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Das Erbe

 

„Sind Sie sicher, dass Sie hierher wollen?“

Der Angesprochene öffnete schlaftrunken seine Augen. Er richtete sich im Beifahrersitz auf und blickte zweifelnd durch die Scheibe der Seitentüre.

„Sind Sie sicher, dass das die richtige Adresse ist?“ stellte der eine Gegenfrage an den glatzköpfigen, untersetzten Lenker des weißen Mercedes.

Dieser nickte, zeigte mit dem ausgestreckten rechten Arm an seinem Fahrgast vorbei, auf das Schild an der Mauer neben dem schmiedeeisernen Eingangstor. „Dr. Frank Straße 13, so steht´s in Ihrem Schreiben“, antwortete der Taxifahrer sichtlich beleidigt. In seiner gesamten Berufslaufbahn, von nunmehr als fünfundzwanzig Jahren, hatte er noch immer seine Passagiere dorthin befördert, wohin sie wollten. Er kannte sich aus. Aber dieser seltsame Mann neben ihm, der gerade einmal so alt war, wie seine berufliche Laufbahn, hatte wohl an seiner jahrelangen Erfahrung etwas auszusetzen.

Der ungepflegte Typ mit Dreitagebart rekelte sich im Beifahrersitz, gähnte genüsslich und zuckte mit den Schultern. „Na, wenn´s da steht, wird´s schon stimmen.“ Aus seinem abgewetzten, farblich undefinierbaren, Rucksack kramte er eine, ebenso zerschlissene, Geldbörse, bezahlte den geforderten Preis und verließ behäbig, wie ein alter Mann, den weißen Mercedes. Nachdem die Beifahrertüre mit Schwung ins Schloss fiel, fuhr dieser mit quietschenden Reifen davon.

Langsam und misstrauisch, als begreife er immer noch nicht, dass er an seinem Ziel angekommen war, schlich er auf das schmiedeeiserne Tor zu. Den Rucksack hatte er sich über die linke Schulter gehängt, seine rechte Hand strich durch das zerzauste, ungepflegte dunkle Haar. Diese ganze Erscheinung strahlte ein Null Bock auf Arbeit aus.

Er war Mitte Zwanzig, schlank und zirka ein Meter achtzig groß. Die hängenden Schultern ließen ihn allerdings kleiner wirken, als er in Wirklichkeit war. Die schlaksige Gestalt ohne Zukunftsperspektive war Student. Einer der Sorte, welche jahrelang vom Geld seiner gutbetuchten Eltern lebte und sich einen Lenz machte. Welches Semester er zuletzt besucht hatte konnte er selbst nicht genau sagen. Die Frage, was er eigentlich studierte, konnte er bestenfalls mit einem Schulterzucken beantworten. Er hatte die Richtung so oft gewechselt, dass er den Überblick verloren hatte.

Noch einmal gähnte er genüsslich und riss dabei den Mund so weit auf, dass man Angst haben musste, er würde sich die Kieferknochen ausrenken. Anschließend kramte er in der rechten Hosentasche. Das was er suchte war nicht klein. Trotzdem fand er den Gegenstand nicht. Genervt schnaubte er durch die Nase und durchsuchte die linke. Er kaute auf der Unterlippe und steckte beide Hände tief in die Hosentaschen seiner Jeans. Die ausgebleichte, und um drei Nummern zu groß geratene, Hose hing ihm beinahe in den Kniekehlen. Plötzlich huschte ein verschmitztes Grinsen um seine Mundwinkel.

„Hier ist ja das gute Stück“, sagte er und zog den großen schwarzen Schlüssel heraus. Mit ihm allerdings auch sein Smartphone, welches prompt auf dem Boden landete. „Mist“, kommentierte er das Missgeschick unfein und bückte sich. Kaum hatte er es in der Hand ertönte Ennio Morricones Spiel mir das Lied vom Tod.

„Ja!“ brüllte er kurz ins Telefon.

