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Kapitel 1: Aufbruch

Durch das Fenster fiel kein einziger Lichtstrahl in den dunkeln Raum. Es war Neumond und die Sterne spendeten nicht genug Licht, als dass Cassandra die Gesichter der Mädchen in den Betten um sich herum ausmachen könnte. Trotzdem wusste sie, dass sie da waren. Sie waren immer da - seit fufünfzehn Jahren. Das leise und gleichmäßige Atmen verkündete ihre Anwesenheit. Cassandras Augen hatten sich längst an das schlechte Licht gewöhnt. Seit zwei Stunden war sie wach und starrte in die Dunkelheit. Trotzdem war diese so tief, dass sie kaum etwas erkennen konnte. Leise hob sie die Decke etwas an und griff unter ihr Bett. Ihre Hand streifte etwas weiches und Cassandra griff zu. 

Sie zog den Rucksack hervor. Das schleifende Geräusch klang erstaunlich laut und hallte in ihren Ohren wider, sodass sie inne hielt. Keines der Mädchen bewegte sich. Sie schliefen alle tief und fest. Das Geräusch hatte sie nicht geweckt. 

Erst jetzt wagte Cassandra es, wieder auszuatmen. Mit einem unterdrückten Seufzen entließ sie die Luft aus ihren Lungen, dann schwang siesich aus dem Bett und zog den Rucksack an sich. Mit ihm auf dem sSchoß schlüpfte sie in ihre Schuhe und band sie zu. Sie hatte sich am Abend nicht umgezogen und trug noch immer ihre Alltagskleidung. Über das T-Shirt hatte sie eine College-Jacke gezogen, die sie wärmen würde. Die Beine ihrer Jeans hatte sie in die gefütterten, wasserfesten Stiefel gesteckt, die bis zu ihren Waden reichten. Jetzt griff sie sich noch ihre Regenjacke, die an einem Haken neben ihrem Bett hing. An der Küste war es windig und kalt. Die Jacke würde sie nicht nur vor Feuchtigkeit, sondern auch vor dem beißenden Wind schützen.

Durch die Dunkelheit tastet sie sich bis zur Tür. Eine Hand presste sie auf den Rucksack, dessen Träger sie sich über die Schulter geworfen hatte und er fiel locker auf einer Seite ihrer Schulter herab. Mit der anderen griff sie jetzt nach der Türklinke und drückte sie herunter. Ohne ein Geräusch zu machen öffnete sich die Tür und Cassandra schlüpfte ebenso lautlos durch den Türspalt.

Auch draußen empfing sie Dunkelheit. Hier jedoch wagte sie, ihre Taschenlampe anzuschalten, die sie in das äußere Fach ihres Rucksacks gepackt hatte. Der schmale Lichtkegel erhellte den Gang nur notdürftig, doch es war genug. Schließlich wollte auch Cassandra nicht gesehen werden. 

Mit zügigen Schritten ging sie den Korridor entlang. Als sie um eine Ecke bog, erhellte grelles Licht so plötzlich den Gang, dass sie die augen schließen musste. Erst nach einer Weile konnte sie blinzelnd in das Licht der Taschenlampe blicken, die auf sie gerichtet war. Erst jedoch, als ihr Gegenüber die Taschenlampe senkte und das Licht auf den Boden fiel, konnte Cassandra ihre Freundin Savannah erkennen. Das Mädchen hatte sich ihre roten Haare zu einem Zopf geflochten, so wie auch Cassandra es getan hatte. Draußen würde der Wind an ihren Haaren reißen und sie brauchten freie Sicht. Ihre Hände würden sie ebenfalls benötigen und konnten sie nicht dafür nutzen, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen. 

"Du hast mich erschreckt", wisperte Cassandra und schaltete ihre Taschenlampe aus. Savannahs Lampe erleuchtete den Gang und Cassandra wollte ihre Batterien schonen. Sie hatten nur wenige dabei und sie würden jede einzelne davon brauchen, wenn ihr Vorhaben Erfolg haben sollte.

