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Auf dem Teppich waren Blutflecken.
Mit dreckigem Pfützenwasser vermischtes Blut auf dem steinernen Teppich der Wilhelminenbrücke. Nasser Wind fegte durch den Kanal und kräuselte das trübe Elbwasser. Das Kopfsteinpflaster glänzte feucht und all die Kähne und Kutter versteckte der Morgennebel.
Micha stand da, starr und steif als könnte ihm die kleinste Bewegung Schmerzen bereiten. Niesel peitschte ihm eisig ins Gesicht, dennoch konnte er den Blick nicht abwenden.
Dort unten im Kanal trieb er, den Bauch dem wolkenverhangenen Himmel entgegen gestreckt. Sein speckiger Mantel hatte sich an jenem Holzpfahl verfangen, auf dessen metallbeschlagene Oberseite die Touristen Kleingeld schnippte. Wellen schwappten ihm über das aufgedunsene Gesicht.
Er war tot. So tot, wie man nur sein konnte.
Micha wandte ihm den Rücken zu und suchte mit bedächtiger Eile das Weite. Er meldete sich für den Tag krank und las es am nächsten Tag in der Zeitung.

Ruckelnd und Quietschend kroch die U-Bahn unter der Erde hervor, um sich in vergleichsweise luftiger Höhe zwischen all den Innenstadtbauten wieder zu finden. Leichter Regen bedeckte die Scheiben und innen war eine der Lampen ausgefallen. Die Wagons waren voll, man fuhr zur Arbeit.
Micha war in einen Zeitungsartikel vertieft. Der Mann ihm gegenüber hielt ein Hamburger Abendblatt in der Hand und störte sich wohl nicht daran, dass jemand mitlas.
„Professoren-Tod in der Hafencity. Polizei tappt im Dunkeln.“, Micha atmete schwer aus.
Hinter ihm war eine junge Frau leidenschaftlich am Telefonieren und sie schien ganz darauf aus den Mitreisenden nahezulegen, sich niemals mit „diesem Blödmann“ einzulassen.
Die Hände in den Manteltaschen strömte Micha mit vielen anderen auf den Bahnhof. Die Treppe hinunter und vorbei an dem verführerischen Duft von Franzbrötchen und Kaffee.
Über die Straße und dann kam wieder die Brücke. Sein Herz schlug unwillkürlich schneller. Den Blick fest auf die blauen Blumen des Steinteppichs gerichtet passierte er all die Schaulustigen, die an diesem kühlen Januar morgen nicht bloß die Liebesschlösser am Brückengeländer, sondern auch einen echten Mordschauplatz zu bestaunen hatten.

„Moin moin.“, wurde ein flüchtiger Gruß mit den Kollegen ausgetauscht, mehr Worte verlor Micha heute auch nicht. Und alle kannte sie nur ein Gesprächsthema: den Mord vor der Haustür des Bürogebäudes.
Die Bildzeitung erklärte, der Akademiker sei über die Brüstung und gegen den Pfeiler gestürzt. Ob von selbst oder durch einen Zufall, das könne schließlich noch niemand wissen.

Schleichend verging die Zeit, in der Micha häufiger mit dem Geschehen draußen, als seinem Computermonitor beschäftigt war. Viel zu viel Kaffee schüttete er in sich hinein, in der Hoffnung, es möge ihn aus seinen bösen Träumen wecken.
„Er hat es verdient“, schoss es ihm immer wieder in den Kopf.
Nur ein spärlicher Rest Kaffeesatz fand sich in der Tasse, als der junge Student sie zu seinem Feierabend in die Spülmaschine stellte. Seine Hände zitterten und es ergab ein böses Geräusch, als Keramik gegen Metall klapperte. „Den Tod verdient.“

Die Rückfahrt zum Studentenwohnheim dauerte eine gefühlte Ewigkeit. In der Düsternis draußen leuchteten Fenster von Bürogebäuden. Auf den Sitzpolstern saß man wie auf Hartplastik und die Luft war verbraucht und so viele Gerüche vermengten sich, dass es eigentlich nach gar nichts mehr roch.
„Es war gut, dass er tot war“, sagte Micha ständig vor sich hin, fast wie eine Beschwörungsformel, „Es war besser so“.

