Das Wetter war grauenhaft. Seit Tagen schon nichts als eine graue Wolkendecke und gelegentlich ein Regenschauer. Dazu war es noch kalt, aber so war das eben im Herbst. Die Erkältungssaison hatte wieder begonnen und das heiße Wasser mit Teebeutel darin half weder meine Zehen aufzuwärmen, noch meine Stimmung zu verbessern. Dabei hatte ich gerade letzteres dringend nötig.
Ich lag auf meinem Bett, starrte an die Decke und wartete geduldig, dass der Tee so kalt und widerlich wurde, dass ich ihn guten Gewissens weg schütten konnte.
Regen trommelte ans Fenster, in einem beruhigenden, rauschenden Rhythmus. Musik mochte ich jetzt keine hören, ich wollte die Stille genießen. Unter meiner Decke liegen und an die Decke starren.
Auf dem kurzen Weg vom Bus war ich in den Regenschauer geraten, der mich binnen fünf Minuten durchnässt hatte. Jeans und Pulli hingen nun im Bad zum Trocknen, während ich innerlich hoffte, die Talfahrt in meinem Leben möge endlich ein Ende nehmen.
Vor wenigen Stunden erst hatte es Streit mit meinem Freund gegeben, weil er auf meine Stimmungsschwankungen manches Mal einfach nicht konnte, im Studium drängten sich alle Referate und Projekte auf einmal auf und etwas mehr Geld auf dem Konto würde mir sicherlich Erleichterung bringen.
Mit einem leidenden Stöhnen wälzte ich mich auf die Seite und starrte auf meinen Schreibtisch. Bläulich flackerte der Bildschirm meines Laptops, links türmte sich der eine Zettelstapel auf, rechts der andere. Meine klitschnasse Tasche hing über der Heizung und trocknete hoffentlich mehr, als dass sie mir den Boden volltropfte.
Dann fiel mein Blick auf sie. Eine verführerisch glänzende Verpackung. Sie lag ganz unten, unter dem Zettelstapel. Und das schon sehr lange, wenn ich genauer darüber nachdachte.
Ich rollte mich auf den Bauch und starrte zum Schreibtisch hinüber, als versuchte ich, einer Hypnose zu widerstehen.
Eigentlich durfte ich nicht einmal daran denken. Als gelte es, nicht erwischt zu werden huschte ich mitsamt Decke zum Schreibtisch hinüber und zog das Objekt meiner Begierde unter all den Zetteln hervor. Ebenso schnell saß ich auch wieder im Bett und hielt meine Beute in der Hand.
Schokolade.
Nicht irgendwelche Schokolade. Die leckerste, die ich jemals hatte kosten dürfen.
Ich ließ mich zurückfallen und schloss sehnsüchtig die Augen.
Nein, sagte ich mir, nein, dass darfst du nicht. Ich verbiete es mir!
Langsam öffnete ich die Augen wieder, ließ meinen Blick über die lockenden Schriftzüge gleiten.
Vollmilchschokolade versprach es mir. Lecker. Mit der Zimmerdecke entgegen gestreckten Armen hielt ich die Tafel von mir weg. Dieser Schatz musste aus der Zeit stammen, als ich noch ein Problem weniger hatte. Als noch kein inneres Verbots-Schild mich vor dem ungehemmten Genuss zurückgehalten hatte.
Mein Blick fiel seitlich wieder auf den Schreibtisch. Auf all die Dinge, die ich noch zu tun hatte. Die drängten, keinen Aufschub duldeten und auch noch wichtig waren. Nur ein paar Minuten wollte ich Pause machen, wieder aufwärmen und mich ein wenig von dem Regenguss erholen. Zu gern hätte ich etwas, dass mich tröstete. Mir ein gutes Gefühl und Zuversicht gab. Ein kurzer Genuss, der mich nicht allzu lange von dem Notwendigen ablenkte.
Schokolade.
Gedankenverloren öffnete ich die Verpackung. Riechen schadete nicht. Es ermöglichte zumindest einen kleinen Eindruck vom Geschmack.
Wie schwach ich war.
Ich liebte Schokolade. Wie sie duftete, auf der Zunge zerging, meinem Gaumen schmeichelte und das beste Gefühl der Welt hinterließ.
