und Kissen zerbeißen zusehen konnte. Eines, das ihr in den Fantasy-Büchern immer besonders gut gefiel, weil es den Helden der Geschichte durch die Lüfte trug und den Kampf gegen den Bösewicht eigentlich im Alleingang gewann. Aber er machte auch alles schwieriger.

Sie musste ihn natürlich vor ihren Eltern verstecken. Er hatte furchtbare Angst vor dem Staubsauger und nachts unternahm er Streifzüge, sodass Lina ihn beaufsichtigen musste, wie eine Katze im Wollgeschäft. Gezwungener Maßen sagte sie Übernachtungen, Kinobesuche und Partys ab. Zu groß war das Risiko, dass ihr neuer Mitbewohner aus Versehen das Haus zerlegte.

Zwar fühlte sie sich ausgesprochen schlecht dabei, immer neue Ausreden zu erfinden, warum sie abends nicht konnte, aber war sollte sie anderes machen? „Tut mir leid, ich muss auf ein kleines Fabelwesen aufpassen, weil es sonst Chaos stiftet?“

Doch sah man einmal von dem kleinen Quälgeist ab, dann lief es eigentlich ganz gut. Schließlich hatte Jason sie in der Mittagspause angesprochen. Sich zu ihr gesetzt.

„Hey. Geht’s dir wieder besser? Deine Freundin hat gesagt, du wärst Freitag krank gewesen.“

„Ja.“

„Ist immer scheiße, wenn man zum Wochenende krank wird.“

„Ist schon okay. Im Bett liegen und Fernsehen hätte ich wahrscheinlich eh gemacht.“

Sein Lächeln ließ sie dahin schmelzen. Als seine Kumpels ihn riefen stand er auf. „Bis dann“ hieß es. Linas „Bis dann“ hatte er wohl kaum gehört, so leise wie sie es gesagt hatte.

Kaum war er verschwunden schoss ihr unwillkürlich das Blut ins Gesicht. Hatte sie durch ihre Absage also doch nicht alles versaut. Und Jason hatte sie angesprochen. War um sie besorgt gewesen. Interessierte sich für sie.

Innerlich kreischte sie vor Glück und wären nicht so viele Leute da gewesen, die ihr zusahen, dann hätte sie wohl einen Freudentanz aufgeführt.

„Er mag mich. Er mag mich.“

Und es kam noch besser.

 

Eigentlich war sie nur mit Anni im Center Kaffeetrinken gewesen, als Jason mit einem Kumpel vorbei getrottet kam. In ihrer ungezwungenen Art hatte Anni den beiden zugerufen und sie heran gewunken.

Zu viert sprachen sie über Gott und die Welt. Schließlich stand der Beschluss, ein Eis essen zu gehen.

„Richtung Wasser gibt es eine klasse Eisdiele. Und das Ambiente ist dort auch schöner.“ Jasons Kumpel grinste zwar etwas zu viel, aber was machte das schon.

Kurz entschlossen brachen sie auf und spazierten Richtung Fluss. Bestens unterhalten von Anni und dem anderen Typen, Nick hieß er.

Die beiden Jungs kauften sich drei Kugeln, Anni und Lina begnügten sich mit jeweils einer. Kalorien verbrannten sich schließlich nicht von selbst. Kleine, bedruckte Pappbecher, Plastiklöffelchen und wirklich leckeres Eis. Für Lina Nougat mit Haselnusskrokant oben drauf. Sie saßen an dem begrasten Ufer, das sich zum Fluss hinunter neigte und genossen die Abendluft. Der Bach plätscherte und mit den anbrechenden Abendstunden legte sich Tau auf die hohen Gräser. Das Zirpen und Schwirren von Getier verstummte und die Blumen am Ufer schlossen sich. Es roch erdig und bestimmt gab es Grasflecken auf den Jacken.

Über allzu viele weltbewegende Dinge wurde geredet. Und doch erinnerte sich Lina an nichts mehr davon. Sie hatte nur Augen für Jason. Immer wenn er zu ihr hinüber sah senkte sie schüchtern den Blick. Dass sie ihn die ganze Zeit wie eine Stalkerin anstarrte stimmte zwar, aber merken sollte er das lieber nicht. Er sah aber auch wieder gut aus heute. Helles Hemd und eine dunkle Kapuzenjacke, die wunderbar zu seinen Haaren passte. Dazu eine khakifarbene Stoffhose, die schon einige Grasflecken zierte, was ihn aber nicht weiter störte. Lina ärgerte sich die ganze Zeit, dass sie heute Morgen nicht doch die farblich zu seinem Hemd passende Bluse angezogen hatte. Wenigstens hatte sie von ihm schon ein Kompliment für ihren knielangen Rock bekommen.

Der Abend kündete sich an, es wurde dunkler und bei Lina ging ein innerer Alarm los.

Sobald es dunkelte kam der kleine Drache auf dumme Gedanken. Tobte herum oder blies Rauchwolken in die Luft. Das würden entweder ihre Eltern oder der Rauchmelder bemerken.

Möglichst auffällig unauffällig holte sie ihr Telefon hervor um einen Blick auf die Zeitanzeige zu werfen.

„Ich muss los.“

Bemüht, nicht zu hastig zu wirken, packte sie ihre Sachen zusammen. Enttäuschte Phrasen füllten die Luft.

„War schön heute.“

„Sollten wir mal wieder machen.“

„Musst du echt schon los?“

Annis Blick war geradezu entsetzt und die Worte waren in ihrem Kopf, ohne dass sie ausgesprochen werden mussten.

„Ist das dein Ernst? Du lässt dir diese Gelegenheit auch noch entgehen?“

Oh, wie Recht sie hatte. Lina wusste das. Wenn sie es mit ihrem Gewissen hätte vereinbaren können, dann wäre sie diesen Drachen auch längst los geworden. Er war zwar hilfsbedürftig, besonders und irgendwie auch niedlich, aber sie mochte es ganz und gar nicht, wie er ihrem Privatleben im Wege stand.

Fast schon auffällig blickte Lina über ihre Schulter zurück, erhaschte ein paar Mal Jasons Blick und sein Lächeln.

 

Amethyst hatte tatsächlich schon wieder ein Kissen zerlegt und Schokoflecken in ihren beigefarbenen Teppich getreten. Lina hatte vorerst beschlossen, dass es ein Er war.

Schließlich hieß es auch „der“ Drache und sein Verhalten passte auch wunderbar zu einem kleinen, ungestümen Jungen. Er freute sich über Linas Anwesenheit. Tobte um ihre Beine herum, sprang neben ihr aufs Bett und machte Flugversuche von der Bettkante aus. Da er seine Flügel lediglich ausbreitete und nicht damit schlug war es eher ein langsames Plumpsen.

Lina saß vorgebeugt da und starrte auf die Füllwatte aus dem Kissen. Wie oft musste sie noch ihr Privatleben hinter die Entdeckung des Drachen stellen? Klar, sie wollte nicht als Zauberfreak gelten, aber sie wollte auch Jason. Seufzend ließ sie die Watte in den Papierkorb schweben. Fasziniert schaute Amethyst dabei zu. Er sprang in die Watte und schaute ganz betrübt zu Boden, als er bloß wieder zurück fiel.

Nachdenklich schaute Lina ihn an. Wie die dunkelblauen Schuppen im Schein ihrer Schreibtischlampe matt glänzten und diese feurigen Augen leuchteten. In letzter Zeit hatte sie nur Magie ausgeübt, um für das Aufräumen nicht vom Bett aufstehen zu müssen. Ihre Fortschritte hielten sich in Grenzen, aber für Watte reichte es allemal. Auch für mehrere Bücher auf einmal, bestimmt auch für einen Drachen.

Warum eigentlich nicht.

Lina konzentrierte sich. Schloss die Augen und stellte sich vor, wie Amethyst mit schlagenden Flügeln durch die Luft glitt. Sie hatte zwar schon länger nicht mehr geübt, die Betreuung des kleinen Drachen war anstrengend genug, aber ein freudiges Quietschen verriet ihr, dass es funktioniert hatte.

Amethysts Flügel streiften ihr Bücherregal, rissen beinahe ihre Zimmerpflanze um und brachten die dunklen Gardinen zum Aufbauschen.

„Jetzt ist auch schon wieder genug“, entschied Lina bestimmt. Sie nahm den Zauber von ihm, doch er flog weiter. Verlor zwar reichlich schnell an Höhe, aber tat noch ein paar Flügelschläge, ehe er über den Boden kugelte.

Vor Freude quietschend versuchte er, gleich noch einmal zu starten, aber es gelangen ihm nur ein paar große Hüpfer. Zum Glück.

Lina stand auf, schaltete ihre Lampe aus und ging zum Fenster hinüber, um die Vorhänge beiseite zu schieben. Wenn Amethyst auf ihrer Fensterbank sitzen und hinausschauen konnte, dann tobte er wenigstens nicht die ganze Nacht herum.

Ihr Telefon verkündete trällernd, dass sie schon wieder eine Textnachricht erhalten hatte. Wahrscheinlich schon wieder Anni. Nach Linas Aufbrechen hatten sie wild hin und her geschrieben. Ihre beste Freundin hatte natürlich geschimpft, dass sie so einfach abhaute und ihr war dann doch noch eine Ausrede eingefallen. Sie hätte versprochen, sich um die Katze einer Nachbarin zu kümmern und dieses nun schon den ganzen Tag aufgeschoben. Und Katzen konnten wirklich zickig werden, wenn man ihre Toilette nicht reinigte.

Damit hatte Anni sich wohl zufrieden gegeben. Was auch immer sie jetzt noch wollte.

Während Amethyst seine Treppe aus Büchern und Kartons erklomm, um auf das Fensterbrett zu gelangen, starrte Lina gedankenverloren hinaus. Ihr Zimmer war im zweiten Stock, sie hatte Ausblick auf einen Grünstreifen und ein paar Gebüsche, dahinter eine Einbahnstraße, an der Straßenlaternen ihre bleichen Lichtkegel in die Nach bohrten. Ein Auto fuhr vorbei und von jenseits der Straße leuchteten einige erhellte Zimmerfenster des Wohnblocks. Am häufigsten das bläuliche Flackern eines Fernsehers.

Zwischen den parkenden Autos trat eine Gestalt hervor. Eine von diesen Mittelalter und Metal Fans, seiner Aufmachung nach. Langer, schwarzer Mantel mit Kapuze. Er stand abseits der Laternen, sodass Lina ihn nicht genau erkennen konnte. Aber das musste sie auch nicht. Schließlich durfte jeder der wollte dort herum spazieren.

Als er aufblickte und Lina meinte, dass er genau zu ihr hinauf sah, wandte sie sich ab.

In ihre Richtung hatte er geschaut, korrigierte sie sich. Schließlich waren um sie herum noch viele andere Fenster.

Kurzerhand legte sie sich ins Bett, verzichtete darauf, noch Musik anzumachen, weil Amethyst dann immer allzu unbegeistert jaulte.

Der kleine Drache stürzte sich vom Fensterbrett, schlug eifrig mit den Flügelchen und kam deutlich weiter als mit seinem gewöhnlichen Gleiten und Plumpsen. Eifrig erklomm er gleich noch einmal die Fensterbank. Hatte sie ihm etwa aus Versehen das Fliegen beigebracht? Na klasse, das machte die Sache nicht gerade einfacher.

Amethyst flog noch einmal, kletterte wieder hinauf und blieb dann dort oben, um neugierig aus dem Fenster zu schauen. Vielleicht hatte er wieder einmal einen Igel entdeckt, der über die Wiese tapste.

Lina drehte sich vom Fenster weg, kuschelte sich in ihre Kissen und versuchte zu schlafen.

Ein Klicken und Klacken ließ sie verwirrt lauschen.

Das klang, als würde das Fenster geöffnet.

 

9.

 

Das Klacken musste Einbildung gewesen sein.

Leise quietschte es und ein Schwall kühler Luft drang in ihr Zimmer. Langsam drehte Lina sich auf die andere Seite, um zum Fenster sehen zu können.

Das Fenster ragte weit ins Zimmer. Ihre Pflänzchen und Staubfänger, die sonst auf der Fensterbank standen, schwebten in der Luft. Und vom dunklen Nachthimmel hob sich undeutlich eine Gestalt ab. Langer, schwarzer Mantel und Kapuze. Er schwebte in der Luft und der Mantel bauschte bedrohlich auf.

Mit einem Ruck saß Lina kerzengerade im Bett. Den Kopf voller Überlegungen, ob sie schreien sollte.

Amethyst saß auf dem hellen Teppich und starrte wie hypnotisiert zu dem unheimlichen Mann hinauf. Dieser streckte den Arm aus und dann ging alles ganz schnell.

Von einem Zauber gepackt schoss der kleine Drache durch die Luft, direkt in die Arme des Mannes. Lina meinte noch, ein Grinsen zu sehen, dann verlor er an Höhe und verschwand aus ihrem Sichtfeld.

„Nein, nein, nein, nein!“

Mit einem Satz war sie aus dem Bett und beim Fenster. Unten auf dem Rasen stand er und steckte Amethyst in einen Sack. So nicht! Das war ihr Drache. Ihr kleines Baby.

Augenblicklich stürzte Lina aus ihrem Zimmer, aus der Wohnungstür und die etwas zu großen Latschen ihrer Mutter an den Füßen stürmte sie die Treppe hinunter. Die Haustür klemmte natürlich wieder. Begleitet von dem Klatschen der Schuhe auf dem Gehweg rannte sie auf die Rückseite des Hauses. Gerade rechtzeitig um den schwarzen Mantel zwischen den Autos auf der Straße verschwinden zu sehen.

Ohne groß nachzudenken legte sie einen Sprint ein. Dass es kalt und sie reichlich unpassend angezogen war, interessierte sie gerade herzlich wenig. Und sie holte auf. Wohl siegessicher schlurfte der Kerl über die Straße.

„Hey, stehen bleiben! Wer sind Sie überhaupt?“

Lina war fast an ihn heran, als er sich urplötzlich zu ihr umdrehte und es sie von den Füßen riss.

Vom fremden Zauber ihres Atems beraubt hörte Lina nur noch, wie sich schwere Schritte nun reichlich schnell entfernten. Er hatte ihren Drachen. Amethyst.

Benommen rappelte sie sich wieder auf. Sammelte den einen Schuh ein, der ihr vom Fuß geflogen war, als es sie umgerissen hatte. Gedanken rasten in ihrem Kopf umher und nicht einer ging darum, dass sie den Drachen nun endgültig los war und ein normales Leben führen konnte.

Sie musste ihn zurück holen. Ihn retten.

Da war einfach mitten in der Nacht ein anderer Magier aufgetaucht. Er war in den ersten Stock geschwebt, hatte ihr Fenster geöffnet, war also gewissermaßen eingebrochen und hatte verdammt noch einmal ihren Drachen entführt.

Nun stand sie also hier. Barfuß in den Latschen ihrer Mutter, einen dünnen Schlafanzug an, ohne BH und ohne Drache.

 

Sie klingelte wirklich nicht gerne Sturm. Aber gerade jetzt war es der Situation angemessen. Lina trat einen Schritt zurück, um das Reihenhaus zu betrachten. Kleine, kugelrunde Buchsbäume und ein gepflegtes Beet, das zur richtigen Jahreszeit eine reichhaltige Blumenpracht zeigen mochte.

Endlich hörte sie Schritte im Haus. Erleichtert nahm sie den Finger vom Klingelknopf, unter dem ein kleines Messingschild „Maier“ verkündete.

Durch die kleinen, gelben Glasscheiben in der Haustür sah sie jemanden. Ein Schlüssel wurde im Schloss gedreht und die Tür ging einen Spalt breit auf.

„Alina? Was willst du denn hier?“

Ihr Lehrer schaute ihr verdutzt entgegen. Einen kastanienbraunen Bademantel an, ohne Brille und mit zerzausten Haaren. Und reichlich müde sah er noch aus, aber schließlich war es auch sieben Uhr morgens an einem Samstag.

„Amethyst ist entführt worden. Von einem Magier.“

Augenblicklich öffnete ihr Lehrer die Tür und winkte sie hinein.

„Woher weißt du eigentlich, wo ich wohne?“

Er sah sich noch einmal draußen um, ehe er die Tür hinter Lina schloss.

„Internet.“

Ein paar Schuhe, ein paar Jacken, ein Spiegel und ein Bild von einem angetäuten Boot. Das war also Herr Maiers Flur.

„Wie hat er ausgesehen?“

Er zog seinen Bademantel zu Recht und lotste sie wohl ins Wohnzimmer. Ein verhältnismäßig kleiner Fernseher, viele Blumen auf der Fensterbank und ein einladendes Ecksofa mit vielen Kissen. Lina ließ sich auf dem Sofa nieder und überlegte.

„Etwa so groß wie Sie. Langer, schwarzer Mantel und dunkler Kapuzenpulli. … kantige Nase. Ach ich weiß nicht. Es war so dunkel.“

Sie verbarg das Gesicht in den Händen und kämpfte innerlich dagegen an, sich von ihrer Verzweiflung überwältigen zu lassen.

„Kein Zweifel, wir müssen ihn zurück holen. Das heißt… möchtest du mitkommen?“

„Natürlich!“ Ihre Stimme überschlug sich.

Er nickte bloß und fuhr sich ein paar Mal durch die Haare, um sie zu ordnen.

„Na schön. Ich weiß, wo wir ihn suchen müssen. Aber ich kann dir nicht sagen, wann wir zurück sein werden.“

„Ist okay. Ich habe meinen Eltern gesagt, dass ich bei einer Freundin bin.“

Wieder Nicken. „Ich… ziehe mich schnell an, dann gehen wir sofort los. Warte kurz hier.“

Aus dem Raum und die Treppe hinauf. Lina fuhr sich durchs Haar und ließ den Blick schweifen. Herr Maier hatte also wirklich eine Freundin. Dafür sprachen die geschmackvolle Einrichtung und nicht zuletzt die kleineren Schuhe im Flur. Das würde so manche Schülerin schwer enttäuschen.

Sie stand auf, als die Schritte die Treppe wieder hinunter kamen. Herr Maier trug nun Jeans, Pulli und Umhängetasche. Auf den letzten Stufen der Treppe sitzen band er sich robust wirkende Schuhe zu.

„Wir müssen ein paar Kilometer aus der Stadt raus. Dafür nehmen wir mein Auto. Dein Entführer ist höchstwahrscheinlich dahin zurück, wo er hergekommen ist.“

„Kennen Sie ihn etwa? Oder warum wissen Sie, wo er wohnt?“

Entsetzt sah Lina ihm zu, wie er nach einer Jacke griff.

„Nein, ich weiß bloß, aus welcher Welt er kommt.“

Damit wusste sie nun noch weniger anzufangen. Sie dachte aber auch erst einmal nicht weiter darüber nach, da etwas anderes ihre Aufmerksamkeit erregte.

Eine Frau kam die Treppe herunter, ohne dass ihre Schritte dabei zu hören waren. Sie trug Bademantel, das weißblonde Haar flüchtig mit einer Haarnadel hoch gesteckt und sie war verboten schön. Sehr blass und feine Züge. Lina war bemüht, ihre Kinnlade oben zu behalten.

Hauchzart drückte sie Herrn Maier einen Kuss auf die Lippen und hauchte ein „Verliere dich nicht.“

 

Parkplatzhorror. Der frühmorgentlichen Belebtheit war es zu verdanken, dass sie nach dem Abstellen von Herr Maiers New Beetle noch zehn Minuten laufen mussten. Der Duft von frisch gebackenen, buttrigen Croissants hing in der Luft. Dann bogen sie ab und um sie herum wirkte mit einem Mal alles staubig.

Die Geschäfte wirkten wie lange verlassen, doch gefüllte Regale und „Geöffnet“-Schilder sprachen für das Gegenteil. Leere Fastfood-Becher rollten über die Straße und irgendwo kläffte ein Hund.

In was für einer Gegend waren sie hier bloß gelandet?

Herr Maier ging zielstrebig voran. Lina folgte, wenn auch mit nicht ganz so sicheren Schritten.

Ihr Weg führte zu einem der altbackenen Geschäfte.

Die Scheiben waren blind und über der Tür stand in ausgeblichenen Lettern auf einem Holzschild „McGullochs Zauberladen“.

Kurzerhand nahmen sie eine kleine Gasse, die auf den Hinterhof des Ladens führte. Hier sah es auch nicht viel lebendiger aus. Große Holzbretter und Gipsplatten lehnten an der Hauswand und daneben stapelten sich ein Hamsterkäfig, ein Bürostuhl, ein Röhrenbildschirm, Apfelkisten, Schrott eben.

Unwirsch schob ihr Lehrer die hohen Platten von der Hauswand, wobei einige Spanplatten zu Boden rauschten und klappernd zerbrachen. Staub und Dreck wirbelten auf und Lina musste husten.

„Da ist es.“ Zufrieden hatte er die Hände in die Hüften gestemmt und betrachtete den roten Klinker.

Ein Holzrahmen war dort angebracht. Verziert mit barrocken Schnörkeln und Stuck. Durch den Rahmen sah Lina eine karge Wiese mit angrenzendem Wald. Quatsch. Sie blinzelte und sah wieder nur die roten Backsteine. Bekam sie jetzt schon Halluzinationen?

Herr Maier trat einen Schritt zurück und schob mit dem Fuß ein Kinderfahrrad beiseite.

„Hinter diesem Tor liegt die Welt, aus der dein Drache kommt. Sie ist eigentlich genau wie unsere, nur mit ein paar… Eigenarten.“ Er drehte sich halb zu ihr herum. „Möchtest du immer noch mitkommen?“

Lina nickte.

Herr Maier atmete tief durch. „Schön. Es ist natürlich ein magisches Tor. Und so kommt natürlich auch nur ein Magier hinein. Praktisch, dass wir welche sind.“

Lina starrte und sah immer noch die Wand.

„Es ist wie bei diesen magische Auge Bildern, wenn du die kennst. Die haben ihren Namen schließlich nicht ohne Grund.“

„Die kenne ich.“ Sie biss sich auf die Unterlippe und konzentrierte sich. Vor ihren Augen traten die grauen Fugen hervor, die roten Steine verschoben sich und schon war das Bild wieder da. Nun spürte sie aber, wie ein Windhauch heraus wehte und den Duft von Tannennadeln mit sich trug.

Herr Maier schritt durch das Tor und streckte Lina hilfsbereit die Hand entgegen. Sie stieg über Bauschutt und Lumpen, griff die kühlen Finger und spürte im nächsten Moment weiche Erde und Gras unter ihren Füßen. Zögernd sah sie über die Schulter zurück. An einem geradezu riesigen Baum war ebenso ein schnörkeliger Rahmen, durch den hindurch sie auf den dreckigen Hinterhof sehen konnte. Noch rechnete sie fest damit, jeden Moment aus einem Fibertraum aufzuwachen und den Drachen unversehrt auf ihrem Kopfkissen vorzufinden.

Sie blinzelte, und der Hinterhof war verschwunden.

10.

 

Bob hatte sich verplappert.

Als Jona eher scherzhaft gefragt hatte, ob sich das Geheimnis, wie man in diese magische Welt gelangte, zwischen all dem Schrott auf dem Hinterhof des Ladens zu finden sei, hatte der alte Mann allzu ertappt dreingeschaut. Da half auch kein bestimmtes „Natürlich nicht, Junge!“

Geduldig hatte der Junge nun darauf gewartet, dass Bob McGulloch seinen Laden verlies. Heute Abend war er ins Theater gefahren, um sich „Faust“ oder etwas ähnlich Tragisches anzusehen.

Jonas Atem ging schwer. Er klopfte Staub von seinen Händen und betrachtete zufrieden das Ergebnis seiner Arbeit. An der Rückwand des Ladens, verborgen unter Pappe und Holzbrettern, war ein Torrahmen an den roten Klinker angebracht. Das war unnormal genug, dass er sich am Ziel wähnte.

Immer wenn er nicht hin schaute meinte er, anstatt der Mauer eine abendliche Aue erspähen zu können. Hier auf dem Hinterhof wurde es duster. Der Mond versteckte sich hinter Wolken und irgendwo kläffte ein Hund. Bronx, der in seinem Rucksack steckte, kreischte vergnügt zurück. Dass er nicht aus der Tasche heraus kam war gut so, sonst wäre er los gelaufen, um jemanden zum Spielen zu finden. Die umstehenden Gebäude spendeten genug Wärme, dass Jona trotz der eher kühlen Jahreszeit ohne Jacke unterwegs war. Außerdem hatte er sich gerade warm geschuftet. Und ein paar Splitter eingefangen, aber das kümmerte ihn nicht.

Die Mauer und der hölzerne Rahmen waren schon abgesucht worden. Keine geheime Inschrift oder Schalter. Bloß ans Mauerwerk genagelte Holzlatten. Nun stand Jona grübelnd davor. Langsam schloss er die Augen und meinte wieder, nur für einen kurzen Moment, die Wiese sehen zu können.

Er stockte und öffnete die Augen versuchsweise nur einen Spalt breit. Die Mauer verschwamm und vor ihm lag wieder die Wiese. Entschlossen packte er die Träger seines Rucksacks.

Den abendlichen Himmel auf der anderen Seite fest im Blick trat er durch die Mauer. Wind griff nach ihm und zerzauste sein Haar. Jetzt erst wagte er, die Augen ganz zu öffnen. Er hatte es wirklich geschafft. Er war in dieser Parallelwelt.

Hinter ihm erhob sich eine mächtige Eiche, an deren Stamm ein ebensolcher Rahmen hing, durch den hindurch Jona auf den Hinterhof des Zauberladens sehen konnte. Ein Blinzeln und der staubige Anblick war knotiger Baumrinde gewichen.

Mit vor Aufregung wummerndem Herzen sah er sich um. In seinem Rucksack zappelte und fiepte es. Kurzerhand nahm er ihn ab und ließ Bronx heraus. Es mochte keine bequeme Art sein, durch die Gegend getragen zu werden, aber wenigstens fiel es nicht auf.

Der Drache schüttelte sich und schlug ein paar Mal mit den Flügel, als wollte er seinen Herumträger beschimpfen. Er war in den letzten Wochen unglaublich schnell gewachsen. Das galt besonders für seine Flügel und die Zacken auf seinem Rücken. Seine Krallen waren ebenso zerstörerisch, wie sein fleißig zuschnappendes Drachengebiss und Jona musste aufpassen, was oder wen er unbeaufsichtigt in seiner Reichweite ließ.

Jona grinste breit, lehnte den nun leeren Rucksack an den Baum und trat auf die Wiese hinaus. Der Boden war weich und ließ seine Schritte Federn. Einige Gräser ragten ihm in die Hosenbeine und kitzelten. Vor ihm der Horizont brachte tiefblauen Himmel mit den ersten Sternen und einen Nadelwald zusammen. Keine Lichtglocken, die über Städten hingen oder Leuchtreklamen, die das ruhige Farbenspiel störten. Wiese, Wald und dahinter mochten Wolken aufziehen oder ein Gebirge empor ragen.

Weit über ihm rauschte die Blätterkrone der Eiche. Bronx schlug mit den Flügeln, warf sich in den Wind und übte sich im Fliegen.

Zufrieden schob Jona die Hände in die Hosentaschen und schlenderte, die Abendsonne im Rücken, drauf los. Der Drache folgte ihm unaufgefordert. In seinem Kopf malte er sich aus, wie Bob reagieren mochte, wenn er erfuhr, dass sein Lehrling es gänzlich ohne fremde Hilfe geschafft hatte, in diese magische Welt hinüber zu wechseln. Was mochte an dieser Welt wohl alles magisch sein?

Vor ihm neigte sich ein Hügel dem Tal entgegen. Linker Hand der Rand des Nadelwäldchens, das doch so viel geheimnisvoller wirkte, als ein beschauliches Tal zwischen grünen Hügeln. Außerdem kam der Wind von dort und Jona meinte, ein einladendes Wispern in ihm zu hören.

„Komm, Bronx.“

Er ließ den Drachen auf seiner Schulter landen. Die ledrigen Schwingen faltete er zusammen, die kleinen Krallen piekten behutsam in seinen Arm und der Schwanz ringelte sich über Jonas Rücken. Der warme Drachenkörper ließ das Frösteln ganz vergessen sein und der Junge genoss die Nähe seines Gefährten, obwohl seine Schulter knirschte. Seit der Kleine aus dem Ei geschlüpft war hatte er ordentlich zugelegt. Bald war er ebenso groß wie Jonas kleine Schwester. Und klug war er. Bronx hatte schneller Fliegen gelernt, als so manches Kleinkind das Radfahren ohne Stützräder. Außerdem fühlte Jona sich stärker, was seine Zauber betraf, wenn der Drache in seiner Nähe war.

Auf jeden Fall stark genug, um nun dieses Wäldchen vor ihm zu erkunden.

Das Windrauschen klang leiser in den dunklen Nadeln. Ein paar Schritte tiefer ins Gehölz hinein und es war gänzlich verstummt. Jona lauschte auf das Knacken von Nadeln und altem Holz unter seinen Füßen. Legte er den Kopf in den Nacken, so konnte er bruchstückhaft noch immer das dunkler werdende Blau des Abendhimmels erhaschen. Die Tannen trugen ein dunkles Grün, fast schon Blau. Für gewöhnlich hatten solche Bäume die ersten paar Meter über dem Boden keinen Bewuchs mehr, sondern trieben nur dort aus, wo sie mit den anderen Baumwipfel um jeden Strahl Sonne wetteiferten. Hier jedoch hingen starke Fächer von Zweigen teilweise dicht über dem Boden, sodass Jona seinen Weg gut auswählen und sich häufig durch piecksende Nadeln kämpfen musste.

Kälte kroch aus dem Boden und ließ Jona frösteln. Wind brachte die Baumspitzen zum rascheln und manche Tanne schüttelte es bis zu ihren Wurzeln. Irgendwo in der Nähe klirrte es leise. Er blieb stehen und lauschte in den Wald hinein. Bronx warmer Atem ließ Wölkchen in die Luft aufsteigen.

Der Junge schloss die Augen und hörte den Geräuschen zu. Knistern und Knacken, Knarren und Rascheln, wie er es von einem Wald gewohnt war. Doch war da außerdem noch ein Raunen und Flüstern. Mit aufgerissenen Augen suchte er nach jenen, die ihn beobachteten. Er brauchte eine Weile um zu begreifen, dass er die Bäume hörte.

Tannen, die miteinander sprachen. Wisperten. In einer knorrigen, knarzenden Sprache, die der menschlichen so gänzlich fern war. Dennoch ließen sich Worte heraushören.

Worüber sie wohl reden mochten? Über vorwitzige Eichhörnchen? Wurzelfäule und Wühlmäuse? Oder doch eher über jenen Fremden der es gewagt hatte, mit seinem Drachen in ihr Reich einzudringen?

Jona strich Bronx beruhigend über die Schnauze und folgte seiner Nase tiefer in den Wald hinein. Irgendwie gefiel es ihm hier. Natürlich war es etwas düster und die dicht bewachsenen Tannen reichlich widernatürlich, doch der Gedanke, völlig allein zu sein, hatte etwas Beruhigendes. Niemand sonst, dem gegenüber er sich beweisen oder rechtfertigen musste.

Keine Eltern, denen er drucksend erklärte, warum der Lehrer ein Schreiben schickte, das Jonas mangelndes Engagement bezüglich der Hausaufgaben bemängelte. Kein Bob McGulloch, der ihm ständig vorhielt, er sollte mit den Zaubern umsichtig und verantwortungsvoll umgehen. Und hier stand er nun. Niemandem als sich selbst unterstellt und frei, seine eigenen Entscheidungen zu treffen.

Das Baumflüstern wogte auf und ab, wie bei einem richtigen Gespräch. Wie es wohl wäre, sie zu verstehen? Mit ihnen reden zu können?

Nun, ein Drache war immer noch weitaus spektakulärer.

Ein zarter Lufthauch wehte zwischen den dunklen Stämmen hindurch und trug ein zartes Klingen mit sich. Wie von solch einem kitschigen Windspiel, das einen bei Sturm in den Wahnsinn trieb. Die Töne drangen hell und ungetrübt durch das Dickicht der Tannen.

Entschlossen folgte Jona dem Geräusch. Nach flüsternden Bäumen wollte er zu gerne wissen, was diese Welt ihm als nächstes zu bieten hatte. Vielleicht tanzende Mondstrahlen oder silberne Eulen?

Seine Schritte wurden länger und schneller. Bronx nutzte die Gelegenheit, um auf Jonas Kopf zu klettern, die Schwingen auszubreiten und abzuheben. Er würde in der Nähe bleiben.

Weiter vor ihm drang silbriges Mondlicht durch den Wald. Tannennadeln versperrten die freie Sicht auf eine Lichtung. Vorsichtig trat Jona näher und linste erst einmal zwischen den Zweigen hindurch.

Im schalen Mondlicht glitzerte und glänzte die freie Fläche. Sah man noch etwas genauer hin, so erkannte man dicht an dicht stehende Blumen. Silbrig glänzende Blütenkelche, die das Mondlicht einfingen und sich sanft in der nächtlichen Brise wiegten. Daher kam das Klimpern. Immer wenn sie an einander stießen, ergab es einen glockenhellen Ton.

Von Neugier überwältigt schob der Junge die piksenden Äste beiseite und trat auf die Lichtung. Er ging in die Knie und strich behutsam mit dem Zeigefinger über die feinen Blütenblätter. Ein zarter Kelch, der in fünf Blütenblättern endete. Wie ein kleiner Stern und die Lichtung war übersäht davon wie ein nächtlicher Sternenhimmel auf dem Land.

Unwillkürlich zuckte er zurück, als ihn unerwartete Kälte durchfuhr. Dies waren die Glasblumen, von denen Bob eine in seiner Sammlung hatte. Sein angebliches Strandgut. Ob die Blume wohl von genau dieser Lichtung stammte?

Erneut berührte Jona eine der Blüten, diesmal auf den Kälteschock gefasst. Es war wie ein angenehm kühles Prickeln, wie wenn man aus dem stickigen Zimmer in kühle Winterluft hinaus trat.

Waren diese Pflanzen am Ende aus Eis? Aber nein, dann hätte die in Bobs Kiste nur noch eine zauberhafte Pfütze sein dürfen. Glas war es aber auch nicht.

Versuchsweise ließ Jona Wärme durch seine Finger strömen, gab die Hitze an die Blume ab. Fasziniert beobachtete er, wie sie erzitterte und mit glockenhellem Klang in abertausende, glänzende Splitter zersprang.

Sie schwebten noch kurz in der Luft, ehe sie in einem funkelnden Schauer zu Boden gingen.

Erst jetzt bemerkte Jona, dass da außer ihm noch jemand war. Vom Rande der Lichtung aus wurde er beobachtet. Möglichst unauffällig suchte er aus dem Augenwinkel den Waldrand ab. Heller Stoff schien zwischen den dunklen Tannenzweigen hervor. Fast wie ein Gespenst. Jona musste grinsen und richtete sich langsam auf. Seinen Beobachter fest im Blick spazierte er unbekümmert über die Wiese. Die filigranen Blumen zerbarsten unter seinen Schritten und Wolken von glitzerndem Staub wallten hinter ihm auf.

Der weiß gekleidete Jemand huschte hin und her, sah dann wohl ein, dass man ihn entdeckt hatte.

„He, wer bist du?“ Selbstsicher behielt er seinen Kurs bei.

„Keine Angst, ich tue dir nichts.“

Das war zwar keine Aussage, der er selbst Glauben geschenkt hätte, doch tatsächlich trat die weiße Gestalt aus ihrem Versteck. Es war ein Mädchen.

Sie trug ein langes Kleid und einen wollenen, grauen Überwurf. Ihre Haut war ungewöhnlich blass und ihr Haar geradezu weiß. Der weiße Stoff ihres Kleides schmiegte sich an ihre Hüften und warf geschmeidige Falten bis über ihre Füße. Bei dem Überwurf war Jona sich auf den zweiten Blick nicht mehr so sicher, ob es Wolle war. Dafür war der Stoff zu fein, gleichmäßig. Gehalten von einer silbernen Fibel. Die Hand an ihrer Seite hielt eine dieser Sternenblumen, ließ sie aber ganz langsam aus den Fingern gleiten. Misstrauisch ruhten ihre blauen Augen auf ihm.

Jona blieb einige Schritte vor ihr stehen, um sie nicht zu sehr einzuschüchtern. Schließlich interessierte ihn brennend, was für magische Menschen in dieser Welt lebten.

Jetzt zählte wohl der berühmt berüchtigte erste, gute Eindruck. Sein nettestes Lächeln aufgesetzt streckte er ihr die Hand entgegen.

„Mein Name ist Jonathan. Es freut mich, dich kennen zu lernen. Wer bist du?“

„Ailéa.“

Sie blieb, wo sie war, sodass Jona seine Hand schließlich wieder sinken ließ. In den Tannen zu ihrer Linken knackte und raschelte es, vermutlich weil Bronx darin herum tobte. Ailéa schaute hinauf und nun erst bemerkte Jona ihre Ohren. Ungewöhnlich spitz für einen Menschen.

Was bist du?“

 

11.

 

„Mein Name ist Ailéa, das sagte ich doch.“

Jona schüttelte den Kopf und trat noch etwas näher.

„Ich meine, du bist kein Mensch, oder? Du hast spitze Ohren.“

Zartes Rosa färbte ihre Wangen, als habe er ihr eine unhöfliche oder sogar unanständige Frage gestellt. Wohlgeformte Lippen, deren Blässe nicht ungesund wirkte, wurden schmal. Sie schien sich regelrecht zusammen zu reißen, als sie ihm antwortete.

„Ich bin eine Elfe.“

Jona staunte. Angesichts ihrer Makellosigkeit und der Tatsache, dass es in dieser Welt wirklich Elfen gab.

„Und… Gibt es noch mehr von deiner Sorte? Ich meine – gibt es hier noch andere Elfen?“

„Selbstverständlich.“ Als hätte er nach der Farbe des Himmels gefragt.