Auf den letzten Metern zum Wohnheim setzte der Nieselregen wieder ein. Kalt und durchdringend. Seinen Mantel hängte er an die Garderobe, doch diese tief sitzende Beklommenheit konnte er nicht ablegen. Da half auch keine Ofenpizza und kein gut gekühltes Astra.
„Scheiße“
Im Schlafanzug saß er schließlich am Fenster, den Kopf auf den Arm gestützt und starrte nach draußen. Wassertropfen rutschten die Scheibe hinab und quälend langsam wanderte der Minutenzeiger weiter. Immer herum um das Ziffernblatt.
Ein paar Mal versuchte er, sich einfach hinzulegen und die Augen zu schließen. Jedes Mal waren Bilder vor seinem inneren Auge erschienen und das Gedankenkarussell hatte sich schließlich so schnell gedreht, dass er die Augen schweißgebadet wieder aufgerissen hatte.
„Es war richtig, dass er hatte sterben müssen.“
Am Horizont kündete ein schüchternes Dämmern den nächsten Tag an.
„Oder etwa nicht?“
Micha beschloss, die Vorlesung heute sausen zu lassen. Der Ablenkung wegen schaltete er den Fernseher ein, machte sich eine Schüssel Müsli und aß bedächtig langsam und der Nonsens aus der Röhre schaffte es tatsächlich, ihn ein wenig auf andere Gedanken zu bringen.
Bis die Nachrichten kamen.
Nach dem ewigen Nahostkonflikt und der unfertigen Elbphilharmonie kam das Thema auf den toten Professor. Micha blieb sein Bissen im Halse stecken.
„... wurde der 52 jährige Professor Frieder Hanse am frühen Morgen des 10. Januar in der Hafencity in seinen Tod gestoßen. Die Polizei will derzeit noch keine weiteren Informationen zum Stand der Ermittlungen bekannt geben.
Jedoch ist bekannt, dass das Opfer als jähzornig galt und häufiger mit Vertretern der Studierenden aneinander geraten ist. Gerüchteweise soll es auch sexuelle Übergriffe -“
Micha schaltete aus.
Den Blick starr auf den schwarzen Bildschirm gerichtet war es das erste Mal seit bestimmt 24 Stunden, dass sein Kopf sich komplett leer anfühlte.
„War es richtig, dass er dafür hatte sterben müssen?“
„Doch, bestimmt war es das!“
Er erhob sich, ging duschen und genoss, wie ihm das Wasser auf den Kopf prasselte.
Ganz allmählich wurden seine Gedanken wieder klarer. Professor Hanse war kein guter Mensch gewesen.

„In mehreren Fällen hat er Studentinnen sexuell belästigt, in einigen Fällen ist es hierbei zu Übergriffen gekommen. Die 21-jährige Miriam Luppe soll daraufhin Selbstmord begangen haben. Professor Hanse hatte damals alles abgestritten und die Schuld von sich gewiesen. Die Polizei erwägt nun, den Fall wieder aufzurollen, um einen Hinweis auf den Mörder des Akademikers zu erhalten.“