„Hey Tobias!“

„Hey Alter“, antwortete dieser.

„Was ist? Schlecht gelaunt?“ fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Frag lieber nicht.“

„Das hört sich aber nicht gut an. Bist du schon bei der Adresse angekommen, Tobi?“

„Ja schon“, meinte der abgewrackte Student und sah zweifelnd durch die schmiedeeisernen Gitterstäbe des geschlossenen Tores, „aber…“

„Aber was?“ wollte der Anrufer wissen.

„Da stimmt was nicht. Das kann nicht die richtige Adresse sein.“

„Ist das nicht die Adresse aus dem Schreiben?“

„Doch, Joe, doch, aber – wenn du das sehen könntest …“

„Du hast doch den Schlüssel – passt der?“

„Hab ihn noch nicht ausprobiert“, sagte Tobias und starrte auf das Ungetüm in seiner anderen Hand. Es war genauso schwarz und schmiedeeisern wie das Tor. Der Schlüssel könnte passen. Aber was dann?

„Worauf wartest du dann noch – bist du überhaupt nicht neugierig?“

„Du dafür umso mehr – oder was?“

„Schaut´s dort echt so schrecklich aus?“ fragte Joe am anderen Ende. „Bruchbude mit Schrotthaufen?“

„Schloss mit Schlossgarten“, antwortete Tobias und legte auf. Er steckte das Smartphone in die hintere Hosentasche, welche neben drei Kaugummis und einem Feuerzeug noch die zerknüllte Zugfahrkarte enthielt und betrachtete eingehend das altertümliche, aber keineswegs verrostete, Schloss am Tor. Mit seiner linken Hand strich er über seinen Dreitagebart am Kinn, sein rechter Zeigefinger schob ein kleines schwarzes Eisenplättchen, welches das Schlüsselloch verdeckte, zur Seite. Langsam bewegte sich der Schlüssel seinem Ziel entgegen als …

„Himmel Donnerwetter nochmal!“ fluchte Tobias, als das Handy schon wieder läutete. „Was?“

„Sagtest du vorher – Schloss mit Schlossgarten?“ wollte Joe wissen.

„Ja!“ brüllte er genervt ins Telefon.

„Ein echtes?“

„Glaube nicht, dass es aus Lebkuchen und Zuckerguss ist!“

„Mann, bist du schlecht drauf heute“, bemerkte Joe endlich. „Hast du den Schlüssel schon ausprobiert?“

Langsam platzte Tobias der Kragen. „Wie denn!?“

„Sorry, Alter, aber du wirst doch wissen, wie man einen Schlüssel …“

„Natürlich weiß ich, dass man einen Schlüssel ins Schlüsselloch stecken muss …“

„Aber? Wo liegt das Problem?“

„Ich komm nicht dazu, weil immer so ein Vollidiot anruft und nervt!“ wurde er immer lauter.

Funkstille am anderen Ende.

„Okay, okay, du brauchst nicht gleich sauer werden“, kam die kleinlaute Antwort. „Bin ja schon ruhig.“

Tobias atmete tief durch und endlich fand das schmiedeeiserne Ungetüm sein Ziel. Eine kurze Drehung nach rechts und das große, schwarze Tor schwang auf. Der abgewrackte Student riss erstaunt die Augen auf, die Kinnlade klappte nach unten.

„Wow – geil!“ kam im Flüsterton über seine Lippen. „Passt, wie die Faust auf ´s Auge.“

„Echt? Ist es offen?“ fragte Joe neugierig.

Tobias nickte stumm vor sich hin, was der Anrufer natürlich nicht sah, die Stille jedoch als eindeutiges JA interpretierte.

Vorsichtig trat der junge Mann einen Schritt nach vorne. Er erschrak, als der weiße gepflegte Kiesweg unter seinen ungepflegten, durchlöcherten Sneakers knirschte. Der Student blieb stehen, blickte sich verstohlen nach allen Seiten um, als hätte dieses Geräusch den Hausherrn aufscheuchen können. Wie ein Fremder – geradezu wie ein Einbrecher – kam er sich vor, als er noch einen weiteren Schritt in den Schlossgarten wagte.