In den Tannenzweigen raschelte es erneut, als Bronx herum tobte. Das Wispern der Bäume wirkte aufgebracht, als erbosten sie sich über den Eindringling.

„Sind die anderen auch so schön wie du?“ Er freute sich, dass ihm die Formulierung eingefallen war, doch die Elfe ignorierte seine Worte gekonnt.

Mit seinem üblichen Kreischen stürzte Bronx sich hoch über ihren Köpfen aus dem Dickicht heraus in die Lüfte. Emsig schlug er mit den Flügeln und drehte Kreise, während er langsam aber sicher an Höhe verlor.

Die Faszination stand Ailéa ins Gesicht geschrieben.

Erst genoss Jona seinen Triumpf, als der kleine Drache schwungvoll auf seiner Schulter landete. Dann aber fiel ihm ein, dass das Ei und somit auch Bronx aus dieser Welt kamen. Es gab hier also Drachen, sie gehörten hier her. Warum machte das Elfenmädchen dann so große Augen?

„Sein Name ist Bronx.“ Lässig kraulte er das kleine Wesen unterm Kinn, was ein genießerisches Brummen zur Folge hatte.

Neugierig trat Ailéa näher. Ihr bewundernder Blick glitt über Bronx dunkle Schuppen.

„Stellst du mich den anderen Elfen vor, Ailéa?“

Sie hielt inne. Langsam wanderte ihr Blick und musterte Jona. Er war zwar nicht für einen Theaterbesuch oder eine Hochzeit heraus geputzt, aber einem Weltenreisenden würde man das wohl nachsehen. Und an einem Streifenpullover und einer bequemen Hose mit vielen Taschen war doch wohl kaum etwas auszusetzen.

„Das halte ich für keine so gute Idee.“

Er unterdrückte ein Lachen, trotzdem kam ein belustigtes Prusten heraus.

„Was spricht denn dagegen? Keine Sorge, ich kann mich benehmen. Meine Eltern waren gründlich in der Hinsicht.“

Jona hielt ihrem misstrauischen Blick stand. Die Sterne und glänzenden Glasblumen spiegelten sich in den Tiefen ihrer Augen. Zwar würde er es niemals zugeben, doch er hätte auf ewig in diesem Nachthimmel versinken können. In den Augen eines Mädchens, das er eigentlich nicht kannte.

„Pass auf. Wenn du mich zu den anderen Elfen führst und mich ihnen vorstellst, dann…“

Ihr Blick schweifte wieder zu dem kleinen Drachen ab, der seinen Kopf an Jonas Ohr rieb. Eine Angewohnheit, die er dem kleinen unbedingt austreiben musste. Mit den härter werdenden Schuppen litt nämlich auch sein Ohr.

„… dann bin ich sicher, das Bronx sich gerne mal von dir streicheln lässt.“

Ihre Augen weiteten sich und doch versuchte sie, sich ihre Begeisterung nicht anmerken zu lassen.

„Auf deine Verantwortung.“

Er nickte bloß und sie trat endlich näher heran. Bronx reckte den Hals und schlang den Schwanz fest um Jonas Oberarm, um sich der Elfe entgegen strecken zu können. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf die hellen Lippen und blasse Wimpern zogen den Sternenhimmel in ihren Augen zu.

„Aber du bleibst nur kurz.“

 

Hinter dem Wald lag noch mehr Wald. Die Elfe ging voran, sie kannte offenbar die Wege, auf denen man sich nicht durch die Zweige kämpfen musste, um voran zu kommen. Und je weiter sie dem schmalen Mond entgegen gingen, desto lauter wurde das Flüstern und Wispern der Bäume um sie herum. Jona lauschte wieder, in der Hoffnung, einige Worte verstehen zu können, musste sich dann aber mehr darauf konzentrieren, dem weißen Kleid durch die Tannen zu folgen.

Ailéa wurde immer wortkarger, je weiter sie gingen. Durch eine letzte Barrikade aus Zweigen schoben sie sich, und der Junge atmete tief durch. Endlich keine Bäume mehr, die ihn erdrücken wollten. Hier lag wieder eine Lichtung. Diesmal keine Blumen, nur eine karge Wiese, auf der kaum Gras wuchs. Als Jona den Blick hob sah er Mauern. Hohe Mauern mit kleinen Fenstern, Türme die weiter und weiter nach oben zeigten. Mitten im Wald ragte ein Bauwerk vor ihnen auf. Es wirkte, wie aus dem Wald gewachsen, der es umgab. Die Mauern waren glatt und eben, von einem blaugrau, dass sich in die Nadelgewänder der Tannen einfügte. Keine Risse oder abbröckelnder Putz, wie man es sonst von solchen Bauwerken kannte. Eine kleine Tür führte hinein, nicht größer als es notwendig gewesen wäre.

Hoch und düster und der Nachtwind spielte eine leise Melodie auf den hohen Türmen. Efeu rankte am Mauerwerk empor bis zu den silbern glänzenden Dächern. Hinter keinem der Fenster brannte Licht. Einzig die Tür leuchtete fast Weiß aus der Mauer hervor. Jona trat langsam und ehrfürchtig näher. Um den Torbogen herum entdeckte er feine Bildhauerei. Hauptsächlich Blätter und Sterne die umgeben von Ranken der bescheidenen Tür doch etwas mehr Glanz verliehen.

Und kühl war es geworden. Die spärlichen Halme auf der schmalen Flur vor dem Tor waren eingehüllt in Raureif. Vermutlich war das auch der Grund, warum silberner Glanz auf den Dächern lag. Spitze Dächer ohne viel Schmuck. Nur silberne Spitzen auf den runden Türmchen.

Ailéa ging auf das Tor zu und ohne dass sie geklopft hätte öffnete sich die schwere, hölzerne Tür.

Ein Elf stand dahinter, den Blick starr geradeaus gerichtet, über die Köpfe der beiden hinweg. Das schüchterne Kopfnicken zum Gruß hatte er wohl nicht gesehen, oder er ignorierte es.

Unwillkürlich runzelte Jona die Stirn. Der Kerl sah reichlich anders aus als Ailéa. Dürr und lang gewachsen. Mit spitzem, langen Gesicht und seine Ohren standen gut eine Handspanne weit vom Kopf ab. Keine niedliche, spitze Auswölbung, sondern geradezu aggressive Auswüchse. Er trug ein glattes, graues Gewand mit weißen Stickereien, das eine Uniform sein mochte. Ein hoher Stehkragen verbarg den langen, starren Hals und der graue Mantel fiel bis über die Knie. Danach begannen schon hohe Lederstiefel. Ohne Schnallen oder Schmuck, ebenso wie der schwarze Gürtel um seine Leibesmitte.

„Wer ist er?“ Die Stimme klang wie ein Eisklotz. Gänzlich emotionslos.

Ailéa bedeutete ihm, das Reden ihr zu überlassen.

„Er ist ein Gast. Ich führe ihn vor die Herrin.“

Das bleiche Gesicht zeigte keine Regung, als er zurück trat und sie passieren ließ. Auch als er den Drachen erblickte sah er lediglich kurz hinterher, ehe er sich umwand und das Tor lautlos wieder schloss.

Hinter der Mauer lag ein kleiner Schlosshof. Ringsum mehr von diesen tadellosen Mauern. Weiter oben ein Bogengang, aber immer noch kleine, dunkle Fenster und niemand sonst war zu sehen. Der Wind pfiff hier nicht mehr so sehr, was Jona seine roten, da kalten Ohren bewusst machte. Möglichst unauffällig rieb er daran, fragte sich, wie sich solche Spitzen an den Ohren wohl anfühlen mochten. Hörte man damit besser?

Es gab nur zwei Türen, die vom Schlosshof in die Gebäude führten. Ein großes Tor, das eher zweckmäßig in ein eher klobiges Bauwerk führte und mit einem Riegel versehen war. Vielleicht war das der Eingang zu einem Stollen oder einer Schatzkammer, Jona hatte da so einige Ideen. Die andere Tür war ebenso wie die in der Mauer. Von normaler Größe und mit steinernen Sternenranken eingefasst. Obwohl sich diese Sterne beim näheren Hinsehe auch als die Glasblumen entpuppten. Ailéa griff nach der eisernen Türklinke und drückte die Tür auf. Unerwartet schwappte ihnen Kälte entgegen. Führte dieser Gang etwa auch in den Kühlkeller oder so etwas? Er trat hinter der Elfe ein und schloss auf ihre Geste hin die Tür hinter sich. Keine Lampen hingen hier, aber dennoch war es gerade eben hell genug, dass man das nötigste erkennen konnte. Vielleicht lag es auch an Ailéa, deren weißes Kleid vor den dunklen Wänden noch mehr leuchtete.

Ihre Schritte hallten einsam von den kahlen Wänden wieder. Korridore und Bogengänge entlang, vorbei an dunklen Türen in schmucklosen Mauern. Viel zu sehen gab es nicht. Nur bleiche Fenster und verschlossene Türen. Ein bisschen war Jona enttäuscht und seine Anspannung wich mit jedem Schritt von ihm. Von außen hatte dieses Bauwerk nach mehr ausgesehen. Irgendwie spektakulärer. Momentan wirkte es eher trostlos und könnte hier oder dort einen Blumentopf vertragen.

Endlich gelangten sie zu einer hellen Tür, die dank ihrer Verzierungen wichtig genug aussah, dass Jona sich am Ziel wähnte. Ailéa drehte sich zu ihm um. Ihr Lächeln war gewichen und Besorgnis sprach aus ihren Augen. Sie wollte ihm die anderen Elfen immer noch vorenthalten.

„Jonathan, dein Drache wartet vielleicht besser hier.“

Er grinste und stupste Bronx gegen die Schnauze.

„Ist schon in Ordnung, ich passe auf, dass er keinen Unsinn macht.“

Zufrieden wirkte sie nicht gerade, doch ohne weitere Widerworte öffnete sie die Tür.

„Und du kannst mich Jona nennen, wenn du magst.“

Ailéa nickte knapp und ließ ihn vor sich eintreten.

Sie betraten eine hohe Halle, durch deren schmale Fenster schales Mondlicht fiel. Es war, wie in eine große Kirche einzutreten. Nur anders. Dieser Ort wirkte wirklich magisch, was vor allem dem silbrigen Licht zu verdanken war, das nicht in Strahlen hinab fiel, sondern eher waberte, wie Mondnebel. Trotzdem war es dunkel und das spärliche Licht stammte von einigen Kristallen, die in Schalen standen. Von gut beleuchtet war das Ganze dennoch weit entfernt. Die Wände ließen sich erahnen, die Decke nicht. Der Raum mochte quadratisch sein. Zur einen Seite waren sie hinein gekommen, die andere barg weitere dieser unauffällig dunklen Türen.

Gerade zu führten einige Stufen zu einem kleinen Podest hinauf. Dort oben stand eine Elfe. Lange, spitze Ohren, hoch gewachsen und gertenschlank. Auf der Stirn trug sie ein filigranes, silbernes Diadem. Ihr dunkles, schimmerndes Gewandt raschelte kaum hörbar, als sie mit leichten Schritten die Stufen hinab stieg. Sie schien ganz wie von feinem Silberstaub bedeckt. Vielleicht war es aber auch Raureif

Der Blick aus dem fein geschnittenen Gesicht ruhte auf Jona und dem Drachen.

„Ein Gast?“

Dem Jungen lief ein leichter Schauer über den Rücken. Dass Ailéa nickte mochte die Elfe nicht einmal bemerkt haben.

„Wie ist dein Name, junger Mensch?“ Von oben schaute sie herab und ihre Frage duldete keine Widerworte.

„Jonathan.“ Mehr brachte er nicht heraus.

Langsam ging sie um ihn herum, musterte ihn von allen Seiten. Jona fühlte sich unwohl. Er sah zu Ailéa hinüber, die abseits stand wie bestellt und nicht abgeholt. Sie wirkte so anders, als die anderen beiden Elfen. Gab es etwa verschiedene Stämme von Elfen, oder derartiges? Vielleicht erzählte man es ihm oder er bekam die Gelegenheit zu fragen.

Bronx Köpfchen drehte sich eifrig und folgte der Elfenfrau.

„Ist das dein Drache?“

Jona zuckte heftig zusammen, als er so plötzlich angesprochen wurde, dann nickte er schnell.

Die Elfe trat einige Schritte von ihm zurück, ließ ihn nicht aus den Augen.

„Bist du ein Magier?“ Hätte sie nicht so unbeeindruckt geklungen, so hätte man nun bestimmt Ehrfurcht aus ihren Worten heraus gehört.

Beinahe war ein „Ja“ heraus, als Jona sich noch einmal fing. So beeindruckt, wie er von diesem Bauwerk, den Elfen und allem war, das wollte er diese Elfen auch von ihm denken lassen.

Er konzentrierte sich und Bronx brummte in freudiger Erwartung dessen, was da kommen würde. Hitze stieg durch Jonas Glieder und vertrieb die Gänsehaut, die sich dort festgesetzt hatte. Binnen Sekunden war der Junge eingehüllt von goldrot lodernden Flammen. Licht erfüllte die Halle, leckte an den blauen Schatten und ließ die Kristalllampen nichtig werden. Funken stoben empor und glänzten wie Sterne vor einem schwarzen Nachthimmel. Er streckte die Arme aus und ließ alles Feuer ersterben, bis auf ein kleines in seiner Hand. Grinsend wartete er auf die Reaktion der Elfenherrin.

Sie stand da und sagte erst einmal nichts. Das ließ sich eindeutig als Erfolg verzeichnen.

Langsam schloss er die Hand und ließ auch die letzten Flämmchen wieder verschwinden.

Ailéa starrte ihn wieder mit diesen großen Augen und vor Erstaunen geöffnetem Mund an. Zumindest eine, die er schwer beeindruckt hatte.

Endlich melde sich auch die Elfenherrin wieder zu Wort. Sie hob ihre Mundwinkel wohlwollend nach oben. Es als ein Lächeln zu bezeichnen schien irgendwie nicht richtig.

Sie beugte sich leicht vor, wie zu einem kleinen Kind.

„Mein Name ist Glacéde, junger Magier. Ich bin die Elfenherrin.“

Jona schwieg und spürte bei ihren Worten die Gänsehaut wieder aufsteigen. Von den Zehen kletterte es seine Beine hinauf und kitzelte seinen Rücken.

„Gefällt es dir hier bei uns?“

Versuchte sie auf einmal freundlich zu sein? Auf jeden Fall wartete sie keine Antwort ab.

„Lass mich dir etwas zeigen, junger Magier.“

Glacéde drehte sich um und ging. Schritt die Treppe hinauf und Jona brauchte einen Moment um zu begreifen, dass er ihr folgen sollte. Bronx hob von seiner Schulter ab und flog zu Ailéa hinüber, die noch immer still an der Seite stand. Er stupste ihr Bein an und sie ging in die Knie, um ihm über den schuppigen Kopf zu streicheln.

Der Elfenherrin folgend durchquerte Jona den Saal und fand sich vor einer eisernen Tür, die ein schweres Schloss zierte. Ein Kälteschwall brachte Jona zum Zittern, als die Elfe die Hand hob und einen Schlüssel in ihrer Hand entstehen ließ. Das Schloss sprang auf und die Tür schwang zur Seite.

„Es ist ein großer Schatz, junger Magier.“

Der Junge spähte in den kleinen Raum und sah den ersten brennenden Kamin in diesen Hallen. Der Raum war gefüllt mit Steinen, auf denen das warme Licht des Feuers flackerte. Nein, keine Steine.

„Sind all das Dracheneier?“ Ganz langsam ließ Jona den Blick schweifen. Glacéde legte ihm ihre langen, kühlen Finger auf die Schultern.

„Ja, junger Magier. Und sie warten darauf, ausgebrütet zu werden.“

 

12.

 

„Willst du bleiben und ihnen Leben schenken, junger Magier?“

Die Worte der Elfenherrin hallten noch immer in Jonas Kopf. Der Schauer, den ihr Klang ihm über den Rücken gejagt hatte. So viele Drachen, die darauf warteten, zu schlüpfen.

Ailéa hatte ihn in ein Zimmer gebracht, das laut der Herrin seines sein sollte. Hinter einer der vielen Türen in einem endlosen, trostlos grauen Korridor. Ungefragt war die Elfe daraufhin geblieben. Nun saß sie auf einem unbequem wirkenden Stuhl, Bronx auf ihren Knien und kraulte ihn unter dem Kinn.

Hatte er das Mädchen beim ersten Anblick noch wunderschön gefunden, so wirkte sie nun irgendwie klein und rundlich neben den langen, schlanken Elfen, die hier sonst herum liefen. Allesamt in langen, fließenden Gewändern mit offenem Haar, wie um ihre Größe noch zu betonen. Es schien irgendwie falsch, sie mit denen zu vergleichen, aber schließlich waren alles Elfen. Ailéas Haar war ebenso lang, nur etwas lockig zu den Spitzen hin. Auch ihr helles Kleid reichte bis zum Boden, wenngleich es ihre immer noch schmalen Hüften umschmeichelten, während sich unter den glatt fallenden Mänteln der anderen Elfen nicht einmal Muskeln abzeichneten.

Jona saß auf einer unbequemen Liege, schaute aus einem Fenster und hielt ein kleines Feuer in seinen Händen. Der Zauber leckte mit hellen Zungen an seinen Fingern und ließ seine kalt gewordenen Finger angenehm prickeln. Vielleicht hätte er sich eine wärmere Jacke mitnehmen sollen, aber nun war es zu spät.

Die Wände des Zimmers waren kahl, lediglich eine einzelne in den Stein gehauene Blumenranke zierte sie. Jene Liege, auf welcher Jona saß, und die wohl auch zum Schlafen gedacht war. Eine dünne Matratze die eher Ähnlichkeit mit einer Isomatte, als mit einer Federkernmatratze hatte. Zwei Stühle, grau wie alles hier, auf einem davon saß Ailéa, zuletzt noch ein in die Wand gelassener Schrank, den Jona wohl nicht gefunden hätte, wenn er nicht von ihm gewusst hätte. Allein das von draußen hereinfallende Licht brachte etwas Abwechslung in den Raum. Vor dem Fenster standen noch einige Türmchen, dahinter lag im aufsteigenden Nebel der Wald und in weiter Ferne sah man Berge aufragen.

„Willst du wirklich hier bleiben?“

Ailéa ließ Bronx von ihren Knien hüpfen und zu Jona hinüber laufen. Der kleine Drache zeigte freudig die Zähne, stellte sich auf die Hinterbeine und lehnte sich wonnevoll in die Flammen. Seine Krallen piekten und es kostete Anstrengung, ihn sich auf den brennenden Händen abstützen zu lassen. Er war eben schon länger kein Leichtgewicht mehr.

„Ich weiß nicht genau.“

Das Feuer erlosch und enttäuscht schaute Bronx zu ihm auf.

Es gefiel ihm hier nicht schlecht, richtig abenteuerlich war es mit den Elfen. Abgesehen von der etwas eintönigen Einrichtung. Nur warum lagen dort all diese Dracheneier herum und wurden von niemandem ausgebrütet?

„Ailéa, warum braucht man mich, um die Drachen auszubrüten? Ich bin doch bestimmt nicht der einzige, der dazu in der Lage ist.“

Sie zog die Beine an, umschlang sie mit beiden Armen und setzte eine besorgte Mine auf.

„Ich fürchte doch. Elfen beherrschen zwar Magie, doch die Zauber beschränken sich auf Eis und Kälte. Wärme zaubern und damit Drachen ausbrüten, das können sie nicht.“

Jona ließ beiläufig eine Flamme in seiner Hand auflodern.

„Sowas könnt ihr nicht?“

Ailéa schüttelte den Kopf. Weißblondes Haar bauschte auf und legte sich in leichten Locken wieder auf ihre Schultern nieder.

Das hieß, in diesem ganzen Schloss-Konstrukt war er der einzige, der das Feuer rufen konnte.

„Du solltest wohl besser nicht hier sein.“ Sie wich seinem Blick aus. „Du solltest zu den Menschen gehen, wo du hin gehörst. Sie wohnen im Tal, ich könnte dich hin führen.“

„Es gibt auch Menschen in dieser Welt?“

„Natürlich.“

Tatsächlich hätte sich Jona nicht daran gestört, wenn es nur die Elfen in dieser Welt gegeben hätte. Aber warum sollte er zu den Menschen wollen? Die kannte er schon. In seiner Welt gab es sie gewissermaßen zur Genüge.

„Wenn ich hier bleibe…“, nachdenklich stützte Jona das Kinn auf die Hand. „… dann würde ich hier bleiben und vielen Drachen das Schlüpfen ermöglichen. Ich könnte dabei helfen, sie groß zu ziehen. Ihnen das Fliegen und Feuerspeien beibringen, so wie Bronx.“

Der Kleine hatte seinen Namen gehört und ließ freudig ein Rauchwölkchen in die Luft aufsteigen. Weiß quoll es aus seinen Nasenlöchern und freudig zeigten sich wieder die Reihen scharfer Zähne.

„Das wäre doch großartig.“

Die Elfe schien nicht überzeugt, sah ausweichend zu Bronx hinüber.

„Du magst Drachen doch auch, oder?“

Nun nickte sie doch.

„Ich-ich denke nur, dass du hier nicht hin gehörst. Dass du besser unter deinesgleichen sein solltest.“

Jona machte eine wegwerfende Handbewegung.

„Um mich mach dir keine Sorgen. Ich denke nur daran, dass all diese Drachen das Licht der Welt sehen wollen.“

Sie seufzte.

„Du solltest verschwinden, solange du noch kannst“, meinte er sie flüstern zu hören.

Ein bisschen nachdenklich machte ihn ihre merkwürdige Einstellung schon. Sie suchte einerseits seine Gesellschaft und wollte ihn andererseits vertreiben. Wahrscheinlich war das wieder so ein Frauen-Ding, das er weder verstehen konnte, noch wollte.

Emsig starrte Ailéa den gefliesten Boden an und zuckte zusammen, als es mit einem Mal an der Tür klopfte. Gerade verkündete Jona mit erhobener Stimme ein „Herein“, als zeitgleich die Tür geöffnet wurde. Gutes Benehmen schien den Elfen nicht eben geläufig zu sein.

Ein Elf trat ein, langes, schwarzes Haar, dunkelgraues Gewand und eine leichte Rüstung über dem bestickten Stoff. Metallplättchen auf den Schultern und glänzende Armschienen. Mit ausdruckslosem Gesicht blickte er in den Raum.

„Junger Magier. Die Herrin lässt fragen, ob Ihr ihren Drachen sehen wollt.“

Jona horchte auf. „Ich dachte, es gibt nur die Eier?“

Ein Lächeln hätte nun gepasst, doch keine Regung zeigte sich in dem bleichen Gesicht.

„In unserer Obhut ist ein Drache zu einem majestätischen Wesen herangereift. Er gehört der Herrin und seine Erscheinung ist einzigartig.“

Der Junge rutschte hin und her, bis er endlich aufstand.

„Ich würde ihn gerne sehen. Jetzt gleich, wenn es passt.“

Der Elf nickte bloß knapp. Ailéa würde sich bestimmt in der Zwischenzeit um Bronx kümmern. Sie schien ohnehin reichlich vernarrt in den kleinen Kerl.

Ihm entging nicht der verächtliche Blick, den der Elf in Rüstung dem Mädchen zuwarf. Die Tür wurde lautlos zugezogen und ohne weitere Worte zu verschwenden der Weg durch das Labyrinth aus Korridoren und Treppen angetreten.

Jona folgte der hohen Gestalt durch die Gänge. Nur Schritte und das leise Klappern der Metallplättchen waren zu hören. Nirgendwo wurde gelacht oder gesungen. Ein wenig eigenartig war es schon. Aber wenn er so darüber nachdachte, dann passte eine fröhliche Mine auch einfach nicht in diese anmutigen Gesichter. An Singen und Tanzen war da schon gar nicht zu denken.

Sie traten hinaus auf diesen Schlosshof. Gedämpftes, mit Nebel durchtränktes Licht empfing sie. Nicht annähernd so gleißend, wie Jona es nach dem unbeleuchteten Gang erwartet hätte. Sie überquerten den Hof, gingen zur gegenüber liegenden Mauer, mit der anderen Tür. Der großen, unheimlichen, mit der Kette davor. Sie lag ganz im Schatten, das fahle Licht beschien lediglich die andere Seite und ließ das Grau der Steine zaghaft aufleuchten. Wie ein Kettenhemd, kam es Jona in den Sinn.

Der Elf holte einen Schlüssel von seinem Gürtel, rammte ihn in das mächtige Schloss, welches die schweren Kettenglieder zusammen hielt. Dreimal drehte er herum und murmelte dabei einige Worte, die Raureif auf dem Metall erblühen ließen. Er nahm die Kette ab und ließ sie schwer in den Staub fallen. Schnell verschwand der Schlüssel wieder am Gürtel und die Hände an dem dunklen Holz drückte er.

Das Quietschen, mit dem die Tür aufschwang war leiser, als erwartet. Auch aus diesem Gang waberte ihnen Kühle entgegen. Da Jona ohnehin schon fror machte es für ihn keinen Unterschied mehr. Etwas muffig roch die Luft aber, wie es sich für einen Keller gehörte.

Es ging einige Stufen hinab, weiter in die Dunkelheit. Ohne Licht, nur mit einer Hand an der feuchtkalten Wand und dem Vertrauen, dass nach einer Stufe die nächste kam. Und obwohl es kühl war roch Jona Asche. Unwillkürlich rieb er sich über die Gänsehaut an seinen Armen.

Plötzlich blieb der Elf stehen und Jona wäre beinahe in ihn hinein gelaufen.

Vor ihnen lag eine Biegung des Ganges. Die letzte hoffentlich. Noch weiter durch dieses Schloss zu laufen ohne zu wissen wohin, wurde ihm allmählich zu dumm.

„Was Ihr gleich sehen werdet, junger Magier, ist die gefährlichste Kreatur dieser Welt. Ihr braucht nicht um Euer Leben zu fürchten. Ketten der Herrin fesseln ihn und er unterliegt ihrem Zauber ebenso wie ihrer Autorität.“

Jona nickte bloß und fragte sich, was für eine merkwürdige Gestalt er nun zu Gesicht bekommen würde. Er hörte ein Kratzen oder Schaben, wie wenn Stahl über Stein gezogen wurde. Und dann ein unsagbar tiefes Grollen, das Staub von den Wänden rieseln und den Jungen bis aufs Blut erzittern ließ. Sein Herz zog sich ängstlich zusammen.

Der Elf wies einladend auf die Tunnelbiegung. Jona zögerte. Er fühlte sich mehr wie ein Köder, der vorgeschickt wurde, als wie ein Gast, dem man höflich den Vortritt ließ.

Ein Schwall verbrauchter Luft schlug ihm entgegen. Merkwürdiges Knistern durchzog seinen Körper. Jona betrat ein hoch aufragendes Gewölbe. Wie auch immer ein solch großer Raum noch unter dem Schloss Platz gefunden hatte. Viele dieser bläulich schimmernden Kristalle leuchteten den Raum aus. Doch was inmitten der hohen Wände saß verschlug dem Jungen den Atem.

Krallen wie Schwerter hatten tiefe Furchen in den steinernen Boden gegraben. Ein peitschengleicher Schwanz mit Stacheln tanzte über den Boden. Unter der schuppigen Haut spannten sich Muskeln und gleich einem riesigen Blasebalg hob und senkte sich die Brust. Ketten klirrten, als der riesige, schwarze Drache seinen langen Hals Jona entgegen reckte. Zacken und scharfkantige Schuppen übersäten die lange Schnauze, umspielte Hörner, die vom Hinterkopf in die Luft wuchsen. Blutrote Augen sahen ihn an. Musterten ihn. Glommen matt im Schein der Kristalle.

Jona merkte gar nicht, wie ihm der Mund offen stand. Jeder Atemzug blies ihm warme, stickige Luft entgegen. Der Drache mochte so groß sein, wie ein Haus. Nun gut, ein kleines Haus, aber immerhin eines mit zwei Stockwerken. Bewundernd glitt Jonas Blick über die kohleschwarzen Schuppen, all die Kraft, welche seine Muskeln verhießen und die offene Brutalität, von der das Rot seiner Augen sprach.

„Sein Name ist Fendur, der Schatten der Blutnacht.“

Jona hatte den Elf, der irgendwo hinter ihm noch halb im Gang stand, beinahe vergessen.

„Er ist der Drache der Herrin und untersteht ihrem Befehl.“

Soviel Kraft und Schönheit. Der Junge hätte ewig nur da stehen und gaffen können.

„Die Herrin hofft, dass aus den anderen Drachen ebenfalls solche Schönheiten erwachsen.“

Jona wandte den Blick nicht ab, hörte nur, wie der Elf einige Schritte auf ihn zu machte.

„Sie würde sich freudig schätzen, Euch dabei auf ihrer Seite zu wissen, junger Magier.“

Der schwarze Spalt aus den roten Augen war auf ihn gerichtet. Vergeblich suchte Jona nach den fröhlichen Farbpunkten, wie er sie von Bronx kannte.

„Wollt Ihr bleiben und ein Hüter der Drachen werden, junger Magier?“

Lange Stille folgte, in der Jona nur den gewaltigen Anblick des Drachen auf sich wirken ließ. Ihm blieb kurz der Atem aus, als er sah, wie sich in den Schatten segelgroße Flügel regten. Er spürte die Ehrfurcht in seinen Knochen, als er sich zu dem Elf umwandte.

„Ich bleibe.“

 

13.

Lina spürte die Müdigkeit in ihren Knochen, als sie Herrn Maier über die grasigen Hügel folgte. Sie hatte faktisch nicht geschlafen, keinen Kaffee getrunken, ihr Kopf find an zu schmerzen und das Adrenalin war eindeutig aufgebraucht. Warum konnte Amethyst nicht einfach wieder da sein und sie daheim am Rechner einen Film schauen? Gerade hatte sie sich von Anni einen ausgeliehen, der gut sein sollte. Ihn in Gesellschaft zu schauen hatte sie ja leider verpasst.

Gräser und Blümchen wuchsen kniehoch und kitzelten Lina gelegentlich durch den dünnen Stoff der Strumpfhose hindurch. Eine Jeans wäre jetzt wohl besser, aber der hastige Griff in den Schrank vor einigen Stunden hatte eben einen schwarzen Rock zu Tage gefördert. Dazu ein graues Top und eine dunkelblaue, mit Blumen bestickte und bedruckte Kapuzenjacke, damit konnte man eigentlich nicht allzu viel falsch machen. Sie wusste auch nicht, ob sie in einem wacheren Zustand die Landschaft mehr genossen hatte. Das idyllische Grün der Hügel, das nahe Wäldchen und der gleichmäßig blaue Himmel. Frische Luft, aber mit einem ständigen Kitzeln in der Nase. Und zwischen den Gräsern fliegendes und krabbelndes Viehzeug.

Herr Maier verlor viele Worte über die Gastfreundschaft, die sie erwartete, aber Lina hörte nicht richtig zu. Es mochte Wut sein, die da in ihr heran reifte. Wie konnte dieser Unbekannte es wagen, ihren Drachen zu entführen?

Ihr Lehrer sah sich zu ihr um, als sie herzhaft aufseufzte. Fragend sah er aus, doch Lina wandte ihren Blick ab und betrachtete die Landschaft. Die Vormittagssonne leuchtete über grünen Hügeln, zur anderen Seite ein düsterer Wald und vor ihnen, in der nächsten Senke, hatte jemand kleine Strohdächer in die Landschaft gesetzt. Als hätten ihre Eltern sie mal wieder zu einem Wanderausflug gezwungen, so kam sie sich vor. Na gut, die Strecke war etwa doppelt so lang, wie ihr Schulweg. Den überbrückte sie allerdings mit zwei Stationen Busfahren. Und dabei hatte sie meist Musik auf den Ohren, oder Anni als Gesellschaft. Wie gern hätte sie jetzt Anni hier. Um sich über die Landschaft und Herr Maiers geheimnisvolle Freundin auszulassen.

„Sie haben das Dorf übrigens Midheim genannt.“

„Aha.“ Sie waren fast angelangt. Lina konnte Schornsteine qualmen und einen Schmied oder sonst jemanden hämmern hören.

„Werde ich nachher abgefragt? Oder muss ich mir nicht alles merken?“

Herr Maier lachte auf und Lina zog eine Grimasse. Er war schließlich ihr Lehrer und das war nun einmal das erste, woran sie denken musste, wenn er ihr in diesem Unterrichts-Tonfall etwas erklärte.

„Und was sind das für Leute, die hier wohnen? In dieser Welt und in diesen mittelalterlichen Hütten und so?“

„Es sind alles Magier.“

Sie machte reichlich große Augen. War das die verzichtbare Antwort auf die Frage, was man denn als Magier noch so mit seinem Leben anfangen konnte? Lina selbst könnte sich nicht vorstellen, so weit weg von Freunden, Coffeeshops und Einkaufszentren zu leben.

„Es gefällt ihnen hier einfach besser, als in unserer Welt. Und hier können sie bedenkenlos ihre Magie wirken“, erklärte er.

Lina nickte bloß. Mauern aus Steinen und Lehm, festgetretene Erde unter ihren Füßen. Sie sah Lehmhütten, Hühnerställe und eine Schmiede. Ein schlaksiger, stark schwitzender Mann stand vor dem Amboss. Schätzungsweise Mitte vierzig und mit ausgesprochen ausgeprägter Schultermuskulatur. Er hob seinen Eisenstab an, schloss die Hand darum und innerhalb kurzer Zeit glühte das Metall. Zurück auf den Amboss und das Klingeln der Hammerschläge durchstieß wieder die Luft.

Fasziniert riss Lina den Blick los, schaute einem vor Freude kreischenden Grüppchen Kinder hinterher und fühlte sich sehr an einen Mittelaltermarkt erinnert. Nur ohne die ganzen Touristen. Dicke Holzbalken, die strohgedeckte Dächer hielten, Kräutergärtchen, schlichte Kleider und Hemden, vermutlich aus Wolle und keine einzige Satellitenschüssel oder motorisierter Untersatz.

„Potzblitz. Lässt du dich auch mal wieder blicken? Du alter Gauner!“

Lina war starr vor Schreck, als ein Hüne von einem Mann mit ausgebreiteten Armen auf sie zu kam. Rostbraunes Leinenhemd, ein Fell über den Schultern, was diese noch einmal breiter wirken ließ und ein Gürtel mit einem Messer daran. Seine Erscheinung schob sich vor die Sonne und warf einen einschüchternden Schatten auf Lina. Doch bevor seine Pranken sie zerquetschen konnten schloss er ihren Lehrer in eine feste Umarmung.

„Ich habe schon geglaubt, dein Weib lässt dich nie mehr zurück.“

Wie alte Freunde standen sich die beiden gegenüber. Grinsten sich an und nichts musste zwischen ihnen gesagt werde, um die lange Zeit zu überbrücken, die sie sich nicht gesehen hatten. Das war eindeutig so ein Männer-Ding.

„Hagen, das ist meine Schülerin. Alina.“

Hagen schenkte Lina sein wohl nettestes Lächeln. Er war ihr immer noch unheimlich.

„Schön, dass unsere Zunft wieder junges Blut bekommt. Wie hast du sie gefunden?“

Herr Maier grinste. „Ich sagte doch, sie ist eine Schülerin.“

Kurz arbeitete seine Denkmaschine, dann schlug sich Hagen mit der flachen Hand auf die Stirn.

„Du bist Lehrer, stimmt. Eine Tatsache, die ich zu gerne vergesse. Es passt einfach nicht zu dir.“

Mit einem Grinsen, das Lina kurz die Luft anhalten ließ, wandte Hagen sich ihr zu. „Dann zeig doch mal, was er dir schon beigebracht hat, kleine Magierin.“

Lina rührte sich nicht von der Stelle. Sie hatte seit Wochen nicht mehr so richtig gezaubert, war mehr mit dem Drachen beschäftigt gewesen. Wirklich gut war sie auch vorher nicht gewesen. Und unter Druck ging schon mal gar nichts. Weder sich, noch ihren Lehrer wollte sie mit ihren nicht vorhandenen Fähigkeiten blamieren.

„Deswegen sind wir nicht hier, Hagen.“

Erleichterung durchströmte sie, von der Lina versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Wie ein spontaner Vokabeltest, der doch wieder abgesagt wurde. Die große Gestalt des fremden Mannes schluckte das Sonnenlicht und wenn er freundlich wirken wollte, dann sollte er sich als erstes den schwarzen Vollbart abrasieren.

„Es geht um Alinas Drachen.“

„Einen Drachen?“ Nun schwang Bewunderung in der Stimme mit. „Hat die Kleine da es tatsächlich fertig gebracht, einen Drachen auszubrüten?“

Sie sah von einem zum anderen und ihr Lehrer nickte andächtig.

„Jemand ist ihn holen gekommen, Hagen. Jemand von hier.“

„Potzblitz.“ Hagen fuhr sich durch das Haar. „Tut mir Leid es… ich… wir haben keinen Überblick, wer alles hier ist. Wer geht, wer kommt, wer umher wandert oder Einsiedler spielt…“

Schweigen. Im Hintergrund wurde irgendwer gerufen und ein Hund bellte.

„Aber wir werden dir und der Kleinen helfen, keine Frage.“

Zuversicht durchflutete Lina. Das waren die schönsten Worte, die sie sich hätte erhoffen können. Sie stand nicht alleine vor dieser furchtbar überwältigenden Aufgabe. Man würde ihr beistehen. Ohne Zweifel waren diese Magier, die schließlich hier zu leben schienen, ihre ganze Zeit hier verbrachten, dazu in der Lage, den Entführer im Nullkommanichts ausfindig zu machen. Dann musste sie auch nicht länger als nötig in dieser verrückten Angelegenheit stecken.

Hagen streckte sich, dass seine Gelenke knackten und grinste der Sonne entgegen.