Leichter Schneefall hatte den ewigen Nieselregen abgelöst.
Micha sah hinaus, während er appetitlos in den Mensaspaghetti mit undefinierbarer Soße herumstocherte.
Es hatte eine Ansprache für den verstorbenen Kollegen gegeben und nun, wo die ganze Sache nicht mehr allzu blutig frisch war fing man an, sich die Mäuler zu zerreißen.
„Ist mir schon recht, dass er weg ist. Seine Vorlesungen habe ich nie leiden können.“
„Weiß man schon, wer ihn ersetzt? Hoffentlich finden sie noch vor den Klausuren einen Ersatz.“
„Glaubt ihr eigentlich, dass er was mit Miris Selbstmord zu tun hatte?“
Micha hatte bloß die Hälfte geschafft. Der Appetit fehlte ihm nach wie vor. Unschlüssig stand er später vor den Fahrstühlen, ohne sie richtig zu beachten. Schon zwei waren angekommen und ohne ihn wieder in die oberen Stockwerke verschwunden.
„Guck nicht so trübsinnig.“, unwirsch, aber freundschaftlich wurde dem Studenten in die Seite geboxt, „Daran, dass Professor Hanse tot ist kann man jetzt nichts mehr ändern. So was passiert eben... Wenn auch nicht besonders häufig.“
Sein Kommilitone Ben stand neben ihm und grinste ihn breit an. Die dunklen Haarfransen bis über die Augen fallend, über der Schulter seine geliebte Armee-Tragetasche.
„Ich bin froh, dass er nicht mehr lebt.“, rutschte es Micha heraus, „Ich mochte ihn nie“, fügte er leise hinzu.
Ben sah ihn aus dem Augenwinkel an, seufzte und drückte den Knopf, um den Fahrstuhl zu rufen.
Sie hatten die Kabine für sich, die Vorlesung hatte schon vor fünf Minuten begonnen.
„Wegen Miri, richtig?“, kam es von Ben.
Micha nickte. Ja, wegen Miri.
Sie waren ein Paar gewesen. Er und sie. Micha und Miri. Und dann war alles so plötzlich vorbei gewesen, von einem Tag auf den anderen. Zwei Jahre Beziehung. Pläne für den Zusammenzug. Studieren von Immobilienanzeigen. Und dann vorbei.
Von einem Tag auf den anderen.
Aus dem Leben gerissen.
Aus seinem.
Ben schwieg. Er spürte wohl, dass er zu viel aufgewirbelt hatte. Mit aufmunterndem Lächeln klopfte er Micha auf den Rücken und schob ihn vor sich aus dem Fahrstuhl.
„Na komm, Micha. Vielleicht bringt die Betriebswirtschaftslehre Teil zwei dich auf andere Gedanken.“
Ein schlechter Scherz.

Der BW-Prof war in die Diskussion mit einer Studentin vertieft, als Micha und Ben sich in einer der hinteren Reihen nieder ließen.
Ihre Kommilitonin Teresa, genannt Tessa, war wieder einmal voll in ihrem Element und gut dabei, den Professor an die Wand zu reden. Sie blickte nach hinten über die Schulter, als Bens Stuhl beim zurecht rücken allzu laut über den Boden kratzte. Ihr Blick traf Micha. Er fuhr zusammen.
Das war kein Blick, den man jemandem zuwarf, der durch sein Zuspätkommen den eigenen Redefluss unterbricht. Als wollte sie ihn erdolchen, erschlagen, erwürgen. So sah sie ihn an.

„Sie weiß es“, schoss es Micha durch den Kopf.

Angespannt lauschte Micha dem Bericht im Radio, der wieder einmal den Todesfall Professor Hanses zu durchleuchten versuchte. Gab es denn nichts anderes, worin alle Welt herum schnüffeln konnte?
So konzentriert ließ er sich die Aussage „die Polizei tappt weiterhin im Dunkeln“ durch den Kopf gehen, dass er, als es an der Tür klopfte, öffnete, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wer dort stehen könnte.
Eigentlich hatte er erwartet, Ben würde zu ihm kommen, um gemeinsam die Aufgaben für Stochastik durchzugehen.
Umso mehr erschrak der Student, als Tessa mit einem Mal vor ihm stand.
Sie weiß es.
„Kann ich dich kurz sprechen?“, kam es ihr von den Lippen, doch ihre Augen verkündeten eisige Kälte.
„Sicher. Möchtest du was trinken? Selters?“
„Ja, bitte.“

„Miri hat sich nicht das Leben genommen.“
Micha wusste das. Er hatte es so sehr geahnt, dass er es gewusst hatte.
„Er hat sie dazu gebracht, in den Tod getrieben - ach du weißt schon.“, Tessa schaute weg, die ineinander verschränkten Hände zitterten.
„Niemals hätte sie ihr Leben zu diesem Zeitpunkt einfach so weggeworfen. Sie hatte ihr Studium, dich, Pläne für die Zukunft...“
Die junge Frau wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
Micha schwieg.
„Ich hab nicht glauben wollen, dass jemand sie umbringt. Und dann...“, Tessa hob den Kopf und wartete, bis Micha sie ansah.
„Dann habe ich es aus seinem Munde gehört.“
Hinter Michas Stirn arbeitete es wie ein Vierkernprozessor.
„Sie wusste zu viel, hat er gesagt.“
Schweigen folgte.