„Bist du schon im Schloss? – Hey, sag doch was?“ wurde Joe ungeduldig.

„Im Schloss? Du bist ein Komiker“, lachte Tobias mit rauer Stimme. Seine Augen scannten den weitläufigen Garten zwischen Tor und Wohngebäude. „Ich bin gerade mal zwei Schritte gekommen.“

„Bist du eine langsame Schnecke“, maulte Joe.

„Eine langsame Schnecke? Hör mal, Alter, wenn du das sehen könntest …“

„Mach ein Foto und schick ´s mir. Wozu hast du das Smartphone.“

„Ein Foto?“ fragte Tobias. „Ein Foto genügt da nicht. Das musst du mit eigenen Augen gesehen haben. Wenn du wissen willst, wie ´s hier aussieht musst du herkommen.“

„Ich steck aber mitten in den Prüfungsvorbereitungen“, antwortete die Stimme am anderen Ende beinahe verzweifelt. Richtig, wenn man sein Studium ernst nahm, und das taten die meisten, dann gab ´s hin und wieder Prüfungen, das war Tobias auch noch vage in Erinnerung. „Weißt du was, Alter, ich werde in drei Tagen bei dir aufschlagen. Da ist Wochenende“, fuhr Joe fort. „Wie war die Adresse nochmal?“

„Dr. Frank Straße 13.“

„Also gut, wir sehen uns – tschau!“

Im nächsten Augenblick war die Leitung tot.

Schritt für Schritt schlich er auf dem Kiesweg weiter. Neugierig blickte er sich dabei nach allen Seiten um.

Kniehohe zurechtgestutzte Buchsbaumhecken säumten die gepflegten Beete mit dem kurz gemähten Rasen. Kletterrosen rankten sich an der Innenseite der Gartenmauer empor, während Rosenbüsche und Rosenbäumchen in allen erdenklichen Farben den Garten verschönerten. Auf halbem Weg zum Schloss befand sich, wie der Mittelpunkt eines Kreisverkehrs, ein Springbrunnen aus rötlichem Marmor mit weißen Einschlüssen, die wie Adern über den Stein liefen. Über drei Kaskaden plätscherte das kühle Wasser in ein großes Becken, den Abschluss des Springbrunnens zierte eine Eulenstatue. Sie wirke so realistisch, dass man meinen konnte, sie würde im nächsten Augenblick ihre Flügel ausbreiten und mit schaurigem Schuhu, davonfliegen.

Tobias ließ sich auf den Rand des Springbrunnens plumpsen. Insgesamt vier Kieswege trafen an diesem Platz zusammen. Einer führte zum Tor zurück, der gegenüberliegende zum Schloss. Der linke endete bei einem Pavillon, der rechte mündete in einen weiteren, der sich entlang der Mauer erstreckte.

Verwirrt und misstrauisch schüttelte der junge Mann den Kopf. Das soll alles ihm gehören? Das soll er geerbt haben? Geerbt von einem Großonkel, den er noch nie im Leben gesehen hatte, von dem er noch nie im Leben gehört hatte?

Mit der rechten Hand griff er ins Wasser des Brunnens und goss sich das kühle Nass ins Gesicht. Diese Prozedur reichte nicht aus um wach zu werden. Er nahm den Rucksack ab, zog sein T-Shirt aus und steckte seinen ganzen Kopf ins Wasser. Dann warf er ihn in den Nacken und lachte lauthals los.

Nein, das war kein Traum! Das war Realität!

Wie ein Betrunkener tanzte er um den Springbrunnen und drehte sich, mit weit zur Seite gestreckten Armen, um die eigene Achse, bis ihm schwindlig wurde. Er torkelte, stolperte über die nächste Buchsbaumhecke und blieb mit ausgestreckten Armen lachend auf dem Rücken liegen.