"Wurde höchste Zeit", entgegnete Savannah, während sie ihren Zopf über die Schulter warf. "Wir warten hier schon eine Ewigkeit."

"Übertreib nicht", antwortete Noah, der neben ihr stand und jetzt ebenfalls kurz seine Taschenlampe einschaltete. Kurz leuchtete er damit Cassandra an, als wolle er überprüfen, ob sie es wirklich war.

"Sind schon alle da?", wollte Cassandra wissen, während sie in das Licht der beiden Taschenlampen blinzelte. Savannah nickte und leuchtete mit ihrer Lampe den Gang hinunter. Cassandra folgte dem Lichtkegel mit ihrem Blick. Das Licht spiegelte sich in den Gläsern von Thiens Brille, den Cassandra als erstes erkannte. Er lehnte an der Wand, einen großen Rucksack auf dem Rücken, aus dem sein Laptop heraussah. Offenbar hatte er es nicht geschafft, ohne sein Technikzeug die Reise anzutreten. Vielleicht würden sie es auch noch brauchen, daher war Cassandra froh, dass sie ihn und seine Elektronik dabei hatten. Von ihnen konnte niemand damit umgehen. Thien war der Schlaue unter ihnen und das war auch gut so. Cassandra wusste, dass es bereits eine schwierige Aufgabe war, hier herausyukommen, und dass dabei auch Thiens Geschicke gefragt sein würden. Sie war froh, dass nicht sie es war, auf die es ankam, denn damit wäre sie ganz sicher heillos überfordert gewesen.

Lily stand neben Thien, die Arme vor der Brust verschränkt und den Blick auf den Boden gerichtet, abwartend. Ihren Blick konnte Cassandra nicht sehen, doch sie war sich sicher, dass Lilz mindestens genauso aufgeregt wie sie alle war. Die blonden Haare hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die ihr auf die Schultern fielen. Durch die Zöpfe und ihre schmale, kindliche Statur sah sie noch jönger aus, als sie ohnehin schon war. Sie war mit ihren dreizehn Jahren die jüngste von ihnen, doch als sie beschlossen hatten, auszureißen, war von Anfang an klar gewesen, dass das kein Hindernis sein durfte. 

Noah griff jetzt nach Savannahs Taschenlampe und schaltete sie aus, bevor er seine eigene ebenfalls ausschaltete. In der Dunkelheit konnte Cassandra nur hören, wie Noah die Taschenlampe an Savannah weitergab und diese einen Reißverschluss öffnete, vermutlich der zu ihrem Rucksack. Ob sie die Taschenlampe dort drin verstaute, bekam Cassandra nicht mehr mit, denn Noah trieb sie weiter.

"Folgt mir", murmelte er dann in die Dunkelheit und Cassanndra griff nach Savannahs Hand, um sie nicht zu verlieren. Ein kalter Wind fuhr durch den Gang. Irgendwo musste ein Fenster offen sein. Jetzt fröstelte Cassandra und sie war froh um ihre Jacke, die sie sofort enger um sich zog. Ihr gefiel die Kälte der Küste nicht, das hatte sie noch nie, doch sie konnte es nicht ändern.

Noah kannte den Weg. Trotz der Dunkelheit bewegte er sich selbstsicher und geschmeidig durch die Gänge. Cassandra konnte in der Dunkelheit kaum die Hand vor ihren Augen sehen, daher machte sie sich nicht die Mühe, Ausschau zu halten, wer nach Noah ging. Erst, als sie gegen Savannahs Rücken stieß, die plötzlich stehen geblieben war, hörte sie Noah mit Thien flüstern und kurz darauf explodierte ein Lichtstrahl vor ihren Augen. Sie wandte den Blick ab und blinzelte, während Thien bereits auf die Knie gegangen war und mit einem Dietrich das Schloss der Tür vor ihnen knackte. Die Türen, die nach draußen führten, wurden nach Sonnenuntergang immer abgeschlossen. Nur mit einem der Betreuer durften sich die Jugendlichen über sechzehn Jahren nach der Sperrstunde draußen bewegen - wenn am nächsten Tag kein Unterricht wahr. In diesen Genuss war Cassandra noch nicht gekommen, war sie doch erst vor ein paar Wochen sechzehn geworden. Noah hingegen gehörte zu jenen, die die freien Abende am Wochenende dafür nutzten, exzessiv zu feiern. 

