Kuckucksspucke
Mein Name ist Natalie. Geboren wurde ich in einer klaren Winternacht im Januar 1974 in einer Kleinstadt Ostfrieslands. Als Tochter einer Buchhalterin und eines Kapitäns AG. Ich habe eine ältere Schwester und mein Leben ist schön!
Dennoch schwelge ich in Phasen früherer Zeiten, als die Welt noch mehr in Ordnung war und ich erinnere mich... ich erinnere mich....
2011
Es ist ein ganz normales Haus. Ohne Schnickschnack, ohne Besonderheiten. Aber es ist DAS Haus! Ich will es haben, ich will es zurück haben und ich gäbe alles dafür.
Kapitel 1
Frühling Anno Dunnemals
1981
Rote Klinker, schwarzes Ziegeldach, Balkon, Holzfensterrahmen, selbstgebaute Terrasse. Das Grundstück ist nicht besonders groß. Vielleicht 500qm, vielleicht auch bisschen mehr. Am blühenden Apfelbaum hinterm Haus hängt meine selbstgebaute Schaukel.
Die Bienen summen um die üppigen weißen Apfelblüten.
Ich habe an einem niedrigen Ast das spröde Seil festgebunden, das ich in der Garage gefunden habe. Als jedoch das Seil reißt und ich herunter falle, sägt mein Opa kurzerhand den Ast ab. Böser Opa!
Nein, eigentlich ist mein Opa lieb und der beste Opa der Welt. Er war bis vor wenigen Jahren Chefredakteur der hiesigen Tageszeitung. Zwar wurde er vor kurzem pensioniert aber trotzdem arbeitet er immer noch und zwar für den Handelsverein und als Autor der Beilage "Unser Ostfriesland".
Mein Opa heißt Helmut, hat weißes Haar und ein Knickohr. Er sagt, das hat er, weil er mal die Scheibe seines Autos hochgekurbelt hat und sein Ohr dazwischen kam. Es musste dann wieder angenäht werden und darum ist es so schrumpelig.
Er ist groß und stark und macht viel Sport.
Wenn er Feierabend oder Urlaub hat, werkelt er viel im Garten, am Haus oder im Bastelkeller herum und ich darf ihm helfen. Wir zimmern zusammen Brutkästen für die heimischen Vögel und er baut mir aus einer alten Seemannskiste eine Behausung für mein Kaninchen...
Ach ja - die Kaninchen. Einmal im Jahr findet in der Turnhalle der Grundschule hier im Ort eine Kaninchenausstellung des Kleinzüchterverbandes statt. Ich gehe dort immer alleine hin. Der Weg ist ja nicht weit. Für 50 Pfennig kann man sich ein Karnickel erknobeln. Dreimal darf man würfeln und man sollte dann drei sechsen haben. Ich bin gut. Ich knobel immer solange, bis ich eins gewinne und das ist fast jedes Jahr der Fall. Allerdings habe ich nie mehr als 3 D-Mark dabei, doch es reicht um stolz mit dem Tier nach Hause zu kommen. Da wird auch nicht vorher großartig gefragt. Es wird aber auch nicht geschimpft und wie bereits erwähnt, baut mein Opa mir auf die Schnelle einen Kaninchenstall. Dieses Jahr ist es ein schwarzbraunes Lohkaninchen. Stroh und Heu bekommen wir von einem der Nachbarn, der selbst Kaninchenzüchter ist und an die 50 Tiere besitzt. Hinter der Garage hat dieser Nachbar einen Anbau in dem die Ställe untergebracht sind und regelmäßig darf ich rüber um mir die Hoppel anzugucken.
Mein Kaninchenstall wird geschützt unter einer großen Edeltanne hinter dem Haus aufgestellt. Die Zweige des riesigen Baumes bieten genug Schutz vor Sonneneinstrahlung und Niederschlag. Ein mobiles Freigehege wird auch im Garten aufgestellt. Mein Opa hat immer genug Holz, Drahtgeflecht und anderes Material zur Hand, sodass immer ganz spontan etwas gemacht werden kann. Er hat das Material von überall zusammengetragen. Wenn jemand in der Siedlung etwas abreißt, ist mein Opa zur Stelle und darf sich das nehmen, was er gebrauchen kann. Diese Dinge lagern dann in der Garage und im Keller in den alten Küchenschränken, die er dort ebenfalls aufbewahrt. Es sind so ganz alte Schränke in pastellblau und rosa mit Schiebetüren.
Ich darf mir auch jederzeit nehmen, was ich brauche. Mein jährliches Kaninchen (sie werden immer zum Jahresende geschlachtet) bricht gelegentlich aus seinem Freilauf aus, indem er sich ein Loch unter die Seitenwände gräbt und flitzt dann im gesamten Garten herum. Dann begeben sich meine Großeltern und ich uns auf Treibjagd. Zwischen Wohnhaus und Zaun zum Nachbargrundstück wird ein Vogelschutznetz gespannt und dann wird das ausgebüxte Tier dort hineingescheucht. Anders würden wir es nie zu packen kriegen.
Ich weiß jedoch, dass mein Hasi im passenden Augenblick, wenn keiner guckt, wieder ein Loch buddeln wird und seine kurze Freiheit genießt.
Zu mir: Ich bin im Grundschulalter und ich wachse bei meinen Großeltern auf...
Montag
Die Morgensonne scheint durch die kleinen Fenster in Küche und Wohnzimmer. In den Sonnenstrahlen sieht man die Staubpartikel tanzen. Meine Oma wurstelt in der Küche herum, der Frühstückstisch ist immer pünktlich gedeckt, wenn wir (meine Schwester und ich) herunterkommen. Es gibt Brot, Toast selbstgemachte Marmelade, Nuss-Nougat-Creme, Kakao. Mein Opa ißt Harzer Käse. Brrr... sowas werde ich nie im Leben essen. Oma ißt Quark mit Marmelade auf ihrem Toast. Ich nehme mir eine Scheibe Fleischwurst, die hier auch als "Kinderwurst" bekannt ist, streiche sie mit Nutella ein und rolle sie auf. Ein Geschmackserlebnis! Komisch, dass ich von den anderen seltsam angeguckt werde.
Opa verläßt als erster das Haus. Dann wird meine Schwester von Klassenkameraden abgeholt und als letzte ich. Meine Klassenkameradin Sonka wohnt in der Friedrichstrasse, die am Ende an die Neue Strasse, in der ich wohne, grenzt. Oma ermahnt uns täglich, dass wir nicht klüngeln sollen auf dem Weg zur Schule.
Es ist zwar nicht weit bis zur Focko-Ukena-Schule, aber unterwegs gibt es Schafe und Kühe auf den Weiden zu sehen. Beim Brunnen, an dem die Tränke für die Rindviecher angeschlossen ist, wächst ein Weidenbusch, dessen Kätzchen uns im Frühling dann doch so manches mal innehalten lassen.
Mittags, wenn ich nach Hause komme, hat meine Oma das Essen schon fertig. Und auch sonst ist die Wohnung blitzblank. Meine Oma ist Vollzeithausfrau. Sie steht früh auf, richtet den Frühstückstisch und wenn alle aus dem Haus sind, wäscht sie ab, geht in den Tante-Emma-Laden am "Dreieck" oder fährt mit dem Rad ins Dorfzentrum einkaufen, bereitet danach das Mittagessen zu und putzt in allen Zimmern. Nachmittags gibt es auch allerhand zu tun. Da werden Socken gestopft, das Obst und Gemüse aus dem Garten wird geputzt, geschnippelt und eingekocht, Wäsche wird gewaschen, getrocknet, gebügelt, Kuchen wird gebacken und es wird der nächste Urlaub geplant oder im Versandhaus-Katalog geblättert.
Meine Oma heißt Edith. Sie hat kurze hellbraune Haare und ist modisch immer recht chic angezogen. Wenn sie den Haushalt macht, zieht sie aber einen Kittel über. Der hängt neben den Topflappen hinter der Küchentür an einem Haken.