„Ich werd verrückt!“ Ja, so benahm er sich auch – wie ein Verrückter. Er stützte sich auf seine Unterarme und richtete sich langsam auf. „Hoffentlich ist im Erbe auch das Personal enthalten“, kam ihm plötzlich der Gedanke, denn er hatte keine Lust auf Gartenarbeit.

Nachdenklich strich er mit der rechten Hand über sein raues Kinn. Eine Rasur wäre auch nicht schlecht gewesen. Doch die Stoppeln störten ihn wenig. Etwas Anderes machte ihm mehr Sorgen – der Schlüssel. Das schmiedeeiserne Ungetüm hatte er wieder in die Hosentasche gesteckt, das Tor hatte er geschlossen, aber … aber er hatte nur diesen einen Schlüssel und die Adresse vom Nachlassverwalter seines Großonkels bekommen und der Schlüssel würde bestimmt nicht zum Wohngebäude passen.

Ein wenig missmutig blickte Tobias zum Schloss. Es war ein massiver, weißgetünchter Bau – kein Märchenschloss wie Neuschwanstein - zu dem man sich nicht so einfach Zutritt verschaffen konnte. Da konnte man nicht so einfach – mir nichts dir nichts – das Schloss knacken. Obendrein gab es bestimmt mehr als nur eine Türe durch welche man ins Innere gelangen konnte. Ihm würde es schon genügen, den Schlüssel für eine der Türen zu besitzen.

Schwerfällig stand er auf und zog mit beiden Händen den Hosenbund in die korrekte Position. Er stieg über die Buchsbaumhecke, griff nach Rucksack und Shirt, die noch immer neben dem Springbrunnen lagen, und machte sich auf den Weg zum Wohngebäude.

Immer wieder fragte er sich, warum gerade er und nicht seine Eltern oder Großeltern dieses Anwesen geerbt haben, warum ausgerechnet er?

Er, der es, nach Meinung seiner Verwandtschaft, am allerwenigsten verdiente. Er, der sich nicht sonderlich viel aus der Familie machte und nur widerwillig, wenn überhaupt, bei Hochzeiten oder Beerdigungen aufgekreuzte. Ebenso hatte er aus seinem bisherigen Leben nichts gemacht – null Bock auf Studium, null Bock auf Arbeit. Und so einer wie er sollte dieses Schloss geerbt haben?

Tobias lachte freudlos.

Das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen.

Da gab ´s doch ein Haken – oder?

Vor der Treppe, welche zum Haupteingang führte, und gerade mal vier Stufen hoch war, blieb er stehen, legte seinen Kopf in den Nacken und blickte nach oben.

Im ersten Stockwerk, über der Haustüre, gab es einen kleinen Balkon. Zu welchem Zimmer er gehörte wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Durch die Fenster im Erdgeschoss konnte man nicht blicken, sie lagen zu hoch. Aber es waren große, hohe Fenster mit langen durchscheinenden Vorhängen, welche die Scheiben im Inneren verdeckten. Tobias starrte so gebannt auf die zugezogenen Vorhänge, als könnte er sie alleine durch seinen Blick öffnen. Beinahe erwartete er, dass sich einer bewegen und eine Gestalt am Fenster erscheinen würde.

„Quatsch!“ rief er und lachte über sich selbst. So etwas geschah nur in schlechten Gruselfilmen. Trotzdem zuckte er erschrocken zusammen als eine Glocke zehnmal anschlug. Die Glocke gehörte zum Turm des Gebäudes, welcher sich mittig aus dem Dach gegen den Himmel schob. An dessen Außenseite befand sich ein großes Ziffernblatt mit kunstvoll geschmiedeten Zeigern. Auf seiner Spitze thronte ein Zwiebelturm.