Das Schloss sprang auf und Noah schaltete die Taschenlampe wieder aus. Dann stieß er die Tür auf und sie traten ins Freie. 

Der Wind war eiskalt und im Licht der Sterne konnte Cassandra unter ihnen eine spiegelglatte Wasseroberflache erkennen. Das Waisenhaus war in einer ehemaligen Burg untegebracht. Die vielen Räume boten genug Platz für die vielen Kinder und in der Eingangshalle wurden Feste und die Mahlzeiten abgehalten. Der Nachteil war nur, dass es sowohl im Sommer als auch im Winter schrecklich kalt war und der Staat nutzte sein Geld anderweitig, anstatt ds in ein Heizsystem für das Heim zu stecken. Einen wohlhabenden Gönner hatte das Heim ebenfallsschon seit Jahren nicht mehr, weshalb die meisten Bewohner des Heims sowohl im Sommer als auch im Winter Jacken und Pullis trugen. 

"Wir sind im ersten Stock", wisperte Savannah verwirrt. Eigentlich hätten sie längst die Treppe ins Erdgeschoss nehmen sollen, doch offenbar war das nicht Noahs Plan. Dieser nickte jetzt, ging jedoch nicht weiter auf Savannahs Verwirrtheit ein. 

"Die Schlösser der Eingangstüren lassen sich nicht knacken", erklärte Thien den Mädchen. "Außerdem sind sie mit einem elektrischen Alarm gesichert."

"Ich dachte, du wolltest das Sicherheitsnetzwerk hacken?", fragte Cassandra ihn und konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme eine etwas höhere Tonlage einschlug, als sie beabsichtigt hatte. Sie wollte nicht hysterisch klingen, das hatte sie nicht beabsichtigt, auch wenn sie jeden Grund dazu hatte. Wenn sie hier nicht herauskamen, dann war alles umsonst gewesen, dann hätten sie sich den Aufwand nicht machen müssen und dann solten sie schleunigst wieder zurück in ihre Betten, bevor jemandem auffiel, dass sie weg waren, sonst würde das ein riesiges Donnerwetter geben - und das wollte Cassandra ganz sicher nicht erleben.

Thien warf ihr einen Blick zu, den Cassandra sogar in der Dunkelheit deuten konnte. Offenbar schien er sie für etwas dumm zu halten, doch er wagte es nicht, das offen auszusprechen.

"Das habe ich", antwortete er, während sie Noah über die Mauer folgten. "Aber die Eingangstüren haben ein eigenes System und da bin ich nicht reingekommen."

Noah blieb stehen und wieder stieß Cassandra gegen Savannahs Rücken. Jetzt zog Noah seine Jacke aus und reichte sie Thien. Als er sich bereit zum Springen machte, hielt Cassandra ihn zurück. 

"Ist das dein Ernst?", wollte sie ungläubig wissen. Auch Savannah schien klar zu werden, was sein Plan war. 

"Eure Aufgabe war es, einen Weg hier herauszufinden", zischte sie ihn an und griff ihn ebenfalls am Arm, jedoch unsanfter, als Cassandra es getan hatte. Sie war wütend und vermutlich genauso verunsichert, wie Cassandra es war, doch das ließ sie Noah nicht spüren. Er sollte nur ihre Wut mitbekommen, und das tat er. Trotzdem ließ dieser sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Er schob Savannahs Arm beiseite, dann nickte er.

"Und das haben wir",  sagte er, bevor er sich auch aus Cassandras Griff befreite. "Die letzten Tage hat es geregnet. Das Wasser ist tief genug, um unseren Sprung abzufangen und Thien hat alle seine Geräte wasserfest verpackt."