Weil meine Oma mich lieb hat, kocht sie für mich extra. Ich will nämlich fast immer nur das selbe haben: Rahmspinat, Kartoffelpürree und Spiegelei. Dafür könnte ich sterben. Natürlich esse ich aber manchmal auch die Dinge mit, die Oma für die anderen kocht.
Die Küche in L-Form ist in einem sanften grün gehalten und hat eine hellbraune Arbeitsplatte. Die orangenen Übergardinen sind farblich auf die Wandfliesen abgestimmt. In der Küche steht auch die Waschmaschine, zwischen Spülbecken und Herd.
Auf der Arbeitsfläche stehen neben dem Kühlschrank unsere Trinkgläser auf einem Tablett, sodass wir uns jederzeit etwas nehmen können, wenn wir durstig sind. Zum Fenster hin steht ein großer Radiowecker, eine Küchenwaage und eine Schale mit frischem Obst.
Am Fenster zur Nordseite steht der Esstisch mit einer kunstlederbezogenen zweisitzigen Bank und zwei Eichenstühlen. Oma sitzt beim Essen immer auf einem der Stühle, neben ihr ist ein Teewagen auf dem der Toaster steht. So kann sie morgens das Toast für alle machen. Auf der unteren Ebene des Teewagens befindet sich der Nähkasten.
Mein Opa kommt zur Mittagszeit immer nach Hause zum Essen und danach zieht er sich in sein Büro zurück, das im oberen Geschoß neben dem Schlafzimmer liegt. Eigentlich dürfen wir ihn nicht stören, wenn er darin seine Arbeit macht. Er schreibt dort Artikel und sehr oft schneidet er sie auch aus den Zeitungen aus und sortiert sie in einem Karteikasten. Überhaupt sieht sein Büro recht chaotisch aus. An drei Wänden sind Bücherregale voll mit Büchern aus allerlei Themenbereichen. Am Fenster zur Westseite steht ein Schreibtisch, ein zweiter steht direkt neben der Bürotür. Darauf steht eine große, schwere Olympia, die schon elektrisch funktioniert. Opa hat aber daneben noch eine kleine, alte schwarze Schreibmaschine stehen, auf deren Tasten man noch richtig rumhauen muss. Die darf ich manchmal benutzen für meine ersten Schreibversuche. Mitten im Raum steht ein niedriger Tisch voller Zeitungen, Zeitungsausschnitten, Karteikästen, Fotos und noch mehr Zeitungen. In dem Bücherregal hinter der Tür hat mein Opa die Naturbücher einsortiert. Oft hole ich mir eins zum anschauen und nachlesen.
Mein Lieblingsbuch heißt „Das große Vogelbuch in Farbe
“. Oft finde ich im Garten Eierschalen oder ich sehe einen mir unbekannten Vogel und will gleich wissen, was das für einer ist. Im Garten tummeln sich viele Vogelarten. Besonders im Winter kann man vom Esszimmerfenster aus viele beobachten, denn vorm Fenster steht ein großes Futterhäuschen neben einer Tanne. Gimpel, Rotkehlchen, Schwarz- und Blaumeisen, Amseln, Drosseln, viele Spatzen und auch Tauben und Eichelhäher holen sich ihre Mahlzeit, wenn im Schneetreiben sonst nichts zu finden ist. Die Namen kenne ich alle, weil es in dem Buch ganz toll beschrieben ist. Zusätzlich sind bei jedem Vogel der Lockruf beschrieben und die Eier abgebildet.
Opa hat aber auch andere Tierbücher und ich kann jedes Insekt und Kleingetier genau bestimmen und weiß, wie und wo sie leben.
Donnerstag
Timo und Arno sind meine besten Freunde. Arno ist ein Jahr jünger als ich und wohnt links neben uns. Er hat blondes kurzes Haar und ist ein ziemlicher Neunmalklug. Sein Vater, Herr Sandner, ist Prokurist, seine Mutter arbeitet halbtags bei der Gemeinde und er hat eine ältere Schwester. In einem Zimmer im Dachgeschoss haben sie einen großen Konzertflügel. Das Grundstück ist sehr groß - es sind nämlich eigentlich 2 Grundstücke und man kann toll zwischen den großgewachsenen Büschen verstecken spielen und von den Stachelbeeren naschen.
Aber eigentlich spielen wir mehr bei Timo Graumann. Timo wohnt gegenüber von Arno. Sein Vater ist Polizist, seine Mutter Hausfrau und er hat eine jüngere Schwester. Dabei ist Timo auch noch ein Jahr jünger als Arno. Er hat dunkles Haar und ist ein niedlicher Sonnenschein. In Timos Garten steht eine riesengroße Schaukel. Ein alter Treckerreifen dient als Sandkasten.
Darum sind wir die meiste Zeit dort.
Samstag
Aua!!! Das tut weh! Timo rennt zu seiner Mutter, denn ich bin von einer Hummel gestochen worden! Aber ich glaube, dass das gar keine Hummel war, denn der Stachel steckt noch in meinem kleinen linken Finger und es sind doch eigentlich Bienen, die stechen und dabei den Stachel verlieren. Dabei haben wir doch so sehr aufgepasst, als wir die Insekten mit dem Marmeladenglas fingen und sie dann in der Garage fliegen ließen.
Seine Mutter schmiert mir eine kühlende Salbe auf den Finger und bald tut es nicht mehr weh. Aber sie sagt uns, dass wir keine Insekten mehr fangen sollen und sowieso sollen wir nicht so oft zum Essigbaum gehen wegen des klebrigen Blütenstaubs.
Dafür klettern wir dann in den Kirschbaum in der hinteren Ecke des Gartens und im Spätsommer pflücken wir uns dort die süßen Früchte.
Hinter Graumanns Grundstück sind Ländereien und man sieht in der Ferne Höfe und die Bahnstrecke Leer/Emden. Im Entwässerungsgraben findet man ganz tolle Kleinstlebewesen. Die Jungen und ich besorgen uns leere Konservengläser und wir stapfen mit Gummistiefeln durch die schmale Rinne auf der Jagd nach Wasserflöhen. Die können wenigstens nicht beißen oder stechen und sie sehen lustig aus, wenn sie durch das trübe Wasser paddeln.
Wir stellen die Gläser auf einen Mauervorsprung und vergleichen unseren Fang. Wasserasseln, Mückenlarven und schon verpuppte Larven teilen sich die Brühe mit anderen mikroskopisch kleinen Tieren. Man muss schon genau hinsehen. Nachdem wir alles haarklein beobachtet haben, schütten wir die Tierchen wieder zurück in den kleinen Graben.
Arno hat die Idee, ob vielleicht wieder Kröten oder Mäuse im Kellerschacht zu finden sind. Wir gehen also rüber zu seinem Elternhaus und schauen nach. Bei der Auffahrt geht eine Treppe hinunter zum Keller. Das ist ganz praktisch, denn so können die Fahrräder alle in den Kellerraum statt in die Garage. Unten vor der eisernen grauen Kellertüre hocken oft kleine Spitzmäuse. Aus dem Schacht scheinen sie nicht mehr herauszukommen. Also retten wir sie. Ab und zu findet man auch häßliche Erdkröten in dem Schacht. Die finde ich ekelig, weil sie immer auf die Hände pinkeln, wenn man sie anfasst. Wir setzen sie im angrenzenden Garten aus. Morgen werden sie bestimmt wieder im Schacht zu finden sein.
Bei meinen Großeltern gibt es auch Schächte. Die sind vor den Kellerfenstern. Also solche Lichtschächte. Geschützt sind sie vor Regen durch eine schräge Glasabdeckung mit Milchglas, denn das Haus ist wegen der Vollunterkellerung etwas erhöht gebaut. Opa hat mir verboten die schwere Glasabdeckung beiseite zu schieben. Er sagt, sie könnte mir auf die Füße fallen. Oder das Glas zerspringt und ich schneide mich. Aber ich kann durch den Spalt beim Gestellt sehen, wenn ich meinen Kopf ganz dicht an die Hauswand drücke, ob dort auch Tiere drin sind. Manchmal schiebt mein Opa die Abdeckung zur Seite um dort sauber zu machen, denn der Herbstwind treibt das Laub auch durch die schmalen Ritzen. Jedoch sind in unseren Schächten außer riesigen schwarzen Spinnen keine hübschen Tiere darin.