„Zehn“, murmelte er und strich mit der Hand über seinen Nacken. Um diese Zeit lag er gewöhnlich noch im Tiefschlaf. Aber heute stand er hier vor dem seltsamen Schloss und gaffte auf die Eingangstür. Um dorthin zu gelangen musste er nur noch über die wenigen Stufen die vor ihm lagen. Sie bestanden, wie der dazugehörige Handlauf, aus demselben rötlichen Marmor mit der weißen Maserung wie der Springbrunnen.

Beinahe ehrfurchtsvoll legte er seine rechte Hand auf das Geländer. Seinen linken Fuß platzierte er auf der untersten Stufe. Dann schritt er bis zur dunkel gebeizten Eichentüre empor. Das schaffte er mit Bravur. Jedoch ließ das nächste Problem nicht lange auf sich warten.

Der schmiedeeiserne Schlüssel vom Tor passte natürlich nicht. In der, wie neu aussehenden, Türe gab es ein modernes Schloss. Bestimmt ein Sicherheitsschloss wie er vermutete. Eine Fußmatte, unter welcher der Schlüssel versteckt sein konnte, gab es auch nicht. Was tun? Wie kam er nun ins Innere?

Tobias blickte sich neugierig um. Neben seiner Wenigkeit und einem marmornem rundem Gefäß, welches üppig mit bunten Blumen bepflanzt war befand sich nichts in unmittelbarer Umgebung. Mitten im farbenfrohen Unkraut, wie der Student die blühende Botanik bezeichnete, steckte ein unauffälliges Schild.

„Schlüssel beim Friedhofswärter ums Eck.“

Neben diesen Worten war ein Pfeil zu sehen, der nach links zeigte.

Beim Friedhofswärter, grinste er verschmitzt. Friedhof hatte er hier noch keinen entdeckt. Aber wenn ´s einen Wärter gab, dann bestimmt auch einen Friedhof. Er machte sich auf den Weg ihn zu finden.

 

Die linke Seite des Gebäudes war nichts Besonderes. Eine ganz gewöhnliche Hausmauer, weiß verputzt. Hier gab es, wie auf der Vorderseite hohe Fenster und – eine Türe. Sie sah auf den ersten Blick wie eine ganz normale Terrassentüre aus. Sie ähnelte derjenigen, welche er von der elterlichen Villa kannte. Es handelte sich um eine Glastür mit weißem Holzrahmen und weißem Holzgitter zwischen zwei Sicherheitsscheiben. Viel konnte Tobias vom Raum dahinter nicht erkennen. Auch hier versperrte ein bodenlanger blickdichter Vorhang die Sicht. Er zuckte mit den Schultern und ging weiter.

Auf seinem Weg kam er an einem Seerosenteich vorbei, welcher inmitten hoher Schilfhalme lag. Er war durchaus gepflegt – wie der Rest der Gartenanlage auch - dennoch bestimmt nicht als Badeteich zu benutzen. Unter der Wasseroberfläche konnte Tobias Goldfische erkennen. Auf den großen Blättern saßen vereinzelt Frösche, welche mit lautem Quaken und Kopfsprüngen in der Tiefe verschwanden.

„Alles sehr gepflegt“, stellte er fest.

Dabei war sein Großonkel bereits schon einige Wochen unter der Erde.

Wie er gestorben war wusste er nicht. Ein natürlicher Tod, was immer man darunter verstand, soll es nicht gewesen sein. Aber anscheinend hatte er dafür gesorgt, dass auch nach seinem Tod, sich noch jemand um das Anwesen kümmerte. Selbst von den hohen Kastanienbäumen und Eichen, die weit in den Himmel ragten, befand sich kein einziges herabgefallenes Blatt auf dem sauber gemähten Rasen. Einen Gärtner oder Hausmeister hatte Tobias noch nicht entdeckt. Auch noch keinen Friedhof mit Friedhofswärter. Da gab es keinen Grabhügel, nicht einmal einen Maulwurfshügel.