Damit sah er zu dem Jungen hinüber, der gerade dabei war, seinen Laptop in eine Papiertüte zu packen und mit viel Klebeband zu umwickeln. Cassandra hoffte, dass er Recht hatte. Sie hatte nicht vor, sich bei diesem Sprung die Beine zu brechen, oder noch schlimmeres, und ohne Thiesn Technikequipment würden sie vermutlich auch nicht sehr weit kommen. Dafür war ihre Welt schon zu sehr auf die Technik gestützt.

Hingebungsvoll kümmerte Thien sich um sein Equipment und umwickelte es mit Klebeband. Als er damit fertig war, trat Noah auf die kleine Mauer. Der Wind fuhr ihm durch die Haare und Cassandra glaubte, ihn kurz schwanken zu sehen, doch sofort stand er wieder sicher und breibeinig auf der Mauer.

"Wenn ich unten bin, wirf mir meine Jacke zu",  sagte er zu Thien, dann sprang er, ohne noch einen Moment zu warten. Cassandra hatte das Gefühl, dass das Platschen das gesamte Waisenhaus aufwecken musste. Sie beugte sich über die Mauer und blickte hinab in die Dunkelheit. Dort unten war Noah gerade dabei, an Land zu schwimmen und sich dann dort aus dem mit Wasser gefüllten Burggraben zu ziehen. Dann winkte er ihnen zu, um ihnen zu zeigen, dass alles in Ordnung war und sie ihm folgen sollten. Cassandra richtete sich wieder auf. Schnell gab sie ihre Jacke an Savannah, die sie gebündelt mit der ihren und Lilys zu Noah nach unten warf. Anschließend warfen sie ihre Rucksäcke hinterher, die alle mit einem leisen Aufschlag im Gras neben dem Wassergraben landeten. Cassandra war froh, dass sie nichts zerbrechliches in ihrem Rucksack hatte. So musste nur Thien sich Gedanken darum machen, wie er seine Elektronik sicher und heil dort unten ankommen ließ.

Lily sprang als nächste. Mutig kletterte die Dreizehnjährige auf die Mauer und sprang dann ohne zu zögern die wenigen Meter ins Wasser. Das Geräusch, das sie beim Eintauchen machte, war deutlich leiser als es bei Noah der Fall gewesen war und Cassandra atmete tief druch. Wenn Lily das schaffte, dann konnte sie das schon lange.

Ein erneuter Windstoß riss an ihren Haaren und ihr Zopf begann langsam, sich zu lösen.Sie schob das Zittern auf den Wind und wandte sich zu Savannah. Die beiden griffen sich an den Händen und kletterten ebenfalls auf die Mauer. Ein weiterer Windstoß hätte sie beinahe mit sich gerissen und Cassandra taumelte, bevor sie sich an Savannah festhielt. Die Wasserfläche unter ihnen war wieder spiegelglatt, nachdem Lily ans Ufer geschwommen war. Wie eine dunkel Scheibe lag sie unter ihnen, in ihr spiegelte sich das Licht der Sterne und als die beiden Mädchen sprangen hatte Cassandra das Gefühl, in den Himmel zu fallen. 

Das Wasser war eiskalt und Cassandras erschrockener Aufschrei wurde von den Wassermassen erstickt, die über ihr zusammenschlugen. Sie hatte Savannahs Hand verloren. Mit einigen kräftigen Schwimmzügen schwamm sie zurück an die Oberfläche und schnappte nach Luft. Savannah schwamm einige Meter neben ihr bereits zum Ufer und Cassandra folgte ihr, als sie kurz darauf hinter sich ein weiteres Platschen hörte, das verkündete, dass Thien ebenfalls gesprungen war. 