Lichtschächte haben wir insgesamt vier. Zwei sind vorne, einer unter dem kleinen Wohnzimmerfenster zur Ostseite und eins unter dem Esszimmerfenster. Nur bei dem kann ich manchmal gucken. Die anderen sind hinter grünen Büschen und Rhododendren verborgen.
Über dem Fenster vom Esszimmer brüten jedes Jahr im Frühling immer die Spatzen in Kolonien unter dem Dach. Zwischen Rinne und Ziegel haben sie eine Öffnung gefunden und haben es sich in der gelben Glaswolle gemütlich gemacht. Es sind mindestens 3 Spatzenfamilien. Auch vorne am Haus müssen Nester sein, denn unser Kinderzimmer liegt direkt über der Küche und manchmal höre ich abends beim Zubettgehen, wenn die Vogelkinder gefüttert werden und jedes um seine Portion bettelt.
Jedes Jahr muss ich für die armen Vögelchen auch Totengräber spielen, denn mindestens zwei Babys fallen pro Brutsaison aus den Nestern heraus. Aber das ist die Natur, man lebt und man stirbt.
Mittwoch
Ich glaube, ich sterbe auch bald. Fast jeden Abend, wenn ich im Bett liege, bekomme ich so einen stechenden Schmerz in der Brust. Es ist wie Seitenstechen, aber mehr oben mittig. Und ich kann nicht atmen. Bei jedem Atemzug sticht es ganz fürchterlich und ich bekomme Angst, weine und rufe nach meiner Oma.
Meine Schwester behauptet, ich würde spinnen und mir das alles einbilden. Aber es tut wirklich ganz doll weh.
Der Schmerz hört auf, wenn ich einmal ganz tief einatme. Zwar ist das Gefühl dann als wenn mir jemand ein Messer in die Rippen rammt, aber danach ist es gut und ich kann schlafen.
Meine Schwester und ich teilen uns das Zimmer oben im Dachgeschoss neben dem Schlafzimmer der Großeltern. Das Bett meiner Schwester steht neben der Balkontür zur Außenwand, mein Bett steht direkt beim Eingang, wo der Lichtschalter und das kleine grüne Nachtlicht ist. Beide zur Dachschräge. Außer den Betten sind noch ein alter zweitüriger brauner Kleiderschrank und ein Nachttisch im Zimmer. Der Kleiderschrank steht an der Trennwand zum Schlafzimmer. Daneben ist ein schmaler Rippenheizkörper auf dem unsere Oma im Winter unsere Zudecken aufwärmt und darüber befindet sich ein Metallbild mit zwei Skalaren und Seegras.
In meiner Nachttischschublade sind ca. 100 Pixi-Bücher, die ich mir jeden Abend angucke und lese. Unter den Betten sind ein paar Kartons mit Spielzeug. Aber nicht viel, denn die meisten Gesellschaftsspiele sind in einer Schublade im großen Wohnzimmerwandschrank oder im Keller im Heizungsraum.
In den Kartons unter den Betten sind ein paar Playmobilfiguren, Barbies, Monchichis und Schlümpfe.
Ansonsten ist das Zimmer schlicht. Am Schrank haben wir viele Aufkleber aus Duplo und Hanuta drangeklebt.
Die Wände sind ansonsten leer.
Natürlich machen sich meine Großeltern und meine Mutter wegen meinen Schmerzen Sorgen und eines Tages geht meine Mutter mit mir auch zum Arzt. Es wird ein EKG gemacht, Lunge und Herz wird abgehört. Alles ist unauffällig. Ich denke, mir glaubt keiner. Der Arzt tuschelt mit meiner Mutter, aber dann sagt der Doktor, es wäre ein "nervöses Herzstechen" und ganz harmlos. Dagegen kann man nichts machen.
Toll - ich muss also damit leben. Aber sterben werde ich auch nicht dran. Damit ist meine allabendliche Panik zum Glück weg, das Stechen aber bleibt.
Freitag
Blubb. Blubb. Der große Spiegelkarpfen glotzt mich mit glasigen Augen vorwurfsvoll an. Oma hat die schwere Zinkwanne auf die Terrasse gestellt und klares Wasser rein getan. Mein Opa hat dann den Fisch dazu gegeben. Er soll geschlachtet werden, denn mein Opa hat morgen Geburtstag. Im klaren Wasser soll er die nächsten 24 Stunden bleiben, damit der Schlammgeruch und Schlammgeschmack etwas reduziert wird. Gegen Abend schwimmt der arme Fisch schon etwas seitlich. Er sieht nicht besonders gut aus. Einige silbrige Schuppen liegen auf dem Wannenboden. Der Anblick macht mich traurig. Meine Großeltern kommen auch zum schauen und Oma ist sich nicht sicher, ob sie den Fisch morgen zubereiten will, wenn er jetzt schon halb tot ist. Ich gucke noch mal kurz vor dem Zubettgehen nach dem armen Kerl. Am nächsten Morgen treibt er mit dem Bauch nach oben in der grauen Wanne. Seine Augen sind starr und trüb. Mein Opa entsorgt ihn auf dem Komposthaufen in der linken hinteren Ecke des Gartens hinter den großen Rhododendren. Sandners fetter Kater wird sich freuen.
Am Nachmittag kommen viele Gäste. Auch die Familie aus Opas erster Ehe ist dabei. Die haben einen Jungen mitgebracht. Er nennt meinen Opa auch "Opa". Hmm...
Er bekommt einen Zollstock zum Spielen. Ich möchte auch und frage nach. Im Flur haben meine Großeltern eine kleine weiße Kommode. Darin lagern in der oberen Schublade Werkzeuge für den alltäglichen Gebrauch: Hammer, Schraubendreher in unterschiedlichen Größen, Zangen, Nägel und ein abgebrochener Zollstock. Den bekomme ich. Na toll. Ich muss mich damit zufrieden geben. Ich leg das Ding zurück und gucke, ob ich noch was anderes finde. In den anderen Schubladen liegen Wintersachen; Handschuhe, Schals, Mützen. Das kann ich alles nicht gebrauchen. Es ist ja schließlich warm draußen. Neben den Schubladen hat die Kommode auch eine Tür. Dahinter befinden sich Mülltüten und anderes Zeug, was ich momentan nicht gebrauchen kann.
Gelangweilt gehe ich zu meiner Oma in die Küche. Sie gibt mir den vorbereiteten Butterigel (Ein Stück Butter mit Salzstangen gespiekt), den ich mit dem fremden Jungen verspeisen darf.
Während die Familie im Haus feiert gehe ich raus. Ich spiele lieber allein im Garten, füttere mein Kaninchen oder schaue, ob ich wieder ein interessantes Tier finde. Der komische Junge beobachtet mich, aber er traut sich nicht mit mir zu spielen. Also kletter ich in einen der großen Bäume und gucke im Drosselnest nach, ob da die hübschen gesprenkelten, türkisfarbenen Eier drin liegen. Hier oben kann man mich nicht sehen. Da kann er
mich nicht sehen.
Abends sind die Gäste wieder alle weg. Ich helfe meiner Großmutter beim Aufräumen. Es war ein anstrengender, aber schöner Tag.
Sonntag
An Tagen wie heute, wenn es regnet, sitze ich auf der 4. Treppenstufe und schaue aus dem Flurfenster. Ich male mit den Fingern den Weg der Regentropfen an der Scheibe nach. Wenn der Regen immer neue Tropfen ans Fenster wirft, wird die tränenförmige Gestalt größer und bewegt sich abwärts und nimmt andere Tröpfchen auf, wird größer und schneller und rinnt dann mit zunehmender Geschwindigkeit dem hölzernen Rahmen entgegen. Dort verteilt sich die feuchte Masse und ich suche mir einen neuen Tropfen aus.
Vereinzelt hetzt mal jemand mit Regenschirm vorbei oder ein Radfahrer im gelben Ostfriesennerz läßt das Wasser auf dem Asphalt hoch spritzen. Langweilig.