Im Schatten der hohen Bäume war es ein wenig frisch. Sein T-Shirt hatte er längst wieder angezogen. Nun kramte er im Rucksack nach seinem dunkelblauen Sweater und streifte ihn über. Um diese Jahreszeit – es war gerademal Anfang April – konnte man keine sommerlichen Temperaturen erwarten. Dennoch eines erwartete er. Ein Schild, oder wenigstens einen Hinweis, dass er sich auf dem richtigen Weg zum Friedhof befand.

Missmutig stieß er die Luft durch die Nase aus und blickte sich um. Vielleicht war er hier falsch oder er hatte sich verlaufen?

Tobias grinste. Verlaufen? Auch wenn er hier fremd war, so groß war der Garten nun auch wieder nicht, dass er sich hätte verlaufen können. Außerdem war das gesamte Anwesen von einer hohen Mauer umgeben. Daran, dass er sich im falschen Teil des Gartens befand glaubte er auch nicht, schließlich hatte der Pfeil auf dem Schild, nach links gezeigt.

Langsam strich er mit der Hand über seinen Nacken und überlegte. War es normal, dass jedes Schloss einen eigenen Friedhof hatte? Oder gehörte der Friedhof gar nicht zum Schloss. Vielleicht hatte das Schloss nur einen Zugang zum Friedhof, weil dort die Familiengruft zu finden war. Von einer solchen hatte man ihm aber nichts erzählt und er wusste auch nichts davon, dass seine Familie eine Gruft besaß. Womöglich wurden dort die Vorbesitzer, beziehungsweise die Erbauer des Schlosses, beigesetzt. Mit diesen Gedanken im Hinterkopf ging er weiter, und erblickte wenig später nicht weit von sich entfernt, im Schatten der hohen Bäume, ein Licht auf Augenhöhe.

Verdutzt ging Tobias auf dieses Licht zu. Je näher er kam umso deutlicher sah er, dass es sich dabei nicht um eine Laterne mit Glühlampe handelte, sondern um das flackernde Licht einer Kerze. Neugierig kam er näher, und als er vor dem seltsamen Gebilde angekommen war konnte er sich ein lautes Lachen nur schwer verkneifen. Die dicke Kerze, welche bereits mehr als die Hälfte heruntergebrannt war, saß auf einem … bleichen Totenkopf, dem das Wachs in die leeren Augenhöhlen tropfte. Die Worte ZUM FRIEDHOF waren unter dem erkalteten Wachs auf der knochigen Stirn kaum zu erkennen.

Für Halloween war es eindeutig zu früh – oder zu spät. Wie immer man es sehen wollte. Aber der Schädel zeigte ihm, dass er sich auf dem richtigen Weg befand und bestimmt bald an seinem Ziel ankommen würde.

Richtig, nach wenigen Schritten versperrte ihm ein weiteres schmiedeeisernes Tor den Weg. Allerdings kein drei Meter hohes, es reichte ihm nur bis an die Schultern.

Tobias legte bereits die Hand auf die Klinke, als er ein verwittertes Schild am Tor entdeckte. Darauf war, trotz der Flechten, welche darauf wuchsen noch der Spruch zu erkennen. „Hier ruhen die Toten, aufwecken verboten!“ Ha, ha, ha, wer war da der Scherzkeks? Sein Großonkel oder der geheimnisvolle Friedhofswärter.

Erschrocken zuckte er im nächsten Moment zusammen. Ein ohrenbetäubendes Quietschen ertönte. Den Spruch hätte sich mal das Tor zu Herzen nehmen sollen. Die Angeln waren total verrostet und gaben diesen grässlichen Laut von sich. Ob der allerdings Tote aufwecken konnte bezweifelte er dann doch.

Langsam quetschte er sich durch den Spalt aufs Gelände.

Friedhofswärter? Wo mochte der wohl sein?

Er sah keine lebende Seele, außer Krähen, die auf umgestürzten und verwitterten Grabsteinen hockten und ihn neugierig beäugten. Eine Gruft, oder Ähnliches, entdeckte er nicht. Hier sah es nicht gepflegt aus, hier war alles alt, modrig und verfallen. Hin und wieder waren einzelne Buchstaben auf den Steinen zu erkennen, mehr jedoch nicht. Wie die Begrabenen zu Lebzeiten geheißen hatten, wann sie geboren und gestorben waren, war beim besten Willen nicht mehr zu lesen. Dieser Friedhof eignete sich bestimmt gut als Kulisse für einen Grusel- oder gar Horrorfilm.