„Habt ihr eigentlich schon gefrühstückt?“

 

Dicke Scheiben Brot mit gesalzenem Schmalz, dazu Tee und Spiegelei.

Natürlich schmeckte so etwas unglaublich lecker und duftete noch viel besser. Vor allem das frische Brot. Und das Ei darauf gelegt, dass der geschmolzene Schmalz über die Finger floss. Zwar wehrte Lina sich dagegen, doch ihr Kopf rechnete sich fleißig aus, wie viele Kalorien sie da aus purer Höflichkeit in sich hinein schob. Wie viele Zuckerwürfel und Runden um den Sportplatz.

Wenn Hagen wenigstens nicht so viel Fett zum Anbraten genommen hätte. Oder das Brot dünner geschnitten. Nun war es ohnehin zu spät.

Danken hatte sie eine zweite Portion abgelehnt, nippte an dem faden, ungesüßten Tee und sah den beiden Männern zu. Sie saßen in einer halboffenen Kate an einem Tisch. Auch hier war der Boden festgetretene Erde und aufgeschichtete Steine hielten das Feuer im Zaum. Der Rauch von der Feuerstelle brannte in den Augen und ließ sie viel zu häufig blinzeln.

Hagen erzählte solch einen merkwürdigen Männerwitz, beide lachten und schwiegen dann, um weiter ihr Frühstück zu vertilgen.

Lina sah ihre Chance gekommen. Schließlich wollte sie nicht ewig hier bleiben.

„Wo fangen wir an zu suchen, Herr Maier? Und was ist das überhaupt für ein Kerl? Und was will er mit Amethyst?“

„Hast du den Drachen so genannt?“

Sie nickte knapp.

Hagen erhob sich mit knarrendem Stuhlrücken vom Tisch. Gerade war Lina der Überzeugung gewesen, sie hätte etwas Falsches gesagt, als der Hüne mild lächelte.

„Ich gehe noch eben die Hühner versorgen und dann frisch ans Werk. Erzähl der Kleinen alles, was sie wissen muss.“

Das Mädchen sah ihm hinterher. Blinzelte, weil das Sonnenlicht durch die offene Haustür fiel. Überall war alles aus Holz und Lehm und Stroh. So richtig wohl fühlte Lina sich hier nicht. Immer noch, wie auf einem Mittelalterfest. Auf dem sie als einzige nicht verkleidet war.

„Man gewöhnt sich an die Leute hier.“

Sie zuckte zusammen, von den Worten ihres Lehrers ganz aus den Gedanken gerissen.

„Ist einfach wie in so einem Mittelalterdorf.“

Lina nickte.

„Und warum?“

Schulterzucken war die Antwort. „Es gefällt ihnen einfach. Scheinbar haben die meisten Magier ein Faible dafür. Vielleicht auch, weil für sie die Magie das Leben so viel einfacher macht als die Technik es könnte.“

Ungläubig musterte sie ihren Lehrer.

„Okeh. Aber was ist mit… Internet. Und MP3-Playern und Handy und – hey, elektrischem Licht!“

Ihr Lehrer lachte auf. „Scheint als ginge es auch ganz gut ohne.“

Er legte die übrige Hälfte seines Brotes beiseite und wandte sich seiner Schülerin zu.

„Ich sollte dir zunächst einmal erklären, was mit dieser Welt hier eigentlich los ist. Du weißt schon, bevor etwas Dummes passiert.“

Lina nickte und fragte sich insgeheim, ob er an ihrem gesunden Menschenverstand zweifelte.

„Die Leute hier in Midheim sind irgendwie die gute Seele dieser Welt. Sie achten das Ökosystem, jagen nachhaltig, nehmen sich nur was sie brauchen, na du weißt schon.“

Wieder fragte sie sich, ob er sie nicht doch noch einen Test schreiben ließ.

„Aber das hier ist nur die Sonnenseite, Alina. Es gibt auch dunkle Mächte in dieser Welt.“

Seine Mine verfinsterte sich und seinem Gesicht war abzulesen, dass er das Übel vor seinem inneren Auge hatte.

„Sie sind missgünstig, machthungrig und uralt. Vielleicht sogar so alt wie diese Welt selbst.“

Lina musste schlucken. Natürlich musste es einen bösen Gegenspieler geben. Wie es sich für diesen Fantasykrams eben gehörte. Trolle. Ein schwarzer Hexenmeister. Uh, hoffentlich keine Riesenspinnen.

„Du musst dich in Acht nehmen, wenn du ihnen begegnest.“

Er sah nicht auf und seine Stimme wurde ein andächtiges Flüstern.

„Elfen.“

 

14.

 

„Elfen?“

Ungläubig suchte Lina den Blick ihres Lehrers. Waren Elfen nicht jene gutmütigen, erhabenen Fabelwesen, die jedem Fantasyhelden mit ihrer Weisheit zur Seite standen? Mit spitzen Ohren und einer unverschämten Begabung für das Bogenschießen?

Herr Maiers Blick glitt umher, als sei es ihm irgendwie unangenehm, über die Elfen zu sprechen.

„Sie beherrschen ebenfalls Magie. Andere Magie. Elfen können Dinge erstarren lassen und anstatt Wärme und Feuer beherrschen sie Kälte und Eis.“

„Okay?“ Darin ließ sich für Lina noch nichts allzu Bösartiges erkennen. Aber lustig, dass sie genau entgegengesetzte Kräfte besaßen.

„Du weißt, dass es in dieser Welt Drachen gibt. Bisher hast du allerdings noch nicht allzu viele zu Gesicht bekommen, obwohl viele Magier hier imstande sein dürften, sie schlüpfen zu lassen. Der Grund hierfür sind die Elfen.“

Eine klingende Tonfolge ließ sie zusammen zucken. Wie aus Reflex zog Lina ihr Telefon aus der Tasche. Ihr Zeigefinger entsperrte das Display und blinkend wurde ihr eine neue Nachricht angezeigt.

„Ich habe hier Empfang?“

Herr Maier schien ihre Begeisterung nicht gerade zu teilen. Lina zögerte nicht und legte das Gerät mit dem Display nach unten auf den hölzernen Tisch.

„Erzählen Sie weiter. Wird schon nicht so wichtig sein.“

Der Erzählfaden war schnell wieder gefunden. „Die Dracheneier wachsen in einem Stollen, der in den Bergen hinter dem Wald liegt. Sie sind sehr selten und alle von ihnen sind im Besitz der Elfen.“

„Warum das?“

Vor der offenen Tür lief ein Mann vorbei, einen Holzbalken neben sich schwebend.

„Der Wald ist ihr Königreich und sie verwehren uns den Zugang. Und auf ihrem Grund und Boden haben wir keine Chance gegen sie.“

„Also haben die Elfen ganz viele Drachen?“

Ihr Lehrer zwang sich zu einem Lächeln.

„Glücklicherweise nicht. Wie du dich bestimmt erinnerst ist nur ein Hitzezauber dazu in der Lage, einen Drachen schlüpfen zu lassen. Ohne menschliche Feuermagie also auch keine schlüpfenden Drachen.“

Lina nickte langsam. Sie hatte Amethyst gänzlich unbeabsichtigt warm gezaubert. Hatte dabei eigentlich in einem wunderbaren Traum mit ihrem Jason geschwebt.

„Und was wollen die Elfen mit all den Dracheneiern, wenn sie nicht dazu fähig sind, sie auszubrüten?“

„Tja, genau das ist der Knackpunkt.“

Herr Maier schob sich das letzte Stück Brot in den Mund und kaute bedächtig, während Lina auf eine Antwort lauerte. Kurz schweiften ihre Gedanken ab zu der Nachricht, die sie empfangen hatte. Vermutlich nur Anni, der langweilig war und die ihr ein einfaches „Hey Süße, was machst du gerade so?“ geschrieben hatte. Wenn es die Höflichkeit zuließ würde sie antworten und ihrer Freundin klar machen, dass sie heute schwer beschäftigt war.

„Es geschieht von Zeit zu Zeit, dass ein nach Macht strebender, leicht zu beeinflussender Mensch sich von den Elfen auf ihre Seite ziehen lässt. Sie überzeugen ihn, sich ihnen anzuschließen und in solchen Dingen können sie erschreckend erfolgreich sein. Im einen Moment hasst du sie und im nächsten willst du mit diesen schönen Wesen die Welt zum Reich der Elfen machen, damit überall wunderhübsche Frostblumen blühen.“

Lina war sich nicht ganz sicher, ob sie ihm hatte folgen können. Einiges hatte er in üblicher Lehrermanier zu blumig formuliert.

„Also gibt es Verräter?“

„Richtig.“

Und ein solcher hatte dann wohl auch ihren Drachen entführt. Verdammte Elfen. Lina vergrub die Hände in den Haaren, stützte sich auf den Tisch und sah auf die schwarze Rückseite ihres Telefons.

„So gut die Elfen einen Magier auch behandeln mögen, sie sind nicht mehr als ihre Laufburschen und Drachenbrüter.“

„Demnach haben die Elfen den Typ geschickt, um Amethyst zu entführen?“

Herr Maier nickte, rückte die Brille zu Recht und Lina fuhr sich durch das Haar. Gekonnt ignorierte sie den aufsteigenden Appetit, der sie antreiben wollte, noch ein fettiges Brot mit Spiegelei zu sich zu nehmen.

Dass sie sich nun auch noch mit Elfen anlegen musste, damit hatte sie nicht gerechnet. Ob diese Wesen wohl so aussahen, wie in den Filmen? Unglaublich gut aussehende, anmutige Menschen mit spitzen Ohren?

„Die Elfen selbst können nicht in unsere Welt wechseln. Deswegen müssen sie ihre Handlanger schicken. Und das ist auch der Grund, warum ich es als sicherer empfinde, Drachen in unserer Welt auszubrüten. Außerhalb der Reichweite der Elfen.“

„Naja, es ist der Gedanke der zählt, richtig?“

Zerknirscht senkte Herr Maier den Blick. Seine Hand fuhr abwesend über die grobe Holzmaserung der Tischplatte.

„Mir war nicht klar, dass sie derzeit einen Menschen auf ihrer Seite haben.“

Lina seufzte. Ob diese Elfen wirklich so toll waren, dass man sich ihnen anschließen wollte und hilflose, kleine Drachen für sie entführte? Kaum vorstellbar.

„Und was haben die Elfen mit Amethyst vor?“

„Sie wollen Macht.“ Ihr Lehrer verzog eine Mine, die nicht allzu viel Gutes versprach. „Und einen ausgewachsenen Drachen im eigenen Kader zu haben, das ist schon unerhört viel Macht. Viele Magier glauben, dass sie Midheim einnehmen wollen und vielleicht sogar Landstriche, die jenseits der Berge liegen, die uns dank der Elfen noch gänzlich unbekannt sind.“

Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe. Die Elfen wollten ihren Drachen also als Waffe missbrauchen. So weit kam es noch. Es war ihr Drache. Keine Waffe. Der arme Kleine. Gut behandelt wurde er von ihnen bestimmt auch nicht. Eher gequält und gedrillt.

„Wie können wir meinen Drachen befreien?“

Entschlossen landete ihre Faust auf dem Tisch. Keine Sekunde länger sollte Amethyst leiden.

„Das ist die Frage.“ Herr Maier erhob sich und begann neben dem Tisch auf und ab zu gehen. Viele Leute taten das, wenn sie überlegten, aber Lina machte es tierisch unruhig. Andererseits konnte sie ihrem Lehrer wohl schlecht sagen, dass er sich gefälligst hinsetzen sollte.

„Wir werden uns mit Hagen und den anderen darüber beraten. Vermutlich brauchen wir einen Schlachtplan. Einfach zu den Elfen zu marschieren und den Drachen befreien zu wollen wird nicht funktionieren.“

Lina drehte sich zu ihm um, damit sie ihn bei seiner nachdenklichen Wanderschaft im Auge behalten konnte.

„Sowas haben tatsächlich schon einige versucht und funktioniert hat es bisher nie. Im Gegenteil.“

Ein paar Mal noch ging er auf und ab, dann kam Hagen zurück. Eine handvoll Männer im Schlepptau. Lina wunderte sich noch, warum keine Frauen dabei waren. Im nächsten Moment saßen sie alle am Tisch, die Köpfe verschwörerisch zusammen gesteckt und Herr Maier erläuterte die Situation.

„Kannst du deinen Entführer beschreiben, Mädchen?“

Kopfschütteln.

„Kann dein Drache schon Fliegen oder Feuerspeien?“

Kopfschütteln.

„Würde dein Drache sich aus eigener Kraft befreien und zu dir zurückkommen?“

Hilfloses Schulterzucken.

„Hast du deine Magie schon einmal zum Kämpfen genutzt?“

Wieder Kopfschütteln.

Namen wurden genannt, die Lina sich nicht einmal ansatzweise merken konnte. Es wurde diskutiert, ob der Verräter jemand sein könnte, den man in Midheim kannte, oder ein gänzlich Fremder. Über die Elfen wurden erstaunlich wenige Worte verloren. Wie eine mächtige Gefahr, über die man lieber nicht nachdachte.

Der erste Vorschlag, die Elfen einfach zu überrennen wurde binnen kürzester Zeit verworfen. Allen voran Herr Maier waren sie der Überzeugung, dass man den Elfen nicht gewachsen war. Offenbar verfügten diese Wesen über eine handvoll Drachen, die unter ihrem Kommando standen.

Da sie sich ohnehin nicht an der hitzigen Debatte beteiligen konnte nutzt Lina die Gelegenheit, um sich die Nachricht von Anni anzusehen.

Sie war wirklich von Anni, allerdings nicht ganz so belanglos, wie angenommen.

„Hi Süße. Ich hab Jason deine Nummer gegeben. Er hat sogar irgendwie danach gefragt.“ Gefolgt von einem Smiley, der die Zunge heraus streckte.

Langsam aber sicher stieg ihr das Blut ins Gesicht.

Jason hatte ihre Nummer.

Er könnte sie anschreiben, vielleicht sogar anrufen. Hatte Anni sie ihm aufgedrängt? Oder wollte er sie wirklich haben? Hieß das, er interessierte sich für sie?

Ach du Schande, Jason hatte ihre Nummer!

„Alina?“

„Wie? Was?“ Sie zuckte zusammen. Die Männer am Tisch schauten sie allesamt erwartungsvoll an.

„Tut mir leid, ich war gerade gedanklich abgeschweift.“

Am Anfang schon schlecht aufzufallen war eigentlich nicht ihr Plan gewesen.

Die Männer wirken zwar nicht begeistert über ihre geistige Abwesenheit, aber Hagen erklärte ihr geduldig noch einmal, was sie zuvor einfach überhört hatte.

„Am einfachsten wird es sein, jemanden bei den Elfen einzuschleusen. Dieser jemand lässt sich zeigen, wo die Drachen verwahrt werden und nutzt eine günstige Gelegenheit, um sie freizulassen.“

Sie nickte und Stille machte deutlich, dass man an dieser Stelle mehr von ihr erwartete.

„Wir waren davon ausgegangen, dass du dieser jemand sein würdest, Alina.“

„Ich?“ Sie fühlte sich klein. Winzig. Und sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine Sechzehnjährige eine geheime Mission im Lager des Feindes durchführte.

„Dir würden sie am ehesten abkaufen, dass du nicht aus Midheim bist. Tu einfach so, als wolltest du dich auf ihre Seite schlagen und hol deinen Drachen zurück.“

Ganz alleine? Niemals. Sowas hatte sie noch nie gemacht. Wie auch? Drachen und Magie und Elfen und Krieg und geheime Mission, das wurde gerade alles ein wenig zu viel.

„Wir werden dich so gut es geht vorbereiten, damit du dich zur Not gegen die Elfen zur Wehr setzen kannst. Außerdem werden einige von uns die Elfenfeste auskundschaften, damit wir nach Möglichkeit in deiner Nähe sein können, wenn du uns brauchst. Natürlich dürfen wir keine Zeit verlieren. Ich würde sagen, in drei Tagen können wir beginnen.“

Drei Tage? Unwillkürlich rechnete Lina nach. Heute war erst Samstag.

„Moment, das geht nicht.“ Sie sollte bis Dienstag hier bleiben? Und was war mit ihren Eltern? Der Schule? Anni? Man würde sie vermissen, wenn sie so lange hier blieb. Außerdem hatte sie keine Wechselklamotten dabei, nur das, was sie gerade trug. Sie wollte ihren Drachen um jeden Preis aus den Fängen der Elfen befreien, aber einfach so von der Bildfläche verschwinden, das ging doch nicht. Man würde sie suchen, als vermisst melden. Und was erzählte sie dann, wenn sie nach ein paar Tagen einfach so wieder auftauchte?

Entschuldigt, dass ich euch Sorgen bereitet habe, ich musste meinen Drachen von den Elfen befreien.

Nein, das ging einfach nicht.

 

15.

 

Die Idee, Amethysts Befreiung bis Sonntagabend in die Tat umzusetzen wurde verworfen. Zu groß die Gefahr, die von den Elfen ausging.

Wohl oder übel hatte man Linas Drängen nachgegeben und beschlossen, sie nach der Schule zu trainieren. Währenddessen wurden die Elfen ausgespäht und sich auf sämtliche Ernstfälle vorbereitet. Das Mädchen hatte für sich beschlossen, dass sie Schule und Zauberwelt schon unter einen Hut bekommen würde, schließlich konnte sie ihren Drachen nicht einfach so im Stich lassen.

Herr Maier war eingeteilt, gegen die Elfen vorzugehen, da er in die Richtung irgendwelche Erfahrungen zu haben schien. Hagen war mit dabei, verzauberte Schilde und Waffen zu fertigen. Alles im Dorf wirkte, als würde sich auf den Krieg vorbereitet. Schuldbewusst hatte Lina Hagen darauf angesprochen. Für sie war das alles bloß eine verhältnismäßig harmlose Entführung gewesen. Das all das nun so ausartete hatte sie weder geahnt, noch beabsichtig. Doch der bärtige Hüne hatte ihr bloß auf die Schulter geklopft, dass ihr die Knie weich geworden waren.

„Mach dir keine Sorgen, Kleine. Wir in Midheim sind eben gerne auf alles vorbereitet. Und besser zu viel, als zu wenig, oder?“

Dann hatte er laut gelacht und war wieder an die Arbeit gegangen.

Nun hatten die Männer also auch beschlossen, dass Lina kämpfen lernen sollte. Nur für den Notfall, hatte man ihr versichert. Falls der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte, dass sie sich gegen die Elfen zur Wehr setzen musste. Sie hatte müde darüber gelächelt, innerlich geflucht und sich schon auf eine Reihe von Enttäuschungen eingestellt.

Gewissermaßen als Trainer hatte man ihr einen jungen Mann vorgesetzt. Er mochte achtzehn oder neunzehn sein, sah ganz in Ordnung aus und hörte auf den Namen Raffael. Ein kantiges Gesicht, eine schmale Nase und tief liegende Augenbrauen, in deren Schatten graubraune Augen glänzten. Zu seinem hellen Leinenhemd trug er eine nicht allzu altertümliche Cargo-Hose in olivgrün, deren Taschen allesamt irgendwelchen Inhalt hatten. Aufgescheuerte und geflickte Knie, dazu einiges an losen Fäden und Ratschern verrieten, dass er die locker sitzenden Hose nicht nur aus modischen Gründen trug. Unter einem roten Kopftuch schauten hellbraune Haare hervor und das Hemd hatte er reichlich weit aufgeknöpft. Beeindrucken ließ sich Lina davon nicht, ihr gefiel Jason immer noch besser.

Schnell hatte sich heraus gestellt, dass Lina in Sachen Selbstverteidigung absolut nichts zu bieten hatte. In Sport war sie schließlich auch nicht nennenswert gut. Seufzend hatte Raffael ihr bloß erklärt, wo sie am besten hin trat.

Dann verlangte er ihr Kondition ab. Nicht, dass er sie Runden laufen ließ, sie sollte zaubern. Feuerbälle. Links und rechts abwechselnd, so lange sie konnte. Das Erfolgserlebnis überhaupt Feuer hervor zu bringen hätte ihr an dieser Stelle schon gereicht, aber auf Raffaels Drängen machte sie weiter, bis nur noch winzige Flämmchen aufglommen. Immerhin. Daheim hatte sie lediglich einen Kerzendocht entflammen können, hier waren aus der heißen Luft über ihren Händen tatsächlich Flammen geworden. Es fiel ihr auch allgemein leichter zu zaubern. Sich die Hitze vorzustellen und Feuerbälle. Hauptsächlich, weil es in diese magische Welt passte. Viel besser zumindest, als in ihr Jugendzimmer.

Völlig verausgabt bekam sie eine Pause und einen großen, großen Schluck Wasser genehmigt. Im dankbaren Schatten eines großen Baumes saßen sie auf Holzschemeln und Lina wagte es endlich, einige von den Fragen auszupacken, die ihr schon seit einiger Zeit auf der Seele brannten. Und Raffael war geduldig genug, ihr zu antworten.

„Warum wir hier kaum Frauen haben? Naja, keine Sanitäranlagen und kein Shoppingcenter.“ Er grinste breit. „Den meisten Weibern fehlt hier einfach zu viel. Also bleiben sie lieber in der anderen Welt und kommen höchstens mal zu Besuch.“

Das konnte Lina absolut nachvollziehen. Sie hatte vorhin mal gemusst und regelrecht ihren Ekel überwinden müssen, um sich auf dieses Plumpsklo zu begeben. Und einen Wasserfall zum Duschen fand sie auch nicht allzu prickelnd. Dafür liebte sie ihr Shampoo auch einfach viel zu sehr.

„Im Moment haben wir zwei Frauen in Midheim. Eine ist mit ihrem Mann hier, aber die werden auch verduften, sobald das erste Kind unterwegs ist. Dafür wird die Technik hier doch zu sehr vermisst. Und Bruni, also Brunhilde, die ist eigentlich mehr Mann als Frau. Aber sie ist schwer in Ordnung.“

Sie zwang sich zu einem Lächeln und versuchte sich auszumalen wie es wäre, länger als einige Tage hier zu sein. Hier zu leben. Wie auf einem Bauernhof im Mittelalter eben. Das war ganz und gar nicht ihr Ding. Aber schließlich wollte sie auch nur Amethyst retten und schnellstens wieder zurück dorthin, wo es geflieste Badezimmer und Speiseeis gab.

„Diese Elfen scheinen ganz schön mächtig zu sein. Irgendwie haben alle ziemlichen Respekt vor ihnen. Bist du schon mal einem begegnet?“

Raffael schwieg erst, sah zu Boden. „Ja“, hieß es dann. „Vor zwei Jahren war ich nachts noch unterwegs. Ich glaube, ich war Jagen und habe mich was den Rückweg betrifft verschätzt. Gerade hatte ich Rast gemacht an einer kleinen Quelle, um meine Wasservorräte aufzufüllen.“

Lina beobachtet ihn genau. Wie er zu Boden sah und in seine Erinnerungen versunken begann zu zittern. Ein Anblick, der sie verunsicherte. Schließlich hatte sie die letzte Stunde nur den fordernden Trainer Raffael gekannt.

„Es wurde schlagartig kalt, wie wenn man eine Gefriertruhe öffnet. Mein Atem hat Wolken geschlagen und auf dem Wasser hat sich eine dünne Eisschicht gebildet. Alle Bäume um mich herum waren mit einem Mal mit Raureif bedeckt und kalt war es. Der Elf stand hinter einem Baum. Groß und bleich mit spitzen Ohren und beobachtete mich. Ich konnte mich erst gar nicht rühren, aber kaum hatte ich meine Beine wieder unter Kontrolle bin ich gerannt. Gerannt, wie ich noch nie zuvor gerannt bin.“

Er lachte, sah hinauf zur Sonne und seufzte.

„Heute denke ich mir, dass ich gegen den Elf hätte kämpfen sollen. Aber im Wald, in ihrem Gebiet wäre das wohl eine unsagbar schlechte Idee gewesen.“

Lina schwieg. Irgendwo war sie froh, dass es keine Riesenspinnen gab, aber anhand dessen, was sie bisher über diese Elfen gehört hatte, waren die ihr mindestens genauso unheimlich.

 

Das Zaubern fiel ihr leichter, hier in Midheim. Sie fühlte nicht mehr die Furcht, von ihren Eltern oder Anni oder sonst einem Menschen entdeckt und zur Rede gestellt zu werden. Dennoch ließen ihre Fähigkeiten zu wünschen übrig. Raffael war bemüht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, aber sie merkte selbst, wie schlecht sie war. Hätte sie mehr geübt und so. Aber sie hatte eben nicht die Zeit dazu gefunden. Schließlich hatte sie auch so etwas wie ein Leben. Schule und Freunde. Und das durfte nicht zu kurz kommen zugunsten schwebender Kerzen.

Das Beschwören von Feuer erschöpfte sie und nachdem sie Raffael dreimal beteuert hatte, dass sie nicht mehr konnte, versuchte er auch endlich nicht mehr, sie zu motivieren. Er ging, um den anderen zu helfen und Lina blieb einfach im Gras liegen. Sie spürte, wie der Muskelkater langsam ihre Glieder in Beschlag nahm.

Es war Sonntag heute und sobald es dunkelte hatte sie mit Herrn Maier ausgehandelt, dass er sie zurück begleitete. Sie würde in ihrem eigenen, weichen Bett schlafen, morgen den Unterricht besuchen und danach hier hin zurückkehren und weiter trainieren. Zwar glaubte sie und wahrscheinlich auch Raffael nicht daran, dass sie es jemals mit einem Elf aufnehmen könnte, aber so ganz unvorbereitet wollte sie sich auch nicht hinein stürzen.

Irgendwie fühlte es sich verrückt an. Hier in dieser Fantasywelt zu sein, die so echt war wie es eben ging, und zu wissen, dass man morgen wieder müde an einem Tisch saß, im Schein der Neonröhren und sich erklären ließ, wie die menschliche DNA Gene reproduzierte oder so.

Ihr Handy verkündete, dass sie eine Nachricht erhalten hatte. Lina ignorierte das. Anni hatte ihr seit gestern die ganze Zeit geschrieben und von dem tollen Buch erzählt, dass sie angefangen hatte zu lesen.

Sie dachte an ihr Bett. An erholsamen Schlaf und an Amethyst. Der Gedanke schmerzte.

Lina setzte sich auf und zog die Beine an. Den Hügel hinab lag Midheim. Etwa ein duzend mit Stroh gedeckter Hütten, die sich beschaulich zwischen die Hügel schmiegten. Zur anderen Seite des Hügels floss ein Bach, der aus Richtung des Waldes entsprang, dort wo in weiter Ferne die Berge in den Himmel wuchsen, bis zum gegenüber liegenden Horizont. In diese Richtung ging es bergauf und man hatte ihr erzählt, dass auch dort irgendwann ein Gebirge kam. Und der Bach floss hinauf. Bergauf. Lina hatte es erst nicht geglaubt, sich mehrmals die Augen gerieben und gestaunt. Eine Stufe aus Erdreich floss das Wasser einfach hinauf. Wie ein kleiner Wasserfall, nur eben umgekehrt. So richtig beschreiben ließ es sich nicht. Wenn sie nun daran dachte, dass sie solche Dinge nur sehen durfte, weil man ihren Drachen entführt hatte…

Hätte sie es verhindern können? Hätte sie eine Chance gehabt den Entführer abzuhalten? Vielleicht wenn sie sich mehr in Magie geübt und schneller reagiert hätte?

Natürlich ließ sich jetzt nichts mehr ändern, aber die Überlegung schwirrte trotzdem in ihrem Kopf umher. Wie hartnäckige Kopfschmerzen.

Wenn sie vielleicht eine Feuersäule hätte beschwören können. Ihr armer kleiner Drache, was hatte sie ihm bloß eingebrockt.

Seufzend nahm sie ihr Telefon zur Hand. Aha, offenbar starb der eine, sympathische Nebencharakter auf der Hälfte des Buches.

Lina stockte. Da war noch eine Nachricht von einer Nummer, die sie nicht eingespeichert hatte. Sie las und erst setzte ihr Herz einen Moment aus, nur um danach umso schneller gegen ihre Brust zu hämmern.

„Gruß, Jason“ stand ganz unten. Und die Worte darüber „Hey, Anni hat mir deine Nummer gegeben. Wollen wir mal wieder ein Eis essen gehen oder so? War echt schön letztes Mal.“

So heiß, wie ihr Kopf gerade wurde musste sie aussehen, wie ein Lampion. Jason wollte sich mit ihr treffen. War es denn wirklich wahr? Er interessierte sich für sie! Und schon gaben ihre Gedanken nur noch unverständlichen Kram von sich. Jason.

Ganz langsam scrollten ihre Finger weiter runter. Dort stand noch „Hast du morgen nach der Schule schon was vor?“

 

16.

 

Der Titel gefiel Jona. Drachenmeister und persönlicher Liebling der Elfenherrin Glacéde. Sie war mit ihm stundenlang durch die kühlen Korridore spaziert und hatte berichtet, wie lange die Elfen schon existierten. Wie sie vor Jahrtausenden hier her gekommen und diesen dichten Wald zu ihrer Heimat erkoren hatten. Dieses prächtige Schloss hatten sie erbaut und ihre Magie fließen lassen. Die Bäume hatten sie fleißig aufgesogen und nun flüsterten sie untereinander und manchmal sprachen sie auch mit den Elfen. Sie hatten ein Netzwerk, das vom südlichsten zum nördlichsten und vom östlichsten zum westlichsten Baum reichte. Jeder der diesen Wald betrat wurde gesehen, gehört und sein Kommen der Elfenherrin angekündigt.

Um Jona zu begrüßen hatte man Ailéa geschickt, weil sie etwa in seinem Alter war. Glacéde bereute diese Entscheidung inzwischen. Ihre glockenhelle Stimme verkündete, dass sie selbst ihn willkommen geheißen hätte, wenn sie um seine Fähigkeiten gewusst hätte.

Ailéa sah er immer seltener. Die Elfenherrin meinte, sie sei nicht ganz richtig im Kopf und man wollte nicht, dass der Drachenmeister sich durch ihre Anwesenheit beleidigt fühlte. Das war reichlich unfreundlich ausgedrückt, aber Jona vermisste es auch nicht, vorwurfsvoll angesehen zu werden. Irgendwann musste er sie bloß noch einmal fragen, warum sie nicht wie die anderen Elfen aussah. Aber wohlmöglich liefen das, ihre Art und die unfreundlichen Dinge, die über sie gesagt wurden in einander.

So geehrt Jona sich auch fühlte, sonderlich abwechslungsreich waren die Spaziergänge und Unterredungen mit der Elfenherrin nicht gerade. Zu eintönig die grauen Wände der Korridore und der Singsang ihrer Stimme. Viel lieber und somit die meiste Zeit verbrachte er bei den Drachen.

Für sie gab es eine Art Gehege, das weitaus gemütlicher war als die Halle, in welcher der große, schwarze Drache hauste. Hoch oben in einem der Türme mit einem gläsernen Dach, ebenso wie eine Vogelvoliere.

Auch jetzt saß Jona hier, inmitten von grauen, aber weichen Decken, umgeben von seinen Schützlingen. Bronx drehte hoch über seinem Kopf weite Kreise, fiepte ein wenig und wirkte wie ein großer Bruder für die Kleinen. Er hielt Wache und die kleinen, frisch geschlüpften Drachen lernten ihre Welt kennen.

Drei hatte Jona bisher ausgebrütet. Und es war deutlich kräftezehrender, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Den ersten, ein bernsteinfarbener, kleiner Frechdachs hatte er direkt am ersten Tag schlüpfen lassen. Mit rot-gelben, nach Innen hin dunkler werdenden Schuppen und matt grünen Augen. Beim nächsten, einem gräulich schimmernden Kerlchen, das viel schlief, hatte er erst am Abend darauf das Licht der Welt bringen können. Er vergrub sich gerne in den Decken und war dadurch getarnt wie ein Kaninchen im Herbstlaub. Und bis er wieder genug Kraft für den nächsten gehabt hatte war fast eine Woche verstrichen. Der dunkelgrüne Drache hatte eben erst das Laufen für sich entdeckt und flitzte durch die Gegend. Sein Schwanz war etwas länger als die der anderen, die Zacken auf dem Rücken hatten die Farbe von Eierschalen und im fahlen Schein der Sonne glänzte er, wie von Smaragden überzogen.

Ihr Meister saß da, ein weiteres Drachenei in den Händen und ärgerte sich. Er war doch so voll Energie. Wieso wollten seine Kräfte nicht noch mehr Drachen ausbrüten? Nach wie vor konnte er Feuersäulen aufsteigen lassen, sehr zur Freude der kleinen Echsen. Bloß das Brüten klappte nicht mehr. Die Steine wurden heiß, weich in seinen Händen und er konnte gerade eben die kleinen Gestalten in ihrem inneren erahnen.

Ihm entgingen nicht die missbilligenden Blicke der Elfen. Wieso konnte ein Drachenmeister keine Drachen ausbrüten? Das fragten sie sich und Jona stellte sich die gleiche Frage. Abfinden tat er sich damit nicht. Viel Zeit verbrachte er damit herum zu sitzen, um eines der Dracheneier der größten Hitze auszusetzten, die seine Magie zu bieten hatte. Mehr war einfach nicht drin.

Seufzend legte der junge Magier das Drachenei beiseite und schaute sehnsüchtig zu dem Stapel hinüber, der an der Wand aufgeschichtet noch auf ihn wartete.

Eine kleine, warme Schnauze stupste ihm gegen die Hand und geistesabwesend hob Jona den bernsteinfarbenen Drachen auf seinen Schoß, um ihm über das höckerige Köpfchen zu streicheln. Wenn sie noch ein wenig größer wurden konnte er ihnen das Fliegen beibringen. Wie Bronx auch. Über den Kopf heben, laufen und sie mit den Flügeln schlagen lassen, bis sie abhoben.

Der Gedanke an fröhlich durch die Lüfte gleitende Drachen zauberte Jona ein Lächeln auf die Lippen.

Manchmal war es schon ein wenig einsam hier und der junge Magier wünschte sich, den Drachen auch Sprechen beibringen zu können. Aber aus Bronx war außer Fiepen, Knurren und Stichflammen nichts heraus zu bekommen.

Von den Elfen kam eigentlich nur Glacéde ab und zu hier hoch, um sich von ihm auf einem Spaziergang begleiten zu lassen. Aber keiner dieser eleganten Wesen konnte den Drachen etwas abgewinnen. Das war in Ordnung. Schließlich kannte er genug Erwachsene, die mit kleinen Kindern, also seiner Schwester, nichts anfangen konnten. In seinem Kopf war das etwa das gleiche. So unähnlich waren Drachenbabys einem Kleinkind schließlich nicht. Ebenso verspielt und unermüdlich.

„Junger Magier?“

Jona zuckte heftig zusammen. Er hatte sich noch lange nicht daran gewöhnt, dass die Elfenherrin Glacéde lautlos Türen öffnen und von hinten an ihn heran treten konnte. Der kleine, bernsteinfarbene Drache sucht das Weite, aufgeschreckt von der plötzlichen Bewegung des Jungen.

Er riss sich zusammen, stand auf und deutete eine Verbeugung an. „Ja, Herrin?“

„Hättet Ihr Lust, mich auf meinem heutigen Spaziergang zu begleiten?“

Schon wieder?

„Um ehrlich zu sein wollte ich Euch um etwas Bitten“

Die Überraschung in ihrem Gesichtsausdruck hielt sich wie üblich in Grenzen, also sprach der junge Magier weiter.

„Es erfüllt mich mit Stolz, mich um die Drachen kümmern zu dürfen und ich danke Euch für diese Aufgabe. Dennoch würde ich einen Teil meiner Zeit unglaublich gerne mit anderen Dingen verbringen.“

Glacéde faltete die langen, schlanken Finger ineinander. „An was dachtet Ihr?“

„Naja, wo ich schon in solch einer fantastischen Welt bin würde ich zu gerne kämpfen lernen. Mit dem Schwert umgehen und so. Es gibt doch bestimmt Elfen, die das können.“

„Gewiss.“ Sie hob das Kinn und lächelte mild. „Ein jeder Elf ist ein Meister der Klinge. Wir stählen uns ein Leben lang und sich unbezwingbar.“

„Und könnte wohl einer der unbezwingbaren Schwertmeister ein wenig Zeit für mich erübrigen?“

„Ich werde sehen, was ich tun kann.“

Und mit diesen Worten verschwand die Elfenherrin ebenso lautlos, wie sie gekommen war.

Jonas Herz klopfte wie wild vor Vorfreude. Hatte nicht jeder als kleines Kind davon geträumt, ein begnadeter Schwertkämpfer zu sein? Den Helden aus den Büchern nachzueifern und alle anderen neben sich blass aussehen zu lassen.

Auch wenn die Waffen nur Holzstecken waren.

 

Als Übungsgelände wurde der Schlosshof auserkoren. Jona gegenüber stand ein schwarzhaariger Elf in leichtem Lederharnisch und von den höheren Galerien schauten vielleicht drei weitere Elfen zu.

Wie erwartet waren die Waffen bleiche Holzstäbe, die kühl in der Hand lagen und irgendwie viel zu schade wirkten, um sich damit zu schlagen.

Der Schwarzhaarige nickte kurz und trat einen Schritt vor, das Übungsschwert gerade vor den Körper gehoben. Mit einem tiefen Atemzug stellte Jona den rechten Fuß nach vorne und streckte den Stab aus. Er stand nun seitlich und ging noch leicht in die Knie, um beweglicher zu sein.

„Wir beginnen. Greife mich an“, erklang die kühle Stimme des Elfen.

Jona zögerte nur kurz. Schnell setzte er beide Füße einen Schritt nach vorne und schlug das Holz gegen die Seite des Elfen. Dieser parierte nicht. Erstaunt bewegte der Junge sich in seine Ausgangsposition zurück. Lediglich der Stab hatte sich leicht zu der Richtung geneigt, von der aus der Angriff gekommen war.