Auf der Oberleitung hinter der Häuserreihe sitzen die Stare zu Hunderten nebeneinander und warten geduldig den Regen ab. So wie ich. Hin und wieder fliegt einer hoch, um sich ein Stück weiter zwischen zwei anderen wieder niederzulassen. Manchmal schaue ich dem Schauspiel stundenlang zu. Bis meine Oma den Wand-Gong läutet, der zwischen Küchen- und Wohnzimmertür hängt. Das ist für den Rest der Familie das Zeichen, dass der Teetisch oder Abendbrot fertig ist.
Manchmal spielt meine Oma auch mit mir „reversi“. Das ist ein Spiel mit roten und grünen Plättchen.
Und Schach hat mir mein Opa beigebracht. Darauf bin ich ganz stolz, denn Schach kann keiner sonst in meiner Familie oder von meinen Freunden. Ich finde es toll, dass er sich trotz seiner Arbeit soviel Zeit nimmt und die Geduld aufbringt, mir alles zu erklären.
Neben den Gesellschaftsspielen steht in der großen Wohnzimmerschrankwand aus dunkler Eiche ein Schallplattenspieler. Darunter stehen meine Langspielplatten von Heidi, Biene Maja und Pinocchio neben den LPs von Mozart, Bach und Beethoven. Oben auf dem Schrank stehen zwei Stereo-Boxen.
Wenn es also draußen nichts zu sehen gibt, oder niemand Zeit hat mit mir zu spielen, darf ich mir eine Platte anhören. Dabei setze ich mich auf die Couch, schließe meine Augen und lasse in meiner Fantasie die Bilder mitlaufen. Im Fernseher, der im Esszimmer steht, kommen nur selten Kindersendungen. Aber Heidi, Maja und so habe ich schon sehen dürfen und beim Hörspiel kommen mir die dazugehörigen Bilder wieder in den Sinn.
Oft bin ich auch einfach nur oben im Zimmer und spiele mit meinen Barbies.
Mittwoch
Der intensive Duft der Blut-Johannisbeere betört mich. Sie verströmt ein süßliches Aroma und ich mag gerne unter diesem Busch hocken und an den pinkfarbenen kleinen Blüten schnuppern, die wie reife Trauben an der Pflanze hängen. Die Raupen des Mondvogel sind auch schon an den Blättern und fangen an sie zu fressen. Mein Opa hat mir erlaubt, die gelbschwarzen Tiere abzusammeln und in ein Glas zu geben. Diese Raupen sehen fast aus, wie die, die auf unserem Kohl sitzen. Also setze ich einige auf den Kohl, aber diese Raupen mögen den Kohl nicht und wandern ab.
Das Glas mit den restlichen Raupen bringe ich meinen Opa. Was er damit macht, weiß ich nicht, aber er sagt, diese Tiere müssen weg, denn sonst fressen sie den ganzen schönen Busch kaputt.
Nein, das will ich nicht, denn grade die Blut-Johannisbeere ist neben den Forsythien und Rhododendren und dem Chinagras und den Taubnesseln meine Lieblingspflanze.
Freitag
In den vergangenen Tagen habe ich bei den Fahrten in den Nachbarort gesehen, dass die Pfeile auf den Straßen durch den Hammrich wieder nachgemalt wurden.
Diese Pfeile weisen den Weg der Wanderstrecken für die jährliche Sportveranstaltung.
Es gibt drei Strecken: 20 km, 10 km und 5 km.
Wir nehmen jedes Jahr teil. Oma, Mama, und ich laufen die 10 km-Strecke. Mein Opa läuft immer die große Runde.
Meine Tante ist auch aus Papenburg gekommen und ein Mädchen aus der Schule hat sich uns angeschlossen.
Der Lauf findet an zwei Tagen statt und das halbe Dorf nimmt daran teil. Beim Sportplatz der Grundschule ist Start und Ziel. Wann gestartet wird ist egal. Laufen kann man den ganzen Tag. Nach der Anmeldung geht es los.
Unsere Strecke führt in die Norderstrasse und von dort entlang hinein in den Hammrich Richtung Rorichmoor. Dann läuft man an Neermoor-Kolonie entlang der Bundesstrasse wieder zurück.
Für die Strecke haben wir Proviant mitgenommen, da man doch eine ganze Weile laufen muss.
Die große 20 km Strecke führt eine ganze Weile durch den Hammrich über den Memgaster Weg. Dort hinten stehen 3 oder 4 Bauernhöfe. In einem davon wohnt eine andere Klassenkameradin von mir.
Irgendwann mündet die große Wanderstrecke in die mittlere und man trifft sich unterwegs um gemeinsam weiter zu laufen.
Diese Strecke darf man auch mit dem Fahrrad bewältigen. Das werden wir im kommenden Jahr machen.
Am Ziel angekommen erhält man eine Medaille als Dank für die Teilnahme.
Kapitel 2
Sommer Anno Dazumal
Das Badezimmer meiner Großeltern ist im Erdgeschoss in meiner Lieblingsfarbe rosa. Wenn man reinkommt, sieht man als erstes den weißen Badschrank und die Toilette. Über dem WC ist ein kleines Fenster. Im Badschrank sind Handtücher, Waschlappen, Kosmetikartikel, Binden, Watte und Unterwäsche untergebracht. Zwischen WC und Badewanne ist ein Rippenheizkörper. Davor steht ein breiter Hocker mit hellblauem Kunstlederbezug. An der gegenüberliegenden Seite ist ein großes Waschbecken.
Auf der Badezimmerheizung läßt meine Oma oft den Hefeteig in der Schüssel aufgehen oder legt auf die Rippen ein Geschirrtuch, worauf sie wiederum den Teig für die Suppennudeln trocknet. Den so fast steinhart gewordenen Teig schneiden wir dann gemeinsam in verschieden große Streifen. Ich liebe Omas Nudelsuppe.
Opa hat ein eigenes Duschbad im Dachgeschoss. Es liegt gegeüber von seinem Büro, ist mintgrün und wegen der Dachschräge recht klein. Aber groß genug um eine Duschkabine, ein WC und ein Waschbecken zu beherbergen. Genug Licht kommt durch das Dachfenster. Oben gehe ich allerdings nie ins Bad. Ich finde es riecht dort komisch.
Der lange Flur im Dachgeschoss ist breit genug, sodass auch dort ein alter Tisch an der Wand zum Büro steht. Daneben hat meine Oma ihre Tischnähmaschine am Fenster stehen und sitzt dann mit dem Rücken zum Treppenaufgang.
Auf dem Tisch bereitet meine Oma die Dinge vor, die sie nähen möchte. Manchmal dürfen wir auch unsere Carrerabahn darauf aufbauen.
Neben dem Treppenaufgang ist noch ein kleiner Wandschrank in die Dachschräge verbaut in der mein Opa seine Anzüge und Schuhe stehen hat.
Über dem Tisch ist ein Wandregal angebracht auf dem meine Kunstwerke stehen, die ich bisher in der Schule gemacht habe: eine selbstgemachte Rassel aus zusammengekleben Joghurtbechern, ein Fu – das ist eine Handpuppe aus einer alten Socke, Bommeltiere aus Wolle, ein geknüpfter Kissenbezug mit einem Marienkäfer darauf,... Und auch mein Handarbeitskörbchen steht dort.
Montag
Wenn ich Arno besuchen gehe, komme ich an einer großen Lärchenhecke vorbei, die Sandners Extra-Grundstück zur Straße hin säumt. Nachdem im Frühjahr die frischen Knospen aufgehen, dauert es nicht lange und die Hecke ist voll von Kuckucksspucke. Arno hat mir erzählt, dass das so heißt, aber was das genau ist, hat er noch nicht erklären können. Es sieht jedenfalls ekelig aus. Und wenn Timo dabei ist, machen wir uns einen Spass daraus, auch noch in die Hecke zu spucken. Das seltsame daran ist aber, dass unsere Spucke runtertropft, nachdem sich die Bläschen alle nach und nach auflösen. Oder unsere Spucke ist am nächsten Tag einfach weg getrocknet, während die Kuckucksspucke prall und voller Bläschen immer noch zu sehen ist. Arno sagt, da wohnen Tiere drin und darum wäre das so. Aha, was der so alles weiß.