„Wirst du irgendwann zur Polizei gehen?“
Bei der Frage krallte sich Micha unwillkürlich in seine Hose. Er wusste es nicht. Seit jenem Tag tobte es wie ein Virus in ihm. Ein Krieg, der zwischen Moral und Rache ausgefochten wurde.
„Sollte ich?“, er wusste, es war die falsche Antwort, noch bevor sie die Frage gestellt hatte.
Tessas Mine erstarrte. „Du würdest es wirklich tun, oder... Du bist so ein Mensch. Du hast nicht vor ihm gestanden, als er mit unendlicher Gleichgültigkeit über Miris Tod gesprochen hat. Du wärst niemals Manns genug, ihn von der Brücke zu stoßen.“
Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte ihn nicht töten wollen, nur bestrafen. Von der Brücke zu stürzen, wie Miri, das wäre seine gerechte Strafe gewesen. In den Tod hätte er ihr nicht folgen sollen.
„Du hast nur zugesehen.“, fügte sie leise hinzu.
Ja, er hatte es gesehen.
Gesehen, wie Tessa und Professor Hanse in heftigem Streit auf der Brücke gestanden und sie ihn hinunter gestoßen hatte. Er war gerade von der Bahnstation gekommen. Der einzige Mensch weit und breit.
Der einzige Zeuge.
„Sag es nicht der Polizei. Die wissen nichts. Die werden nie auf mich kommen.“, Tessas Mundwinkel verzogen sich zu einem fast wahnsinnigen Lächeln, „Es war viel zu einfach. Ihn über die Brüstung zu stoßen. Kann ich ahnen, dass er dabei draufgeht?
Geh nicht zur Polizei“, flüsterte sie.
Miri war gerächt. Das brachte sie nicht zurück. Nicht von dem Leben wie es war, wenn man es mit Miri teilen durfte. Wenn nun auch noch ihre beste Freundin gehen musste, was war dann noch übrig?

Seine Gedanken kreisten im Leerlauf, als er vor der Polizeiwache stand. Das Gebäude wirkte eigentlich harmlos und unschuldig, wie ein beliebiges, normales Gebäude eben. Dennoch strahlte es auf Micha eine unfassbare Bedrohung aus.
Langsam waren die Schritte, welche ihn durch die Tür und vor den kleinen Tresen lenkten, hinter dem geschäftig ein Ordnungshüter telefonierte. Jedes Vorwärtskommen war schwer von Bedenken, von Unsicherheit und Trauer.
Der Polizist legte den Hörer auf, seufzte und wandte sich Micha zu.
„Moin, was kann ich für Sie tun.“
„Es geht um den Mordfall Professor Hanse.“
Nun horchte der Beamte auf, setzte sich in seinem Drehstuhl zurecht und sah den Studenten aufmerksam an.
Am liebsten wäre Micha nun irgendwo anders. Vor dem Fernseher, dem PC, mit Freunden feiern...
Alles in der Wache schien auf seine Aussage zu warten, die wartende Frau mit Kopfhörern auf den Ohren, die Zimmerpflanzen, einfach alles.
„Ich möchte eine Aussage zu diesem Fall machen.“
Der Polizist lehnte sich auf den hölzernen Schreibtisch, „Ja?“
Micha ballte die Faust, damit seine Finger endlich aufhörten zu zittern.
„Mein Name ist Michael Kölzer, ich bin Student und ich habe Professor Hanse von der Brücke gestoßen. Ich bin sein Mörder!“

Impressum

Texte: Erdbaerchen
Bildmaterialien: Erdbaerchen
Tag der Veröffentlichung: 22.01.2013

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