„Sehr gut, noch einmal.“

Das wurde hier jetzt hoffentlich kein Baby-Schwertkampf. Jona wollte Gegenwehr, was hatte er sonst davon?

Behände täuschte er links an und landete rechts den Treffer. Wieder hatte der Elf seine Waffe nur wenig bewegt. Allmählich wurde Jona ärgerlich. Glacéde hatte ihm versichert, dass er einem der besten Schwertmeister der Elfen gegenüber stehen würde. Entweder veralberte man ihn, oder die Elfen waren unsagbar schlecht mit dem Schwert.

„Gut, jetzt greife ich zuerst an.“

Angespannt beobachtete Jona den Elfen. Er erwartete, dass dieser nun die Hülle fallen lassen und ihn in Grund und Boden prügeln würde.

Der Schlag kam von schräg oben und ließ sich mühelos zur Seite ablenken.

Jona verzog eine Mine. „In Ordnung, können wir jetzt richtig anfangen?“ Regungslos wurde er angestarrt. „Bitte?“

Ein knappes Nicken. Die Spitzen der Stäbe hingen knapp über dem Boden. Konzentriert folgte Jonas Blick den Schritten des Elfen, die langsam auf ihn zu kamen. Gänsehaut stellte all seine Härchen auf. Endlich fingen sie richtig an, die Spannung war in der Luft zu spüren. Ein Frösteln schüttelte Jonas Glieder kaum merklich. Von der Dämmerung gelockte Nebelschwaden stiegen aus dem Boden auf, wallten an den kalten Schlossmauern empor. Er hätte sich verdammt noch einmal eine Jacke mit in diese Welt nehmen sollen. Richtig kalt war es hier.

Der junge Magier hob sein Holzschwert und seine Finger schmerzten, als er seinen Griff um das kalte Holz festigte. Kalt waren sie und rot. Atemwölkchen stiegen aus seinem Mund auf. Sein Gegenüber war noch einen Schritt entfernt. Das Zittern hörte auf, er spürte lediglich betäubende Kälte. Eine stundenlange Wanderung durch einen eisigen Wald, in Hemd und kurzer Hose, damit war es vergleichbar. Seine Haut, sein Gesicht brannten vor Kälte. Kurz davor abzustumpfen, doch noch fühlte er beißenden Schmerz.

Das Bild des Elfen vor seinen Augen war wie in Eis eingefasst. Unfähig sich zu rühren ließ er zu, dass der Elf ihm den langen, schlanken Zeigefinger auf die Stirn drückte. Ein verhältnismäßig breites Lächeln spielte auf den schmalen Lippen.

„Ich gewinne, junger Magier.“

Im nächsten Moment wurde Jona schwarz vor Augen.

 

17.

 

Seine Haut brannte. Die Fingerspitzen hatten keinerlei Gefühl mehr und von seinen Füßen wusste er nur, dass sie noch da waren. Mit tausend kleinen Nadeln stach die Kälte in sein Gesicht. Jona zitterte.

Die vielen Decken, in die sie ihn gepackt hatten waren weich, aber wärmten nicht. Der Junge zitterte bloß immer weiter, beobachtete angstvoll, dass sein Atem keine Wölkchen mehr in die kalte Luft schlug und wünschte sich nichts sehnlicher, als eine Wärmequelle. Irgendetwas. Er hätte sogar freiwillig auf eine heiße Herdplatte gefasst, bloß um zu wissen, dass es so etwas wie Wärme immer noch gab.

Die Elfen hatten ihn in sein Zimmer gebracht und sich selbst überlassen. Was sollten sie auch tun. Wärme war eben nicht ihr Ding. Versuchsweise rieb Jona die Hände aneinander, doch sie waren zu steif gefroren. Hoffentlich ging er nicht drauf. Das wäre äußerst lästig.

Seit Stunden hing sein Blick an der Wand ihm gegenüber, ohne wirklich etwas zu sehen. Kaltes Grau überall. Vergeblich versuchte der Junge, ob er noch mit den Zehen wackeln konnte. Warum hatten sie ihn nicht zu den Drachen gebracht? Bronx konnte schon Feuer speien.

Doch jeglicher Einspruch, den er gebracht hatte, war durch sein Zähneklappern kaum verständlich gewesen.

Mit leisem Klicken ging die Tür auf. Jona schaffte es nicht, sich weit genug herum zu drehen um zu sehen, wer ihn da besuchen kam. Die Tür wurde wieder geschlossen und kurz darauf stand Ailéa vor ihm. Er wusste nicht genau, ob er sich freuen sollte, sie zu sehen.

Ihr bleiches Gesicht drückte Erschrecken aus. Mitleid. Sie kniete sich neben ihn aufs Bett und legte ganz vorsichtig eine Hand an seine Wange. Sie war warm.

„Du bist ja eiskalt!“

Jona hatte die passende, bissige Bemerkung im Kopf, doch sie schaffte es nicht an seinen blauen Lippen vorbei.

Wieder und wieder strich sie ihm durch das Gesicht, suchte seinen Arm unter all den Decken und versuchte, ihn etwas warm zu reiben. Trotz allen Zitterns seufzte Jona. Gut zu wissen, dass er noch etwas spüren konnte.

„Jonathan, sieh mich an.“

Hatte er denn eine Wahl? Er konnte seinen Kopf kaum bewegen.

„Du bist doch ein Magier. Kannst du nicht das Feuer rufen?“

Wehleidig erwiderte er den Blick ihrer blauen Augen. Natürlich hatte er schon daran gedacht, sich die Wärme selbst zu schaffen, aber es hatte nicht funktioniert. Wie ein mit Wasser übergossenes Lagerfeuer. Da war nichts mehr zu machen.

„Du musst, Jonathan. Wenn du der Kälte nicht bald entkommst, dann stirbst du.“

Jona schloss die Augen, suchte orientierungslos nach einem Funken in seinem Inneren. Doch da war nichts. Nur Dunkelheit und Kälte. Er spürte, wie Ailéa sein Gesicht in ihre angenehm warmen Hände nahm. Warmer Atem legte sich auf sein Gesicht wie Raureif.

„Bitte stirb nicht.“

Mit zusammen gekniffenen Augen versuchte Jona, an etwas Warmes zu denken. An Sommer. Nein, das war zu weit her geholt. Kleiner. Heißer Tee. Oder zumindest warmer Tee. Eine Wärme, die von Innen kam. Angenehmes Prickeln durchzog seinen Mund und wanderte durch den Hals hinab in sein Innerstes. Jona versuchte zu genießen und die Wärme breitete sich langsam aus.

Er zitterte nicht mehr.

Als er aufblickte sah er wieder Ailéa, der die Erleichterung ins Gesicht geschrieben stand.

„Ich sterbe nicht“, brachte Jona trotzig hervor.

Ihm war noch lange nicht warm, aber er fühlte sich wieder lebendig. Inmitten der Leere in seinem Kopf flackerte wieder eine kleine Flamme. Seine kalten Finger brannten von dem Blut, das wieder in ihnen floss.

„Danke, Ailéa.“

Sie lächelte und ihr Lächeln machte sie so viel hübscher als all die Eleganz der Elfen zusammen.

Mit zurückerlangter Bewegung beugte der Magier sich vor und gab seiner Retterin einen Kuss. Mädchen mochten so etwas.

Verwundert und angenehm überrascht sah sie ihn an. Gerade hatte sie sein Gesicht wieder mit ihren Händen umschlossen, als die Tür aufgestoßen wurde.

„Hier ist sie! Du sollst den Drachenmeister nicht belästigen. Raus mit dir!“

Ailéa rührte sich nicht, bis ein zweiter Elf mit bestimmten Schritten heran trat und sie weg führte. Oder mehr zerrte, denn besonders gerne schien sie nicht mitzukommen.

„Verzeiht die Belästigung, Drachenmeister.“

Schon fiel die Tür ins Schloss und Jona war wieder allein. Abwesend starrte er auf seine roten Hände, in die ganz allmählich das Gefühl zurück kehrte. Wie Eisbrocken, die stetig davon geschwemmt wurden.

 

Er hätte sich eine warme Jacke mit in diese Welt nehmen sollen.

Stattdessen hatte er eine der grauen Decken um sich gewickelt und lief damit herum. Zwar störte es die Ästhetik der Elfen und sie warfen ihm missbilligende Blicke zu, aber das hätten sie sich überlegen sollen, bevor sie ihn eingefroren hatten.

In seiner Abwesenheit hatten sich einige Elfen in die Drachenvoliere gewagt, um mit Bronx zu trainieren. Sie ließen ihn durch einen Parcours fliegen und Dinge anzünden. Der kleine Drache hatte Spaß daran und so ließ Jona die Elfen gewähren. Ans Ausbrüten dachte er nicht mehr. Alles was er im Moment zu Stande brachte war vor Hitze flimmernde Luft über seiner rechten Hand.

Bronx war noch größer geworden. Seine inzwischen rostroten Schuppen glommen wie die Glut in einem Lagerfeuer und das Schlagen seiner Flügel zerzauste Jona nicht nur das Haar, sondern ließ ihn mit seinen wackeligen Beinen sogar zurück taumeln. Immer noch ungestüm, aber sich seiner Stärke schon deutlich mehr bewusst warf der Drache Strohballen durch die Gegen und vollführte waghalsige Manöver dicht vor den klirrenden Glasscheiben. Den Elfen war der Respekt vor diesen Fähigkeiten anzusehen, doch man hatte sie wohl gezwungen, dem rostroten Ungeheuer etwas beizubringen. Brandflecken in den zuvor makellosen, gräulichen Gewändern zeigten, welchen durchschlagenden Erfolg sie dabei hatten.

Den schlafenden, grauen Drachen im Arm stand Jona am verglasten Fenster und schaute hinunter in den Schlosshof. Die Finger an den schwarzen Streben zwischen den Glasscheiben und das Gesicht gerade so dicht davor, dass sein Atem die Scheibe nicht beschlug. Dort unten war gerade etwas mehr Aufregung als sonst. Die Elfen beeilten sich richtig. Sie hatten sich mit Speeren bewaffnet und in ihrer schwarzen Lederrüstung aufgestellt, wie um tüchtig Eindruck zu schinden.

Dann führten zwei von ihnen jemanden zwischen sich über den Hof. Klein, untersetzt, irgendwie dreckig. Außerdem hinkte dieser Jemand und schlotterte am ganzen Leib.

„Wer ist das?“

Er musste noch ein zweites Mal fragen, damit die Elfen ihn nicht bloß ignorierten.

„Ein Gefangener“, hieß es knapp. „Ein Mensch. Er hat sich unerlaubt in unseren Wald begeben und wird nun dafür bestraft.“

Jona nickte bloß und sah wieder hinunter. Der Mensch krümmte und wehrte sich und wurde doch nicht aus dem Griff entlassen. Jener Schwertmeister, gegen den Jona angetreten war, trat vor und legte dem Menschen die bleiche Hand aufs Haupt.

Derjenige erstarrte, sackte zusammen und zuckte nur noch. Dann schleifte man ihn durch das Tor, das zu den unterirdischen Hallen führte.

Während Bronx im Hintergrund große Strohballen in Flammen aufgehen ließ stand Jona weiter am Fenster und stellte sich Fragen.

Wie mochte dieser Mensch heißen? Vielleicht Bernd oder Hugo? Ob er noch leben mochte? Was hatte Hugo im Wald der Elfen gewollt? Was hatte er angestellt, dass man ihn bestrafte? Und konnte Hugo vielleicht auch Magie wirken? Jona seufzte ob der Gewissheit, dass er all dies niemals erfahren würde. Der arme Hugo.

Der kleine Drache in seinem Arm räkelte sich und entglitt beinahe dem Griff des Magiers, als er sich anders herum krümmte, um seelenruhig weiter zu schlafen.

Wo mochte Hugo wohl her gekommen sein? Auch durch das Portal? Es war ein merkwürdiger Gedanke, dass emsiges Kommen und Gehen auf Bob McGullochs Hinterhof herrschte. Gab es vielleicht noch mehr Tore, durch die man die Welt wechseln konnte?

Allerdings war sein Hugo nicht wie jemand von der Straße gekleidet. Er passte in diese Welt, aber nicht so richtig in die, aus der Jona gekommen war. Moment, hatte Ailéa nicht etwas von einem Dorf gesagt?

„Hey, seid nett zu ihm!“, rief er den beiden Elfen zu, die Bronx schimpften, weil er sein Belohnungsessen entdeckt hatte, bevor er es sich verdient hatte.

Vorsichtig legte Jona den kleinen Grauen in sein Nest aus den grauen Decken und verließ die Halle.

So viel war er nun schon durch die öden Korridore gewandert und kannte sich immer noch nicht aus. Wie auch, wenn alles gleich aussah. Seine langen Schritte hallten wieder, schreckten Elfen auf, denen er begegnete.

Staub stieg ihm in die Nase. Er nieste und kleine Flammenfünkchen stoben davon. Na wenigstens etwas. Versuchsweise hob er die rechte Hand und kam weiterhin nicht über heiße Luft hinaus.

Man hielt ihn nicht auf, als er die große Tür zu Glacédes Halle durchschritt.

Was war mit den anderen Menschen in dieser Welt? Kämpften sie gegen die Elfen? Aus welchem Grund? Waren die Elfen überlegen? Und warum um alles in der Welt besaßen die Elfen die Dracheneier, wenn doch nur die Menschen dazu in der Lage waren, sie auszubrüten?

Viel zu viele Fragen, jetzt brauchte er ein paar Antworten.

Glacéde wandte sich zu ihm um, sodass ihr Gewand seicht ihrer Bewegung folgte. Die Kälte glänzte wie Diamanten an ihr.

„Junger Magier. Was kann ich für Euch tun?“

Jona zog die unästhetische Decke zu Recht.

„Wo ist Ailéa? Ich will sie sehen.“

Ein ganz klein wenig weiteten sich die Augen der Elfenherrin vor Überraschung.

„Ihr solltet nicht-„

„Sofort!“

 

18.

 

Ailéas Zimmer war verhältnismäßig klein. Keine eingemeißelten Blumenranken an den kahlen Wänden, ein Bett, das reichlich hart und unbequem aussah und ein Hocker. Die Elfe saß vor einem schmalen, hohen Fenster und schaute nach draußen. Gedankenverloren und irgendwie traurig wirkte sie.

Jona wies die beiden Elfen harsch an, sie beide in Ruhe zu lassen. Nicht eben begeistert, aber gehorsam zogen sie die Tür von außen zu. Nun standen sie gewiss wieder davor, wie um einen Schwerverbrecher zu bewachen.

Jona seufzte und die Elfe drehte sich halb zu ihm herum. Sie sagte nichts, aber schließlich war er auch derjenige mit den vielen Fragen. Bedächtig ließ er sich neben ihr nieder und legte seine Hand auf die ihre. Die bleichen, schlanken Finger spendete Wärme, was Jona nur daran erinnerte, dass er noch nicht wieder in Form war.

„Ailéa. Erzähl mir von den Drachen und den Elfen.“

Das Mädchen ließ einen besorgten Blick zur Tür wandern. Leise hob sie ihre Stimme und Jona musste näher rücken, um sie besser zu verstehen.

„Die Drachen waren schon hier, lange vor den Elfen. Die meisten von ihnen wurden getötet oder von der Elfenherrin unterworfen. Von ihnen lebt heute nur noch einer.“

Der große, schwarze in der unterirdischen Halle. Niemals hätte Jona ihn für so alt gehalten. Nun, eigentlich hatte er sich nur noch keine Gedanken darüber gemacht.

„Drachen wachsen in Steinen, ebenso wie bunt schillernde Kristalle. Und nur ein Magier kann sie zum Schlüpfen bringen. So wie du einer bist.“

Das wusste Jona schon. Deswegen war er ja auch der Drachenmeister.

„Die Herrin hat alle Dracheneier an sich genommen, derer sie habhaft werden konnte. Damit die Menschen sie nicht bekommen. Und um ihre Macht nutzen zu können. Im Kampf.“

„Was für ein Kampf?“ Jona wusste, dass es unhöflich war zu unterbrechen, aber das musste er wissen. "Wer sollte gegen die Elfen kämpfen?“

Sie sah ihn an, mit großen, blauen Augen, als hätte er nach einer Selbstverständlichkeit gefragt.

„Menschen, Jonathan. Die Elfen wollen, dass alles still und kalt ist und ihr Menschen kämpft für das Leben. Für alles, was wächst und gedeiht. Alles was schön ist.

Wenn es nach der Herrin ginge wäre diese Welt eine einzige, kalte Einöde.“

Ailéas Blick verfinsterte sich und Jona dachte nach. Ihm war die Kühle und Ruhe des Elfenschlosses eine willkommene Abwechslung gewesen. Dass es einen auf Dauer zermürbte, so weit hatte er noch nicht gedacht.

„Es hat schon früher Kämpfe gegeben. Als ich noch klein war. Die Menschen haben das Tal erobert und dort ein Dorf errichtet. Mit ihrer Feuermagie sind sie den Elfen überlegen. Aber mit Drachen wird das anders aussehen.“

Stille folgte und zum ersten Mal fragte Jona sich, was gewesen wäre, wenn sein Weg ihn nicht in den Wald, sondern in jenes Tal geführt hätte.

„Wann?“

„Was?“ Ailéa zuckte zusammen und sah den jungen Magier fragend an.

„Wann werden die Elfen das Tal angreifen, Ailéa?“

Sie zuckte hilflos die Schultern.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht warten sie ab, bis ihre neuen Drachen große genug sind. Vielleicht auch jederzeit. Einen großen Drachen haben sie schließlich. In ihrem scheußlichen Verließ.“

Jona stockte. Hieß das etwa, dass er, der Drachenmeister, neue Krieger für die Elfen produziert hatte? Dass sie die armen, kleinen Echsen zu Tötungsmaschinen erzogen?

Was hatte er da bloß angerichtet.

„Wir müssen das verhindern, Ailéa.“

Sie lachte müde. „Wie stellst du dir das vor? Die Drachen befreien? Entführen? Glaubst du wirklich, dass du an all diesen kaltherzigen Elfenkriegern vorbei kommst?“

„Schließlich beherrsche ich das Feuer.“

Empört erwiderte Jonas ihren Blick. Dann dachte er an die heiße Luft, die er momentan zu Stande brachte. Daran, wie kraftlos er seit ein paar Tagen durch die grauen Korridore schlicht.

„Nicht mehr, nachdem sie dich eingefroren haben. Und wer weiß wie lange es braucht, bis du wieder hergestellt bist.“

Jona ballte die Faust. Er hatte die Drachen ins Leben geholt, nun würde er auch dafür sorgen, dass sie nicht zu Kampfsklaven gemacht wurden. Irgendwie. Er konnte ganz gut improvisieren.

Schwer seufzte er.

„Ein Menschendorf also?“

Ailéa nickte. „Es ist besser, wenn du unter deinesgleichen bist.“

„Und was ist mit dir? Du scheinst dich unter deinesgleichen nicht besonders wohl zu fühlen.“

Sie schnitt eine Grimasse, versuchte diese zu überspielen, als sie Jonas Blick bemerkte. Er runzelte die Stirn und hoffte, dass er jetzt nicht etwas Dummes tat, wie eine Frau nach ihrem Alter zu fragen.

„Du bist keine Elfe wie die anderen, oder? Sie sind viel dünner und kälter und… unnahbarer. Du bist anders.“

Sie sah ihn an, sah weg und sah ihn wieder an. Ailéa nickte und suchte noch immer nach den richtigen Worten.

„Es stimmt, ich bin keine richtige Elfe.“ Sie schwieg und als Jona zu ihr hinüber schaute schien sie den Tränen nahe.

„Ich… ich bin ein Halbblut. Ein Mischling. Eine Schande der Natur.“

Ihre Lippen zitterten und das Blau ihrer Augen glänzte.

„Eine Halbelfe also. Und zur anderen Hälfte? … Mensch?“

Heftig nickte sie, dass ihre Haare aufwallten, dann kullerten doch Tränen ihre Wange hinab. Hatte Jona also doch etwas Falsches gesagt. Verdammt. Er hatte sie doch nicht zum Weinen bringen wollen.

„Ich weiß noch nicht einmal, ob meine Eltern sich überhaupt geliebt haben. Aber seit ich denken kann bin ich hier, in diesem kalten Schloss und versuche so zu sein wie sie. Aber es geht einfach nicht. Sie wollen mich auch gar nicht.“

Der junge Magier nahm sie in den Arm, warf die Decke um sie beide und strich ihr beruhigend über das weiche, weißblonde Haar.

„Zu den Menschen passe ich auch nicht. Alles was ich will ist, endlich ein Zuhause zu haben. Wo ich nicht bloß weder das eine und noch das andere bin.“

Jona küsste sie aufs Haupt und zog sie näher zu sich.

„Wenn du möchtest, dann kann ich dich mit mir nehmen. Zurück in meine Welt.“

Die Augen von den Tränen gerötet sah Ailéa zu ihm auf.

„Aber Elfen können nicht in die Menschenwelt.“

Er lächelte. „Du bist ja auch keine ganze Elfe. Ich bin mir sicher, das klappt.“

Die Halbelfe schmiegte ihren Kopf an seine Brust und ließ sich von ihm im Arm halten.

Jona mochte sie. Und wer hatte schon so eine schöne Freundin.

Doch so gerne er die Nähe eines anderen gerade spürte, die Drachen gingen ihm nicht aus dem Kopf.

„Also, wie können wir die Drachen befreien?“

Ailéa schniefte. „Bronx kann schon fliegen, für ihn musst du nur ein Fenster öffnen.“

Jona nickte. „Die anderen muss ich selber tragen. Vielleicht kann ich sie einfach unter meiner Decke verstecken.“

„Ich glaube, du stellst dir das viel zu einfach vor, Jonathan.“

 

Er hatte ihre Worte noch immer im Kopf, als er wie so oft die Drachenvoliere betrat. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Was sollte schon schief gehen?

Jona versicherte sich noch einmal, dass die Tür verschlossen war und ging geradewegs zu einer der großen Fensterscheiben. Ihm war früher schon aufgefallen, dass es hier zog und tatsächlich saß das Glas nicht mehr allzu fest in seinem Rahmen. Kurzerhand trat er einmal kraftvoll dagegen. Es knirscht und wie gewünscht brach die Scheibe heraus. Trudelte dem Erdboden entgegen und zerbarst auf einem der Dächer.

Neugierig kam Bronx heran geflogen. Jona sah nach den anderen und entdeckte sie allesamt schlafend, in einen Stapel Decken gekuschelt.

„Los Bronx, du musst abhauen.“

Der junge Magier lief bereist zu den anderen hinüber, während Bronx ihn bloß verständnislos anstarrte. Jona machte eine scheuchende Handbewegung in Richtung der fehlenden Scheibe und sammelte die kleinen Drachen ein. Bis auf den Grauen wachten sie auf und klammerten sich an ihn. Sorgfältig zog er die Decke über sie und prüfte, dass man sein zusätzliches Gepäck nicht zu früh entdeckte.

Kurz entschlossen packte er noch zwei der kleineren Dracheneier in seine großzügigen Hosentaschen. Mehr ging nicht.

Als er zufrieden war und zur Tür wollte, stand Bronx vor ihm. Jona seufzte, ging in die Knie und tätschelte mit der freien Hand den schuppigen Kopf.

„Na los, mein Kleiner. Sieh zu, dass du hier wegkommst. Wir treffen uns später, hörst du. Bronx, du findest mich schon.“

Der Drache legte den Kopf schief und der Magier kam allmählich ins Verzweifeln. Gelb leuchtende Augen folgten ihm, doch wirklich zu verstehen schien er nicht. Oder er wollte nicht. Innerlich fluchte Jona, er hätte die Elfen nicht so viel Zeit mit ihm verbringen lassen sollten. Vermutlich hatten sie seinen Verstand auch eingefroren. Er lockte Bronx zum Loch in der Fensterfront und deutete darauf.

„Freiheit, Bronx. Wenn du hier bleibst, dann werden sie böse Dinge mit dir anstellen.“

Vorsichtig tappte Bronx vor und reckte den Hals hinaus. Er blinzelte, als der pfeifende Wind seine Nase kitzelte.

„Vertrau mir einfach.“

Sanft schob Jona ihn weiter vor, bis der Drache endlich seine Gelegenheit erkannte und hinaus glitt. Er segelte um die Türme und stieg höher.

Damit gab Jona sich zufrieden. Kurzerhand wandte er sich zur Tür und hatte sie mit wenigen, langen Schritten erreicht. Seine freie Hand drückte die kalte Eisenklinke und zog die dunkle Holztür auf. Die davor wartenden Elfen drehten sich zu ihm herum.

Ohne ein Wort an die Wächter zu richten ging er an ihnen vorbei und folgte dem Korridor in Richtung Ausgang.

„Ein kurzer Besuch, junger Magier.“

Jona war bemüht, sich den Schreck nicht anmerken zu lassen.

„Sie schlafen alle noch. Ich werde später noch einmal kommen.“

Wie gerne wäre er jetzt schneller gegangen, aber er wollte sich nicht verraten.

„Hey, warte! Was ist das?“

Er blickte an sich herab und sah einen grünen Drachenschwanz, der unter der Decke hervor lugte.

Jona presste die Drachen an sich und rannte.

 

19.

 

Sechs Uhr morgens.

Mit schweren Augenlidern saß Lina auf ihrer Bettkante und ließ eine brennende Kerze kreisend durchs Zimmer fliegen. Vorsichtig ließ sie die Flamme wachsen, immer darauf bedacht, den Brandmelder nicht auszulösen. Sie spürte regelrecht, wie das kleine Feuer flüssiges Wachs durch den Docht sog und mit gelbrotem Licht verzehrte.

Obwohl sich all das für sie immer noch anfühlte wie ein reichlich kreativer Traum, war sie sich doch im Klaren darüber, was ihr bevor stand. Zu den Elfen gehen, Drachen retten, wieder zurück. Klang ganz einfach, wenn man es so vor sich hin dachte.

Und um es mit den Elfen aufnehmen zu können musste sie auf jeden Fall besser werden. Also hieß es üben. Zum Beispiel jetzt vor der Schule. Vielleicht fanden sich auch ein paar unbeobachtete Momente in den Pausen?

 

Im Unterricht bekam Lina erstaunlich viel mit. Zumindest wenn man bedachte, dass jeder dritte Gedanke dem galt, was sie ziemlich bald in der Magiewelt erwarten würde. Sie meldete sich sogar und wusste Antworten. Aber schließlich hatte sie auch mit sich selbst ausgemacht, keinen Durchhänger zu haben. Nicht in der Schule und nicht in der Magie.

Auch nicht in der Liebe.

Jason lehnte am Türrahmen und wartete auf sie, als die letzte Stunde ihr Ende gefunden hatte. Jeans und ein grau-karierter Kapuzenpullover, unter dem ein blaues Shirt hervor lugte. Die Farben standen ihm gut. Wie ihm eigentlich alles gut stand, Hauptsache er steckte in den Klamotten. Und spätestens seit es geläutet hatte musste er dort wohl warten. Warum musste ihre Geografie-Lehrerin auch immer überziehen.

Fragend sah der Junge ihrer Träume sie an. Richtig, Lina hatte ihm auf seine Nachricht noch nicht geantwortet. Unauffällig zog sie ihren Rock gerade und vergewisserte sich, dass ihre Bluse nicht unverschämt weit aufgeknöpft war. Sie biss sich auf die Unterlippe und fingerte am Gurt ihrer Tasche herum.

„Hi. Ich- ich hab heute noch einen Kurs… in der Stadt.“

Erst blickte er etwas verwirrt drein, dann schenkte er ihr ein Lächeln, das sie dahin schmelzen ließ.

„Was dagegen, wenn ich dich ein Stück begleite?“

Lina schüttelte eifrig den Kopf. Natürlich nicht.

Der Sommer empfing sie, wie die letzten Tage schon, mit unsommerlicher Kühle. Der Grund, weswegen Lina eine Strumpfhose unter dem Rock trug und ihre Jacke über der Tasche hängend mit sich herum schleppte. Wolken überzogen den Himmel und die Luft schmeckte lebendig. Nach blühenden Pflanzen und Sommer eben.

Erst schwiegen sie einander an, auf dem viel zu weiten Weg zur Bushaltestelle. Den mit Kaugummis und Zigarettenstummeln gepflasterten Weg entlang, zur rechten den dichten Grünstreifen, der den Gehweg von der Straße trennte. Immer wieder schenkte Lina ihrem Schwarm nervöse Seitenblicke. Passierte das gerade wirklich?

„Was ist das denn für ein Kurs, zu dem du musst?“

„Ähm“ Ihre Gedanken begaben sich augenblicklich auf die Suche nach einer plausiblen Ausrede.

„Es- es ist ein Schreibkurs.“

„Für Rechtschreibung? Ich dachte, du wärst einigermaßen gut darin.“

„Nein.“ Eilig winkte Lina ab. „Kreatives Schreiben. Geschichten und so.“

Jason hob eine Augenbraue. „Du schreibst also Geschichten? Cool, hätte ich gar nicht gedacht. Was denn so?“

„Ach, ähm… Noch nichts- eigentlich. Bisher mache ich hauptsächlich so… Schreibübungen.“

Er nickte und Lina hoffte inständig, dass er nicht genauer nachfragte.

„Wenn du dann genug geübt hast und mal was schreibst, lässt du es mich dann lesen?“

Ihr schoss das Blut ins Gesicht. „Ähm, vielleicht- ich meine, warum nicht. Gerne… Sehr gerne.“

Sie schaute zu Boden und überlegte, ob sie nun besser wirklich mit dem Schreiben anfing, damit ihre Geschichte plausibel blieb. Wenn zum Beispiel doch mal jemand sehen wollte, was sie an den zahlreichen Freitagskursen bei Herrn Maier so zu Stande gebracht hatte. Ein Wunder, dass ihre Eltern sie noch nicht gefragt hatten.

Vielleicht schrieb sie einfach den ganzen Kram mit dem Drachen und der Magiewelt auf. Dann musste sie sich nicht groß etwas ausdenken und es war abgedreht genug, um als Fantasy-Geschichte durchzugehen.

„Wann hast du denn mal Zeit, nach der Schule?“

Sie blickte auf in ein fragendes Gesicht. Eigentlich wollte sie ihm sagen, dass sie auf absehbare Zeit keine Zeit hatte. Aber ein anderer Teil von ihr wollte jede freie Minute an seiner Seite verbringen und ihn einfach nur anhimmeln.

„Wie- wie ist es mit morgen? Ich kann dann auch nur eine Stunde oder so, aber…“

Schon kam sie ins Rumdrucksen. Sie konnte doch unmöglich erzählen, dass sie nochmal irgend so einen Kurs hatte.

„Klingt gut.“

Lina sah erleichtert zu ihm auf. Sie lächelte ihn an und hoffte, dass sie dabei möglichst hübsch aussah. Besonders viel Mühe hatte sie sich heute Morgen beim Schminken nämlich nicht geben können, schließlich hatte sie noch Kerzen fliegen lassen.

„Da kommt dein Bus.“

„Was? Oh, ja, stimmt.“ Ein Blick über die Schulter bestätigte ihr, dass es Zeit war die Fahrkarte zu zücken.

In ihrer Tasche kramend blickte sie noch einmal auf und hatte Jasons Gesicht direkt vor sich. Wie eine Aufforderung. Er hatte sich leicht zu ihr hinunter gebeugt und lächelte.

„Gut. Bis morgen dann, Lina.“

Oh, was roch er gut. Und seine Lippen wirkten aus der Nähe so unverschämt perfekt. Nur einen halben Schritt nach vorne, dann würden sie sich…

„Ja, bis morgen dann.“

Routinemäßig verschwand sie im Bus und winkte Jason durch die Scheibe noch zu. Er hob zum Abschied die Hand und sah ihr noch nach, ehe er sich auf den Weg machte.

Lina setzte sich, nahm ihre Tasche auf den Schoß und warf den Kopf zurück.

So nah dran. So nah. Warum nur hatte sie ihn nicht einfach geküsst. Nächtelang hatte sie von diesem Moment geträumt, ihn sich ausgemalt und geschwärmt. Und jetzt ließ sie diese Gelegenheit einfach so sausen?

Verärgert vergrub sie das Gesicht in ihrer Tasche. So nah. Und nun musste sie sich zusammen reißen. Tief atmete Lina durch. Nein, sie hatte schon alles richtig gemacht. Es war noch viel zu früh für einen ersten Kuss gewesen. Wohlmöglich hatte sie die Situation eben völlig missverständen und hätte durch ein falsches Handeln einfach alles zerstört.

Nein, es war schon richtig so.

Sie holte noch einmal tief Luft, schüttelte den Kopf um die viel zu vielen Gedanken zu vertreiben und bemühte sich, ihren Herzschlag wieder zu beruhigen.

So nah waren sie sich gewesen. Ach verdammt, sie hätte ihn küssen sollen.

 

„Meine Güte, hast du eine komische Laune heute.“ Raffael hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete mäßig zufrieden ihre Feuerzauber.

Lina streckte ihm bloß die Zunge heraus. Ihr Privatleben ging hier niemanden etwas an.

„Ok Lina. Hast du schon einmal eine Feuersäule gemacht? Versuch eine so groß du kannst. Und streng dich mal ein bisschen an dafür.“

Sie zog eine Grimasse. Als wenn sie absichtlich so schlecht wäre. Line hatte schon die Arme gehoben, da kam ihr ein Gedanke. Wie war das gewesen, als sie Amethyst ausgebrütet hatte? An Jason hatte sie gedacht. Daran, mit ihm zusammen zu sein. Na schön, daran mit ihm rum zu machen. Aber wenn es half?

Sie schloss die Augen und dachte an vorhin. Eine wunderbar reale Situation. Doch diesmal stieg sie nicht einfach in den Bus. Diesmal kam sie ihm entgegen und kostete seine Lippen. Sog seinen Duft ein und schmeckte die Süße seines Kusses. Wie er sie fest zu sich zog und ihr Kuss immer wilder wurde.

Lina riss die Augen auf und mit einem Aufschrei ließ sie eine Feuersäule empor schießen. Dick wie ein Baumstamm und so hoch, dass sie den Kopf weit in den Nacken legen musste. Ihr Gesicht glühte. Zum einen von der Hitze, zum anderen von den wunderbaren Gedankenspielen, die langsam in ihrem Kopf ausklangen.

Ging doch.

Raffaels Überraschung war echt. Der Mund klappte ihm sogar auf und Lina genoss ihren Triumph.

„Wow.“ Er trat einen Schritt zurück und wartete, bis die Feuersäule sich in Rauch aufgelöst hatte. Es roch nach verbranntem Gras und die Hitze hing noch in der Luft.

„Warum machst du das nicht immer so, Lina?“

Sie zuckte die Schultern. „Ist ganz schön anstrengend.“

Lina grinste und Raffael schüttelte den Kopf.

„Wie auch immer du das angestellt hast, das solltest du trainieren.“

Auf Knopfdruck an Jason denken? Das sollte tatsächlich machbar sein.

„Ach so, und ich soll dir nochmal erklären, wie wir jetzt vorgehen wollen.“

Lina setzte sich neben ihn und lauschte. Es klang für sie immer noch mehr wie ein Bericht aus den Nachrichten, als wie etwas, das sie, Lina, tun würde. Was für eine Idee.

Wenn sie bereit wäre, sollte sie in den Wald gehen. Das würden die Elfen bemerken und jemanden schicken, um sie zu empfangen. Sie sollte dann den Neuankömmling und Elfensympathisantin spielen.

Man würde sie ins Elfenschloss führen. Dort sollte sie den Drachen finden und ihn befreien. Wie genau, das musste sie wohl oder übel der Situation anpassen.

Lina protestierte. Sich etwas ausdenken um einen Drachen aus dem Elfenschloss zu befreien? Wie klang das denn? Blöde Idee. So etwas würde sie niemals schaffen.

„Ach was, du packst das.“

Lina, die ihr Gesicht in den Händen vergraben hatte sah zu Raffael auf.

„Ok, du bist vielleicht nicht super trainiert oder eine erfahrene Kämpferin.“

Aber? Erwartungsvoll musterte sie ihn.

„Aber du bist aus der Menschenwelt und jetzt bist du hier. Du bist weder durchgedreht, noch weggelaufen und jetzt bist du sogar bereit dazu, deinen Drachen aus den Klauen der Elfen zu befreien. Wenn das kein Potential ist, dann weiß ich auch nicht.“

Sie wurde rot und musste Lächeln.

„Danke. Klingt gut, wie du das sagst.“

Raffael grinste und stand auf. Neu motiviert klatschte er in die Hände.

„Gut, dann lass uns weiter Trainieren. Wäre doch gelacht, wenn du es nicht schaffst, den Elfen den Arsch aufzureißen.“

 

20.

 

Lina kam sich albern vor. Nicht, dass Jason albern war, mit dem sie auf einer niedrigen Mauer in der Sonne saß und einen Kaffee trank. Die Sommersonne gedämpft durch ein hellgrünes Blätterdach, sie in einem süßen Top und Leggins, er in einem modischen Shirt und angemessen kurzer Hose. Sie selbst fühlte sich albern. Weil sie es nicht fertig brachte, ihm zu sagen, dass sie in ihn verliebt war. So einfach waren die Worte und so schwer lagen sie auf der Zunge.

Schönes Wetter heute. Die Bioklausur war verdammt schwer gewesen. Frage fünf konnte der Lehrer doch wohl nicht ernst gemeint haben. Der Kaffee schmeckte gut und nächstes Mal würde eine neue Sorte ausprobiert.

Immerhin, es war von nächsten Malen und so die Rede.

„Wir sollten sowas hier öfter machen.“

Lina schmolz dahin, wenn er wir sagte. „Unbedingt.“

„Ich mag dich wirklich sehr gern, Lina.“

Beinahe wäre ihr der Kaffeebecher aus der Hand gefallen.