Eine Lärchenhecke grenzt auch das Grundstück meiner Großeltern hinterm Haus zu den rückwärtigen Nachbarn ab. Aber hinten rechts, in dem Teil zum Nachbarn aus der Goethestrasse, ist ein Loch, durch das man hindurchschlüpfen kann. Das dürfen wir, also meine Schwester und ich, weil dort die Eltern ihrer Klassenkameradin wohnen. Die hat hinten im Garten einen alten Sandkasten aus Holz stehen, in dem im Sommer immer ihre Schildkröte zu Hause ist. Wenn Daniela (ausgesprochen „Dani-Ela“) in ihrem Garten ist, geht meine Schwester oft rüber. Mich wollen sie aber nie dabei haben. Trotzdem darf ich ab und zu die süße Schildkröte mit Salat aus unserem Garten füttern.
Der andere Nachbar aus der Lessingstrasse hat gleich hinter der Hecke einen großen Hühnerstall mit umzäunten Freilauf. Die Hühner gucken immer ganz verstört, wenn ich sie durch die Hecke hindurch beobachte. Besonders wenn sie Küken haben, schauen sie mit einem durchdringlichen Blick, der soviel sagt wie „Hau ab!“.
Mittwoch
Jetzt haben wir auch Hühner! Meine Schwester kam eines Tages einfach mit einem Schuhkarton an, in dem zwei kleine Küken saßen. Ein ganz gelbes und ein schwarzgelbes. Die erste Zeit verbrachten die zwei Küken im Haus meiner Mutter, zwei Strassen weiter. Sie hat im Dachgeschoss ein kleines Gäste-WC, das nicht genutzt wird und so hat meine Schwester sich Stroh geholt und die Küken dort die erste Zeit aufgezogen.
Sie wurden aber mit der Zeit größer und darum hat meine Mutter gesagt, dass sie nicht mehr oben in dem Raum bleiben können.
Also hat mein Opa meinen leeren Kaninchenstall auf das Freilaufgehege montiert, ein Treppchen angeschraubt, das Ganze mit einem Netz überspannt, diese Konstruktion hinter die Garage gestellt und fertig war unser neuer Hühnerstall, in dem dann auch alsbald die beiden Tiere einziehen konnten. Und jetzt wohnen sie dort.
Ich füttere täglich die Hühner und freue mich schon auf unser erstes eigenes Hühnerei.
Daraus wird aber wohl nichts. Die beiden wachsen von Tag zu Tag und mittlerweile kann man sehen, dass das eine ein Hahn und das andere eine Henne ist. Der Hahn kräht, seit er entdeckt hat, wie es geht, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die Nachbarn empfinden das stundenlange Krähen störend und somit sollen die Hühner wieder weg. Schade. Eine Arbeitskollegin meiner Mutter hat ein paar Dörfer weiter einen großen Bauernhof und ich begleite meinen Opa, als wir die beiden dort hinbringen. Dort wird es ihnen besser gehen, denn da sind ganz viele andere Hühner, die die beiden Neuankömmlinge gleich herzlich in ihre Familie aufnehmen.
Meine Schwester ärgert mich indem sie behauptet, dass sie bestimmt bald geschlachtet werden. So wie meine Kaninchen immer.
Freitag
Arno hat in den letzten Tagen doofe Einfälle. Er lockt uns unter die großen Büsche und will Timo und mir in die Höschen gucken. Und ich soll zeigen, ob ich Brüste habe. Ich finde das Spiel nicht so toll und auch Timo ist es sehr unangenehm. Aber Arno sagt, wir wären sonst keine Freunde mehr und er würde auch zeigen, darum sollen wir mitmachen.
Gut einmal gucken kann man ja mal, dachte ich, aber jetzt will Arno jeden Tag sehen, ob oder was wir im Höschen haben.
Ich mag gar nicht mehr mit ihm spielen. Und Timo eigentlich auch nicht, darum haben wir jetzt abgemacht, dass wir jetzt mehr alleine was machen.
Arno scheint es nicht zu stören. Er kommt auch immer weniger rüber.
Sonntag
Ich habe ein Fahrrad bekommen! Es ist rot. Meine Großeltern wollen mir beim Fahrrad fahren helfen, denn leider hat das Rad keine Stützräder. Vorher hatte ich ein orangenes Ballonrad. Aber dafür bin ich mittlerweile zu groß und meine Mutter hat es einer ihrer Nachbarn gegeben. Darüber war ich sehr traurig, aber jetzt habe ich ja das schöne rote Rad. Es ist sehr wackelig, ohne Stützräder zu fahren. Aber ich darf keine haben. Mama sagte, dass meine Schwester welche an ihrem Rad hatte und immer schief fuhr. Ich soll direkt lernen ohne zu fahren. Meine Oma hält hinten am Gepäckträger fest und sagt, was ich tun muss. Sie läuft neben mir her und ich trete in die Pedale und fahre.
Und fahre und fahre und als ich mich umdrehe merke ich, dass Oma gar nicht mehr festhält. Ich bin schon sehr weit gefahren und weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll. Wie soll ich anhalten?
Oma ruft mir zu, dass ich die Bremse treten soll. Wo ist denn die? Ohje... Ich wende vorsichtig und fahre zurück und springe dann vom Rad einfach ab.
Wie schön... ich kann Fahrrad fahren!
Montag
Im Vogelschutznetz, welches über die Erdbeere in unserem Gemüsebeet gespannt ist, hat sich eine junge Drossel verfangen.
Ich schleiche mich ins Haus und hole mir aus der Küche die weiße Kunststoffmilchkanne. Die hat einen Deckel mit Loch und ist groß genug um den Vogel dort hinein zu tun. Vorher polster ich aber die Kanne mit trockenem Gras aus, dann hat das Vögelchen ein warmes Nest.
Ich befreie die junge Drossel aus ihrer misslichen Lage und stecke sie in die Kanne. Sie zittert und schaut mich an.
Sie hat bestimmt Hunger. Also hole ich mir aus der Garage eine Mistgabel und suche im Garten nach Regenwürmern. Mein Opa hat mir mal gezeigt, wie das geht: man sticht die Mistgabel in den Rasen und wackelt hin und her. Die Würmer denken dann es regnet und kommen aus dem Boden heraus, weil sie Angst haben zu ertrinken. Ich habe einige gefunden und biete sie dem Drosselkind an. Es macht seinen Schnabel aber nicht auf. Es hat wohl doch keinen Hunger.
Dann schaue ich später mal nach ihm.
Die Milchkanne verstecke ich hinten in der Ecke beim Komposthaufen unter dem großen fliederfarbenen Rhododendron.
Donnerstag
Es hat nun die vergangenen Tage geregnet und ich konnte nicht raus. Wie es meinem Vogel wohl geht? Ich habe mich nicht getraut meiner Oma oder meinem Opa von ihm zu erzählen. Sie hätten bestimmt geschimpft wegen der Milchkanne.
Aber gleich nach der Schule gucke ich nach ihm!
Oh je. Der Vogel liegt tot in seinem Grasnest. Das ist jetzt aber sehr blöd. Was mache ich denn nun? Vor allem, was mache ich jetzt mit der Kanne?
Ich stelle sie zurück unter den großen Busch. Unmöglich kann ich das jemandem erzählen!
Freitag
Da ich immer wieder von den Erdbeeren im Garten naschen darf und auch die Vögel trotz Netz immer wieder welche fressen, kauft meine Oma immer große Kisten mit ganz vielen frischen Erdbeeren im Laden. Die kocht sie dann ein. Auch dabei darf ich helfen. Oma wäscht sie und befreit die Beeren vom grünen Strunk und gibt sie dann als ganze Beere in ein Weck-Glas. Ich darf den Zucker rein tun und das Wasser zu ¾ einfüllen. Das Gummi und den Deckel machen meine Großmutter und ich gemeinsam drauf. Wenn 5-6 Gläser voll sind, werden diese in einen großen dunkelblauen Einkochtopf gestellt, der schon auf dem Herd steht.