Schokolade war immer für mich da, wenn ich Trost oder Zuspruch benötigte. Wenn mein Körper nach Zucker schrie oder mein Verstand nach kurzweiligem Genuss. Oder wenn ich einfach unter Stress stand und mein Mund mit verdammt noch einmal irgend etwas beschäftigen musste.
Kakaobraun leuchtete es mir entgegen. Ich durfte nicht, nein. So etwas wie Schokolade war für mich verboten.
Schnell legte ich die Tafel neben mein Kissen und drehte mich von ihr weg.
Genau zu wissen, wie gut es doch schmeckte war das Brutalste überhaupt.
Aber mein Wille war schwach.
Ich drehte mich zurück, beobachtete die Schokolade, als könnte sie bei einer zu hastigen Bewegung davon laufen.
Ein kleines Stück? Ein Stück Schokolade. Konnte das wirklich so verboten sein? Nur ein Stückchen. Es war doch nur so wenig, vor allem verglichen mit der ganzen Tafel. Nur ein Bissen, von meiner geliebten Schokolade.
Langsam brach ich einen Riegel von der Tafel und ein Stück aus dem Riegel. An meinen Fingern schmolz es ein wenig an, als ich die Schokolade zum Mund führte.
Verboten, verboten, verboten! Schrie es in meinem Kopf. Ich würde es bereuen, ganz sicher.
War es den Genuss denn nicht wert? Und vielleicht war solch ein kleines Stück nicht schlimm. Was war das schon. Eine winzige Menge meines geliebten Schokogenusses.
Genussvoll ließ ich die Schokolade auf meiner Zunge zergehen. Wie sie meine Geschmacksnerven mit wonnehafter Süße verklebten, das Stückchen im Mund weich wurde und zerging. Im ganzen Mund verbreitete sich dieser unnachahmliche Geschmack. Nicht irgendeine Schokolade. Die leckerste von allen. Die allerbeste.
Mit geschlossenen Augen genoss ich, ließ meine Zunge den ganzen Mund absuchen nach letzten Resten dieser Wohltat.
Es war verboten gewesen!
Tatenlos lag ich da, horchte in mich hinein. Draußen prasselte der Regen an die Fensterscheibe und ich wartete. In mir die Hoffnung, dass ich umsonst wartete. Dass das, worauf ich lauerte mich verschonen würde. Aber vielleicht hatte ich Glück. Es war doch nur ein köstliches Stückchen gewesen. Das zählte doch wohl kaum, oder?
Nur ein kleines Stückchen.
Ich war dumm gewesen. Das Verbot galt nicht ohne Grund.
Der Genuss war verflogen, all die Gedanken an die erledigte, vor mir liegende Arbeit kehrte zurück. Der Streit, der Regen, der Stress. So schnell hatte meine geliebte Schokolade also wieder von mir gelassen. Viel zu schnell.
Nun musste ich die Konsequenz tragen, da war ich mir mit einem Mal sehr sicher. Dafür, dass ich meinem Verlangen nach Liebe nachgegeben hatte. Wie groß das Stück war, das hatte doch ohnehin keine Bedeutung. Mit wachsenden Befürchtungen lag ich da, hatte den Rest der Schokolade behutsam beiseite gelegt. So sehr mochte ich Schokolade, dass ich selbst mein eigenes Verbot missachtet hatte.
Still lag ich da, wartete erst auf ein Ziehen im Magen, ein Kneifen. Dann krampfte sich alles in mir zusammen, dass ich mich vor Schmerzen krümmte. Ich wand mich, fluchte leise vor mich hin, doch ich wusste, was vor mir lag. Ich hatte es gewusst, noch bevor ich mir das Stück Schokolade abgebrochen hatte, das mir auf so wunderbare Weise auf der Zunge zergangen war.
Wie ein Dämon wanderte es durch meinen nicht enden wollenden Verdauungstrakt und bescherte mir so furchtbare Schmerzen.
Meine Liebe würde das niemals brechen.
Ich war schwach. Jedes Mal aufs Neue würde ich erneut bereuen.
Die Schokolade liebte ich dafür, dass sie so himmlisch schmeckte, wie sie es eben tat.
Mich verfluchte ich für meine gottverdammte Milchzuckerunverträglichkeit.
Texte: erdbaerchen
Bildmaterialien: erdbaerchen
Tag der Veröffentlichung: 13.09.2012
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