Das Wasser war dunkel und als Cassandra ans Ufer kletterte bröckelte der Erdboden unter ihren kalten Fingern und ihren durchnässten Schuhen. Mit einem leisen Platschen fielen die Dreckbrocken in den Wassergraben, als Cassandra mehrere Male abrutschte, bevor sie mit Savannahs Hilfe aus dem Graben kletterte. Savannahs Hände waren ebenso kalt wie ihre und als sich das Mädchen aufrichtete, tropfte aus ihren dicken, roten Haaren das Wasser. Sie wrang sie aus und warf sie über die Schulter, Cassandra tat es ihr gleich, als sie merkte, dass ihre Haare ebenfalls tropften und das kalte Wasser sie zittern ließ.

Noah verteilte die Jacken wieder an ihre rechtmäßigen Besitzer, während Thien seine Geräte überprüfte. Cassandra schlüpfte in ihre Jacke und zog sie eng um sich. Das Wasser tropfte aus ihrer Kleidung und sie merkte, wie die Lederjacke von innen feucht wurde. Dass das dem Leder nicht guttat, musste ihr niemand sagen, doch sie wollte genauso wenig frieren, also interessierte sie das nicht weiter.

„Alles klar“, sagte Thien dann an Noah gewandt und dieser nickte, während er seinen Rucksack schulterte.

„Dann gehen wir“, sagte er und sah zu den Mädchen. Cassandra warf sich ebenfalls ihren Rucksack über, dann schaltete Noah seine Taschenlampe an und gleißendes Licht flutete den kleinen Wald, der sich direkt hinter dem Wassergraben an das alte Schloss anschloss. Früher war Cassandra oft hier gewesen und hatte mit anderen Kindern gespielt, jetzt jedoch machte der Wald ihr Angst und sie war froh, dass sie nicht allein sein musste. Noah ging vor, während Savannah als letzte ging, ihre Taschenlampe ebenfalls eingeschaltet.

Cassandra hoffte, dass man den Schein der Taschenlampe vom Schloss aus nicht sehen konnte. Irgendeine der Betreuerinnen wäre sicher wach und würde bei einem Blick aus dem Fenster den Lichtschein bemerken. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was passierte, wenn sie jetzt geschnappt wurden.

Instinktiv warf Cassandra einen Blick auf ihre Armbanduhr, doch im Dunkeln konnte sie nichts erkennen und der Schein von Savannahs Taschenlampe drang nicht bis zu ihr vor. Noah hatte die Führung übernommen und Cassandra wusste, dass es eine lange Nacht werden würde. Sie konnten keine Pause machen, solange sie sich in der Nähe des Waisenhauses befanden. Aus diesem Grund würden sie lange laufen müssen und Noahs Ausdauer war enorm. Sie würde nicht wagen, um eine Pause zu bitten, so gut kannte sie sich, und Noah würde ihnen keine gönnen, bevor er nicht selbst eine brauchte.

Noah ließ sie anhalten und gebot Savannah, die Taschenlampe auszuschalten, was diese ohne nachzufragen tat. Cassandra versuchte, durch die Dunkelheit Noahs Gesichtszüge zu erkennen, um zu wissen, was er dachte, doch sie konnte nichts erkennen. 

„Wir sollten die Batterien schonen“, erklärte der Junge ihnen dann und wandte sich ihnen kurz zu. Nur noch seine Taschenlampe erhellte nun den Wald und sofort fühlte Cassandra sich noch etwas unwohler. Das Licht bewegte sich mit Noah und dieser hielt den Blick in die Nacht gerichtet. Ob er etwas suchte, wusste Cassandra nicht, vielleicht dachte er nach, doch um was seine Gedanken kreisten, blieb dem Mädchen verborgen. Es war zu dunkel, als dass sie die Gesichtszüge ihres Freundes hätte lesen können.

Der Ruf eines Käuzchens ließ sie alle kollektiv zusammenfahren. Cassandra spürte das Klopfen ihres Herzens, das jedem Angreifer sofort ihre Panik verkünden würde. Sie hörte Thiens angestrengtes Atmen neben sich und spürte an ihrer Schulter eine Hand, die Savannah gehören musste. Cassandra streckte die Hand in der Dunkelheit nach ihrer Freundin aus und kurz fanden sich ihre Finger, was Cassandra beruhigte. Einen kurzen Moment später jedoch erhellte Noahs Taschenlampe die Nacht und aus dem Geäst flog mit einem erneuten Ruf ein aufgeschrecktes Käuzchen auf.