Im Sommer kocht meine Oma auch Kirschen und Pflaumen ein. Die Kirschen darf ich entkernen. Dafür haben wir extra einen Kirschentkerner. Der wird an die Tischplatte geschraubt. Die roten runden Kirschen werden hinten auf eine schräge Plattform gelegt und durch eine Art Trichter rollen sie zur Stanze. Dann muss man oben den Hebel betätigen und somit wir der Kern herausgedrückt. Der Kern fällt in einen kleinen Auffangbehälter und die Kirsche in die Schüssel, die wir vor dem Gerät auf meinem Schoß platziert haben.
Wenn die Früchte fertig eingekocht sind, kommen sie in den Keller in den großen Vorratsraum. Neben Wein und Whiskey stehen in dem großen Regal viele, viele Einmachgläser gefüllt mit Erdbeeren, Kirschen, Pflaumen, Apfelmus, groben Apfelkompott und die selbstgemachte Marmelade.
Samstag
Die großen Ferien haben begonnen und meine Großeltern wollen mit meiner Schwester und meiner Mutter in den Urlaub fahren. Es geht in den Harz. Dort gibt es Berge und Wälder und Bäche. Ich freue mich.
Wir fahren immer gemeinsam in den Urlaub.
Oma, Opa, Mama, meine Schwester und ich.
Kapitel 3
Herbst Anno Damals
Montag
Die großen Ferien sind vorbei und wir sind wieder zu Hause. Arno ist mit seiner Familie weg gezogen und nebenan wohnt nun eine neue Familie mit einem Jungen. Sie haben von Sandners neben dem Haus auch den alten Kater übernommen, der immer noch täglich sein Mittagsschläfchen auf der Treppe vor der Haustür verbringt.
Mit Timo hat sich der neue Junge noch nicht angefreundet. Auch ich halte erst einmal Abstand, aber wir zeigen ihm die Mäuse und Kröten im Kellerschacht.
Timo und ich sind ganz froh, dass Arno weg ist. Sein Spiel um unsere Körperteile hat unsere Freundschaft doch etwas auf die Probe gestellt.
Der Nachbarsjunge heißt Hillbert und seine Eltern arbeiten zusammen mit meiner Mutter bei der Zeitung. Hillbert wird in meine Klasse eingeschult, er ist also genauso alt wie ich.
Trotzdem ist Hillbert so ganz anders als Arno.
Donnerstag
Der Herbst bringt in Ostfriesland morgens viel Nebel auf den Feldern und nachmittags oft Sturm und Regen.
Bei diesem Wetter verbringen wir unsere Spielnachmittage oft in Timos Zimmer und spielen dort mit seinen Autos und der großen Parkgarage.
In den letzten Tagen spielen wir aber auch manchmal mit den Barbies von seiner Schwester. Eines der Kleider gefällt mir ganz gut. Es ist ganz pink mit einer goldenen Bordüre. Dazu hat es eine pinke Stola.
Bevor ich nach Hause gehe, stecke ich es ein. Mal schauen, wie es meinen Barbies passt, es ist so hübsch.
Morgen kann ich es ja wieder zurückbringen.
Freitag
Ich bin traurig und wütend und alles zusammen, irgendwie.
Grade war ich bei Timo und wollte das Puppenkleid wieder zurückbringen. Timos Mutter machte mir die Tür auf und sagte, ich dürfe nicht mehr zum spielen kommen, da ich ihrer Tochter ein Kleid geklaut habe.
Geklaut!!? Nee, das habe ich nicht...
Ich solle nicht lügen und nach Hause gehen und nachdenken.
Hmm. Und jetzt bin ich zu Hause und denke nach. Geklaut habe ich es nicht. Ausgeliehen! Ja. Und zurückgeben wollte ich es auch. Aber Timos Mama hat mich ja nicht reingelassen und seine Freundin darf ich nun auch nicht mehr sein.
Ich rufe bei Sonka, meiner Klassenkameradin an. Vielleicht hat sie ja Zeit und Lust mit mir zu spielen?!
Montag
Seit einigen Tagen bin ich jetzt Sonkas beste Freundin. Wir unternehmen viel zusammen.
Sonka hat rote Haare. Ihr Vater ist Zimmermann und ihre Mutter ist Hausfrau und sie hat eine jüngere Schwester.
Wir gehen oft zum Tante-Emma-Laden am Dreieck, denn dort hängt ein Kaugummiautomat. Für 1 Groschen holen wir uns einen von den bunten süßen Kugeln oder eine handvoll Salmiakpastillen.
Oder wir gehen auf den alten Spielsplatz, der wenige Meter vom Haus meiner Großeltern entfernt am Ende der Goethestrasse liegt. Dort steht eine große Rutsche, ein Klettergerüst und ein großer Sandkasten. In den Büschen und Sträuchern kann man wunderbar Verstecken spielen.
An der angrenzenden Wiese kann man Fußball spielen, aber wenn dort die großen Jungen sind, trauen wir uns nicht dorthin.
Tant-Stöhlke wohnt gegenüber von Sonkas Eltern. Sie hat im Garten auch Kaninchen. Der Stall mit den beiden Tieren steht an der Grenzhecke zu den Ländereien, die sich weit bis zur Kiesgrube erstrecken. Sonka und ich füttern sie ganz oft mit dem Löwenzahn, den wir auf den Wiesen sammeln.
In der Straße, in der meine Mutter wohnt, wohnen Martins. Auch dort gehen wir manchmal hin, weil die Leute ganz tolles Eis verkaufen. Mein Lieblingseis ist „Perli-Pop“. Das ist ein Vanilleeis am Stiel mit tausenden von bunten Zuckerperlen. Sonka holt sich meistens „Brauner Bär“, aber das mag ich nicht so, weil ich sowieso ungern Schokoladeneis esse.
So vertreiben wir uns die Zeit nach der Schule.
Timo hat auch eine neue Spielkameradin. Das Mädchen wohnt auch in der Neuen Strasse, ziemlich weit hinten – fast an der Bundesstrasse.
Es macht mich traurig, dass die beiden den Spaß haben, den sonst wir miteinander hatten. Und das doofe Barbiekleid habe ich auch immer noch...
Mittwoch
Das Läuten des Milchwagens hört man schon, wenn er in unsere Strasse einbiegt und bei den ersten Kunden hält. Ich sage dann meiner Oma Bescheid, damit sie sich schon bereit machen kann für den Einkauf.
Der Milchmann kommt immer mittwochs und samstags am frühen Nachmittag. Oma kauft dann immer zwei Kästen Sprudel, einmal gelb und einmal weiß, ein paar alltägliche Dinge und zwei Zeitschriften.
Die Sprudelkästen trägt der Milchmann immer ins Haus bis auf den Treppenpodest im Keller.
Dort steht ein kleines graues Schwerlastregal auf dem meine Großmutter die Vorräte lagert. Allerdings sind diese für den aktuellen Bedarf: Kartoffeln, Dosengemüse, Frischgemüse und eben die Limonade.
Donnerstag
Das Chinagras ist im Herbst immer ganz vertrocknet und die beigen Blätter werden im Wind durch den Garten geweht. Mein Großvater schneidet die Bambusstöcke runter und Oma hebt diese Stöcke im Haus auf. Sie stehen im Schirmständer im unteren Flur neben der weißen Kommode und so manches mal bekommen meine Schwester und ich damit Haue, wenn wir nach dem zubettgehen nochmals aufstehen und etwas trinken wollen oder auf die Toilette.
Sie zerbersten leicht nach den ersten Schlägen und dann tut's richtig weh, wenn Oma uns auf dem Weg nach oben nochmal damit erwischt.
Die kaputten Bambusse entsorgt Oma aber immer, wenn sie noch weitere zur Verfügung hat.
Freitag
Opa hat große Fenster geliefert bekommen. Aus der Terrasse möchte er einen Wintergarten machen und hat sich für dieses Wochenende vorgenommen damit zu beginnen. In den Tagen darf ich nicht durch die Hintertür raus, wenn ich im Garten spielen will.