Mit offenem Mund sah sie ihn an. Und Jason schaute so ernst zurück, dass sie ihm jedes Wort glaubte. Sonnenstrahlen spielten auf seinem Gesicht, braune Strähnen vielen ihm vor die Augen, sodass er sie ein ums andere Mal lässig zurück streichen konnte. Seine Haltung war locker, entspannt und eigentlich war alles an ihm anbetungswürdig.

„Willst du mit mir zusammen sein?“ Sie presste die Lippen aufeinander, doch es war zu spät. Die Worte waren heraus.

Ihr Schwarm lächelte und ihr stieg das Blut ins Gesicht.

„Sehr gerne“, hörte sie ihn sagen und im nächsten Moment war er da. Ihr erster Kuss.

Lina schmeckte seine weichen Lippen, ließ ihn seine Hände in ihren kurzen Haaren vergraben und wollte nichts lieber, als ihren Kaffee abstellen, damit sie die Hände frei bekam.

Ohne Zunge, war schließlich der erste Kuss.

 

Raffael hatte viel mit ihr geschimpft, weil sie so abwesend war, heute. Nicht bei der Sache, hieß es. Natürlich nicht. Vor wenigen Stunden hatte sie Jason geküsst. Sie war jetzt mit ihm zusammen.

Wie Vollmilchschokolade zergingen diese Worte auf der Zunge.

Lina konnte es kaum erwarten, ihr heutiges Training hinter sich zu bringen, um ihn morgen wieder zu sehen. Und sie musste es Anni noch erzählen, aber persönlich. Die Gute würde ausflippen. Kreischen und rufen „Siehst du, Süße. Na geht doch!“

Und immer wieder fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, um sich an diesen wunderbaren Kuss zu erinnern.

Ihre magischen Leistungen waren, im Gegensatz zu ihrer Aufmerksamkeit, ausgezeichnet. Und Lina wunderte es nicht, schließlich spürte sie die wunderbare Kraft einer erwiderten Liebe in sich. Sie konnte sich gerade noch zusammen reißen, nicht Feuerfunken werfend über die Wiese zu tanzen und „Die Macht der Liiiiiiiebe!“ zu rufen.

Raffael ließ sie schließlich entnervt alleine weiter üben und meinte noch, dass es die nächsten Tage los gehen müsste, mit der Befreiungsaktion. Sonst bestünde die Gefahr, dass sich ihr Amethyst schon zu sehr entfremdet hätte.

Lina versprach, sich zum Wochenende die Zeit zu nehmen. Bis dahin waren noch ein Vokabeltests und zwei Dates fällig.

Es dämmerte und der Abendhimmel erstrahlte in warmem Orange, als Jasons feste Freundin sich auf den Rückweg zum Weltentor machte. Einer Eingebung folgend machte sie einen kleinen Umweg am Rande des Waldes entlang. Warum nicht einmal unter die Lupe nehmen, womit sie es demnächst zu tun hätte.

Die Tannen standen dicht, waren dunkel und wirkten reichlich unheimlich auf Lina. Bedrohlich. Die Nadeln schluckten regelrecht das Licht der Sonne, sogen es in sich auf und zogen alles um sich an. Und sie flüsterten. Jedenfalls hoffte Lina, dass sie sich das nicht bloß einbildete. In dem Rauschen, das der Wind durch die Tannenzweige fegte lagen leise Worte. Es jagte Lina einen Schauer den Rücken hinunter.

Und da sollte sie hinein? In diese gruselige, baumige Dunkelheit? Eine andere Möglichkeit wäre ihr lieber. Sie legte den Kopf in den Nacken und schaute zu den Tannenspitzen hinauf, die sich leise im Wind wiegten. Über ihnen glommen die ersten Sterne.

Lina seufzte, senkte den Blick wieder und wollte eigentlich gerade den Weg zum Tor antreten.

Zwischen den düsteren Baumstämmen stand eine fahle Gestalt. Nachdem Lina geblinzelt hatte war sie immer noch da und trat aus dem Gebüsch auf sie zu.

Ein junger Mann war es. Hoch gewachsen, sehr schlank, hohe Wangenknochen, weißes Gewand. Er sah gut aus, aber Lina hatte jetzt ja einen Freund. Sie stockte. Außerdem hatte ihr Gegenüber vom Kopf abstehende, spitze Ohren.

Ein Elf.

Verdammt, sie war einem Elf begegnet. Sämtliche Härchen stellten sich bei ihr auf und krampfhaft umklammerte sie den Gurt ihrer Tasche. Was sollte sie tun?

Ihm einen Feuerzauber entgegen schleudern? Weglaufen? Nein, alles keine gute Idee.

Lina atmete tief durch und war bemüht, ihre Gedanken zu ordnen.

Der Elf trat gänzlich zwischen den Schatten der Bäume hervor und musterte sie. Ein weißer Fleck auf einer schwarzen Strumpfhose. Wie eine Laufmasche, nur weitaus bedrohlicher.

Auf keinen Fall durfte sie den groß angelegten Plan zunichte machen! Und dieser Plan besagte nun einmal, dass sie das Vertrauen der Elfen gewinnen sollte. Das sprach eindeutig gegen angreifen und weglaufen. Sollte sie ganz unbescholten und zuversichtlich tun?

„Hi“ Lina rang sich ein falsches Lächeln ab und winkte der geisterhaften Gestalt zu.

Hoffentlich war das nicht genau das Falsche gewesen.

Der Elf legte den Kopf leicht schief.

„Guten Abend.“ Er legte die Hand auf die Brust und kam noch einige Schritte näher. Kastanienbraunes Haar floss matt glänzend seinen Rücken hinab. Ein Stehkragen rahmte seinen schlanken Hals ein, geschmückt mit einer schlichten, dunkelgrauen Stickerei. Silberne Knöpfe und das Hemd, oder besser Gewand reichte hinab bis zu den Knien. Ein schmaler grauer Gürtel deutete zumindest eine Taille an und die Beine in engen Hosen endeten in hohen, hellgrauen Lederstiefeln. Alles in allem war er hübsch hergemacht, nur seine Augen passten nicht zu dem gleißenden Aufzug. Zu beiden Seiten eines schlanken Nasenbeins sahen sie Lina leblos an. Wie tote Fischaugen. Ein bisschen zumindest.

„Ich bin Lanfel. Wie ist dein Name? Ich denke, wir kennen uns noch nicht.“

„Lina. –Ich meine Alina. Mein Name ist Alina.“ Oder hätte sie einen falschen Namen nennen sollen? Mist. Jetzt war es ohnehin zu spät.

„Freut mich, dich kennen zu lernen, Alina.“ Er lächelte sogar ein bisschen. Wenn man das kaum merkliche Heben der Mundwinkel denn als Lächeln bezeichnen konnte.

„Ich –ich bin neu hier.“

Die Erinnerungen an den Plan kamen langsam wieder.

„Ich meine, in dieser Welt und so. Heute das erste Mal hier.“

Hoffentlich fiel ihrem Gegenüber nicht auf, wie nervös sie innerlich war.

Er kam noch einen Schritt näher. Lina fröstelte.

„Und? Gefällt es dir hier?“

Langsam nickte sie. „So viel habe ich noch nicht gesehen. … der Wald sieht ganz hübsch aus.“

„Das ist er.“

Würde er mehr lächeln, dann wäre Lina die ganze Situation hier auch nicht ganz so unheimlich.

„Wenn du möchtest, dann kann ich dir den Wald zeigen, junge Magierin.“

Allein mit einem Elfen im Wald? Sie war doch nicht lebensmüde. Aber irgendwo war es genau das, was der Plan vorsah.

Und je eher sie ihren Drachen rettete, desto besser, oder?

„J-ja, sehr gerne. Ich meine, ich würde mir gerne von dir den Wald zeigen lassen.“

Lina stockte und allzu viele Gedanken prasselten auf sie ein. Sie konnte nicht mitgehen. Nicht jetzt.

„Die Elfenherrin wird erfreut sein, deine Bekanntschaft zu machen.“

Jetzt war ein bisschen Schauspielern angesagt. „Elfenherrin? Heißt das etwa, du bist ein… Elf?“

„Gewiss.“ Wenn er auch nicht gut lächeln konnte, den überlegenen Gesichtsausdruck beherrschte er perfekt.

„Und ihr lebt in diesem Wald. Aber nicht in Baumhäusern, oder?“

„Selbstverständlich nicht. Die ersten Elfen dieser Welt haben ein prachtvolles Bauwerk errichtet. Ein Schloss, wie es den hohen Elfen würdig ist.“

Lina hatte natürlich längst von dem Schloss erfahren, aber es schadete auch nicht, ein wenig die Unwissende zu spielen.

„Das würde ich wirklich zu gerne einmal sehen.“

Sie musste nach Hause. Ihre Eltern erwarteten sie zurück. Morgen war Schule, Gruppenarbeit in Englisch. Das zweite Date mit Jason. Lina musste wieder zurück in ihre Welt.

„Gleich übermorgen. Wie klingt das? Übermorgen würde ich mir sehr gerne den Wald von dir zeigen lassen.“

Der Elf schwieg und musterte sie eindringlich. Lina unterdrückte das Verlangen, Feuer zu beschwören, um ihr Frösteln zu vertreiben.

„Was hält dich davon ab, jetzt mit mir zu kommen? Es gibt nichts, das lohnender wäre als die Audienz bei der Elfenherrin. Oder solltest du andere Pläne verfolgen?“

Seine Mine verfinsterte sich und Lina spürte die Kälte wie eine Welle über sich zusammen schlagen. Nebel stieg aus dem Boden. Ganz langsam kroch er zwischen den dunklen Tannen hervor und waberte um ihre Beine herum.

Jetzt bloß nichts Falsches sagen.

„Ich… meine Eltern würden sich um mich Sorgen machen, wenn ich nicht zurück komme.“

Gegen ein Stückchen Wahrheit war nichts einzuwenden.

„Dies ist doch dein erster Besuch in dieser Welt, oder?“

Ihr Atem schlug Wölkchen in die Luft. Verdammt, so langsam wurde es gefährlich.

„Du wurdest doch nicht etwa von den Menschen aus dem Tal geschickt? Was haben sie vor?“

„Es gibt hier Menschen?“, platzte Lina hervor. Vielleicht eine Spur zu überrascht. Doch der Elf schien darauf herein zu fallen. Sie seufzte. „Nicht einmal in einer anderen Welt hat man Ruhe vor den Menschen. Das muss furchtbar für euch Elfen sein.“

Schweigen. Was tat sie hier eigentlich? Worauf würde das hier hinaus laufen?

„Aber so etwas Schönes wie euch Elfen würde ich von Herzen gerne kennen lernen. Sehen die anderen auch so gut aus wie du?“

Schmeicheleien schienen fast so etwas wie eine Geheimwaffe zu sein. Sehr merkenswert.

„Mit Freuden werde ich dir unsere Welt zeigen.“

Wieder dieses missglückte Lächeln und er streckte ihr einladend die Hand entgegen.

„Wenn du mir die Ehre erweisen würdest, mich zu begleiten?“

Linas Hand hielt auf halbem Wege inne. Wollte sie? Jetzt?

 

21.

 

Entschlossen griff Lina nach der bleichen, schmalen Hand. Als hätte sie ihren Arm in kaltes Wasser gelegt durchfuhr sie das unangenehme Prickeln der Kälte. Der Händedruck des Elfen war alles andere als fest und sanft führte er sie in die Dunkelheit des Waldes.

Schweigend folgte die junge Magierin ihm durch den Wald. Fast schwarze Tannennadeln knisterten im Wind und Rinde knarrte. Keine Eichhörnchen, keine rufenden Käuzchen. Das Wispern der Bäume wogte auf und ab und Nebelschwaden zogen als silberne Fäden über den Boden. Nicht einmal ihrer beider Schritte machten viel Geräusch. Irgendwann machte Lina die Stille so verrückt, dass sie den Elfen aus lauter Höflichkeit noch einmal nach seinem Namen fragte. Lanfel, genau.

Für ein „ich zeige dir unseren wunderschönen Wald“, sagte dieser Lanfel reichlich wenig. In einem günstigen Moment musste sie unbedingt Herrn Maier eine Nachricht zukommen lassen, dass sie auf dem Weg ins Elfenschloss war. Die Mission war gestartet. Die tapferen Krieger Midheims durften sich in Position begeben, um sie bei ihrer Rettungsaktion zu unterstützen.

Lanfel jedoch wandte sich jedes Mal misstrauisch zu ihr um, wenn sie begann, in ihrer Tasche nach dem Handy zu suchen. Möglichst unauffällig hatte sie erfolgreich mit einer Hand herum getastet. Ihre Finger umschlossen das Gerät, der Blick war auf den Elfen gerichtet.

Jetzt unauffällig eine Nachricht schreiben? Keine Chance. Es wurde etwas heller um sie herum und Lina war so sehr mit ihrer Tasche beschäftigt, dass sie erst bemerkte, wo sie waren, als Lanfel sie ansprach.

„Siehe das Schloss der Herrin Glacéde.“

Lina sah auf und staunte. Zwischen den Tannen erhob sich ein prächtiger, silberfarbener Bau. Türmchen und Zinnen wie ein Märchenschloss. Der Mond versteckte sich hinter zu vielen Wölkchen, sonst hätte gewiss ein mystischer Glanz auf den Dächern gelegen. Eine kleine Mauer, blaue Dachschindeln und geheimnisvolle Schatten hinter den vielen Fenstern.

„Wow“, verkündete sie wahrheitsgemäß.

„Folge mir. Die Herrin will dich kennen lernen.“

Woher diese Herrin wohl überhaupt wusste, dass sie da war?

Kalter Dunst stieg aus dem Boden auf, aber Lina gewöhnte sich allmählich an die niedrigen Temperaturen. Sie zog einfach ihre Strickjacke enger um sich und gut.

Was ihr mehr Sorgen machte war, dass sie den anderen Bescheid geben musste.

Ein zweiter Elf öffnete ihnen das große, mit Bildhauereien eingerahmte Eingangstor und die beiden Spitzohren verständigen sich mit einem Nicken. Ehrfürchtig sah Lina zu dem noch einmal größeren, in eine schwarze Rüstung gekleideten Elf auf. So sahen die Elfen in den Filmen, die sie kannte nicht aus. Diese hier hielten nicht viel von schmückendem Schnickschnack und die hohen Wangenknochen ließen sie eher wie stereotypische Außerirdische aussehen.

Lanfel führte sie über einen kleinen Innenhof, in das eine Gebäude hinein. Durch lange Gänge, an farblosen Fenstern und verschlossenen Türen vorbei. Zweimal links, einmal rechts, dann die Treppe hinauf. Normalerweise hätte sie für solch eine Strecke wohl den Bus genommen. Und sich den Weg zu merken schien auch reichlich aussichtslos. Dafür sah hier alles viel zu gleich aus. Kalte, schmucklose Wände. Fenster, die kaum mehr waren als glatte Löcher in der Wand und dunkle Türen, die allesamt verschlossen waren.

„Ähm, könnte ich mich vor meiner… Audienz vielleicht noch etwas frisch machen?“

Der Elf drehte sich halb zu ihr um, sah sie an und ignorierte ihre Frage dann geflissentlich. Ach, verdammt, dann eben weniger unauffällig.

Kurzerhand zückte sie ihr Telefon, ignorierte die Updatenachrichten und suchte Herrn Maier aus ihrer Kontaktliste heraus.

„Ich bin im Elfenschloss!!!“ Das war ja wohl aussagekräftig genug.

Lina ärgerte sich nun über sich selbst, denn Lanfel interessierte sich nicht für ihre Kommunikation mit der Außenwelt.

Vor einem großen, verzierten Tor machten sie Halt. Gerade wollte Lina sich freuen, dass es endlich etwas Hervorstechendes gab, an dem sie sich orientieren konnte, als sie das mit Schnörkeln und Ranken übersäte Tor als ihr Ziel erkannte. Jetzt würde sie die Elfenherrin treffen und tat wohl besser daran, ihr Vertrauen zu gewinnen.

Sie setzte ein Lächeln auf, wie wenn Erwachsene ihr Vorträge über ihre mögliche Zukunft hielten und Lanfel öffnete die Tür. Seiner einladenden Geste folgend trat Lina ein.

„Die junge Magierin Alina, aus der Welt der Menschen.“

Lanfels Stimme hallte in dem großen Saal wieder. Das hier sah wirklich wie ein Elfenschloss aus. Eine unsagbar hohe Decke und Säulen, die sie entweder stützen oder nur zur Dekoration gut waren. Bläuliches Dämmerlicht, das von merkwürdigen Kristallen in Metallschalen herrührte. Weit oben hohe Fenster, durch die ein Rest des Tageslichtes drang.

Lina war bemüht, sich unauffällig umzusehen. Einige kleine Türen am gegenüber liegenden Ende der Halle.

Wo war ihr Drache?

Aus dem Zwielicht der Säulen trat eine Gestalt. Mit spitzen Ohren und kleinen Brüsten, eine Elfe. Das lange Gewand glitt hinter ihr über den Boden und glitzerte, wie mit Raureif besetzt. Ein Kleid, für das man sich auf dem roten Teppich nicht hätte schämen müssen. Langes, braunes Haar fiel glatt über die Schultern und auf der Stirn glänzte ein filigranes Diadem.

Diese wunderschöne Elfenfrau trat näher und blieb in sicherem Abstand vor ihnen stehen.

„Sei gegrüßt, junge Magierin. Ich bin Glacéde, die Elfenherrin.“

Ihre Stimme jagte Lina ebenso einen Schauer über den Rücken, wie ihre kühle Präsenz.

Da es ihr angemessen erschien, machte Lina einen leichten Knicks.

„Was führt dich in unsere Welt, Alina?“

Sie zögerte. „Naja, ich… dachte mir, dass es hier bestimmt spannender ist, als bei mir zuhause. Hier gibt es… einen schönen Wald und Elfen und Fabelwesen…“

Glacéde schien zufrieden mit ihrer Antwort.

„Sei unser Gast, solange du es wünscht.“

Oder für immer, wenn sie beschlossen, Lina nicht mehr weg zu lassen.

„Klasse! Ich meine, es wäre mir ein Vergnügen-„

Lina zuckte zusammen, als ein kurzes Klingeln verkündete, dass sie eine Nachricht bekommen hatte.

„Oh, tut mir Leid, das ist nur-„

Noch ein Klingeln, noch eines. Verdammt, konnte sich Herr Maier denn nicht denken, dass es ungünstig war, im Elfenschloss so viele Nachrichten zu bekommen?

Ihr Klingelton stimmte an.

Hektisch kramte Lina ihr Telefon hervor.

„Tschuldigung, ich mach das sofort aus.“

Eilig würgte sie den Anruf ab. Anni. Die Nachrichten waren auch von ihr. „Jason sagt, ihr seid zusammen?!! Habt ihr euch geküsst? Mehr? Warum weiß ich davon nichts?! Ich will Details!“

Ein paar Mal drücken und der Ton war ausgeschaltet. Lina atmete tief durch und versuchte, Anni und Jason für diesen Moment beiseite zu lassen. Schließlich war sie dabei, einen Drachen zu befreien.

Glacéde hatte angesichts der Handy-Aktion keine Mine verzogen. Ungerührt sah sie Lina an.

Diese Elfen waren schon unheimlich. Schön und gefährlich zugleich. Ganz so wie giftige Fische. Nein, eher wie Eiszapfen, die an der Decke hingen und einen jederzeit erdolchen konnten.

„Beherrscht du das Feuer, junge Magierin?“

Lina sah zur Elfenherrin auf. „Ja, doch, schon. Also ein bisschen zumindest…“

Der kalte Blick blieb auf sie gerichtet.

„Ich meine… Ja, ich kann Feuer zaubern.“

„Es erfreut mich, das zu hören.“

Innerlich atmete Lina auf. Gut, sie hatte also das Richtige gesagt.

Glacéde schritt an ihr vorbei und bedeutete ihr mit einer Geste, dass sie ihr folgen sollte. Sie ließen Lanfel an der Tür hinter sich und wieder ging es durch die eintönigen Gänge.

„Sag, junge Magierin, hast du jemals einen Drachen gesehen?“

Gerade wollte ein „Nein“ heraus, als sie an Amethyst dachte. Der Drache würde sie wieder erkennen und was sagte sie dann? Zu erzählen, dass sie nur hier war, um ihren entführten Drachen zurück zu holen wäre natürlich eine noch dümmere Idee.

„Ja, doch. Ich hatte mal einen Drachen. Einen kleinen, lilafarbenen. Aber er ist mir weggelaufen und ich habe ihn bisher nicht wiederfinden können.“

Jetzt noch ein trauriges Gesicht aufgesetzt. Das würde im Bestfall noch eine tolle Wiedersehensszene geben.

Es ging viele Treppen hinauf und Lina schmerzten reichlich schnell die Beine. Für so etwas gab es in ihrer Welt Fahrstühle und Rolltreppen.

„Hast du deinen Drachen selbst ausgebrütet?“

„Ja, habe ich.“ Aus Versehen, und so.

„Glaubst du, du könntest es wieder tun?“

„Klar, warum nicht.“

Glacéde blieb auf den Stufen stehen und wandte sich zu ihr um. „Was würdest du davon halten, noch mehr Drachen das Leben zu schenken? Vielen mehr.“

„Das klingt wunderbar.“ Und das tat es wirklich. Den kleinen Amethyst zu sehen, in der Hand zu halten wie er sich räkelte und an sie kuschelte, das war schon unsagbar niedlich gewesen.

„Bleibe bei uns, junge Magierin und werde unsere Drachenmeisterin.“

„Was denn, ich? Oh, liebend gerne werde ich das tun.“

Kaum merklich vibrierte ihr Handy in der Tasche. Hoffentlich Herr Maier, der ihr schrieb, dass alles nach Plan verlief und sie bereit waren.

Die Elfenherrin ließ sich ihren Ärger nicht anmerken, als Lina auf den letzten Metern etwas zurück fiel.

Sie hatte vor einer Tür angehalten, die wohl endlich das Ziel ihres Spaziergangs war. Der Rahmen war geschwärzt, wie von Flammen.

„Dies ist unser Drachengehege. Du wirst hier auch Dracheneier finden, die nur darauf warten, ausgebrütet zu werden. Am besten versuchst du es direkt einmal.“

Glacéde öffnete die Tür und ließ Lina den Vortritt. Neugierig spähte sie in den Raum.

Eine unglaublich hohe Decke, überall große Glasscheiben, eine Art riesige Voliere. Eine Drachenvoliere. Die Größe ließ sich im schwindenden Licht nur erahnen.

„Und dies sind unsere Drachen. Ich schlage vor, du machst dich mit ihnen vertraut, junge Magierin.“

Lina folgte ihrem Fingerzeig. Ein dunkelgrüner Drache, ebenso groß wie sie selbst, saß da, mit zusammen gefalteten Flügeln und schaute sie ruhig an. Den langen, schlanken Körper krönte ein schmaler, mit Hörnern besetzter Kopf und die dunklen Augen glänzten, wie von unendlicher Geduld.

Vor ihm, zwischen Strohballen und grauen Decken tobte ein lilafarbener Quälgeist umher.

Amethyst.

 

22.

 

Die einschläfernde Stille des Elfenschlosses war zerstört.

Jonas Lunge stach bei jedem Atemzug und er spürte seinen Herzschlag so heftig, dass er meinte, seine Brust müsste zerspringen. In seinen Armen regten sich die kleinen Drachen. Kletterten auf ihm herum, wanden sich und brachten ihn aus dem Gleichgewicht. Schon nach wenigen Schritten war ihm die grauen Decke von den Schultern geglitten, hatte sich um seine Füße geschlungen und ihn zum Straucheln gebracht. Das Gezeter der Drachen hatte er ignoriert. Sie konnten sich eigentlich nicht beschweren, schließlich war er gerade dabei, sie zu retten.

Seine langen Schritte schoben eines der Dracheneier unaufhaltsam aus seiner Hosentasche. Es glitt schließlich heraus und landete dumpf auf dem Boden des steinernen Korridors. Jona hielt schlitternd an, erkämpfte sich einige Atemzüge. Er sah das Ei auf dem Boden und eine handvoll Elfen um die Biegung kommen. Die anmutigen Gesichter wutverzerrt und die Klingen erhoben.

Als Drachenmeister zögerte er nicht lange. Mit einigen Schritten rannte er den Elfen entgegen, beugte sich hinunter und versuchte den grünen und den bernsteinfarbenen Drachen mit nur einem Arm zu halten, streckte die freie, rechte Hand nach dem Ei aus.

„Wie kannst du es wagen!“

Jona sah den Speer nicht kommen. Die Klinge riss unsagbaren Schmerz in seinen ausgestreckten Arm und warf ihn von den Füßen. Er sah Blut auf den Steinboden tropfen. Die kleinen Drachen waren von seiner Schulter und aus seinen Armen gefallen.

Während der Graue ohne Zögern wieder auf seinen Rücken kletterte, zierte sich der bernsteinfarbene, noch einmal von ihm auf genommen zu werden.

„Nun komm schon.“

„Magier, Ihr seid ein Verräter!“

Unsanft packte er den quiekenden, sich sträubenden Drachen. Die verletzte Hand streckte er nach dem Grünen aus. Ein Schmerzensblitz durchzuckte ihn, der ihn fast benommen machte. Wie in Zeitlupe sah er den kleinen Drachen davon tapsen. Seelenruhig, als müsste er nicht gerettet werden. Schnurstracks in Richtung der anrückenden Elfen.

„Verdammt.“

Ein weiterer Speer sauste auf ihn zu, verfehlte sein Gesicht nur um Haaresbreite.

„Niemand wagt es, die Elfenherrin zu hintergehen.“

Er taumelte beim Aufstehen. Machte einige unsichere Schritte und dann rannte er wieder. Nur raus hier. So viele retten, wie irgend möglich. Der Stich im Herzen kam nicht vom Laufen sondern von der Gewissheit, dass er den Grünen verloren hatte.

Die Elfen waren nicht schnell. Sie waren es nicht gewohnt, zu jagen. Was sie fangen wollte, das froren sie ein. Jona ließ sich nicht einfrieren. Das Feuer brodelte in ihm, ließ die Eiszauber wie kühle Brisen verwehen und nährte sich von seiner Wurt. Er war wütend auf die Elfen, weil sie die Drachen für den Krieg missbrauchen wollten. Wütend auf sich selbst, weil er auf die Elfenherrin herein gefallen war. Auf sich selbst, weil er nicht früher beschlossen hatte zu flüchten. Auf sich selbst, weil er nicht auf Ailéa gehört hatte. Auf sich selbst, weil er den Grünen verloren hatte.

Jona fluchte innerlich. Auf sich selbst, auf die Elfen, auf die Welt im Allgemeinen. Er hatte den Punkt überschritten, der ihn den Schmerz in seinen Beinen spüren ließ. Rannte einfach weiter. Korridore, Treppen, wieder Korridore.

Flüchtig konnte er einen Blick auf den Schlosshof erhaschen. Das Tor zur unterirdischen Halle war weit geöffnet. Sie holten den schwarzen Drachen.

Der Ausgang.

Mit einem Aufschrei ließ Jona eine Feuerwolke los. Sie setzte die vor ihm liegende Tür in Brand und ließ die Elfen verängstigt zurück schrecken.

Ohne Rücksicht auf Verluste sprang der junge Magier durch die verkohlten Holzsplitter. Tageslicht blendete ihn.

Drachenkrallen bohrten sich in seine Haut und direkt vor ihm stand Glacéde. Die Elfenherrin.

Jona schnappte angestrengt nach Luft. Ob wegen seiner Erschöpfung oder der Kälte, die sie um ihn legte, wusste er nicht.

„Du hintergehst mich, Jonathan?“

Ihr Gesicht war ausdruckslos. Wie immer. Möglichst unauffällig suchte der Junge nach einem Weg, um an ihr vorbei zu kommen. Die Elfen hinter ihm holten auf.

„Betrüge die Elfenherrin und du wirst es bitter bereuen, junger Magier.“

„Ich habe keine Angst vor Euch.“

Er tastete nach den Drachen. Sie waren beide noch da und hielten sich an ihm fest. Ihre Angst war zu spüren. Das Zittern ihrer kleinen, schuppigen Leiber.

„Das solltest du. Fürchte mich.“

Nebel stieg aus dem Boden, als Glacéde ihre Arme ausbreitete. Raureif schlug sich an den steinernen Mauern und den eisernen Beschlägen des Schlosstors nieder.

„Fürchte um dein Leben, Jonathan.“

Sein Atem schlug Wolken, die als feiner Schnee zu Boden rieselten. Die Luft stach mit tausend Nadeln in seiner Lunge. Mehr und mehr zog sein Hals sich zu.

„Fürchte um das Leben derer, die du liebst!“

Ailéa. Sie sollte sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht haben. Im Wald verstecken. Warten, bis die Luft rein war und ihn dann beim Weltentor treffen.

„Willst du für diese Drachen das Leben derer aufs Spiel setzten, die du liebst? Lass sie hier und ich werde eure Leben verschonen.“

Glacéde bluffte. Totsicher. Ailéa war vorsichtig genug, sich nicht gefangen nehmen zu lassen. Sie war in Sicherheit, ganz bestimmt.

„Ich habe keine Angst vor Euch.“

Sein Feuer ließ das Eis um ihn herum verdampfen. Jona hüllte sich ein in seine Flamme. Er lehnte sich gegen die Kälte, die Glacéde gegen ihn schickte. Ließ Feuerkaskaden in Richtung der Elfenherrin los und spürte, wie es ihm die Kraft aus den Gliedern zog. Schweiß perlte auf seiner Stirn und für Sekundenbruchteile wurde ihm schwarz vor Augen.

Er musste hier weg.

Entschlossen schickte er einen letzten Feuerball in Richtung Ausgang. Jonas schützende Flamme erlosch.

Die Taubheit kroch in seine Beine, doch irgendwie schaffte er die letzten Schritte und riss das Tor auf. Die ersten Meter taumelte er, dann rannte er wieder. Beide Drachen fest an seine Brust gepresst.

Glacédes Stimme wurde unangenehm schrill, als sie ihm hinterher schrie.

„Das wirst du bereuen, junger Magier. Dafür wirst du bezahlen.“

Ich werde dir nehmen, was du liebst, hörte er noch. Eis fror ihm den Rücken ein, machte seinen Nacken taub und bewegungslos und doch rannte er immer weiter.

Tannenzweige schlugen ihm ins Gesicht, Schmerz quälte ihn und nur sein Wille trieb ihn vorwärts. Er musste die Drachen retten.

Der Waldrand.

Jonas Atem ging rasselnd. Er bekam kaum noch Luft, sah nur noch die freie, sonnenbeschienene Fläche vor sich. Ihm wurde schummrig vor Augen. Er taumelte.

Auf dem saftgrünen Hügel stand jemand. Hatte er Jona gesehen? War es einer der Menschen aus dem Tal? Er würde helfen können, ganz sicher.

Äste brachen, als der Junge aus dem Dickicht stolperte. Die nächsten Schritte hielt er sich mehr vom Fallen ab, als dass er lief.

Unsanft landete sein Gesicht im Gras. Die Drachen kreischten und befreiten sich aus seinem Griff. Sie liefen herum und schimpften mit ihm.

Er hatte sie gerettet. Er hatte es geschafft. Sie waren frei.

Verzweifelt versuchte Jona, zu Atem zu kommen und gegen das Schwarz vor seinen Augen anzukämpfen, das ihn bewusstlos machen wollte.

Warmer Wind zerzauste ihm das Haar und er schluckte trocken. Das war es, was ihm die Wochen im Elfenschloss gefehlt hatte. Wärme, Sonne und Lebendigkeit. Nichts fühlte sich schöner an, als das warme Gras zwischen den Fingern. Es roch so wunderbar erdig, kitzelte sein Gesicht. Nein, Menschen gehörten einfach nicht in das Reich der Elfen.

Erst nach einer gefühlten Ewigkeit strömte die Luft wieder im Takt seiner Atemzüge in die Lunge.

Sein Rücken war eingefroren, sein rechter Arm blutete und die Beine schmerzten, wie nach einem Marathon.

Der graue Drache tapste über Jonas Hinterteil und rang ihm somit ein Lächeln ab.

Er hatte es geschafft.

Mühsam kämpfte er seinen Oberkörper in die Höhe, gestützt von dem unverletzten Arm.

Der Jemand auf dem Hügel war noch da. Schaute in Jonas Richtung und bewegte sich nicht.

„He!“

Er hob die blutverschmierte Hand, um zu winken.

„Hallo! Ich brauche Hilfe.“

Jona hielt den Arm noch etwas in die Höhe, bis die Gestalt sich auf ihn zu bewegte. Na endlich.

Ein Junge. Keine spitzen Ohren.

Erleichtert ließ er sich wieder ins Gras zurück sinken.

Er hatte es geschafft.

Der kleine Bernsteinfarbene stupste ihm gegen die Hand, rieb die raue Haut an der seinen. Jona lächelte.

Auch wenn er laut Glacéde für dieses Vergehen bezahlen musste. Er und das, was er liebte.

Wie von selbst begannen seine Finger, den zierlichen Drachenkopf zu streicheln.

Sollte sie nur kommen. Er hatte keine Angst vor ihr. Er beherrschte das Feuer und würde ihre Eisigkeit einfach verdampfen lassen.

Ungelenk drehte er sich auf den Rücken.

Die Drachen mussten dorthin gebracht werden, wo sie vor den Elfen in Sicherheit waren. Zu den Menschen. Und höchstwahrscheinlich würden die Elfen ihn verfolgen. Spätestens bei Nachtanbruch, wenn die Sonne nicht mehr brannte und sie sich aus ihrem Schlösschen wagten.

Jona schloss die Augen und hörte die Schritte näher kommen.

Und Ailéa?

23.

 

Schnaubend kamen die Schritte bei Jona an.

Müde erwiderte er den Blick des fremden Junge. Das Gesicht knallrot von dem kurzen Sprint richtete er sich noch einmal auf.

„Ey, Ole! Komm mal her, hier ist jemand.“

Dann war also noch jemand da, gut. Mehr Menschen bedeutete mehr Hilfe. Der Fremde ging vor Jonas Gesicht in die Knie. Ein rundlicher Junge in etwas altertümlicher Kleidung.

„Meine Güte, wie schaust du denn aus?“

Einen nach oben gezwungenen Mundwinkel, mehr bekam er dafür nicht. Er erwartete auch offenbar keine Antwort, denn seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatten nun die Drachen. Mit offenem Mund wurde zugesehen, wie die Kleinen sich an Hummeln anschlichen.

„Sind die echt?“

Ungehemmt rammte er dem Grauen den Zeigefinger in die Seite.

„Was denkst du denn“, knurrte Jona und wuchtete sich in Sitzposition. Schritte verkündeten, dass sich der andere ebenfalls näherte.

Die beiden mussten ihn und die Drachen hier weg bringen. In Sicherheit, weg von diesem Elfenwald.

„Ole, schau mal. Drachen.“

Dieser Ole schien etwas vernünftiger zu sein. Ein schlaksiger, junger Mann mit Bart und wachem Blick, ebenfalls in Hemd und Hose aus Leinen. Er warf dem anderen einen verärgerten Blick zu und musterte Jona.

„Ich bin Ole.“

Jona bekam eine starke Hand zum Schütteln, allerdings mit links.

„Der dort ist Finn.“

„Jona.“

„Wo kommst du her? Aus der Menschenwelt? Und was hast du gemacht, du siehst furchtbar aus.“

Ole musterte fachmännisch den blutenden Arm. Kurzerhand zog er eine Wasserflasche hervor und goss den Inhalt über Jonas Arm, um Dreck und Tannennadeln aus der Wunde zu spülen.

„Ich war bei den Elfen.“

Kurze Stille setzte ein. Der ehemalige Drachenmeister hatte nichts anderes erwartet.

„Ich habe die beiden Drachen hier befreit. Sie werden mir nachkommen. Ihr müsst mich und die Drachen von diesem Wald weg bringen.“

„Wir bringen dich ins Dorf.“

Ole schraubte seine Flasche wieder zu und steckte sie zurück in seine Feldtasche. Der junge Mann hatte einen gepflegten, dunkelbraunen Bart und lediglich Ansätze von Geheimratsecken. Finn war dreckig blond, reichlich gewichtig und starrte noch immer die Drachen an, wie sie im Gras herum spazierten.

„Kannst du aufstehen?“

Als er trotz Oles helfendem Arm wieder zu Boden sackte war die Antwort ein klares „Nein“. Nicht eben begeistert, aber geduldig nahm der junge Mann ihn Huckepack. Die Drachen nahm er auch auf seinen Rücken, obwohl er sie noch reichlich unschlüssig musterte.

Glacéde hatte ja gesagt, dass die Elfen alle Dracheneier in Beschlag genommen hatten. Also gab es vermutlich außerhalb des Elfenschlosses keinen einzigen Drachen in diesem Teil der Welt.

Ole stapfte los. „Auf dem Weg kannst du uns wenigstens schon einmal erzählen, was du bei den Elfen zu suchen hattest. Bist zu vielleicht lebensmüde oder so?“

Jona lächelte müde. Im Nachhinein konnte man das wohl so sagen.

„Es war ein dummer Zufall. Sie waren die ersten, denen ich hier begegnet bin. Diese Elfen können sich unglaublich freundlich geben, also bin ich bei ihnen geblieben.“

„Elfen!“, Finns Mund stand schon wieder offen. Er schleppte Oles Tasche und konnte den Blick noch immer nicht von den Drachen wenden.

„Wie sind die Elfen so?“

Jona seufzte. „Bleich und schlank. Schön, irgendwie zumindest. Sie haben dieses Schloss im Wald, können Eis zaubern und sie planen einen Krieg gegen die Menschen.“

Finns Blick war anerkennend und Ole grollte verstimmt.

„Zoff mit den Elfen, das hat uns gerade noch gefehlt. Wir sind momentan genug damit beschäftigt, unsere internen Machtverhältnisse zu klären.

Ich muss dich mal eben absetzen.“

Jona wurde ins Gras gesetzt und Ole streckte sich.