Plötzlich schrie Tobias erschrocken auf. Eine knochige Hand hatte sich auf seine rechte Schulter gelegt. In dieser Umgebung konnte man sich bestimmt einiges einbilden, aber die Hand war keine Einbildung, denn er sah sie, als er einen verstohlenen Blick nach rechts machte.

„Suchen Sie mich, junger Mann?“

Mit wild klopfendem Herzen drehte er sich um. Hinter ihm stand eine hagere Gestalt. Die Wangen waren eingefallen, das weiße Haar zerzaust, die Haltung gebückt. Sein Gegenüber grinste ihn, mit beinahe zahnlosem Gebiss an und streckte ihm die Rechte entgegen. Nur zaghaft ergriff der Student sie. Die Hand war abgemagert und knöchern, der Händedruck trotzdem fest. Das hätte Tobias dem Alten gar nicht zugetraut.

„Ich bin Horst“, stellte der sich vor und hob fragend die buschigen Augenbrauen. „Ich bin hier der Friedhofswärter.“

„Tobias“, brachte der Student gerade so über seine Lippen.

„Schön Tobias, du bist bestimmt wegen dem Schlüssel hier.“

„Ja, neben der Eingangstür …“

„Ja, ja, ich weiß“, fiel Horst ihm ins Wort. „Ich habe immer einen Schlüssel fürs Schloss. Es kam nicht selten vor, dass dein Großonkel den seinen verlegte, so zerstreut wie der manchmal war, dann holte er sich den, den ich aufbewahre. - Du kanntest deinen Verwandten nicht, hab ich Recht?“

Tobias schüttelte den Kopf während er dem Friedhofswärter folgte. „Hab ihn nie kennengelernt“, antwortete er.

„Machst dir wohl nicht besonders viel aus der buckligen Verwandtschaft – was?“ grinste der alte Mann und blieb vor einer baufälligen Holzbaracke stehen. Er drückte die Klinke nach unten und ließ seinen Begleiter eintreten. „Herzlich Willkommen in meinem bescheidenen Heim.“

Scheu steckte der Student seinen Kopf in die Türöffnung. Das war nicht mehr als ein Geräteschuppen mit einem Bett.

„Hier wohnen Sie?“

Anstelle einer Antwort bekam er einen leichten Stoß in den Rücken, der ihn einen Schritt in die Hütte machen ließ. Hinter ihm folgte der Friedhofswärter.

„Du kannst dich ruhig auf die Matratze setzten“, meinte Horst, als sich Tobias vergeblich nach einem Stuhl umsah.

Der junge Mann nahm Platz. Die Metallfedern des eisernen Bettgestells quietschten, die Matratze war schon seit Jahren durchgelegen. Erstaunt schüttelte er seinen Kopf. So konnte doch keiner wohnen. Ein Bett, ein Tisch und an einer Wand ein, notdürftig zusammengezimmerter, Schrank für die Habseligkeiten. Die gesamte Behausung war bestimmt nicht größer als zehn Quadratmeter. Obendrein roch es hier muffig. Hier würde er es keine einzige Nacht aushalten, geschweige denn ein Auge zumachen können. Und das nicht nur wegen der unheimlich wirkenden Umgebung des Friedhofes.

„Wo ist er denn?“ hörte er Horst murmeln. Er sah, wie der alte Mann ein bauchiges Gefäß nach dem anderen von einem Regal nahm, den Deckel öffnete, die Hand hineinsteckte und den Kopf schüttelte.