Da die jetzige Terrasse schon überdacht und von einer Seite geschlossen ist, an der das Geißblatt rankt, braucht mein Opa nicht lange für den Umbau. In die vordere Front baut er die ausrangierten Schaufenster ein und in die rechte Seite kommt eine große neue Schiebetür rein. Die Lamellenzäune, die die Terrasse vorher umschlossen, bekommt meine Mutter.
Nach 2 Tagen ist der Umbau fertig und es ist richtig schön geworden.
Bei der Schiebetür hat meine Opa auch noch ein Stück gepflastert, sodass dort auch noch ein Sitzplatz entstanden ist.
Ein Stück weiter zwischen den Rhododendren und der großen Tanne habe ich mir einen kleinen Teich gewünscht, den man vom Wintergarten aus sehen kann.
Beim Ausheben helfe ich natürlich. Provisorisch wird erst einmal dünne Folie ausgelegt, bevor richtige Teichfolie gekauft wird. Ein paar Sumpfgräser besorgt mein Opa aus einem der Schloote im Hammrich. Aber das Grünzeug sieht nicht besonders schön aus und darum nehmen wir es wieder aus dem Wasser raus. Schnell finden sich Wasserläufer und Schwimmkäfer ein und es macht mir Spaß, sie zu beobachten.
Dienstag
Die letzten schönen Tage des Herbstes werden genutzt um das Gemüsebeet ab zu ernten. Meine Großeltern haben alles mögliche dort eingepflanzt: Möhren, verschiedene Kohlsorten, Radieschen, Salate, Bohnen, Zwiebeln und Kräuter... Vom Frühling bis in den Spätherbst gibt es immer etwas.
Zum Ende des Jahres werden die unbrauchbaren Pflanzen aber auf dem Kompost gebracht und der Acker umgegraben.
Es gibt zu dieser Jahreszeit viel im Garten zu tun. Die Sträucher und Büsche werden für den bevorstehenden Winter zurückgeschnitten, die letzten Äpfel gepflückt und meiner Oma zum Verarbeiten gebracht.
Am Haus werden die Holzfenster gestrichen und auch der Jägerzaun zur Straßenseite bekommt neuen Schutzlack.
Die Steinplatten der gepflasterten Bereiche werden gehoben und mit neuen Sand unterfüttert. Dabei mag ich gerne zugucken, denn unter den Waschbetonplatten sind Unmengen an Ameisennestern und ich finde es lustig, wie sie bei Gefahr hektisch versuchen, ihre Brut in Sicherheit zu bringen.
Diese Ameisennester sind aber auch der Grund, warum die Platten zum Jahresende hin schief und zu Stolperstellen werden.
Ein paar Meter weiter wächst der Brombeerbusch an der Garagenmauer hoch. Mein Großvater hat an der Wand Eisenstäbe verdübelt und an diese Halterung Baustahlmatten als Rankhilfe befestigt. Die meisten Früchte hat er schon selbst abgepflückt im Vorbeigehen. Meine Oma mag keine Brombeeren und ist ganz froh, dass wir, also Opa und ich immer wieder direkt vom Strauch essen.
Kapitel 4
Winter Anno 1983
Sonntag
Nachdem die Herbststürme auch die letzten Blätter von den Bäumen gefegt haben, sind die Tage kürzer und kälter geworden. Es dauert nicht mehr lang, dann werden die ersten Schneeflocken vom Himmel fallen und am Flurfenster beim Treppenaufgang wird die Kälte die Eisblumen an der Scheibe wachsen lassen.
Im Winter bastel ich viel. Wegen des schlechten Wetters kann man nur im Haus bleiben. Ich helfe meiner Oma beim Kochen oder stöbere im Keller herum. Da stehen auch bunte Flaschen mit Wandfarbe zum mischen.
Eine Wand im Vorratsraum ist frei. Dort darf ich ein Bild an die Wand malen – hat Opa mir erlaubt. Ich lasse meiner Phantasie freien Lauf. Ich male eine Kuppel über einer tellerartigen Welt. Über der Kuppel leuchten die Sterne. Auf dieser Tellerwelt sind Bäume, Tiere und Menschen. Das ganze steht auf mächtigen Säulen, die ins schwarze Nichts führen. Zwischen den Säulen male ich noch eine Höhle in der ein Skelett liegt. Das soll das Jenseits darstellen.
Ich bin zufrieden mit meinem Werk.
Im Heizungsraum darf ich eigentlich nicht malen. Aber die erste Farbschicht blättert dort an einer Wand ab und die Putzumrisse ähneln einem Hund, der auf dem Boden schnüffelt.
Mit einem Bleistift male ich den Hund fertig. Jetzt sieht er aus, wie ein Basset.
Und wem es nicht gefällt, der kann es wieder weg machen.
Donnerstag
Heute ist Martini. Das ist der Tag, an dem die Kinder im Dorf mit ihren Laternen von Haus zu Haus ziehen, Martini-Lieder singen und dafür eine kleine Süßigkeit als Belohnung bekommen.
Sonka holt mich ab, sobald die Dunkelheit hereinbricht und dann laufen wir von der großen Kreuzung an die Neue Straße runter bis zur Heinrich-von-Kleist-Strasse und wieder zurück. Auch die Goethestrasse laufen wir noch ab. Klingeln können wir dort, wo Licht brennt. Bei Sandners haben wir in den vergangenen Jahren immer angefangen. Sie verteilten kleine Orangensaftpacks. Die Eltern von Hillbert haben kein Licht brennen. Die Nachbarn verteilen fast immer jedes Jahr dieselben Dinge. Bei manchen gibt es ein 50 Pfennig-Stück. Bei Hatzens in der Goethestrasse bekommt man immer Diät-Schokolade, die keiner essen mag. Manche geben mehr, manche weniger.
Nachdem wir 20 Nachbarn mit unseren Liedern erfreut haben, gehen wir wieder nach Hause und sortieren die Ausbeute. Die Diät-Schokolade landet gleich im Mülleimer unter dem Spülbecken.
Am späten Abend zwischen 19 und 21 Uhr gehen die großen Jugendlichen von Haus zu Haus. Sie singen auch Martini-Lieder, sind aber mit Masken verkleidet und bekommen als Belohnung einen Schnaps oder ein 2,-DM-Stück. Es sind aber nur wenig ältere, die noch umherziehen.
Außerdem mag meine Oma ungern so spät noch aufmachen. Bisschen Angst hat sie glaube ich auch, weil die jungen Männer ja maskiert sind.
Sonntag
Die Winter in Ostfriesland können sehr kalt sein. Die hübschen Eiskristalle am Flurfenster schmelzen im Laufe des Vormittags wenn die Morgensonne sie mit ihren Strahlen kitzelt.
Auf der Strasse hat sich eine dicke Eisschicht gebildet und die Kinder der Nachbarschaft haben sich Gleiter unter die Schuhe geschnallt und fahren damit nun auf dem gepressten Schnee.
Auch ich hole meine Gleiter aus der Flurkommode, ziehe meine Handschuhe, den Schal und die rote Bommelmütze an und geselle mich zu den anderen Kindern.
Einige andere laufen mit ihren Schlittschuhen in der Hand an uns vorbei zur Eisbahn.
Am Ortsausgang von Neermoor, in Richtung Leer, flutet die Feuerwehr im Spätherbst die große Weide links neben dem Randkanal, die dann zufriert. Das ganze Dorf kann dort dann im Winter Schlittschuhlaufen gehen.
Der Randkanal selbst ist auch oft zugefroren. Manch einer traut sich auch dort auf das Eis, allerdings ist das sehr gefährlich und wird auch nicht gern gesehen.
Dienstag
Heute ist Nikolaustag! Und der Nikolaus war in der Nacht auch bei uns.
Nach dem Aufstehen werde ich mit einem Stutenkerl und einem mit Nüssen, Äpfeln und Schokolade gefüllten Stiefel überrascht. Alle braven Kinder bekommen das.
Und am Nikolausabend findet am Abend im Dorf ein Knobeln statt. Gegenüber vom Neermoorer Einkaufsladen ist ein Haus in dessen Schuppen das Knobeln stattfindet. Zu gewinnen gibt es Torten, Präsentkörbe, Eis und viele andere Leckereien.