Sie waren auf einem der Hügel. Der Wald verschwand hinter grünem Gras und schickte nur seinen düsteren Nebel gen Himmel. Und irgendwo weiter hinten konnte man Berge erahnen. Vor ihnen, den Hügel hinab und über noch eine kleine Anhöhe, konnte Jona Dächer erkennen. Strohgedeckt oder mit Schieferplatten, wie auf einem Bauernhof. Aus einigen Schornsteinen quoll Rauch. Es mochten etwas weniger als ein duzend Häuser sein dort unten.

„Das ist euer Dorf?“

Ole nickte. „Wir haben es Midheim genannt. Oder besser, die schon vor uns dort gewohnt haben.“

Der graue Drache war von Jonas Schulter geklettert und stromerte im hohen Gras umher. Finn beobachtete ihn dabei.

„Es hat seit Jahren keine Auseinandersetzungen mit den Elfen gegeben. Eigentlich sind auch schon ziemlich lange keine mehr gesehen worden.“

„Ich glaube, dass sie heute Nacht kommen werden.“ Versuchsweise bewegte Jona die Finger der rechten Hand. Es schmerzte, aber ging noch.

Ole machte eine wegwerfende Handbewegung. „Damit werden wir fertig. Wie das letzte Mal und das Mal davor.“

Jona verzog eine Mine. „Hatten die Elfen da auch schon einen großen, schwarzen Drachen?“

Der junge Mann machte ein Gesicht, als hätte er sich verhört.

„Drachen.“ Murmelte er, strich sich über den kurzen Bart. „Davor sollten wir die anderen warnen.“

„Oder ihr bringt mich zum Weltentor.“, schlug Jona vor. „Wenn sie mich verfolgen, dann bringt ihr euch in Gefahr, wenn ich bei euch bin.“

Ole schnaubte verächtlich. „Sie suchen nur einen Grund, wieder gegen uns vorzugehen. Es wird ihnen egal sein, wo du steckst. Hauptsache das Dorf steht danach nicht mehr.“

Jona seufzte, sah zu den idyllisch wirkenden Dächern hinüber.

„Also gut, wir sollten weiter. Dein Arm muss verarztet werden, und wir alle müssen uns auf einen Angriff der Elfen vorbereiten.“

Er streckte sich noch einmal und nahm Jona dann wieder Huckepack. Mitsamt der Drachen. Gerade hatte er die ersten paar Schritte getan, als Finns quietschende Stimme erklang.

„Ich warte hier.“

Ole drehte sich, nicht allzu geduldig, herum.

„Worauf den bitteschön?“

„Die Elfen.“ Der Blondschopf begann herum zu drucksen. „Ich schlage Alarm, wenn ich sie sehe.“

Der junge Mann seufzte. „Das wird doch eh erst nach Nachteinbruch sein.“

„So lange warte ich.“

Jona erspähte das eifrige Gesicht über Oles Schulter hinweg.

„Wenn du meinst.“

Mit einem Seufzen ging es wieder Richtung Dorf. Den Hügel hinunter.

„Dem wird schneller langweilig werden, als wir gucken können“, raunte Ole. Jona war es gleich. Ihm kam dieser Finn ohnehin etwas merkwürdig vor, da konnte er auch auf seine Gesellschaft verzichten.

„Wartet!“, scholl es von hinter ihnen.

„Sag ich doch“, grinste Ole und ließ den Jungen auf seinem Rücken hoch rutschen, um ihn besser halten zu können.

Finn kam hinter ihnen her, den Hügel hinunter, stolperte dabei beinahe, fing sich aber jedes Mal wieder.

„Ich könnte auch auf die Drachen aufpassen.“

„Warum solltest du?“ Jonas Blick wurde nun finster.

„Dann muss Ole nicht so schwer tragen.“

„Das macht den Kohl auch nicht fett.“ Ole schien nicht halb so misstrauisch.

„Damit ich nicht ganz alleine warten muss?“, druckste er nun herum.

Der junge Mann seufzte und setzte sich wieder in Bewegung.

„Du musst nicht warten, Finn. Niemand zwingt dich.“

„Nur einen.“, hörte Jona ihn noch, dann stieg er wieder den Hügel hinauf.

„Komischer Kerl.“

Ole lachte auf. „Das kannst du laut sagen. Aber leider können wir uns nicht aussuchen, wer magiebegabt ist und wer nicht.“

Der graue Drache zog ihn an den Haaren, als er Jonas Kopf erklomm.

„Sind alle, die Magie beherrschen hier?“

Lachen erklang. „Nein. Himmel, nein. Nur welche aus der Umgebung und von denen nur jene, die bleiben wollten. Es ist nicht jedermanns Sache, ohne Strom und fließend Wasser im Grünen zu leben.“

Jona nickte, hielt den Grauen davon ab, auf den Kopf seines Trägers hinüber zu springen.

„Und bei euch gibt es keine Drachen?“

„Bisher nur in Geschichten.“ Ole war über die Anhöhe und vor ihnen lag das Dorf. „Und jetzt kommst du.“

Der Junge musste lachen. Er wurde vorübergehend auf einem Baumstumpf abgesetzt und Ole eilte davon, um Hilfe, einen Arzt und die nötigen Verantwortlichen zu holen. Jona sah ihm nach, bis er hinter einem Zaun aus Weidenästen verschwand.

Der ehemalige Drachenmeister saß da, betrachtete das altertümliche Dörfchen und streichelte die beiden kleinen Drachen. Die Häuser oder Hütten hatten Wände aus Holz und Lehm, kleine Mauern aus Steinen schützten Kräutergärten vor unaufmerksamen Spaziergängern. Einige Hühner liefen über die sandigen Pfade und eine Katze, die so schnell wieder verschwand, wie sie aufgetaucht war. Aus einigen Rauchluken qualmte es und vor einem Haus weiter hinten waren Tierhäute aufgespannt. Ein paar Meter weiter hingen Wolldecken zum Lüften auf einer Leine. Jona sog den Duft der Gräser um ihn herum und den von frisch gebackenem Brot ein. Hoffentlich kam er dazu, eine Runde zu schlafen. So geplättet wie jetzt gerade hatte er sich lange nicht gefühlt. Vogelgezwitscher und das gleichmäßige brummen der kleinen Drachen hätte ihn auch beinahe im Sitzen einnicken lassen.

Als erstes traf ein hagerer Mann bei ihm ein. Mit grauem Haaransatz und drahtiger Brille auf der Nase. Wortlos griff er nach Jonas Arm, wischte die Wunden mit einem Lappen ab und begann ihn zu verbinden. Kurz darauf kam auch Ole wieder zurück. Zwei Männer im Schlepptau, die reichlich mürrisch wirkten.

„Das sind Sven und Ivan. Jona“, stellte der junge Mann vor. „Und sie sind sich noch nicht ganz einig, wer von ihnen hier im Dorf das Sagen hat.“

Sie nickten ihm beide zu. So gleichzeitig, dass Jona breit grinsen musste.

„Erzähl ihnen, was du mir erzählt hast.“

Er räusperte sich, hielt den bernsteinfarbenen Drachen davon ab, von dem Baumstumpf hinunter zu springen.

„Ich war bei den Elfen. Ich bin von dort geflohen und habe diese beiden Drachen mitnehmen können. Sie werden angreifen, vermutlich schon heute Nacht.“

Jona meinte, ein Schulterzucken gesehen zu haben. Er räusperte sich noch einmal.

„Und sie haben einen großen, schwarzen Drachen.“

 

24.

 

Jona erzählte ihnen alles. Ließ die Worte ungehemmt von seiner Zunge fließen und spürte die Scham in seinem Inneren.

Wie er zuerst in den Wald gegangen und dort auf die Elfen getroffen war. Wie er sich von ihnen blenden und zum Drachenmeister hatte machen lassen. Dass er drei Drachen ausgebrütet, aber nur zwei gerettet hatte. Und dass Glacéde ihm gedroht hatte. Von Ailéa erzählte er. Davon, dass er viel zu spät erst auf sie gehört hatte.

Während er sprach hatten Sven und Ivan vorbeilaufenden Dorfbewohnern bereits Anweisungen zugebrüllt. Meistens ging es dabei um Wasser und Waffen.

„Erzähle uns mehr von dem schwarzen Drachen, Jonathan.“

Der Junge schluckte bei dem alleinigen Gedanken an das monströse Wesen.

„Sie haben ihn in einer unterirdischen Halle eingesperrt. Bestimmt acht bis zehn Meter hohe Decken. Er füllt sie ganz aus. Glacéde hat ihm Ketten angelegt. Alt sah er aus. Unheimlich mächtig, aber auch wütend. Es würde mich wundern, wenn er aus freien Stücken für die Elfen kämpft.“

„Natürlich tut er das nicht.“ Sven lachte auf. „Diese Wesen haben eine bodenlose Trickkiste, um sich solche Kreaturen zu Willen zu machen.“

Jona schluckte. „Der schwarze Drache ist unsagbar stark. Ich habe gesehen, dass er den Steinboden mit seinen Klauen zerstört und Säulen mit seinem Schweif zum Einsturz gebracht hat.“

Ivan und Sven nickten sich wortlos zu.

Der ergraute Mann mit der drahtigen Brille gab Jona einen Klaps auf den verletzten Arm, sodass dieser heftig zusammen zuckte. „Du solltest dich jetzt am besten hinlegen und ausschlafen. Dein Körper hat heute viel geleistet und braucht Erholung.“

„Ich werde euch beim Kampf gegen die Elfen unterstützen. Ich kenne sie am besten und weiß, wie man sie angreift.“

Der Arzt oder Heiler oder eben Brillenträger seufzte. „Leg dich erst einmal hin. Bis diese Nachtwesen auftauchen ist es noch eine Weile hin. Dann kannst du immer noch entscheiden, ob du fähig bist zu kämpfen.“

Erst lächelte Jona zufrieden, dann fiel ihm auf, dass der Brillenträger zu Sven und Ivan gewandt den Kopf schüttelte.

Was sollte das heißen? Dass sie ihm nicht zutrauten, sich bis heute Abend von den paar Strapazen zu erholen? Lächerlich.

Er blinzelte müde. Sein Kopf fühlte sich reichlich schwer an. Ein kleines Nickerchen würde wohl nicht schaden.

 

Es war Nacht.

Keine Wolken, keine Sterne.

Die Welt war in kaltes Schwarz getaucht.

Ailéa stand da, in ihrem weißen Gewand und strahlte inmitten der Dunkelheit, als wollte sie die Sterne ersetzten. Jona war neben ihr, betrachtete ihr trauriges Gesicht.

Er mochte sie. Vielleicht war es sogar Liebe. Mir ihrer blassen Haut und den feinen Zügen wirkte sie zerbrechlich wie die Porzellanpuppen seiner Großmutter.

Jona ergriff ihre kühle Hand und schenkte ihr einen fragenden Blick. Die Halbelfe seufzte und deutete mit einem Kopfnicken geradeaus.

Vor ihnen stand die große Eiche, die sich im Wind wiegende Krone gen Himmel gestreckt. An ihre Rinde geheftet das Weltentor, in der nächtlichen Dunkelheit kaum zu erahnen. Sogar Jonas Rucksack lehnte noch daneben. Wie lange war es her, dass er mit Bronx hier her gekommen war? Er wusste es nicht mehr.

Hoffnungsvoll suchte er den Himmel nach seinem Drachen ab.

Vergeblich.

Ihn überkam das Verlangen, zurück zu kehren. In eine Welt, in der ihm nur Menschen gefährlich werden konnten. Keine Elfen und keine Zauberei. Ailéa an der Hand schritt er auf das Tor zu. Die langen Gräser schmiegten sich an seine Beine, als wollten sie ihn zurück halten. Jona sah Bob McGullochs Hinterhof, die nächtliche Menschenwelt und all den Schrott, der sich dort stapelte.

Die Halbelfe war stehen geblieben und hatte seine Hand losgelassen. Verwirrte wandte er sich um.

„Komm mit in meine Welt. Es wird dir dort gefallen.“

Wind kam auf, ließ Ailéas weißblondes Haar fliegen und die Blätter der mächtigen Baumkrone rauschten so heftig, dass er ihre leisen Worte beinahe nicht gehört hätte.

„Ich kann nicht.“

„Was redest du da. Natürlich kannst du. Ich stelle dich meinen Eltern vor. Du kannst bei uns wohnen.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Elfen können nicht durch das Tor. Und ich bin eine Elfe.“

Jona wollte eben zu Widerworten ansetzten. Ihr sagen, dass sie doch nur eine halbe Elfe war und ihr Menschenblut sie hinüber wechseln ließe.

Ein riesiger Schatten hielt ihn davon ab zu sagen, was er dachte. Und das Geräusch riesiger Drachenschwingen. Der junge Magier sah auf und in die rot glühenden Augen des schwarzen Drachen. Sein riesiger Leib füllte den ganzen Himmel aus und die mächtige Eiche bog sich unter den Windstößen, die das große Tier über den Hügel jagte.

Ein Grollen drang aus der Kehle des Drachen und als die ersten Flämmchen zwischen seinen Zähnen hervor züngelten erkannte Jona Bronx. Nicht der schwarze Drache, sondern sein Bronx stand ihnen gegenüber.

Sein Herzschlag setzte aus, als die Feuersbrunst aus dem Drachenmaul hervor brach. Die Hitze überrollte ihn, warf ihn von den Füßen und schmolz seine Haut. Im letzten Moment sah er panisch um sich und suchte sie.

Ailéa.

Schweißgebadet und einen undefinierbaren Schrei in der Kehle saß Jona aufrecht. In einem Bett.

Sein Herz wummerte wie verrückt, er spürte die Hitze und den Schmerz. Hektische Atemstöße pumpten Luft in seine Lungen. Kein Feuer, keine Halbelfe, kein Drache.

Er saß in einem Bett in einem kargen, altertümlichen Raum und durch ein Fenster fiel nur noch fahles Abendlicht. In einer Ecke standen große Krüge, mit Holz und Wachs verschlossen, aus einer Truhe daneben schaute ein Hemdärmel hervor. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Jona hatte sich schlafen gelegt, in einem der Häuser in Midheim. In dem kleinen Menschendörfchen. Bei solchen Träumen konnte man den Schlaf wohl kaum als erholsam bezeichnen.

Mit der Decke wischte er sich über die schweißnasse Stirn. Blöder Traum.

Es war Zeit, sich wieder zusammen zu reißen. Zeit, den Elfen entgegen zu treten, ohne die Arme voller Drachen zu haben. Er würde ihnen zeigen, was er konnte.

Ein Knurren ertönte und sein flauer Magen zog sich unangenehm zusammen. Jona knirschte mit den Zähnen. Solch einen Hunger hatte er noch nie verspürt. Wenn er sich recht erinnerte, dann hatte er zuletzt mit seinen Eltern zu Abend gegessen, bevor er zum Zauberladen und dann in die andere Welt gegangen war.

Hoffnungsvoll sah er zur Tür. Ob wohl irgendjemand ungefragt kommen und ihm Essen bringen würde?

Bei den Elfen hatte er keinen Hunger verspürt. Nicht gegessen, nicht getrunken, hatte sich nur um die Drachen gekümmert. War das ihre Geheimwaffe, um die Menschen langsam zu zermürben? Oder hatte ihn seine Aufregung einfach dazu gebracht, seine Grundbedürfnisse zu vergessen?

Wieder beschwerte sich sein Magen und Jona krümmte sich zusammen.

Kurzerhand schwang er die Beine aus dem Bett, zog seine daneben stehenden Schuhe über und schwankte zur Tür. Schlecht vor Hunger war ihm. Verdammte Elfen.

Vor der Tür erwartete ihn geschäftiges Treiben. Die Dorfbewohner rannten umher, trugen Wassereimer und Holzspeere. Auf einem Dach goss Sven Wasser über das Stroh.

„Ole!“

Der junge Mann kreuzte eben seinen Weg. Er blieb stehen und drehte sich herum, als Jona ihn entschlossen am Arm packte.

„Du bist wieder wach. Geht es dir besser?“

„Ich- Wo kann ich etwas zu essen bekommen?“

Ole lachte auf und klopfte ihm auf die Schulter.

„Komm mit. Ich glaube, bei Ivans Frau gibt es immer etwas zu essen.“

Das klang wie Musik in Jonas Ohren. Etwas abwesend tappte er hinter dem jungen Mann her.

Um ihn herum wurden Fenster zugenagelt und im Boden steckende Fackeln entzündet.

„Wo sind die Drachen?“

„Wir haben sie in Sicherheit gebracht. Hagen passt auf sie auf. In dem Haus dort drüben.“

Der junge Magier nickte bloß. „Und Bronx?“

„Wer?“

„Schon gut.“ Jona winkte ab. Hoffentlich würde sein Drache den Weg hier her finden. Nicht auszudenken, wenn die Elfen ihn wieder eingefangen hätten.

Ole klopfte an eine Tür und als geöffnet wurde drang köstlicher Essensduft an ihre Nasen.

„Was ist?“

Jonas knurrender Magen war aussagekräftig genug.

Kurzerhand wurde er hinein gebeten. In ein nach Fleisch und Gemüse duftendes Häuschen mit Schnitzwerk in den dicken Balken, dreibeinigen Schemeln um einen Tisch herum und einem Huhn, das am anderen Ende auf einem Stapel Decken döste. Über der mit Steinen gemauerten Feuerstelle hing ein schwarzer Eisenkessel, in dem es appetitlich blubberte.

Die gedrungene, pausbäckige Frau drückte ihm eine Schüssel Eintopf und ein Stück Brot in die Hand. Gierig machte sich der Junge darüber her, ließ seine Tischmanieren etwas außer Acht und bekam auf Nachfrage noch eine zweite Portion.

Soviel Fleisch im Eintopf hatte es bei seiner Mutter nie gegeben. Die achtete immer auf so viel Gemüse, dass man das Leckere heraussuchen musste.

Er tunkte das Brot in die Brühe und kaute genießerisch darauf herum. Das warme Gefühl gesättigt zu sein breitete sich langsam in ihm aus. Vermutlich hätte er sich jetzt direkt wieder schlafen legen können, aber er wurde gebraucht. Die Elfen würden angreifen und seine Feuerzauber würden helfen, sie zurück zu schlagen.

Draußen wurden einzelne Rufe laut.

Ivans Frau öffnete die Tür und die Schüssel in der Hand kam Jona hinterher. Die ersten Sterne glommen auf und das restliche Tageslicht verschwand. Die Rufe ließen den jungen Magier seinen letzten Bissen hinunter schlucken.

„Sie kommen!“

Eilig stellte Jona die Schüssel auf der Bank ab, bedankte sich höflich bei der Köchin und stürmte nach draußen.

„Sie kommen!“

 

25.

„Amethyst!“

Freudestrahlend lief Lina zu ihrem Drachen hinüber und schloss ihn in die Arme. Er war ein ganzes Stück gewachsen und schaute angesichts der überraschenden Umarmung etwas verdattert drein.

„Hab ich dich endlich wieder gefunden, du kleiner Ausreißer.“

Die Elfenherrin schritt näher, wahrte allerdings einen großzügigen Sicherheitsabstand zu den Drachen.

„Junge Magierin.“

Lina blickte auf und sah, Glacédes ausgestreckten Arm folgend, einen Stapel Steine an der Wand.

„Es soll deine Aufgabe sein, all diesen Drachen das Leben zu schenken. Deine Magie soll sie zum Schlüpfen bringen.“

Dracheneier, natürlich. Keine Steine. Insgeheim fragte sie sich, ob sie überhaupt noch einmal dazu in der Lage war, solch ein Ei auszubrüten. Aber selbst wenn, den Teufel würde sie tun und die Macht der Elfen durch einen weiteren Drachen ausbauen.

„Ich will es gerne versuchen.“

Die Elfenherrin nickte, scheinbar zufrieden gestellt. „Der Drachenhüter wird dir angemessen zur Seite stehen.“ Und mit diesen Worten verließ sie die Voliere, das lange Kleid schleifte hinter ihr her durch die Tür.

Lina atmete erleichtert aus, schüttelte sich unwillkürlich um die Gänsehaut, welche die Präsenz der Elfe hinterlassen hatte, zu vertreiben.

Amethyst wand sich aus ihrer Umarmung und tappte zu einer Art Futtertrog hinüber, wo er sich laut schmatzend bediente. Sie hätte ihm Schokolade mitbringen sollen, die mochte er doch so gerne. Dann hätte er sich vielleicht mehr gefreut, sie wieder zu sehen.

Mit einem Seufzen suchte Lina ihr Handy in dem Durcheinander ihrer Tasche. Noch mehr Nachrichten von Anni. Beschwerden, dass sie nicht ans Telefon gegangen war und so weiter. Zögernd schwebten ihre Finger über dem Bildschirm. Sollte sie antworten? Und was denn bitte?

„Kann grad nicht, ich muss einen Drachen retten“? Überhaupt würden ausschweifende Ausreden und Erklärungsversuche sie im Moment viel zu viel Zeit und Energie kosten. Kurz entschlossen packte sie das Gerät wieder ein. Ihren Drachen zu befreien war gerade wichtiger.

Also, wie stellte sie es am besten an? Ihren Drachen einfach unter den Arm klemmen und los rennen erschien ihr zu kopflos. Einerseits würde sie Amethyst nicht besonders gut festhalten können, wenn er beschloss, dass ihm eine andere Richtung besser gefiel. Und andererseits hatte sie nicht den Hauch einer Chance, aus diesem Wirrwarr von Gängen und Treppen wieder hinaus zu finden. Und sich zigmal beim Fluchtversuch zu verlaufen schien ihr nicht das Wahre.

Lina seufzte und trat an die Wand aus Glasscheiben heran. Die Fenster waren mit Kratzern, die wohl von übermütigen Drachen stammten, übersäht und einem sah man deutlich an, dass es ausgetauscht worden war. Warum hatte sie sich nicht früher hierüber Gedanken gemacht? Die meiste Zeit hatte sie sich bloß gesorgt, wie sie heil in dieses Schloss kommen sollte.

Draußen lagen der Schlosshof und ein mit Nebel durchzogener Wald. Die Stirn an der kühlen Scheibe ging sie in Gedanken alles durch, was ihr als Fluchtplan zumindest halbwegs passabel erschien. Durch die Luft, die Korridore oder über die Dächer. Kopflose Flucht oder eine List, vielleicht ein Ablenkungsmanöver?

Die neue Drachenmeisterin bekam nicht mit, wie die Tür erneut ging. Sie merkte erst, dass sie nicht alleine war, als jemand hinter ihr sich räusperte. Bereit, erneut ein paar hohle, unbedeutende Worte mit der Elfenherrin zu wechseln, drehte sie sich um.

Dort stand ein Mann. Marke absolut nicht ihr Typ.

Mittelalterlich angehauchte Klamotten, aber der Bund seiner Boxershorts stach gelbgrün hervor. Eine staßenköterblonde, verfilzte Matte auf dem Kopf, Dreitagebart und ein höfliches Lächeln aufgesetzt. Das Lächeln und das Fehlen der spitzen Ohren ließen darauf schließen, dass sie keine Elf vor sich hatte.

Lina stockte. Was machte ein Nicht-Elf im Elfenschloss?

„Hi, ich bin der Drachenhüter.“

Zögernd ergriff das Mädchen die ausgestreckte Hand, ließ sie aber, sobald es die Höflichkeit zuließ, wieder los. Welchen Musikgeschmack der Typ hatte konnte sie auch allzu deutlich von seinem Metalshirt ablesen. Dazu schwere Kampfstiefel und ein schwarzes Tuch, um die Haare zu bändigen. Na, wenn er meinte.

Wie ein Raubtier schlich er um sie herum, um sie von allen Seiten zu mustern. Lina ließ ihn nicht aus den Augen. Sie ging zu Amethyst hinüber und versuchte, ihn mit Streicheleinheiten zu bestechen. Der kleine Drache knurrte wonnevoll, reckte ihr das Bäuchlein entgegen und ließ sich verwöhnen.

Vielleicht konnte sie einfach so tun, als würde sie den Drachen spazieren führen. Den Elfen auf dem Weg ein paar Komplimente machen und einfach mit aller Selbstverständlichkeit aus dem Schlosstor marschieren. Das klang reichlich wagemutig, aber machbar. Und sie musste dafür keine Actionszenen nachstellen oder mit den eisigen Wesen kämpfen.

Amethyst ließ sich von ihr auf den Arm nehmen. Er kletterte auf ihre Schulter und genoss wohl die Aussicht. Wenn er da oben bleiben würde, dann könnte ihr Plan tatsächlich funktionieren.

Lina trat an die Glasscheibe heran und blickte wieder nach draußen. Auf die vom Frost glänzenden Dächer des Schlosses. Anhand der Gebäudeteile konnte man doch bestimmt erschließen, welcher Weg hier heraus führte.

Vor dem an der freien Luft liegenden Schlosstor lag ein länglicher Trakt. Mit einem langen Korridor, daran konnte sie sich noch halbwegs erinnern. Und am gegenüber liegenden Ende erkannte sie die Brücke wieder, über die sie gegangen war. Hatte man sie schon von Anfang an versucht zu verwirren, oder war dieses Schloss wirklich so kompliziert aufgebaut?

„Die Herrin sagte, das sei dein Drache?“

Hatte der Kerl also doch noch Redebedarf. Schade eigentlich.

„Ja. Sein Name ist Amethyst.“

„Ihr Name.“

Lina stockte und sah den Drachenhüter fragend an.

Ihr Name. Sie. Es ist ein Weibchen.“

„Oh.“ Sie drehte den Kopf zu dem kleinen, lilafarbenen Drachen und blickte in die orangerot glänzenden Augen. „Tatsächlich?“

„Man erkennt das an dem breiteren Becken und den abgerundeten Rückenzacken. Oh, und natürlich an dem fehlenden Penis.“

Die Drachenmeisterin zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. Woher hätte sie das wissen sollen? Ihr hatte leider kein Vergleichsdrache vom anderen Geschlecht zur Verfügung gestanden.

„Die Männchen können besser fliegen, dafür speien die Weibchen mehr Feuer.“

Herausfordernd kraulte Lina Amethyst unter dem Kinn.

„Kannst du auch schon Feuer spucken, meine Kleine?“

Er, nein, sie musste wohl verstanden haben. Die Augen glänzten und es gurgelte, wie von einer Magenverstimmung. Amethyst riss das Mäulchen auf und hervor brach ein verdammter Feuerball. Funken stoben in alle Richtungen und kleine Flämmchen tropften zu Boden.

Die Hitzewelle ließ Linas Lippen auf einen Schlag trocken werden und sie musste heftig blinzeln, um die schmerzenden Augen zu beruhigen.

„Wow.“

Der kleine Drache knurrte zufrieden und ließ sich zur Belohnung den Kopf streicheln. Wie gut, dass diese Feuersbrunst nicht in ihrem Zimmer ausgebrochen war.

„Tja, ziemlich cool, was.“ Der Kerl grinste so breit, als habe er selbst den Feuerball zu verantworten. „Und jetzt stell dir das Ganze nochmal vor, wenn sie ausgewachsen ist.“

Lina nickte ehrfürchtig.

„Ich trainiere die beiden fast jeden Tag. Sie und den Grünen. Am Anfang machen sie große Fortschritte und im Alter lässt das mehr und mehr nach. Wie bei uns Menschen halt.“

Die nachfolgende Stille nutzte Lina, um sich ihre Worte zurecht zu legen.

„Du bist doch ein Mensch, oder?“

„Klar.“ Er ging hinüber zu dem grünen Drachen und ließ ihn seine Flügel ausbreiten. Mindestens fünf Meter Spannweite mussten das sein.

„Und… und was machst du als Mensch hier bei den Elfen?“

„Ich bin der Drachenhüter.“

Ja, das war der offensichtliche Teil. Lina rollte mit den Augen. Amethyst auf der Schulter flanierte sie durch den Raum.

„Vermisst du es nicht, andere Menschen um dich zu haben? Die Elfen scheinen mir nicht das geselligste Völkchen zu sein.“

Er drehte sich halb zu ihr um und Lina meinte, ein gefährliches Blitzen in seinen Augen zu erkennen.

„Die Elfen haben Fähigkeiten. Die Herrin hat Fähigkeiten. Davon können die Menschen höchstens träumen. Sie können Wünsche erfüllen. Jeden Wunsch.“

Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Er räumte einige Decken zusammen und sprach erst weiter, als sie alle auf einem Haufen lagen. Multitasking war wohl nicht so seins.

„Als ich vor einigen Jahren hier her gekommen bin, weil mich die Menschen nicht angenommen haben, wie ich bin, da habe ich hier ein neues Zuhause gefunden. Sie haben mich zum Drachenhüter gemacht und wie einen der ihren behandelt. So etwas haben die Menschen lange nicht fertig gebracht.“

Ob das Hirn Kälteschaden nehmen konnte?

„Sie haben mir meine Wünsche erfüllt. Mich reich gemacht und mächtig. Im Gegenzug führe ich den Willen der Herrin Glacéde aus. Ihr zu folgen bedeutet, die Welt besser zu machen. Eine Welt der Drachen und Elfen. Alles, was ich ihr nicht bieten konnte war, Drachen auszubrüten. Meine Kräfte reichen dafür nicht aus.“

Deswegen war er wohl nur der Drachenhüter.

Während der Typ sich allmählich in Rage redete, heuchelte Lina weiterhin Aufmerksamkeit und näherte sich langsam aber sicher der Tür. Der Drache auf ihrer Schulter zappelte reichlich viel und ihre Krallen rissen Löcher in die schöne Jacke.

Ob dieser Typ eine Gehirnwäsche bekommen hatte? Vielleicht war er auch fest überzeugt von alldem, was er da von sich gab. Davon, dass die Elfen gütig und gerecht waren und das Gleichgewicht der Welt herstellten. Dass sie die wahren Herrscher waren und früher oder später alles und jeder sich ihrer Macht unterwerfen würde.

„Und ich werde als einziger Mensch in dieser Welt bestehen bleiben. Weil ich mich für die richtige Seite entschieden habe. Genauso wie du.“

Lina zuckte ertappt zusammen. Eigentlich hatte sie fest damit gerechnet, dass er sie durchschaut hatte.

„Willst du irgendwo hin?“

Sie griff nach dem Türknauf. Amethyst schlug mit den Flügeln und zerrte somit noch mehr an ihrer Strickjacke.

„Och, ich dachte mir, ich mache einen kleinen Spaziergang. Nur wir Mädels und so. Keine Sorge, ich brauche nicht lange.“

Schon war sie durch die Tür und schloss sie von außen.

Erleichtert atmete sie aus. Jetzt nur noch den Weg durch dieses Labyrinth finden. Bedacht darauf, ihren Drachen nicht zu verschrecken tastete sie wieder einmal in ihrer Tasche nach dem Handy. Die Nachricht an Herrn Maier war schnell getippt.

„Ich habe den Drachen. Es geht los!“

 

26.

 

„Ich bin ja voll neidisch auf eure schönen Haare. Benutzt ihr Conditioner, damit die so toll glänzen? Na, vermutlich eher nicht.“

Geschmeichelt strichen sich die beiden Elfen über das lange, glatte Haar. Schon die dritten, denen Lina auf ihrem Weg nach draußen begegnete und die sie mit einigen Komplimenten um den Finger wickeln konnte.

„Ihr müsst mir ehrlich euer Geheimnis verraten. Obwohl ich mit meinen kurzen Zotteln sowieso nie eine Chance hätte.

Da muss ich lang, richtig.“

Nicken und erhabenes Winken verabschiedete sie. Amethyst drehte das Köpfchen noch, um den Wesen nachzusehen und Lina schlenderte, bemüht sorglos, weiter den Korridor entlang.

Um die nächste Biegung erwartete sie auch schon diese Brücke, welche sie von der Voliere aus gesehen hatte. Das hieß hoffentlich, dass sie die Hälfte des Weges bereits hinter sich hatte.

Allen Elfen, die ihr entgegen kamen und die sie misstrauisch musterten erzählte Lina, dass sie mit dem Drachen spazieren ginge, um irgend so einen Trainingseffekt zu haben. Dann machte sie noch ein Kompliment und schon zogen die kalten Wesen zufrieden von dannen.

Ihre Drachenmeisterin spazierte derweil durch die endlosen Korridore, um vielleicht endlich einmal den Ausgang zu erreichen. Dort wartete dann hoffentlich schon ein Kriegerkommando auf sie, um ihr die Elfen vom Leib zu halten. Amethyst wäre befreit und sie könnte endlich wieder zurück in ihren Alltag.

Zeit mit Jason verbringen, Anni davon erzählen und wer wusste, wie viele Nachrichten sich inzwischen auf ihrem Rechner angehäuft hatten.

Das Drachenmädchen auf ihrer Schulter plapperte fröhlich vor sich hin, spreizte nur ab und zu die Flügel, blieb aber wo sie war.

Wenn Lina alles richtig im Kopf behalten hatte, dann folgten jetzt noch ein ziemlich großer Gebäudetrakt und der lange Korridor zum Schlosstor. Für das nächste Stück hatte sie also keinen Schimmer, wie der Weg aussehen sollte.

Prompt hatte sie nach einer Treppenflucht gleich drei Gänge zur Auswahl. Alle drei sahen sie gleich grau und kalt aus. Sie seufzte und spürte, wie sie selbst langsam hektischer wurde. Sie musste hier raus.

Ungleichmäßiges Stampfen drang hinter ihr den Korridor entlang. Bald darauf auch heiseres Keuchen. Die junge Magierin machte sich gerade bereit, das Einschleimen noch ein wenig zu üben, als der Drachenhüter um die Ecke stürmte. Seine schweren Stiefel ließen dumpfe Schritte erklingen und er hatte sich einen schwarzen Mantel übergezogen.

Hatte er sie verfolgt? Und vor allem, hatte er länger gebraucht, weil er sich den Mantel geholt hatte, um sein unmodisches Outfit zu komplettieren?

Wenn Lina es richtig anstellte bekam sie vielleicht aus ihm heraus, welcher der drei Wege in die Freiheit führte.

„Hi, Drachenhüter.“ Sie winkte ihm zu, sich keiner Schuld bewusst.

Schnaufend blieb er einige Meter von ihr entfernt stehen. Wenn Lina ihn sich so ansah, in voller Montur, dann kam er ihr irgendwo her bekannt vor.

„Tu doch nicht so!“

Sie kniff die Lippen zusammen und begann im Kopf, ihre Handlungsmöglichkeiten durchzuspielen.

„Ich weiß genau, was du vor hast. Du willst den Drachen stehlen und ihn zu den Menschen bringen.“

„Es ist mein Drache. Ich stehle ihn also nicht. Außerdem wurde er mir zuerst gestohlen.“

„Bestimmt war das verdient. Wenn du nicht einmal auf ihn aufpassen konntest.“

Lina verengte die Augen, versuchte sich ihren Gegenüber in anderem Licht vorzustellen. War er das?

„Und gut um sie gekümmert hast du dich wohl auch nicht, sonst wäre sie von selbst zu dir zurück gekommen. Drachenmeister.“

„Du warst das!“ Lina riss die Augen auf. „Du hast sie entführt. Ich erkenne dich wieder. Die komischen Metal-Klamotten. Du bist in mein Zimmer eingebrochen und hast Amethyst mitgenommen.“

Der Angeklagte wich einen Schritt zurück.

„Und? Ich habe ihr damit bestimmt einen Gefallen getan.“

Der Drache auf ihrem Rücken tippelte unruhig umher, rammte ihr die kleinen Füßchen in den Nacken.

„Warum das alles? Warum entführst du meinen Drachen?“

„Für die Herrin.“

Nun schien er seine Selbstsicherheit wieder erlangt zu haben. Mit gestrafften Schultern ging er auf Lina zu.

„Was die Herrin wünscht ist mein Befehlt. Und da die Elfen nicht in die Menschenwelt hinüber wechseln können, hat die Herrin mich geschickt. Ich bin ihre rechte Hand.“

Oha, wie sich da einer überschätzte.

„Und jetzt bist du dazu da, um mich aufzuhalten, diesem Weg hinaus zu folgen.“

Während sie sprach ließ sie den ausgestreckten Arm über die Gänge wandern und beobachtete belustigt, wie der Drachenhüter beim letzten leicht zusammen zuckte. Der rechte also.

„Ihr Menschen vermasselt immer alles.“ Wie ein mauliges Kleinkind klang er nun. „Es hat Jahre gedauert, bis die Herrin mir vertraut hat. Ich musste ihr beweisen, dass ich nicht mehr auf der Seite der Menschen stehe. Dass meine Treue ganz allein ihr gehöre. Dafür musste ich nur ohne zu zögern ihren Willen durchsetzen. Ohne blöd nachzufragen.“

Lina ging langsam rückwärts und bekam bei seinen Worten unwillkürlich eine Gänsehaut. „Heißt das, du hast gegen Menschen gekämpft? Aber was… Warum?“

„Gegen die Rebellen“, er grinste breit, „Ich habe mir die vorgenommen, die gegen die Elfen vorgehen wollten. Die Drachen von den Elfen gestohlen hatten. Sie sind das Eigentum der Herrin.“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Drachen nur sich selbst gehören.“ Mit diesen Worten riss Lina sich zusammen und rannte in den rechten Korridor.

Zornige Worte flogen ihr hinterher.

„So unbelehrbare Menschen werfen ein schlechtes Licht auf mich. Ich bin ein guter Diener, ich bin nicht wie ihr.“

Die stampfenden Schritte setzten wieder ein. Mal sehen, wer schneller war. Linas letztes Wettrennen war lange her und sie hätte gut darauf verzichten können. Aber diesmal ging es um keine Kinderehre oder einen Schokoriegel, sondern um ihren Drachen.

Der Drachenhüter und Entführer hinter ihr schimpfte wüst, schrie so laut, dass feiner Putz von der Decke rieselte. Das brachte Lina zum Husten, mehr nicht.

„Sie ist eine Verräterin! Haltet sie auf!“

Die Schritte und wohl auch der Läufer legte eine Pause ein. Hoffentlich war Lina auf dem richtigen Weg.