Erneut wandte Noah sich seinen Freunden zu, dieses Mal konnte Cassandra die dunklen Haare sehen, die ihm ins Gesicht hingen. Er machte sich nicht die Mühe, sie sich aus den Augen zu streichen, als er mehrere Mal blinzelte und dann meinte: "Das wird wohl eine lange Nacht."

Dann setzte Noah sich wieder in Bewegung und Cassandra folgte nur noch dem wackeligen Lichtstrahl der Taschenlampe.

 

***

 

Cassandra war sich nicht mehr sicher, wie lange sie gelaufen waren, doch als sie am nächsten Morgen erwachte, war das kleine Lagerfeuer niedergebrannt und die Sonne warf die ersten Strahlen durch die Äste der Bäume. Das Muster, das die Blätter im Sonnenlicht auf den Boden zauberten, kam Cassandra seltsam vertraut und beruhigend vor, als hätte sie es schon einmal in einem Traum gesehen. Die Angst, die sie noch in der Nacht empfunden hatte, war jetzt wie fortgespült und sie fühlte sich unendlich wohl in ihrer Haut. Ihre neugewonnene Freiheit wurde ihr erst jetzt bewusst. Keine Regeln mehr, keine Schläge, keine Strafarbeiten. Sie hatten das Heim hinter sich gelassen. Jetzt mussten sie nur noch den Vorsprung ausbauen. 

Einen Moment schloss Cassandra die Augen, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und den Wind mit ihren Haaren spielen. 

Sie musste die erste sein, die wach war. Am liebsten hätte sie weitergeschlafen, denn sie fühlte noch immer die Müdigkeit in ihren Knochen. Sie war durstig und ihre Lippen waren etwss aufgesprungen, was sie jetzt merkte, als sie mit der Zunge darüber fuhr. Eine Weile lang versuchte sie, erneut eine gemütliche Position zum Schlafen zu finden, doch es gelang ihr nicht. Die Sonne, die jetzt zu wärmen begann, der Gesang der Vögel und der eiskalte Wind, der immer wieder in heftigen Böen die Wärme der Sonne forttrug, hielten sie wach und eine Weile lang wusste Cassandra nichts mit sich anzufangen.

Dann, als sie sich auf den Rücken drehte und in die Sonne blinzelte, spürte sie eine Bewegung neben sich. Thien war erwacht und tippte auf seinem Smartphone herum. Er war der einzige von ihnen, der eines besaß, da alle elektronischen Geräte sehr teuer waren. Thien jedoch hatte schon vor zwei Jahren ein Stipendium erhalten, dass es ihm ermöglicht, nicht wie alle anderen Kinder aus dem Waisenhaus in den dort stattfindenden Unterricht zu gehen, sondern er besuchte eine Schule in der Stadt. Dort hatten sie auch IT-Unterricht und durch das Stipendium hatte er einige elektronische Geräte zur Verfügung gestellt bekommen, die er gerne und exzessiv nutzte. Dabei schob er meist seine Brille zurück und blickte besonders gescheit drein. Früher hatte er es zum Spaß getan und um die anderen zum Lachen zu bringen, dann jedoch hatte er es sich angewöhnt und es war ein Teil seines Charakters geworden - allerdings ein Teil, der Cassandra nach wie vor immer wieder lächekn ließ. 

„Weißt du, wo wir sind?“, wollte Cassandra wissen und Thien hielt ihr das Display entgegen. Darauf war eine Karte abgebildet, die ihre Umgebung zeigte. Sie befanden sich auf einer riesigen Insel, viele Kilometer vom Festland entfernt, welches einmal als Europa bekannt gewesen war. Das war jedoch, bevor Naturkatastrophen es zerstört und Kriege die Menschen entzweit hatten. Eine Rebellion hatte vor weniger als zwanzig Jahren einen erneuten Keil zwischen die Menschen getrieben, doch diese hatte nur kurz gehalten und war dann brutal niedergeschlagen worden. Seither waren die restlichen Ruinen unbewohnt und gefürchtet. 