„Was suchen Sie denn?“

„Den Schlüssel“, antwortete der alte Mann kurz und biss sich angestrengt auf die Zunge. „Er muss in einer dieser … ah - hier hab ich ihn!“ lachte er. „Mist, jetzt bekomm ich die Hand nicht mehr raus.“ Die Öffnung des schlichten terrakottafarbigen Tongefäßes war selbst für die schmale Hand des Friedhofwärters zu eng.

„Soll ich …“

„Bleib sitzen Jungchen, ich schaff das schon“, wehrte Horst ab, als Tobias ihm helfen wollte. Der Alte schlug das Gefäß zwei, dreimal gegen die Oberfläche des kleinen Tisches. Dann zerbrach es. „Siehst du – so macht man das!“ Er lachte und zog den Schlüssel aus der Asche, die sich auf der Platte verteilt hatte.

Tobias wurde neugierig.

„Sie haben aber einen großen Aschenbecher“, stellte er fest.

Der Friedhofswärter sah ihn verblüfft an, dann lachte er lautstark los.

„Aschenbecher? Ich weiß ja nicht wie ihr jungen Leute dazu sagt, aber ich nenne es - Urne.“

Der Student wurde kreidebleich und riss erstaunt seine Augen auf.

„Urne? Sie … Sie verstecken den Schlüssel vom Schloss in einer Urne?“

„Warum denn nicht? Jedes Mal in einer anderen“

„Diese ganzen Tongefäße“, Tobias zeigte auf die, welche auf dem Regal standen, „sind Urnen? Da ist die Asche von Verstorbenen drinnen?“

Der Friedhofswärter zuckte mit dem Schultern.

„Dafür sind Urnen doch gemacht.“

„Ja dafür, aber nicht als Schlüsselversteck“, meinte der Student ein wenig ungehalten. Er war zwar nicht der gläubigste Mensch unter der Sonne, aber das ging ihm doch ein wenig zu weit. „Und was machen Sie jetzt mit der Asche auf dem Tisch?“

Statt zu antworten hob Horst einen Deckel nach dem anderen der übriggebliebenen Tongefäße und guckte hinein. Dann nahm er ein sehr bauchiges vom Brett, öffnete es und hielt den oberen Rand an die Tischkante. Mit seiner rechten Hand wischte er die Asche vom Tisch in das Gefäß.

„Hei“, entgegnete Tobias entrüstet. „Da sind jetzt aber zwei Verstorbene drinnen.“

„Na und“, antwortete der Friedhofswärter ungerührt und sah ihn spitzbübisch an. „Glaubst du, dass sich die beiden ins Gehege kommen?“

Der Student dachte sich seinen Teil und nahm den Schlüssel, den ihm der Alte in die Hand drückte.

„Gib gut darauf Acht“, mahnte dieser und begleitete seinen Gast aus dem Haus. „Ich will dir noch einen guten Rat mit auf den Weg geben. Schließe nachts immer gut die Türe ab.“

Diese Worte begleiteten Tobias noch bis zum Tor des verwahrlosten Friedhofes. Natürlich schloss er die Eingangstüre ab. Das war doch selbstverständlich. Noch ahnte Tobias nicht, welche Türe Horst gemeint hatte. Ansonsten hätte er das Schloss niemals betreten.

 

*

 

Mit dem Schlüssel in der Hand ging der junge Mann zur Eingangstüre des Schlosses zurück und – er passte! Ein triumphierendes Grinsen legte sich um seine Mundwinkel als er eintrat.

In der großen Eingangshalle, die eher an ein Museum als einen Wohnungsflur erinnerte, blieb er stehen und blickte sich staunend um.

Hell und freundlich war es hier.

Von der Decke, welche sich bestimmt acht Meter über ihm ausbreitete, hing ein prächtiger Kristallluster. Eine geschwungene breite Treppe aus weißem Marmor führte in die erste Etage. Auf halber Höhe umrundete eine Galerie die Eingangshalle.

Tobias brachte vor Staunen den Mund nicht mehr zu. Hier herrschten

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.05.2019
ISBN: 978-3-7487-0601-4

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