Amethyst quietschte vergnügt, freute sich wohl über das erhöhte Tempo. Eine Treppe hinunter und hier war es plötzlich kühler. Es zog an den Fenstern, kalte Luft von draußen hatte sich hier breit gemacht. Auch Putz rieselte hier von der Decke.

Lina verlangsamte ihre Schritte, als sie zu der schmucklosen Decke hinauf sah und dort feine Eiskristalle entdeckte, wo sich sonst Spinnennetze spannten. Und nicht Dreck rieselte herab, sondern feine Schneeflocken.

Gute Zeichen sahen anders aus.

Vorsichtig spähte sie um die nächste Ecke, bevor sie sich weiter wagte. So ganz halsüberkopf wollte sie sich dann doch nicht überraschen lassen.

Frösteln kroch ihre Arme hinauf, ihr Atem schlug Wölkchen in die Luft. Wo steckten diese Elfen, diese verfluchten Eiszauberer?

Lina rieb sich über die Arme, um die Kälte möglichst lange fern zu halten. Amethyst beschwerte sich brabbelnd, doch auch der kleine Drachenkörper begann zu schlottern. Konnte die Kleine sich selbst warm halten, oder musste Lina ihr helfen? Immerhin konnte Amethyst Feuer speien.

Die grauen Wände und Türen glitzerten und glänzten vom Raureif. Eigentlich sah das ganz zauberhaft aus, wäre es nur nicht so kalt. Holz ächzte und Schritte näherten sich. Dieses Mal von vorne.

Lina hielt kurz den Atem an und machte sich bereit.

Wofür bereit eigentlich? Gleich würde sich ihr ein Elf entgegen stellen und sie mit seinem Eiszauber bearbeiten, bis sie eingefroren war.

Sie schlotterte, ballte aber entschlossen die Fäuste. Kämpfen musste sie, was sonst. Eis mit Feuer bekämpfen, wie sie es verdammt noch einmal die letzten Tage mit Raffael geübt hatte. Und am besten konnte sie das, wenn sie an Jason dachte. An ihren Freund.

Unwillkürlich lächelte sie, horchte auf den Trommelschlag ihres Herzens und spürte, wie es pumpte. Warmes Blut mit jedem Stoß in ihre Glieder spülte.

Komme was da wolle. Sie war bereit. Ihre Hände wurden warm, schwitzig und sie waren auf den Korridor vor ihr gerichtet.

Eisiger Nebel erhob sich vom Boden und Lina fühlte unangenehmes Prickeln an ihren Zehen, bevor die Taubheit einsetzte.

Leise Schritte, bedächtig gesetzt und das lange Gewand schleifte eben über den Boden, wirbelte Eiskristalle auf.

Glacéde.

Mit regungsloser Mine stand dort die Elfenherrin. Die Hänge gebieterisch ausgestreckt und ein gefährliches Glitzern in den Augen. Wie eine Lawine, die kurz davor war, jemanden unter sich zu begraben.

Lina hatte einen der gewöhnlichen Elfen erwartet. Die Herrin war doch wohl eine Nummer zu groß für sie. Für so ein unerfahrenes, Feuer zauberndes Mädchen.

Ihre Haltung verkrampfte sich und die Kälte kletterte ihre Beine hinauf.

„Noch ein Drachenmeister, der sich für die falsche Seite entscheidet?“

Mit Knistern und Klirren wuchsen Eiskristalle aus dem Boden. Erst klein wie Mineralien, zu Glacédes Füßen. Doch sie wuchsen auf Lina zu. Immer größer und spitzer wurden sie, durchstießen die Luft und dampften vor Kälte. Die Luft zitterte und um die blassen Lippen der Elfe spielte das erste, echte Lächeln, dass Lina bei ihr zu Gesicht bekam. Ihr langes Kleid glitzerte vom Eis, Frostblüten zogen sich vom Boden her über den schimmernden Stoff.

Lina blieb ein Schrei in der Kehle stecken.

Armdick schoss das Eis ihr entgegen, verwandelte den Korridor in eine riesige Druse und glänzte. Tödlich.

Ihre Finger wurden kalt und der nächste Eisstachel spross auf ihr Gesicht zu.

 

27.

 

Der Schrei drang aus Linas Kehle und sie riss die Arme hoch. Ihr Gesicht fror ein, wurde gespickt mit abertausenden, spitzen Nadeln. Sie war noch zu jung zum Sterben.

Amethyst brüllte. Schmerz durchzog Linas Wangen, wallte vor ihr auf und hätte sie beinahe von den Beinen gerissen. Erst als der Geruch von angesengtem Haar in ihre Nase stieg begriff Lina. Hitze. Feuer.

Vorsichtig öffnete sie die Augen einen Spalt weit und blickte in gleißendes Licht. Feuerzungen leckten an den steinernen Wänden, ließen all die feinen Eiskristalle einfach verpuffen. Die Kleine hatte ihr das Leben gerettet und ihr Feuerball hüllte die Elfenherrin ein. Unbarmherzig und mit einer Hitze, die Lina nie vorher gekannt hatte.

Amethysts Beinchen auf ihrer Schulter zitterten. Vor Kälte oder von der Kraftanstrengung. Der Feuerball verebbte und Lina spürte den Druck auf ihren Rücken nachlassen. Ihr Drache plumpste vorneüber und sicher fing die Drachenmeisterin den kleinen Körper auf. Zusammengerollt vor ihrer Brust, wie ein schweres, kleines Baby. Mit Schuppen, Flügeln und beeindruckender Feuerkraft.

„Danke, Amethyst.“

Sie wagte schließlich aufzusehen. Noch lag Weg vor ihr und dafür musste sie den Anblick einer verkohlten Elfenherrin ertragen.

Eis. Da stand ein Eisklotz mitten im rußgeschwärzten Gang. Verformt durch den Feuerball. Wurden Elfen etwa zu Eis, wenn sie starben?

Lina trat näher und besah sich das Gebilde. Als sie Glacédes dürre, erhabene Gestalt inmitten des Eises erblickte musste sie schlucken. Wie ein Insekt im Bernstein. Die Elfenherrin musste das Eis um sich gelegt haben, zum Schutz vor dem Feuer. Ihr Schild war unter der Hitze angeschmolzen, hatte sie jedoch gerettet.

Ob die Dame dort wohl von selbst wieder heraus kam? Naja, nicht Linas Problem.

Kurzerhand riss sie sich von dem Anblick der tiefgefrorenen Elfe los und rannte weiter. Amethyst an sich gepresst. Ihr kleiner Körper fühlte sich ungewohnt kalt an. Zu kalt.

Im Laufen dachte die junge Magierin an Jason. Wie es war von ihm im Arm gehalten zu werden und seine Wärme zu spüren. Die Muskeln unter seinem Shirt und der beschützende Griff um Lina. Damit konnte sie arbeiten.

Das herbeigedachte Glücksgefühl ließ ihren Körper beben und aus ihren Armen züngelten Flammen empor. Ihre Hände glühten, wie von einer heißen Herdplatte, doch es verletzte sie nicht. Feuermagie war schon etwas Faszinierendes. Ihre Strickjacke brannte mit. Schade drum.

Amethyst kuschelte sich an sie, wärmte sich an ihren Händen und schnurrte, bis sie endlich nicht mehr zitterte.

So viel Erleichterung kannte Lina bisher nur von überstandenen Matheklausuren.

Jetzt bloß noch raus hier. Korridore, Treppen und wieder Korridore, doch endlich meinte Lina, etwas wieder zu erkennen. Ein besonders langer Gang, Richtung Schlosstor.

Der Drache war eingeschlafen und die Drachenmeisterin kämpfe mit ihrer Kondition. Ihre Beine taten weh, Seitenstiche, alles Mögliche. Wie jedes Mal, wenn sie beschloss zur körperlichen Ertüchtigung Joggen zu gehen.

Endlich.

Beherzt riss sie die Tür auf, stolperte einige Schritte über den Schlosshof und zerrte mit der einen Hand den Riegel vor dem Tor weg. Ohne zu Quietschen schwang das dunkle Holz beiseite und Lina war frei. Kurz davor loszujubeln lief sie auf die kleine, von Raureif und Nebel überzogene Wiese vor dem Schloss hinaus.

Geschafft. Sie hatte ihren Drachen befreit und war mit heiler Haut den Fängen der Elfen entkommen.

Triumphierend sah sie zu den kalten Türmchen hinauf, die im fahlen Licht des Vormittags stumpf und kraftlos wirkten.

Noch ein paar Schritte, dann gaben ihre Beine vorerst nach. Sie sank auf die Knie, der Raureif schmolz von den Gräsern um sie herum. Ihre Blicke suchten den Waldrand ab. Doch außer tiefen Schatten zwischen düsteren Tannen ließ sich nichts entdecken. Hätte sie hier nicht eigentlich ein Empfangskomitee erwarten sollen? Zumindest ein kleines?

Lina hatte Herrn Maier Bescheid gegeben. Dass sie es ins Schloss geschafft hatte und noch einmal, als sie mit Amethyst auf der Schulter aufgebrochen war.

Wo steckten die tapferen Krieger aus Midheim?

Vielleicht hatte Herr Maier keinen Empfang gehabt, oder sein Akku war leer?

Mit aufsteigenden Schwindelgefühlen kam Lina wieder auf die Beine. Es half alles nichts, sie musste hier weg. So weit weg von diesen eiskalten Elfen, wie irgend möglich.

Ihre Schritte waren unbeholfen, doch der Waldrand kam langsam und sicher näher.

Das wäre auch zu schön gewesen. Ob die Elfen sie verfolgen würden? Oder dieser Drachenhüter?

Bewegung zwischen den Tannenzweigen am Waldrand. Je näher Lina kam, desto unruhiger wogte ihr das Flüstern der Bäume entgegen.

Sie blieb stehen und wartete. Amethyst in ihren Armen regte sich nicht mehr, sie schien eingeschlafen zu sein.

Rascheln von Tannennadeln und Laub und schließlich stand Herr Maier vor ihr. Nach all den Elfen, Drachen und steinernen Korridoren hatten seine Alltagsklamotten etwas beruhigend Ernüchterndes an sich. Zumindest abgesehen von dem Messer oder Dolch an seiner Seite.

Hinter ihm und um sie herum traten noch mehr bekannte Gesichter aus dem Dickicht. Viele in Lederrüstung, Wollpullovern und mit Waffen in den Händen, aber alle mit ängstlich, ehrfürchtigem Blick in Richtung des Elfenschlosses. Alle schienen sie einen berechtigten Respekt gegenüber dieser Eiswesen zu verspüren. Bis auf Herrn Maier. Linas Lehrer drückte eine Entschlossenheit aus, die ihr Halt und Zuversicht gab. Sie war nicht allein.

„Ist mit deinem Drachen alles in Ordnung?“

Lina nickte. „Ja. Sie ist nur etwas erschöpft.“

Fragend hob Herr Maier eine Augenbraue, brachte Lina zum Grinsen.

„Amethyst ist ein Weibchen. Wussten Sie das etwa nicht?“

Er schüttelte amüsiert den Kopf, strich dem kleinen Drachen über den Zackenkamm.

„Gab es Komplikationen auf deinem Weg nach draußen?“

„Allerdings“, Lina gab sich verärgert, „Erst wollte mich der Drachenhüter bequatschen, dass ich auf die Seite der Elfen wechsle, weil es ja so toll ist bei denen und dann hätte mich diese Elfenherrin beinahe mit ihren Eiszapfen aufgespießt. Aber zum Glück hatte ich meinen Drachen dabei. Die Kleine hat mich gerettet.“

„Und was ist nun mit der Herrin?“

„Sie ist jetzt ein Eiswürfel.“

Lina lächelte angesichts des ungläubigen Gesichts ihres Lehrers.

„Irgendwie hat sie sich mit Eis gegen Amethysts Feuer geschützt und jetzt ist sie tiefgefroren. Kommt sie da von selbst wieder raus?“

„Unwahrscheinlich.“ Die Mine des blonden Brillenträgers hellte sich auf. „Das ist gut, sehr gut sogar. Ohne die Herrin dürften die Elfen nicht sonderlich angriffslustig sein. Eigentlich dürften sie sich gar nicht für uns interessieren, wenn ihnen niemand den Befehl dazu erteilt.“

„Könnte stimmen, aber nur fast.“ Hagen war hinter Herrn Maier getreten und hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Seinem Fingerzeig folgend drehte auch Lina sich herum.

Etwa ein Duzend Gestalten drängten aus dem offenen Schlosstor. Elfen mit dunklen Rüstungen und zerbrechlich wirkenden Schwertern und Bögen. Und der Drachenhüter. Mit hochrotem Kopf, weil er das letzte Stück wohl auch noch hatte rennen müssen.

Er brüllte etwas von „Angriff“ und die Elfen schickten einige Pfeile zu ihnen hinüber. Sogar sehr zielsicher.

Lina wollte eben aus der Schusslinie flüchten, als Herr Maier sie zurück hielt.

„Nicht einschüchtern lassen“, hörte sie ihn sagen. Seine Hand auf ihrer Schulter wurde warm. Die blonden Haare bogen sich nach oben, als wären sie aufgeladen und ein gefährliches Glitzern lag in seinem sonst so ruhigen Blick.

Als die Pfeile für Linas Geschmack viel zu nahe gekommen waren riss er den Arm hoch und eine Schlange aus Feuer ringelte sich um seinen Arm, peitschte in die Luft und explodierte in einer Feuerkugel, welche die Elfenpfeile als schwarze Asche zu Boden rieseln ließ.

„Wow, sowas können Sie?“

„Manchmal.“ Herr Maier lächelte, unter Garantie weil er sich geschmeichelt fühlte. Er trat schützend vor Lina und ging den Angreifern einige Schritte entgegen. Die anderen Midheim-Krieger folgten ihm, wenn auch nicht ganz so entschlossen. Sie drängten den Aufwallenden Nebel zurück und das vom Raureif befreite Gras unter ihren Füßen leuchtete Grün. Rauschen erklang und als die junge Magierin einen plötzlichen Windstoß spürte sah sie nach oben. Die Wipfel der Bäume bogen sich, Tannennadeln flogen durch die Luft und über ihnen schwebte ein Drache. Ein großer.

Nur mühsam bekam sie den staunend geöffneten Mund wieder zu geklappt, als Hagen neben ihr ein erheitertes Lachen von sich gab.

„Da staunst du, was? Die Elfen sind nicht die einzigen, die einen Drachen haben.“

So groß wie ein Pferd und mindestens sechs Meter Flügelspannweise.

„Wer ist der Mensch bei den Elfen?“

Hagens Worte zwangen Lina, den Blick von dem Drachen abzuwenden.

„Der Drachenhüter. Er hat meinen Drachen entführt. Ein unangenehmer Typ.“

Der Anführer strich sich nachdenklich durch den Bart. „Dieser… Drachenhüter kommt mir irgendwie bekannt vor.“

Herr Maier war in der Mitte der Lichtung stehen geblieben. Hatte noch ein paar Pfeile in Flammen aufgehen lassen und steigerte seine Lehrer-Coolness gerade ins Unermessliche.

Lina hätte eine Rede, eine klare Ansage oder die Forderung zur Kapitulation erwartet, aber Herr Maier schwieg. Zog seine Waffe und selbst so viele Schritte hinter ihm konnte sie erkennen, wie seine Hand zitterte.

Langsam wurde die Klinge dem Drachenhüter entgegen gestreckt, der etwas unschlüssig drein schaute.

„Kennt Herr Maier ihn etwa auch?“

Hagen hob die mächtigen Schultern. „Nicht dass ich wüsste.“

Die Luft um Linas Lehrer flimmerte, Flämmchen züngelten aus seinen Armen und viel bedrohter konnte sich der Drachenhüter wohl kaum fühlen.

„Du also“, Herr Maiers Stimme bebte vor Wut, dass Lina ein Schauer den Rücken hinunter jagte.

„Wir beide haben noch eine offene Rechnung.“

 

28.

 

Im letzten Licht der Dämmerung kroch die Kälte aus dem Wald. Dicker Nebel drang zwischen den dunklen Baumstämmen hervor wie körperloses Getier. Unaufhaltsam waberte der weiße Dunst über die Hügel und dem Dorf entgegen. Und mit ihm, verborgen in seinen kalten Wolken, kamen die Elfen. Bleiche Gestalten in dunklen Rüstungen, deren Speere wie Schilfrohre aus dem Nebel ragten.

Es wurde kalt.

Die Bewohner Midheims rückten näher an ihre Feuer, zogen sich Jacken über und auch Jona fröstelte. Trotz des Eintopfes, der seinen Bauch wärmte überzog Gänsehaut seine Arme.

Mit weißen Fingern griff der Dunst nach den hölzernen Hütten, bäumte sich auf und verschlang das letzte Rot der Abendsonne.

„Was tust du hier? Hier bricht gleich ein Kampf los, also sieh zu, dass du dich in Sicherheit bringst.“

„Nein“, entschlossen blickte Jona zu dem nicht wirklich überzeugenden Ole hinauf. „Ich bleibe genau hier und kämpfe mit euch. Schließlich bin ich der einzige, der schon gegen sie gewonnen hat.“

Ole machte eine grimmige Miene, murmelte „vielleicht der Einzige, der gerade hier ist“ und schickte den jungen Magier widerwillig zu einer der Barrikaden.

Die mit Raureif überzogenen Grashalme knisterten, als Jonas Füße sie unter sich zerdrückten. Eisige Luft wehte vom Wald her. Im Gehen stopfte der Junge sich das Hemd in die Hose, den Rest würde seine Magie richten.

Und wo blieb überhaupt Bronx?

Die dem Wald zugewandte Seite des Dorfes war behelfsmäßig mit angespitztem Holz und aufgeschütteter Erde umgeben. Wie ein kleiner Schutzwall. Eine handvoll kräftiger Männer hatte hier Posten bezogen und starrte in die Nebelschwaden. Jona entdeckte Sven und stellte sich zu ihm.

„Was tust du hier, Junge?“

„Euch unterstützen“, knurrte er zurück. Konnten sie alle nicht endlich damit aufhören, ihn wie ein Kind zu behandeln? Wer war im Elfenschloss gewesen und hatte die Drachen befreit? Das war er gewesen. Er und niemand sonst. Konnte er dafür jetzt bitte angemessen respektiert werden?

Jona rieb die Hände aneinander, schloss die Augen und ließ die Wärme langsam durch seinen Körper fließen, bis selbst seine Zehen nicht mehr froren. Sollten die Elfen nur kommen.

„Ich sehe Bogenschützen“, hieß es von einem Ausguck im Norwegerpullover. „In Deckung, sie legen an!“

Um ihn herum duckte sich alles, Jona blieb stehen.

Das Sirren der Pfeile in der Luft war kaum zu vernehmen. Knistern von Flammen füllten seine Ohren und mit erhobenen Händen ließ Jona eine Flammensäule empor steigen, welche die Pfeile wirkungslos zu Boden fallen ließ. Ganz so wie die Raketenstöcke an Neujahr.

Er genoss die großen Augen, mit denen Sven und die anderen ihn ansahen. Er war kein Kind, er war ein Krieger.

„Sehr schön, Junge. Jetzt sieh zu, dass du in Deckung gehst. Spar dir die Kräfte für die Elfen selbst auf.“

So wie es in ihm brodelte hätte er die ganze Nacht hindurch Feuerwolken beschwören können, um die Elfenpfeile in Asche zu verwandeln.

Trotzdem lehnte er sich neben Sven an die kalte Erde. Der blonde Mann mit dem Schnauzer drückte ihm einen Holzstab in die Hand.

„Bekomme ich keine richtige Waffe?“ Empört wie er war musste der Junge feststellen, dass auch die anderen nur ein Stöckchen hatten.

„Sie stürmen vor“, verkündete Norwegerpulli.

„Holz hat einen eindeutigen Vorteil, Junge.“ Sven schloss für einen Moment konzentriert die Augen. Sein Stab knackte, färbte sich um seine Hand herum schwarz und kleine, blaue Flämmchen züngelten bis zur Spitze empor. „Es brennt.“

Jona hörte die Angriffsschreie der Elfen. Blasse Stimmchen, die nur langsam näher kamen.

„Warte, bis sie nacheinander über den Wall kommen. Alles andere wäre Selbstmord.“

Der Junge nickte, umfasste seinen Holzstab mit beiden Händen und binnen Sekunden loderte eine rote Waffe in seiner Hand.

Erde knirschte und Schreie, die mehr nach schwerem Atem klangen, begleiteten den ersten Elfen über die aufgetürmte Barrikade. Jona spürte, wie ihm die Eiseskälte entgegen schwappte. Frost überzog den Boden mit weiß und die Flammen der Fackeln wurden kleiner. Jona sah den Elf an. Mit seinem langen, bleichen Gesicht, den ausdruckslosen, kalten Augen, wie er ungelenk ein Schwert in seine Richtung schwang.

„Hier ist er!“, gellte die Stimme des Elfen durch die anbrechende Nacht, ehe ein Schlag mit Svens Stock ihn zu Boden riss. Mit einem brennenden Ende wurde er gegen den Wall gedrückt, winselte und verlor das Bewusstsein, einen großen Aschefleck auf der Brust.

Jona und Sven hatten nur kurz Zeit, sich unschlüssig anzublicken, schon sprangen die nächsten Eiswesen über ihren Erdhaufen.

Mit kräftigen Schlägen schickte der ehemalige Drachenmeister zwei der Elfen ins Land der Träume, dann wurden ihm die Arme schwer. Erschöpfung stach in seine Lungen und seine Füße schmerzten von der Flucht, die noch nicht weit genug zurück lag.

Nein, so schnell würde er auf keinen Fall schlapp machen.

Er festigte den Griff um seine Waffe und mit einem Aufschrei erwischte er einen springenden Elfen am Kopf. Aus dem Sprung gerissen missglückte die Landung. Nach mehrmaligem Überschlagen rappelte sich der Elf jedoch wieder auf.

„Verräter“, zischte er Jona entgegen. Asche rieselte von der bleichen Schläfe, wo das Feuerholz ihn getroffen hatte. Erschöpfung und Kälte krochen dem jungen Magier die Beine hinauf. Eiskristalle bildeten sich am Saum seiner Hose und kletterten die Nähte empor. Der Elf schwankte etwas benommen, musterte seinen Gegenüber allerdings triumphierend.

Jona konnte sich nicht mehr vom Fleck rühren. Die Flammenzungen seines Holzstabes drückten Wärme gegen sein Gesicht, ansonsten war ihm kalt. Seine Müdigkeit kehrte in ihrem ganzen Ausmaße zurück.

Sven kam zu ihm hinüber gerannt, schlug den Elfen nieder und kümmerte sich mit besorgtem Blick um Jona. Es brauchte eine Weile, bis seine Worte zu ihm durchdrangen.

„Komm schon, Junge. Rede mit mir!“

„Ich bin in Ordnung“, seine schwache Stimme strafte ihn Lügen.

„Sieh zu, dass du dich aufwärmst. Wir schaffen das hier auch ohne dich.“ Sven grinste breit und klopfte dem Jungen auf die Schulter, dass dieser unwillkürlich einen Schritt nach vorne tat. Seine Beine funktionierten also doch noch. Gut zu wissen. Obwohl er sie nicht spürte trugen seine Füße ihn weiter vorwärts. Immer wieder einen Blick zurück über die Schulter. Nein, so schnell hatte er doch nicht aufgeben wollen.

Das Eis schmolz, tränkte den Stoff seiner Hose und der Holzstab in seinen Händen war schon beinahe verglüht.

„Drache!“

Der Ausruf ließ Jona augenblicklich den Himmel absuchen. Hatte Bronx doch endlich zu ihm gefunden?

Um ihn herum wurden hektisch Wassereimer über den Strohdächern ausgelehrt.

„Bildet eine Eimerkette.“

„Hat irgendjemand Finn gesehen?“

Von allen Seiten wurde verneint. Hatte dieses einfache Gemüt nicht auf der Lauer liegen wollen um Bescheid zu geben, wenn die Elfen das traute Dickicht ihres Waldes verließen?

Klappernd ließ Jona seinen Holzstab zu Boden fallen, damit dieser ausglühen konnte, als er das Rauschen von Flügelschlägen vernahm. Er sah die Flammen zwischen langen Zähnen hervor quellen, bevor er ihn vor dem dunklen Nachthimmel erkannte. Den schwarzen Drachen. Das Brüllen eines Höllenschlundes hüllte ihn ein, als ein Flammeninferno über ihn herein brach. Konnte man Feuer mit Feuer bekämpfen?

Unerträgliche Hitze und ein harter Aufprall. Jona brauchte einen Moment um zu begreifen, dass Ole sich auf ihn gestürzt, aus dem Schussfeld gebracht und ihm somit das Leben gerettet hatte.

Zu ihren Füßen tat sich ein Krater auf. Schwarz verkohlte Erde und glühende Lava hatte sich an der tiefsten Stelle gesammelt. Eines der Häuser hatte es zur Hälfte zerrissen. Das Gebäude loderte auf und der Bewohner würde das Löschen wohl aufgeben müssen.

Ole rappelte sich neben ihm auf und starrte fassungslos auf das Werk des schwarzen Drachen.

Jona brachte nur ein Flüstern hervor. „Danke, Ole.“

Der junge Mann nickte bloß, die Augen inzwischen gen Himmel gerichtet.

Die schwarzen Schwingen wirbelten Asche auf, den Geruch von verbranntem Gras und unermesslicher Hitze. Ein tiefes Grollen ertönte und hervorzüngelnde Flammen zeichneten dem Drachen ein teuflisches Grinsen ins Gesicht.

„Diesmal sieh selber zu, dass du Land gewinnst.“

Jona nickte bloß, bevor er und Ole in entgegen gesetzte Richtungen rannten. Der nächste Feuerstrahl verfolgte den jungen Magier. Er versengte ihm die Nackenhaare und seine Schuhsohlen begannen zu kokeln. Ein Kräutergarten war in Mitleidenschaft gezogen worden. Den würzigen Geruch von Salbei und Basilikum in der Nase begann Jona zu begreifen. Er schalt seine Mattigkeit Einbildung und lief aus dem Dorf hinaus. Und wie er es erwartet hatte folgte der schwarze Drache ihm. Seine schattenhafte Gestalt schwebte am Nachthimmel und nur die roten Augen leuchteten aus dem Schwarz hervor.

Der Drachenmeister sah zu der riesigen Gestalt hinauf und verlor seinen Mut. Wie sollte er jemals dagegen ankommen? Würde er sterben?

Die Elfen hatten es auf ihn abgesehen. Sie hatten ihn gesucht, gefunden und würden wohl nicht eher ruhen, bis dass er seinen Verrat angemessen gebüßt hatte. Wollten sie ihn einfach töten? Verglühen lassen im Atem des schwarzen Drachen? Wenigstens versprach das, ein schneller Tod zu werden.

Verdammt, nein, so durfte er nicht denken.

„Jonathan!“

Der Klang der Stimme war eisig. Glacéde.

Jona war auf einem der grasbewachsenen Hügel stehen geblieben und sah zu, wie die anmutige, kühle Gestalt der Elfenherrin aus dem Nebel trat. Schlagartig kehrte das Frösteln zurück. Die Gänsehaut und die Atemwölkchen. Er hätte sich eine Jacke in diese Welt mitnehmen sollen.

Glacédes eisige Züge verrieten nichts. Sie starrte den Jungen an und ihr Blick war wie Eis, das sich langsam in ihn hinein fraß.

„Niemand wagt es, die Elfenherrin zu verraten. Du warst der Drachenmeister, doch du hast dein Verderben gewählt.“

„Da ist der Drache!“ Von fern klangen Schreie, Jona konnte nicht sagen, woher. Feurige Speere flogen durch die Luft, trafen den Drachen, sodass dieser ins Taumeln geriet. Über den Hügel kamen einige Krieger. Fackeln in den Händen und bereit, sich mit dem nachtschwarzen Schatten anzulegen.

„Menschen.“ Der Hohn sprach aus Glacédes Gesicht. „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch ihr vor mir kriecht.“

Sie schrie dem Schwarzen einen Befehl zu. Seine Schwingen breiteten sich aus, fegten einen Luftstoß über die Wiese und trugen ihn in die Höhe.

Das schaurige Feuergrinsen flammte wieder auf und Jona schluckte beim Anblick der erst gelb und dann weiß lodernden Glut im Maul des Drachen. Die Krieger waren stehen geblieben und auch Jona überlegte fieberhaft, in welche Richtung er fliehen könnte. Sein Blick streifte Glacéde, deren bleiches Gesicht ein Lächeln zierte. Ein Lächeln, das ihm das Blut gefrieren ließ.

„Dein Leben wird brennen, Jonathan.“

29.

 

Eine feurige Kugel aus weißer Glut quoll aus dem Mund des Drachen hervor. Und mit einem Brüllen, das aus seinem tiefsten Inneren drang, schickte der Drache sein tödliches Feuer gegen die Menschen. Hitze erwischte Jona wie ein Faustschlag und gemeinsam mit der elfischen Kälte zerrte es an seinem Fleisch. Die Krieger sprengten auseinander, als ein glühender Feuerball den Hügel hinab wälzte. Einer von ihnen hatte Feuer gefangen und zwei andere halfen ihm, die Flammen auszustreichen.

Erleichtert sah der junge Magier zu ihnen hinüber. Mit der Hand strich er sich über sein schmerzendes Gesicht, was das Ganze aber bloß noch schlimmer machte. Die Kälte kehrte zurück und Jona glaubte, seine Haut müsse zerreißen. Viel mehr jedoch erschütterte ihn, dass der glühende Feuerball weiter in Richtung Dorf rollte. Einige der Krieger rannten bereits zurück zu den Häusern, doch unaufhaltsam krachte die Glut in eines der Häuser und von einem Moment auf den nächsten stand es in Flammen.

„In dem Haus ist Hagen! Und die Drachen!“, hörte Jona jemanden rufen. Die Drachen.

Glacédes schneidende Stimme rief dem Schwarzen Befehle zu und die Schläge seiner mächtigen Schwingen erschwerten dem Jungen das Laufen. Er musste zurück zum Dorf, musste die Drachen beschützen.

„Fendur, fliege und bringe mir die Drachen zurück, die dieser Mensch uns gestohlen hat.“

Ein Funkenregen ging auf die Wiese nieder, der wohl nur beiläufig aus dem dunklen Drachenmaul stob.

Jona schwankte mehr, als dass er rannte. Aber er hielt, der Schneise aus verbranntem Gras folgend, auf die brennende Hütte zu. Seine Beine gaben nach und er setzte sich unfreiwillig in das taufeuchte Gras.

Eimer voll Wasser wurden auf die hoch auflodernden Flammen geschüttet und dunkle Rauchwolken verloren sich am Nachthimmel. Keiner der Männer wagte sich hinein in die Flammen. Etwas regte sich im Inneren und eine Gestalt sprang oder stürmte durch die Tür, kurz bevor das brennende Dachgebälk in sich zusammen stürzte. Flammen wurden erstickt und dem zitternden Jemand die beiden Drachen aus den Armen genommen. Einer der Kleinen hob zaghaft den Kopf, der andere hing kraftlos in den Armen eines Kriegers. Sie ließen die Köpfe hängen und legten den kleinen Körper auf dem Boden ab.

Jona trieb es die Tränen in die Augen und er presste sich die Hand vor den Mund, um nicht laut zu schluchzen. Einer seiner Schützlinge war tot. Gestorben im Feuer eines größeren Artgenossen.

Und wo war Bronx? Gab es seinen Bronx vielleicht auch schon nicht mehr?

Der schwarze Drache, Fendur, näherte sich der brennenden Ruine. Seine Flügelschläge raubten den Flammen die Luft und drückten sie zu Boden. Unerbittliche Klauen schlossen sich um den Krieger, der den kleinen Drachen im Arm hielt. Ein peitschenartiger Schwanzhieb verteilte brennendes Holz und mit seiner Beute gewann der Drache erneut an Höhe. Jona konnte den Krieger schreien hören.

Zu entsetzt war er von alldem, dass er die aufsteigende Kälte in seinem Rücken zu spät wahrnahm. Das Ziehen und unangenehme Prickeln.

Glacéde stand hinter ihm und lachte leise.

„Sieh, wozu es gekommen ist, Jonathan. Am Ende gehört doch alles mir.“

Nein, das durfte alles nicht wahr sein. Die Lippen des Jungen zitterten, die Kälte im Nacken wurde zu brennendem Schmerz und schwarze Punkte tanzten in seinem Sichtfeld. Glacédes Kälte war dabei, ihn einzunehmen.

Mit Mühe schaffte Jona es, seine zitternden Hände in einander zu verschränken. Er schloss die Augen und dachte daran, wie sehr das unerträgliche Ziehen dieser Kälte doch dem Schmerz einer Verbrennung glich. Verbrennung, Schmerz, Hitze.

Zäh waberte es in seinem Inneren, kaum mehr als eine Magenverstimmung.

Die Maronisuppe seiner Mutter. Hatte man sich die Zunge erst einmal verbrannt und einen Löffel voll hinunter geschluckt, dann breitete sich diese wohlige Wärme in einem aus. Ein Gefühl, das Geborgenheit bedeutete, und ein Zuhause.

Seine letzten Kraftreserven waren hier am wirken, Jona wusste das. Träge floss die Wärme durch seinen Körper und eroberte seine Glieder zurück. Er erhob sich und ging einfach.

Was hätte er darum gegeben, der Elfenherrin einen Feuerball entgegen zu schleudern, der sich gewaschen hatte. Aber das schaffte er nicht mehr. Nicht jetzt, nicht in diesem Zustand.

Die Erinnerungen an seinen Plan kehrten langsam zurück. Als klärte sich der Nebel, der sie bis hierhin verborgen hatte. Glacéde blieb einfach stehen, als er davon ging. Sie hatte es nicht nötig, ihm hinterher zu laufen.

„Ich werde dich finden, Jonathan. Ganz gleich, wohin du gehst. Und du wirst bezahlen.“

Ein letzter Hauch ihrer Kälte ließ die Grashalme zu kleinen Speeren aus Eis werden. Sie zerschnitten ihm Haut und Hose und bohrten Löcher in seine Schuhe.

Wo war Bronx? Er musste weg hier. Wenn die Elfen ihn jagten, dann musste er weg vom Dorf, um die Bewohner nicht unnötig in Gefahr zu bringen. Jona würde zum Weltentor gehen, sich dort mit Ailéa treffen und endlich nach Hause zurückkehren.

Ein Brüllen schreckte ihn auf.

Der schwarze Drache durchquerte den Nachthimmel, in der einen Klaue ein kleines, brennendes Etwas, das heftig zappelte und sich zu wehren schien. Kleine Feuerbällchen attackierten den Drachen, dass dieser den Kopf zurück warf und seine unangenehme Fracht einfach fallen ließ. Die Beine des Jungen zuckten in die Richtung, als wollte er den brennenden Krieger und den Drachen auffangen, doch dafür war er viel zu weit entfernt. Hoffentlich ging es den beiden gut.

Ein erneutes Brüllen riss ihn aus seiner Lähmung. Der schwarze Drache schlug mit den Flügeln und seine roten Augen blickten nun Jona an. Nicht eine Spur des gutmütigen Funkelns, das er aus Bronx Augen kannte, war zu sehen. Nur unstillbarer Blutdurst.

Die ersten Schritte kamen langsam, seine Muskeln schmerzten, doch getrieben von Todesangst rannte er kurz darauf um sein Leben.

Heißer Atem und der Wind von Flügelschlägen stach ihm in den Nacken.

Geradezu konnte er die Baumkrone der Eiche über die Hügel ragen sehen und von rechts sah er eine weiß gekleidete Gestalt auf ihn zu kommen. Jona schlug Haken und wechselte die Richtung, um ihr entgegen zu kommen. Ailéa.

Als sie den Drachen hinter Jona erblickte weiteten sich die schönen Augen vor Schreck und augenblicklich rannte sie schneller, um sich an sein Tempo anzupassen. Ihre Wangen waren von der Anstrengung gerötet, das helle Gewand spannte sich über ihren langen Schritten und auch sonst schien das Laufen keine ihrer Lieblingsbeschäftigungen zu sein.

Die beiden nickten sich bloß zu, für Worte fehlte der Atem.

Der Höllenschlund brüllte und mit einem großen Satz warfen die Flüchtenden sich vor einem roten Feuerstrahl zur Seite. Ailéas Gewand hatte am Saum Feuer gefangen, doch sie kümmerte sich nicht darum, sondern half Jona, schneller auf die Beine zu kommen.

Peitschender Wind zerzauste weißblondes Haar und das Weltentor kam Stück für Stück näher. Im Laufen griff die Halbelfe nach seiner Hand und als der Stamm des Baumes in Sicht kam blickten sie sich kurz an. Der junge Magier erkannte die Angst in ihrem vor Anstrengung verzerrtem Gesicht.

Was wird mit mir?, schien sie zu fragen.

Elfen können nicht durch das Tor.

Er drückte fröstelnd ihre Hand, mehr konnte er nicht tun. Jona hatte ihr versprochen, sie in seine Welt zu führen und nichts anderes würde er tun. Durch das Tor und zurück nach Hause.

Ich bin eine Elfe, sagten ihre Augen, Elfen können nicht durch das Tor.

Nur eine halbe Elfe, sagte er sich immer wieder, nur eine halbe. Es würde funktionieren, ganz sicher. Und es musste einfach, nach allem was bisher schief gelaufen war.

Einen Drachen auf der Flucht verloren, einer war in den Flammen umgekommen und der dritte war mitsamt einem der Krieger aus Midheim abgestürzt. Und wo Bronx steckte, das wusste der Teufel.

Jona hatte versagt auf ganzer Linie. Das halbe Menschendorf stand seinetwegen in Flammen. Zumindest sein Versprechen gegenüber Ailéa musste er einhalten.