Viele Einwohner finden sich an diesem Abend in dem Schuppen ein und es wird viel gelacht, geknobelt und laut gejubelt, wenn ein Sechserpasch fällt.
Für jeden Sechserpasch bekommt man Punkte. Und diese Punkte kann man dann eintauschen gegen die Preise.
Opa und ich knobeln, was das Zeug hält. Ich habe mein Können ja schon bei den Kaninchenausstellungen unter Beweis gestellt.
Donnerstag
Der Duft von Pfefferkuchen, Vanillekipferl und Christstollen durchzieht das Haus. In der Adventszeit backt meine Oma immer sehr viel. Und ich liebe es, ihr dabei zu helfen. Ich steche die Sterne und Tannen aus und dekoriere die Plätzchen mit bunten Zuckerkügelchen.
Aus dem Keller wurden schon Anfang Dezember die Kartons mit der Weihnachtsdekoration geholt und Sterne und Engel stehen in fast allen Räumen. In der Schule haben wir gelernt, wie man Strohsterne bastelt und ich setze mich ins Esszimmer an den großen runden Tisch und fummel einen nach dem anderen zusammen für den Christbaum, der an Heiligabend im Wohnzimmer aufgestellt wird.
Auf die Weihnachtsfeiertage freue ich mich am meisten, weil dann die ganze Familie zusammenkommt.
An der Wand hinter der Esszimmertür hängt unser befüllbarer Adventskalender. Meine Schwester und ich haben jeden Tag was neues daran hängen.
Am Nikolaustag hing dort sogar ein 2-DM-Stück für jeden. Und an Heiligabend wird ein 5-DM-Stück dran sein – so wie im vergangenen Jahr.
Opa trägt die große Tanne ins Wohnzimmer. Den Ständer hat er bereits draußen im Garten angeschraubt. Gemeinsam mit meiner Schwester fange ich an, den Baum zu schmücken. Nur die oberen Äste erreichen wir nicht und da helfen uns die Großeltern.
Viele bunte Kugeln, Glocken, Girlanden und Lametta machen den Baum zu einem Prachtstück. Die Spitze macht meine Oma drauf. Wackelig balanciert sie auf der Leiter und es dauert etwas, bis sie das lila Glasteil drüber gestülpt hat. Aber irgendwann ist es vollbracht... Hurra!
Jetzt kann Weihnachten kommen.
Freitag (Heiligabend)
Ich habe vor Aufregung kaum geschlafen. Ich schleiche mich runter in die Küche. Meine Oma ist bereits wach, hat den Frühstückstisch gerichtet und ist dabei, die schlesischen Mohnsemmeln für den Abend vorzubereiten. Die Milch kocht bereits und die alten Brötchen werden grade in Scheiben geschnitten. Ich darf den Mohn mit der Kaffeemühle mahlen.
Mohn, Brötchen, Milch und Mandeln werden zusammen in eine große Schüssel getan und zum Abkühlen an die Seite gestellt.
Nach und nach kommen auch meine Schwester und mein Opa in die Küche und wir essen erst einmal gemeinsam.
Meine Oma hat noch viel zu tun.
Ich gehe ins Wohnzimmer und betrachte den hübschen Baum.
Mittags kommt meine Mutter. Sie hilft Oma beim Tischdecken.
An besonderen Tagen, wie diesen, wird im Esszimmer der große runde Tisch fein gedeckt. Mit weißer Tischdecke, Kerzen und dem guten Geschirr.
Ich gehe in den Garten, baue einen Schneemann und befülle das Futterhäuschen.
Meine Mutter ruft mich rein, denn wir wollen noch in die Stadt. Mutter muss noch ein paar Dinge besorgen und außerdem möchte sie mit uns Kindern zu „Spielwaren Harms“. Auf dem Vordach über dem Eingang des Geschäfts ist ein riesengroßer Adventskalender aufgebaut. In jeder Tür ist ein Märchenbild zu sehen und mechanische Wichtel bewegen sich im Takt zur Weihnachtsmelodie, die einem entgegenschallt.
Um 16 Uhr geht die große Tür der „24“ auf und der „Weihnachtsmann“ kommt mit seinem Sack voller Geschenke.
Zuerst hält er eine kleine Rede, wünscht allen ein frohes Fest und öffnet dann seinen braunen Beutel:
Bonbons, Kuscheltiere und kleine Bälle regnen auf die wartenden Besucher und die Kinder stehen mit leuchtenden Augen jubelnd in der ersten Reihe.
Ich habe einen Ball fangen können.
Bevor wir Bescherung machen können, geht Mutter mit uns in die Kirche zum Weihnachtsgottesdienst.
Vorne, gegenüber der Kanzel steht ein Baum, der bis an die Decke des Kirchenschiffes reicht.
Die Kirche ist gerammelt voll. Das ganze Dorf ist zusammengekommen und es mußten sogar extra Stühle dazugestellt werden. Trotzdem stehen noch eine Menge Menschen entlang der Bänke bis nach vorn.
Nach dem Gottesdienst, indem von Jesu-Geburt erzählt und einige weihnachtliche Lieder gesungen wurden, gehen wir endlich wieder zu Oma.
Die Geschwister meiner Mutter sind auch schon da und gemeinsam wird erst einmal gegessen: Braten, Rotkohl, Kartoffelknödel... und als Nachtisch Kompott aus eingeweichtem Trockenobst und die am frühen Morgen vorbereiteten „Schlesischen Mohnsemmeln“.
Die elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum brennen bereits und ich wage einen Blick auf die Geschenke, die darunter liegen.
Ich freue mich, als endlich die Geschenke verteilt werden. Jeder bekommt eine Kleinigkeit. Ich habe eine Puppe und ein Bastelset bekommen.
Während ich glücklich und zufrieden im Bett liege, höre ich von unten noch die anderen reden. Die Erwachsenen lassen den Abend noch gemütlich bei einem Glas Wein im Wohnzimmer ausklingen.
Samstag (1.Weihnachtstag)
Tief, fest und lange habe ich geschlafen. Etwas wackelig auf den Beinen tapse ich nach unten.
Ich spiele nach dem Frühstück mit meinen Geschenken. Es schneit dicke Flocken und meine Oma backt für den Nachmittag einen Hefezopf.
Dann kommt die Familie zum Tee und Kaffee wieder zusammen – wie jedes Jahr...
Letztes Kapitel
2011
Als mich mein Spaziergang zu dieser Stelle führte, war der Himmel stark bewölkt. Jetzt reißt die Wolkendecke auf und Sonnenstrahlen wärmen mein Gesicht und kitzeln das schwarze Ziegeldach.
Da steht es und guckt mich genauso vorwurfsvoll an, wie damals die kalten Augen des armen Karpfens. Der Jägerzaun steht schon lange nicht mehr. Der Garten wirkt gepflegt. Die Jahre sind nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Aber Türen und Fenster sind neu.
Mir steckt beim Anblick ein dicker Kloß im Hals und ich habe Mühe diesen herunter zu schlucken.
Wenn ich einen Koffer voller Geld hätte, würde ich jetzt dort klingeln gehen und dem Hausherren ein Angebot machen, was er vielleicht nicht so schnell abschlagen würde.
Die große Lärche und die Edeltanne, unter der mein Kaninchenstall stand, blicken majestätisch über das ganze Dorf und auf mich herab. Ich höre leise im Wind, der ihre Äste streichelt, ihr Flüstern „Komm zurück!!“
Ich würde ja so gerne, wenn ich könnte....
Texte: Alle Bilder und Illustrationen innerhalb des Buches unterliegen dem Copyright und dürfen ohne meine ausdrückliche Erlaubnis nicht kopiert und anderweitig verwendet werden.
Coverfoto: Foto: © Dirk Schelpe / http://www.pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 20.05.2011
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für die lieben Menschen, die meine Kindheit begleitet haben. Danke!
Die Namen in meiner Geschichte sind aus datenschutzrechtlichen Gründen abgeändert. Örtlichkeiten und Handlung entsprechen der Realität.