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Das Geheimnis war uralt.
Immer wieder durchfährt einem dieses elementare Schauern.
Selbst Vater oder sogar dessen Vater erzählten stets mit geheimnisvoll gesenktem Tonfall von dem Geheimnis. Über viele Generationen hinweg wurde es, seine aufregende Geschichte ohne Ende, von den männlichen Familienmitgliedern erzählt, von Mund zu Mund in nur geringfügigen Variationen. Jedes Mal, wenn von ihm erzählt wurde, öffneten sich die Münder vor Staunen weit und auf den Armen bildeten sich die bekannten Höckerchen, als Gänsehaut oder sogar „Hummeltittchen“ bekannt.
Bald schon reichte es, eine nur kurze Andeutung zu machen, dann begannen die Impulse unter der Haut auf zu blitzen und alle Vorbereitungen zu treffen, für neue Hügelchen, Haarwurzeln auf zu richten, Stoppeln auf der Haut, wie auf einem abgeernteten Getreidefeld zu bewirken. Immer wieder neu.
Ihre Liebschaft war nur kurz. Eben erst hat sie begonnen. Die Musik hatten sie beide nur noch als Lärm empfunden. Lustiger Lärm. Na ja, sie hatten schon eine Menge von diesen Cocktails getrunken. Vermutlich waren etliche alkoholhaltige Getränke dabei gewesen, denn der musikalische Lärm und das Stimmengewirr der vielen anderen Tänzerinnen und Tänzer, erklangen gedämpft. Sie konnten beide ihre Umwelt nur noch leise wahr nehmen. Alles schien in Watte gepackt. Lila Watte in den Ohren, lila Wattewolken vor den Augen.
Da! Aus dem lila Dunstkreis schält sich, immer deutlicher werdend, klare Konturen gewinnend, ein Gesicht, nein zwei Gesichter heraus.
In ihren Augen spiegelte sich ein bärtiges, etwas unsicher lächelndes Gesicht, dessen graublaue Augen in ihrem Gesicht etwas zu suchen schien. In seinen Augen hingegen spiegelten sich eine kleine, aufmüpfige Nase, volle, rote Lippen und grünes Feuer speiende Augen, die in ihm Neugierde, aber auch Schaudern weckten.
Sie hob abwehrend ihre schlanken Hände vor die aufgereckte Brust, während er mit plötzlichem Entschluss ihre Hände packte.
Der Kontakt löste in ihr einen elektrischen Impuls aus, der von den Zehen bis in ihre Haarspitzen strömte und dann, durch den Kontakt der Hände begünstigt, auch ihn durchfuhr. Beide waren nun in diese lila Wattewolke eingesperrt, von ihrer Berührung gefangen, von einem Beschluss beseelt, von dem sie später nicht sagen konnten, wann und wie er entstand.
Irgendwie konnten sie, mit und in ihrer lila Wolke einen Raum finden, in dem sie allein sein konnten. Irgendwie fand sich eine Liegestadt und irgendwie berauschten sie die Küsse, die ihre Lippen, ihre Körper empfingen, die längst von der Last der Kleidung befreit, elementare Informationen verarbeiten konnten, ohne dass irgend ein Bewusstsein dabei störte. One- Night- Stand nennt man das in eingeweihten Kreisen.
Verwirrt, blickten sich danach vier Augen an. Beseelt, weil es ein schönes Erlebnis war, verwirrt, weil sie nicht mehr wussten, warum und wie es dazu kam.
Vorsichtig nähern sich wieder ihre Gesichter. Ihre Lippen treffen sich vielleicht ein letztes Mal, warm und feucht. Dann durchdringt sie die plötzliche Erkenntnis:
Ein Kuss hatte den Beschluss gefestigt, der zweite Kuss die Richtung bestimmt. Alles andere bleibt ein Geheimnis.

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Tag der Veröffentlichung: 19.07.2011

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