Es ging einen letzten, leichten Hang hinunter. Das Gras war rutschig und der Junge spürte nichts mehr, er lief einfach weiter. Hinter ihnen Windrauschen und Brüllen. Ein Knistern und ein feuriges Grinsen. Diesmal konnten sie nicht ausweichen, das Ziel lag genau vor ihnen. Jona schmeckte Blut und spürte, wie Ailéas Hand in der seinen schwitzig wurde.

„Jonathan!“ Panik sprach aus ihrer Stimme, als sie sich noch einmal umwand. Er sah zu dem Drachen und erblickte nichts, als eine flammende Kugel aus Weißglut. Die Feuersbrunst rollte auf sie zu, keine Möglichkeit auszuweichen. Nur das Weltentor direkt vor ihnen.

„Jonathan.“ Sie weinte.

Nur seine verbissene Miene und der feste Griff um ihre Hand zogen sie weiter. Das Feuer hatte sie erreicht, griff nach ihren Kleidern und versenkte ihnen die Haut.

Jona sah Bob McGullochs Hinterhof bei Nacht. Überall Gerümpel und in der Ferne eine Straßenlaterne. Den letzten Schritt sprang er, ließ sich fallen und riss Ailéa mit sich.

Konnten Halbelfen durch das Tor?

30

 

Jona schnappte einige Male erfolglos nach Luft, ehe seine Lungen dankbar den Staub von Bob McGullochs Hinterhof einatmeten. Sein Herz pumpte wie wild und wenn es nach seinen Beinen ging, dann würde er sich in seinem Leben nie wieder bewegen. Schweiß perlte auf seiner Stirn und seine zitternde Hand hielt, völlig verkrampft, die von Ailéa. Er versuchte sein Herz zu beruhigen, atmete durch die Nase und schlug die Augen auf.

Weit über ihm der Nachthimmel, einige lächerliche Sterne und der Smog der Stadt. Die Hand in der seinen war kalt.

Irgendwo kläffte ein Hund.

„Jonathan.“

Eine der vielen Holzplatten fiel um, begrub ein Drahtgitter unter sich, das unmelodisch schepperte. Ailéas bleiches Gesicht umrahmt von weißblondem, zerzausten Haar schob sich in Jonas Blickfeld. Der Schock stand ihr noch immer ins Gesicht geschrieben. Lächelnd hob der junge Magier seine freie Hand und streichelte ihre Wange.

„Bist du noch ganz? Nicht, dass wir den Elfenteil dort gelassen haben.“

Sie lächelte, ihre Lippen zitterten und Tränen glitzerten in ihren Augen. Geistesabwesend schlug Jona ein Flämmchen auf ihrem Gewand aus und sah an die Backsteinmauer.

Die fernen, erleuchteten Fenster spendeten kaum Licht. Rote Ziegelsteine und ein hölzerner Rahmen mit Schnörkeln, der zwischen all dem Gerümpel nicht im geringsten auffiel. Eine Wand. Kein Drache, kein Flammeninferno, keine eisige Elfenherrin.

Als Tropfen auf sein Gesicht fielen sah der Junge wieder zu der Halbelfe auf. Stille Tränen flossen und sie schmiegte sich an ihn, ließ sich von ihm in den Arm nehmen. Ihr ganzer Leib zitterte und Jona hätte nicht sagen können, was gewesen wäre, wenn sie es nicht durch das Weltentor geschafft hätte. Gar nicht darüber nachdenken.

Ailéa schluchzte in den Stoff an seinen Schultern.

„Ich will nicht wieder zurück, Jonathan. Ich will nie wieder zurück.“

„Nein.“ Er strich ihr über das Haar und Entschlossenheit mit einem Funken von Triumph keimte in ihm auf. „Nein, du wirst nicht zurück gehen. Du kannst für immer hier bleiben. Bei mir. Bei meiner Familie.“

Ihre Küsse schmeckten salzig.

 

„Sie werden dich mögen.“ Mehr hatte Jona nicht hervor gebracht. Ein paar Stunden waren vergangen, die Nacht war schwärzer geworden und schließlich hatten sie sich doch wieder aufgerappelt. Der junge Magier hatte seine Freundin an der Hand genommen und den endlos erscheinenden Heimweg angetreten.

Die Häuser und Straßen strahlten diese stille Beklemmung aus, wie sie es nur nachts taten. Straßenlaternen schnitten grelle Kegel in die Schatten. Ab und zu ein Tier, eine Katze oder ein Igel, das im Gebüsch herum raschelte.

Keine Drachen, keine Elfen.

Erst wo er diese Vertrautheit wieder um sich hatte merkte Jona, was ihm in seiner Zeit bei den Elfen gefehlt hatte. Sich auszukennen und immer zu wissen, welcher Weg nach Hause und in Sicherheit führte. Er war wieder da und die Heimat nahm ihn mit offenen Armen auf, als sei er nie fort gewesen.

Die verfluchten Beine schmerzten, seine Füße taten ihm weh und seine Hände zitterten. Ailéa klammerte sich an seinem Arm fest und sah sich ängstlich in der fremden Umgebung um. Für sie war all das neu, was er sein Leben lang kennen gelernt hatte.

„Wir sind gleich da.“

Die Halbelfe nickte.

Nur noch ein Häuserblock. Um die Ecke mit den Pflaumenbäumen herum, an den Pappeln vorbei und dann waren sie am Ziel. Es leuchtete Jona schon entgegen.

Erst als das Martinshorn eines Notfahrzeuges näher kam merkte er auf. Den hellen Schein am Himmel bildete er sich nicht bloß ein. Irgendwo schien es zu brennen. Vielleicht ein unvorsichtiges Lagerfeuer im Garten?

Mit heulender Sirene überholte sie der Löschzug. Und gleich noch einer. Ailéa schrak zusammen bei dem Geräusch. Ein Brand?

Jona beschleunigte seine Schritte. Es brannte. Etwa ein Schuppen? Das Dach? Hoffentlich nicht das Haus seiner Eltern.

Er zog Ailéa hinter sich her um die Biegung. Ein dritter Feuerwehrwagen rauschte heran und Hydranten wurden mit Schläuchen verbunden. Koordiniert rollte man lange Bahnen aus und richtete sie auf die Flammen.

Jona war erstarrt.

Hitze wallte ihm entgegen. Es knisterte und knackte, Feuer loderte hoch empor und schwarzer Rauch kämpfte sich zwischen den Dachbalken hervor. Sein Elternhaus brannte. Lichterloh. Rote Flammen verschlangen jedes Fenster, jedes Zimmer und alles, was in ihnen war. Wo waren seine Eltern? Seine kleine Schwester? Das Dach ächzte, eine Scheibe splitterte. Eine Gruppe Feuerwehrmänner stand vor der Haustür und beratschlagte wohl, ob sie noch hinein gehen konnten. Die Tür brach aus den Angeln, offenbarte ein Flammeninferno und gab somit die Antwort.

Jona war fassungslos. Seine Glieder regten sich nicht, bewegten sich nicht. Kein Gedanke ließ sich fassen. Alles in ihm zog sich zusammen, sein Herz hämmerte und trotz der Flammen wurde ihm kalt. Aschegeruch stieg ihm in die Nase, die Wasserpfützen aus den Schläuchen bildeten Seen auf der Straße. In den Augen des jungen Magiers gab es nur noch loderndes Feuer, das alles fraß, was er geliebt hatte.

„Jonathan?“

Er hörte sie nicht. Nur noch Feuer gab es. Seine Beine gaben nach und er sackte auf die Knie. Zitternde Fäuste gruben sich in seine Hose. Sein Leben brannte.

Ein Schatten schob sich vor das lodernde Feuer und veranlasste Jona dazu, den Blick wieder zu heben. Das Gegenlicht ließ ihn erst nicht erkennen, wen er dort vor sich hatte.

„Finn“ Seine Stimme krächzte und die Luft schmeckte verkohlt.

Der blonde, dickliche Junge hatte sich beinahe triumphierend vor ihm aufgebaut. Mit vor der Brust verschränkten Armen sah er auf den jungen Magier hinab. Was tat er hier? Sollte er nicht in einer ganz anderen Welt sein und vor den anrückenden Elfen warnen? Man hatte ihn in Midheim vermisst und hier war er nur. Warum?

Mit lautem Krachen und fliegenden Funken stürzte ein Teil des Dachstuhls in sich zusammen.

Finn trat noch einen Schritt näher. „Nun siehst du was passiert, wenn man sich gegen die Elfenherrin stellt.“

Verständnislos sah Jona zu ihm auf. Das Bild des merkwürdigen Jungen vor seinen Augen verwackelte irgendwie. Und neben den eigenartigen Worten füllte ein Dröhnen seine Ohren. Konnte das wahr sein?

„Du hast richtig gehört. Ich bin jetzt auf der Seite der Elfen.“

Wie stolz er wirkte. Wie dumm er doch war.

„Die Elfen mögen eigentlich keine Menschen. Und du hast ihr Vertrauen gebrochen. Menschen wie du sind Schuld daran, dass die Elfen nichts mit uns zu tun haben wollen.“

Schwindel stieg in Jona auf. Erst im Bauch, dann drehte es sich in seinem Kopf.

„Ich verdiene mir ihr Vertrauen. Mit den Elfen kann ich mächtig werden. Sie sind gut zu mir. Besser als ihr Menschen, ihr habt mich nie verstanden.“

Die Feuerwehrmänner sprangen allesamt zurück, als einige der Dachplatten hinab stürzten. Worte wurden gerufen, die nicht annähernd zu ihnen durchdrangen.

„Ihr Menschen seid so schwach. Ihr seid nichts gegen die mächtigen Elfen. Ich habe ihren Drachen gesehen. Ich stehe jetzt auf der richtigen Seite. Auf der Seite der Starken, der Gewinner.“

Jona schüttelte den Kopf, doch das machte seine Übelkeit nur noch schlimmer. Eigentlich wollte er aufspringen und Finn anschreien. Ihm erklären, dass all das was er von sich gab nicht richtig war. Dass die Elfen gefährlich waren und er in dieser Welt sicher vor ihnen wäre.

„Die Elfenherrin hat gesagt, sie ist bereit mir zu vertrauen. Ich muss ihr nur den einen oder anderen Dienst erweisen.“

Was?

„Die Elfen können nicht durch das Tor. Ich schon. Ich bin der Bote der Herrin, ich führe ihren Willen aus.

Und sie wollte, dass dein Haus brennt. Und deine Familie. Alles soll brennen, hat sie gesagt.“

Finn lächelte. Zufrieden. Stolz auf das Verbrechen, dass er begangen hatte. Im Namen einer eiskalten Herrin. Jona schwankte.

„Hat ganz schön lange gebraucht, bis es endlich gebrannt hat.“

Die Stimme verschwand in die Ferne. All die Gedanken hämmerten dem Jungen gegen die Stirn, betäubten all seine Sinne. Dieser Dummkopf sollte tatsächlich seine Familie getötet haben, nur um sich bei Glacéde einzuschleimen? Das konnte nicht wahr sein. Es durfte nicht wahr sein. War seine Familie etwa verbrannt? Bei lebendigem Leibe?

Der letzte Rest, den er an Kraft und Selbstbeherrschung gehabt hatte verabschiedete sich. Sein Magen drehte sich um und der saure Inhalt erkämpfte sich ungehindert den Weg seinen Hals hinauf. Jona übergab sich. Er sah die Sterne, hörte Ailéa seinen Namen rufen und bevor es endgültig schwarz um ihn wurde spürte er den feuchten Gehweg auf seinem Gesicht.

31.

 

„Lina, glaubst du, dass du noch genug Kraft für eine kleine Rettungsaktion hast?“

„Glaub schon.“

Hagen nahm ihr behutsam Amethyst aus den Armen, wickelte die Kleine in eine Decke und machte ein erleichtertes Gesicht. Die junge Magierin hingegen war ganz gefesselt vom Anblick ihres Lehrers, der mit einem Flammenschwert in den Händen dem Drachenhüter entgegen trat.

„Was macht er da? Will er den Typen umbringen?“

Der Hüne schluckte, „Kann ich mir gut vorstellen. Ich frage mich nur, was er für ein Problem mit ihm hat.“

Lina war sich nicht sicher, ob sie der Anblick eines Kampfes um Leben und Tod reizte. Irgendwie klang das, wie ein Bosskampf in einem Computerspiel. Der Drachenhüter hatte ein Schwert gezogen und wirkte, trotz seiner finsteren Mine, nicht gerade zuversichtlich.

„Wer ist er denn?“

Hagen seufzte und stieß einen Pfiff aus, woraufhin der große Drache mit ein paar fliegenden Sprüngen neben ihm stand.

„Sein Name ist Finn. Er hat einmal in Midheim gelebt, vor langer Zeit. Eines Tages war er einfach verschwunden und man hat ihn nie wieder gesehen. Bis jetzt. Ich bin mir jedenfalls ziemlich sicher, dass er es ist.“

„Aha.“ Das klang alles sehr nach „und er kehrte zurück als der größte Krieger aller Zeiten und veränderte die Welt.“ Hoffentlich nicht.

Eine Hitzewelle ließ sie beide wieder zu Herrn Maier hinüber schauen. Feuerkaskaden loderten empor. Von Seiten der Elfen wuchsen Eisspitzen aus dem Boden, nur um sofort wieder dahin zu schmelzen.

„Ein Teufelskerl“, hörte das Mädchen Hagen in seinen Bart brummen.

Ein bronzefarben geschuppter Drachenkopf schob sich vor sie. Rot und gelb leuchtende Augen schauten sie an. Ungeduldig, bis sie die Hand hob, um ihm über den Schädel zu streichen.

„Ich dachte, ihr könnt sowas auch alle.“

Der Anführer lachte auf, obwohl Lina ihre Worte sehr ernst gemeint hatte. In einem Dorf voller Magier war es doch irgendwie naheliegend, dass sie alle Magie konnten. Oder nicht? Sonst kam man doch auch gar nicht durch das Tor.

„In jungen Jahren ist die Magie in jedem von uns stark gewesen. Bei einigen mehr, bei anderen weniger. Doch sie geht mit den Jahren. Sie verfliegt. Keiner über dreißig kann noch die Magie eines Jungspundes wirken. Bis auf ihn hier.“

Lina machte große Augen und als hätte er alles verstanden zeigte der Drache ihr ein gefährliches Grinsen aus einer Reihe spitzer Zähne. Sie schreckte zurück und Hagen schien seine Gedanken wieder sortiert zu haben.

„Da ist noch eine wichtige Aufgabe für dich. Du musst auf Bronx… das hier ist übrigens Bronx“, der Drache blies amüsiert ein Wölkchen heißen Rauches aus seinen Nüstern. „Du sollst mit ihm zum Drachenzimmer im Elfenschloss fliegen und die Dracheneier mitbringen.“

„Fliegen?“ Die junge Magierin sah ihn schief an. Wie stellte er sich das wohl vor. „Ich kann nicht fliegen.“

„Du wirst es lernen müssen. Jetzt. Wir haben eigentlich keine Zeit, für so lange Unterhaltungen.“

Kurzerhand packte Hagen sie unter den Achseln und Lina entfuhr ein Schrei, als er sie auf den Rücken des bronzefarbenen Drachen hob.

„Das schaffst du schon. Hol einfach die Eier und komm wieder her.“ Bronx bekam einen Klapps gegen die Flanke, schlug mit den Flügeln und riss sich mitsamt des Mädchens in die Höhe. Ihr blieb die Luft weg, der Magen sackte nach unten und ihr Kopf wurde nach hinten geschleudert. Bronx schuppiger, muskulöser Leib bog sich unter ihr, die Flügelschläge rauschten neben ihr und Wind pfiff ihr in den Ohren, dass es weh tat. Noch ein Ruck und sie blieben in der Luft stehen. Lina blinzelte die Sterne vor ihren Augen weg und holte hastig einige ausgebliebene Atemzüge nach. Sie flog. Automatisch klammerten sich ihre Hände an den schillernden Schuppen fest. Ihre Beine baumelten zu beiden Seiten des mächtigen Halses und darunter…

Sie riss sich zusammen, angesichts der schwindelerregenden Höhe und schlang die Arme um den Drachen. „Bring das bloß schnell hinter uns.“

Unter ihnen, weit unter ihnen formierten sich die Elfen hinter dem Drachenhüter. Der Boden färbte sich weiß und das Frösteln stieg bis zu ihnen empor. Bronx Flügel schoben die Luftmassen beiseite und schon waren die Türme des Elfenschlosses zwischen Lina und dem äußerst aufregenden Geschehen vor dem Schlosstor. In Ordnung, zurück zu ihr selbst. Dracheneier holen.

Der Drache kannte den Weg. Er lenkte um die Türmchen herum, dass seine Reiterin herum rutschte und fürchten musste, in die Tiefe zu stürzen. Dort waren die großen Fenster, die Drachenvoliere. Jetzt galt es nur noch zu überlegen, wie sie am besten hinein gelangten. Bronx schien sich jedoch nicht fürs Pläneschmieden zu interessieren. Er legte die Flügel eng an den Körper und es knackte in den Ohren, als er im Sturzflug durch die Scheibenwand rauschte. Lina sparte sich den Aufschrei. Sie riss einen Arm vors Gesicht, hörte das Splittern und einige Schnitte malten ihr rote Striemen auf die Haut. Die abrupte Landung ließ sie einen Satz machen und ohne Halt fiel sie vom Rücken des Drachen hinunter und kullerte über den mit Glas übersäten Boden. Wie lauter Schnee kamen die Überreste der Glasscheiben auf, zerbrachen und rieselten in noch kleineren Stücken zu Boden. Und Lina sah aus, als hätte sie sich auch noch darin gewälzt. Vorsichtig tastete sie ihr Gesicht ab. Als sie keine Splitter fand rappelte sie sich langsam auf. Kaum auf den Beinen wäre sie beinahe wieder gestürzt, so weich hatte der Flug ihre Knie gemacht.

Einfach nicht daran denken, dass man gerade auf einem Drachen in halsbrecherischer Geschwindigkeit durch die Lüfte geflogen war.

Lina blinzelte ein paar Mal und hatte Mühe, sich zu orientieren. Dort an der Wand stapelten die Dracheneier. Gut. Rechts von ihr ragte der Hals des grünen Drachen aus einem Stapel grauer Decken. Ängstlich starrte er Bronx an, wusste wohl nicht recht, ob er sich verstecken sollte.

„Na komm her“, lockte sie ihn, wie eine Katze. Es funktionierte nicht. Raschelnd verschwand der gehörnte Kopf in den Decken.

Die junge Magierin griff kurz entschlossen nach einer der herumliegenden Decken. Kräftig schüttelte sie den Stoff, um die Glassplitter zumindest größtenteils loszuwerden. Auf den Boden ausgebreitet legte sie die Dracheneier hinein. Ganz behutsam, obwohl sie ein paarmal das Bedürfnis hatte, die Steine einfach auf einen Haufen zu werfen.

Wind pfiff hinein, schob die Splitter mit einem unangenehmen Quietschen und Kratzen über den Boden. Bronx schnaubte, lief ein wenig herum und seine Klauen schabten über den Boden. Lina knotete die Enden zusammen, prüfte, ob sie die Last überhaupt heben konnte und übernahm einen zweiten Versuch, den grünen Drachen zu sich zu locken.

„Komm schon mein Schöner. Wir tun dir nichts.“

Der Kopf erschien wieder, reckte sich in ihre Richtung.

„So ist es richtig. Na, komm schon her.“

Tatsächlich schälte er sich aus den Decken und tappte zu ihr und Bronx herüber. Wie groß ihr der Grüne vorgekommen war, im Vergleich zu Amethyst. Und wie klein er nun neben dem Bronzefarbenen wirkte. Verrückt sowas.

„In Ordnung. Bronx? Hilf mir.“

Der Drache neigte seine Schultern, sodass sie leichter hinauf klettern konnte. Die Decke mit den Dracheneiern hatte sie vor sich und fest mit einem Arm umklammert.

„Alles klar. Jetzt bitte ein bisschen behutsamer zurück, wir haben wertvolle Fracht.“

Bronx grollte und Lina hoffte bloß, dass er nicht schadenfroh lachte. Seine Krallen kratzen über den Stein als er Anlauf nahm und sich durch das Loch in der Glasfront fallen ließ. Die Magierin fluchte innerlich, als sich ihr Magen zusammen zog, wie bei einer besonders wilden Achterbahnfahrt. Dieses Vieh wollte sie nur ärgern.

Er schlug mit den Flügeln, sank jedoch immer tiefer. Waren diese Steine etwa zu schwer für ihn? Schaffte er es trotzdem, oder sollte sie Ballast abwerfen?

Mit einem Grollen kämpfte der Drache sich in die Höhe, deckte mit seinem Schwanz eines der Dächer ab und landete direkt vor der steinernen Mauer mit dem Burgtor darin wieder auf dem Boden.

„Verdammt, jetzt komm schon. Wir haben es fast geschafft.“

Rufe wurden laut. Elfen kamen durch das Tor, aus den Gebäuden. Sie zeigten, brüllten sich gegenseitig an und liefen, um sich mit Waffen auszurüsten. Bronx machte einen letzten Flügelschlag und hievte sich auf die Mauer hinauf. Steine fielen hinab und Linas Atem bildete Wölkchen in der kühlen Luft. Der Waldrand war nah, doch viel näher war der Kampf, der dort tobte. Lina vergaß, dass sie auf dem Rücken eines großen, bronzefarbenen Drachen saß, einen Haufen Dracheneier in den Armen und Kälte bringende Elfen um sich herum.

Wie im Tanz umkreisten sich ihr Lehrer und dieser Finn. Klingen trafen aufeinander, dass Funken davon stoben. Der Drachenhüter war nicht schnell, aber er hatte ein gutes Duzend Elfen hinter sich, die sich die Seele aus dem Leib froren. Die Luft war von Schnee erfüllt, Eiszapfen wuchsen aus dem Boden, ebenso schnell, wie sie von vor Hitze flimmernder Luft wieder geschmolzen wurden. Lina fühlte sich wie im Schüttelfrost. Heiß und kalt wechselten einander ab, immer schneller, immer intensiver. Herr Maiers Gesicht zeigte eine steinerne Entschlossenheit, wie Lina es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Hier ging es um mehr, als Menschen gegen Elfen.

Über ihre Köpfe flatterte der grüne Drache hinweg. Hatte er also doch beschlossen, ihnen in die Freiheit zu folgen. Zum Glück.

Ihrem Lehrer entging der befreite Drache ebenfalls nicht. Er sah ihm kurz nach, doch diesen Moment nutzte sein Gegner. Finn brüllte einen Befehl und mit einem Aufbäumen sandten die Elfen ihr Eis aus. Eine Handvoll von ihnen brach daraufhin zusammen, doch ein Eissturm rollte über die Wiese und riss den Magier von den Füßen.

„Herr Maier!“

Bronx setzte von der Mauer und zu dem am Boden liegenden Mann hinüber. Lina glitt von seinem Rücken, kümmerte sich nicht um die paar Schnitte, die sie sich von den scharfen Kanten einiger Schuppen zu zog und kniete neben ihren Lehrer. Um sie herum spross Raureif. Eisige Blumen wuchsen empor, glitzerten kalt im fahlen Licht und umschlossen Herrn Maier wie mit einem Käfig.

Das Mädchen schluckte. Sie ließ die Eier neben sich außer Acht, rückte näher und schloss die Augen.

Jason. Ihre Liebe zu ihm. Endloses Glücksgefühl. Ein Sieg. Die Drachen.

Lina öffnete die Augen wieder und spürte, wie die Hitze angenehm in ihren Armen kitzelte.

32.

 

Herr Maiers Oberkörper war eiskalt. Fast wie tot. Lina legte ihre Hände auf, schloss konzentriert die Augen und ließ die Hitze wie warmes Wasser in seinen Körper fließen. Er war doch nicht etwa tot, oder? Von dem bisschen Elfenzauber?

Ihr Lehrer regte sich, grummelte mit geschlossenen Zähnen irgendetwas vor sich hin und umschloss mit einer eisigen Hand Linas Arm. Behutsam zog er sie von sich weg.

„Heb dir das für die Elfen auf, ich komme schon zurecht.“

„Aber Sie sind ganz kalt-„

Er winkte ab, schob die Brille den Nasenrücken hinauf und atmete ruhig und konzentriert. Die Luft flimmerte, die feinen Eiskristalle um ihn herum schmolzen dahin und sein blondes Haar stellte sich auf. Dass so viel Willensstärke in ihm steckte hätte Lina niemals gedacht. Es dauerte nur einige Herzschläge, schon stand er wieder, machte den Rücken gerade und sah seinem Gegner entgegen.

„Woher nehmen Sie so viel Kraft, Herr Maier?“

„Wut.“

Lina schwieg. Ihr Lehrer ballte die Faust und kleine, rote Flämmchen züngelten daraus empor. Wut? So wie die dunkle Seite der Macht?

„Sehr unpädagogisch, ich weiß. Tu einfach so, als hätte ich das nicht gesagt. Es wäre jetzt auch angemessen, wenn du den Rest nicht mit ansiehst.“

„Können Sie sowas von vergessen.“ Sie hatte leise gesprochen, wusste nicht einmal, ob er sie noch gehört hatte. Mit festen Schritten überquerte Herr Maier die Wiese. Weißes Eis wich frischem Grün, als der Frost wegtaute. Die Elfen schafften ihre zusammengebrochenen Mitstreiter wieder ins Schloss, nur drei von ihnen blieben an der Seite des Drachenhüters. Sonderlich fit sahen sie allerdings nicht mehr aus, einer von ihnen stützte sich zittert auf seinen Speer.

„Zeigen Sie es denen, Herr Maier.“ Sie stand da uns sah zu. Es war anders, als in einem Film. Lina hatte mit gekämpfte, ihre Hände schmerzten, sie hatte überall kleine Schrammen von den Glassplittern und dann war da noch diese Spannung in der Luft. Unglaublich unangenehm, sodass sich ihr Inneres zusammen zog. Der Drachenhüter hatte keine Chance, ihr Lehrer glich einer Urgewalt.

Finn schrie, das konnte er besser als kämpfen.

„Dein Leben wird brennen, die Herrin will es so. Das Leben des Mädchens wird auch brennen. Vor den Elfen gibt es kein Entkommen. Wer die Elfen hintergeht, der wird bestraft.“

Konnte man das ernst nehmen? Linas Blick suchte den Drachen. Bronx lag neben Hagen im kalten und heißen Gras und schaute zu dem Geschehen auf der Wiese hinüber. Er war nicht angespannt, eher wachsam.

„Die Elfen stehen über den Menschen und das werden sie immer tun. Ihr Wille ist was zählt, und-„

„Halt deinen Mund!“

Stille folgte. Nur das leise Knistern von zerbrechenden Eiskristallen und ein fernes Windrauschen waren zu hören.

„Ich würde dir erzählen, dass die Elfenherrin gelogen und dich ausgenutzt hat. Dass es falsch war in ihrem Namen zu morden.“

Die Luft um Herrn Maier herum flimmerte. Sein helles Haar leuchtete, seine Klamotten wurden von einem unsichtbaren Luftstrom aufgewirbelt. Gräser und Eis flogen durch die Luft. Feuer knisterte.

Ein Faustschlag traf den Drachenhüter, gemeinsam mit einem Feuerball. Es riss ihn von den Beinen und das Feuer hatte sich in seinem Mantel festgefressen. Finn schrie und versuchte die Flammen auszuklopfen.

„Aber ich weiß, dass es sinnlos ist, dir etwas zu erzählen, was zu nicht hören willst. So etwas wie du gehört einfach nur bestraft. Ausgemerzt!“

Schon war er über ihm, Feuer hüllte sie ein und Linas Lehrer schlug zu. Ein ums andere Mal.

„Das ist für meine Familie!“

Sie sah weg, bis die Schreie verstummten.

Hagen klopfte ihr beruhigend auf die Schulter und ging dann zu seinem alten Freund hinüber. Raffael tauchte auf und nickte Lina zu.

„Alles in Ordnung?“

Sie hob die Schultern. Mit ihr? Vielleicht. Mit Herrn Maier? Absolut nicht. Ihr Trainer machte noch kurz den Mund auf, dann fiel ihm aber wohl nichts Passendes ein und er schloss ihn wieder. Die junge Magierin wusste auch nicht genau, was man ihr jetzt erzählen könnte. Eine Erklärung für all das? Dafür, dass ihr Lehrer jemanden so sehr hasste oder verachtete, dass er ihn bewusstlos oder sogar tot schlug? Was konnte das schon sein. Außer vielleicht stumpfsinniger Mord an allen, die er liebte.

Lina fröstelte. Sie setzte sich ins Gras und wartete. Amethyst kam zu ihr und legte das Köpfchen in ihren Schoß. Wie unwirklich all dies doch war. Elfenkrieger, der Ritt auf einem Drachen und ein feuriges Duell zwischen zwei ungleichen Magiern. Wie gern wäre sie jetzt wieder zuhause.

Die Dorfbewohner verschwanden nach und nach im Wald, um wieder nach Midheim zurück zu kehren. Raffael verabschiedete sich vorerst und Lina ließ sich noch ein wenig Zeit geben. Gefühlte Stunden saß sie da und dachte dabei an alles und nichts. An Jason, Anni, die Elfenherrin, die Englischhausaufgabe, ihren ungesaugten Teppichboden, Amethyst und Bronx und an Herrn Maier.

Es raschelte hinter ihr durch das Gras und als ein Schatten auf sie fiel musste sie nicht aufsehen um zu wissen, dass ihr Lehrer neben ihr stand. Vorsichtig sah sie zu ihm hoch. Erst aus dem Augenwinkel, um auf böse Überraschungen vorbereitet zu sein. Seine Hände waren blutverschmiert und zitterten. Sein Pullover am Saum versengt, die Brust hob und senkte sich unter tiefen Atemzügen. Die Brille fehlte und sein Gesicht war verdreckt von Staub, Asche und Tränen.

Herr Maiers Stimme zitterte leicht, man merkte, wie sehr er sich beherrschen musste. „Wenn du das hier weiter erzählst wirkt sich das schlecht auf deine mündliche Note aus.“

Lina lachte unwillkürlich auf und ihr Lehrer zwang sich ein Lächeln ins Gesicht.

„Zeit für dich, nach Hause zu gehen.“

Sie stand auf, klopfte ihren Hosenboden ab und ließ Amethyst auf ihre Schulter klettern.

Sollte sie ihn auf das Geschehene Ansprechen? Seine Motivation erfragen? Nein, er würde schon seine Gründe gehabt haben.

Hagen an der Seite gingen sie zurück nach Midheim. Durch den Wald und über die grünen Hügel. Herr Maier ging langsamer als sonst. Deutlich langsamer. Man sah ihm an, dass er eine schwere Last losgeworden war, aber dafür nun die Bürde trug, einen Mann auf dem Gewissen zu haben. Ob es das wert gewesen war?

„Herr Maier, haben Sie das Richtige getan?“

Erst schwieg er und Lina dachte erst, er würde gar nicht antworten. Dann nickte er langsam.

„Und, Herr Maier, was ich mich die ganze Zeit schon gefragt habe…“

Erwartungsvoll sah er zu ihr hinunter. Sie streichelte noch gemächlich über den kleinen Drachenkopf an ihrer Seite, bevor sie weiter sprach.

„Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?“

Hagens Lachen erscholl und ihr Lehrer grinste. Sie stapften einen Hügel hinauf und Lina überlegte, ob das überhaupt wichtig war. Er würde doch immer Herr Maier, ihr Lehrer bleiben.

„Ich heiße Jonathan.“

„Hm, ok.“

Er schien überrascht.

„Keine Sorge, ich bleibe bei ‚Herr Maier‘.“

33.

 

Lina schloss die Augen und genoss noch einmal den Wind, der um ihre Nase wehte und das Gras um sie herum zum Wogen brachte. Das Blätterdach der großen Eiche rauschte und goldene Sonnenstrahlen fingen sich in dem satten Grün.

„Du kannst jederzeit wieder her kommen. Hauptsache du vergisst nicht, wie man das Tor öffnet.“

„Wie könnte ich.“ Sie grinste ihren Lehrer breit an und zog ihre Tasche zu Recht.

Endlich fühlte es sich echt an. All das hier. Die unberührte Natur, die Elfen, die Drachen und die Magie, die wärmend durch sie hindurch floss. Atemberaubend. Wie könnte sie das hier jemals vergessen. Und ob sie zurückkommen würde? Vielleicht.

Amethyst hatte sie in Midheims Obhut gelassen. Sie würde die Kleine schmerzlich vermissen, besonders wenn man daran dachte, was Lina auf sich genommen hatte, um sie zu befreien. Sie hatte sich in die eisige Höhle des Löwen begeben und nicht einmal die Elfenherrin hatte sie aufhalten können, mit ihrem Drachen hinaus zu spazieren.

Aber es war besser so. Ein quietschfideler Drache passte einfach nicht in ihr anderes Leben. Es würde alles komplizierter machen und Lina hatte schon genug, worüber sie sich den Kopf zerbrechen musste.

Der Schatten unter der Eiche empfing sie mit angenehmer Kühle. Inmitten des hölzernen Rahmens sah Lina jetzt schon den grauen, unaufgeräumten Hinterhof durchschimmern. Herr Maier ging vor.

„Weißt du schon, was du deinen Eltern erzählst?“

„Wieso das?“ Verwirrt trat sie nach ihm auf den staubigen Asphalt.

„Du warst vier Tage weg.“

„Uh, verdammt, stimmt ja. Sie haben recht.“ Kurzerhand kramte Lina ihr Telefon hervor. Schwarzes Display. Klar, der Akku war alle. Daran hatte sie überhaupt nicht mehr gedacht.

„Und ich hab die Schule verpasst und die Gruppenarbeit in Englisch, und… Ach verdammt, was mache ich denn jetzt?“

Ihr Lehrer schob einige Paletten und eine hölzerne Schranktür vor das Weltentor. Ein Drahtgitter fiel noch klappernd davor, dann trat er zufrieden zurück und bedeutete Lina, dass es Zeit zu Gehen war.

„Können Sie mir nicht ein Alibi verschaffen?“

„Was?“

„Na, Sie haben mich da schließlich mit reingezogen, also können Sie mir gefälligst bei meiner Ausrede helfen.“

Unschlüssig strich er sich über den Nasenrücken. Wäre sie noch da, hätte er sich wohl die Brille mit dieser Geste hochgeschoben. Ein wenig hilflos gestikulierte er mit den Händen, ließ sie dann an seinen Seiten hinunter fallen.

„Wir könnten zur Polizei gehen und sagen, Sie hätten mich aus der Gewalt eines Entführers befreit. Wär doch cool, oder nicht?“

Herr Maier verzog eine Mine. Demnach wohl nicht.

„Haben Sie vielleicht eine bessere Idee?“

Er seufzte. „Noch nicht. Aber ein bisschen Zeit haben wir auch noch zum Überlegen.“

Lina fing das Grübeln an, schweifte ab zu den so stinknormalen Häusern und Menschen um sich herum. So ganz ohne Spur von Magie oder fantastischen Dingen. Ein bisschen langweilig, ja, dafür kannte sie sich hier aus.

„Was haben Sie denn Ihren Eltern erzählt, als Sie das erste Mal in der Magiewelt waren?“

Sie hatte etwas Falsches gesagt. Das sah sie ihm sofort an. Zerknirscht biss sie sich auf die Unterlippe.

„Ich musste mir keine Ausrede ausdenken.“

Irgendwo kläffte ein Hund.

„Aber ich hätte alles dafür gegeben.“

 

Jason hielt sie in seinen starken Armen. Diesen Platz und dieses Gefühl würde sie durch kein magisches Abenteuer eintauschen wollen. Sie hatten sich noch viele Male geküsst und saßen nun am Wasser, auf einem Steg und sahen sich einen unglaublich romantischen Sonnenuntergang über den Baumkronen des Flusstales an. Er strich ihr immer wieder über das Haar, zog sie an sich und ihr Herz schlug so schnell, dass sie meinte die Magie würde in ihrem Inneren tanzen.

„Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.“

Lina nickte, kuschelte sich in seine offene Jacke.

„Das sowas einfach so passiert… schon krass. Und du hast das durchgestanden und Herr Maier hat dich gerettet.“

Sie lächelte und sah zu ihm hinauf.

„Wow.“

„Ja, Wow.“

Und wie viel Wow. So viel Wow, von dem die Polizei, ihre Eltern und Jason keinen Schimmer hatten. Was würde er wohl zu Linas Zauberkunststücken sagen? Zu Elfen und Drachen? Wie viel Wow wäre das wohl wert?

„Ich bin nur froh, dass ich dich unversehrt wieder habe.“

Sie nickte. Ihr ganzes Leben erschien seit heute angenehm rosig. Die Schule würde sie schon packen, sie war endlich mit ihrem Schwarm zusammen und vor allem hatte sie kein Drachenbaby mehr in ihrem Zimmer versteckt. Und wenn ihr doch noch einmal der Sinn nach einem kleinen Abenteuer stand, dann wusste sie genau, wie sie zu Bob McGullochs Zauberladen und durch das Tor gelangen konnte. Wann immer sie wollte.

„Wenn du nicht zu sehr traumatisiert bist oder so… erzählst du mir dann, wie genau das abgelaufen ist? Wie Herr Maier dich da raus geholt hat? Verdammt cool von ihm.“

„Die ganze Geschichte?“ Lina lächelte. Oh, wenn er wüsste, wie lang diese ganze Geschichte war. Aber davon erzählen? Der Magie und den Drachen? Damit er sie für verrückt hielt.

„Es gibt da eine ganze Menge zu erzählen.“

Er schlang die Arme um sie und drückte ihr einen Kuss auf den Mund.

„Du würdest staunen.“ Lina lachte und ließ unauffällig hinter seinem Rücken eine Blüte schweben. Kein Traum, alles wahr. Alles ein einziges, großes Geheimnis. Ihr Geheimnis.

„Wer weiß, vielleicht erzähle ich dir eines Tages davon. Irgendwann mal.“

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.02.2014

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