Die Geschichte war jedem Kind hier bekannt. Schon den Jüngsten wurde sie in der Schule vorgebetet und es gab kaum ein Thema, von dem aus Lehrer und Erzieher es nicht geschafft hätten, die Kriege, die Rebellion oder die Naturkatastrophen zu erwähnen, die das Land zu dem gemacht hatten, was es nun war. Früher war das Land größer gewesen, das wusste Cassandra, und die Highlands waren nur ein Gebirge im Norden des Landes gewesen, das sich Schottland nannte. Nun jedoch befand sich der Großteil dieses Landes unter einer Schicht Meerwasser und nur noch die Spitzen des Gebirges ragten daraus hervor. 

Ein Punkt markierte ihren aktuellen Standort, doch weit und breit konnte Cassandra keine Städte entdecken. Es gab nur noch sehr wenige hier, denn ein Großteil von ihnen war vor vielen Jahren bei einem Erdbeben zerstört oder überschwemmt worden. Nur wenige Menschen hatten sich in die Highlands retten können, doch das Wasser war nie wieder zurückgegangen.

„Wohin gehen wir?“, wollte Cassandra wissen. Thien drehte das Display zu sich, zoomte etwas heraus und deutete auf einen entfernten Punkt nahe der Ostküste. Sie würden fast die gesamten Highlands durchqueren müssen, um dorthin zu gelangen.

„Was werden wir dort finden?“

„Menschen“, antwortete Noah an Thiens Stelle und ließ seinen Rucksack neben ihnen zu Boden fallen. Cassandra hatte nicht mitbekommen, dass er aufgewacht war, weshalb sie erschrak. Noah war Experte darin, sich leise zu bewegen und Leute dadurch zu erschrecken. Woher er das konnte, wusste Cassandra nicht. Vielleicht war es einfach ein Talent, vielleicht jedoch hatte er diese Begabung auch früher einmal benötigt, denn Noah war einer der wenigen, der sich noch an eine Zeit außerhakb des Waisenhauses erinnern musste - selbst, wenn er darüber nicht gern sprach.

Jetzt kramte Noah eine Dose Baked Beans heraus und öffnete sie mit seinem Taschenmesser. Sie hatten in erster Linie Dosenessen mitgenommen, da es sich am längsten hielt. Als er die Dose geöffnet hatte, tunkte er etwas Brot hinein und bot auch Cassandra und Thien davon an.

„Wenn wir die Stadt erreichen, werden wir Arbeit finden. Es gibt nur noch wenige Städte, aber die, die es gibt, sind groß und es ist immer etwas zu tun“, erklärte er zwischen zwei Bissen. Während Cassandra ihm beim Essen zusah, begann auch ihr Magen zu knurren und sie holte sich ebenfalls eine Dose. Während sie gemeinsam frühstückten, erwachten auch Savannah und Lily und gemeinsam sahen sie der Sonne zu, wie sie immer höher kletterte.

Noah ließ sie nicht lange faulenzen. Er trieb sie zum Aufbruch und Cassandra war froh, dass sie sich am Abend zuvor nicht groß die Mühe gemacht hatte, auszupacken, sodass sie innerhalb weniger Minuten allesamt abmarschbereit waren. Sie füllten ihre Wasserflaschen an einem Fluss in der Nähe auf und als Cassandra ihre gerade wegpackte, zupfte Lily sie am Ärmel.

„Sieh nur", sagte das Mädchen und deutete auf schillernde Lichtreflexionen im Wasser. Erst erkannte Cassandra nicht, was sie meinte, dann jedoch wurde es ihr klar. Es waren Fische. Dutzende schillernder, silberner Fische, die im seichten Wasser des Flusses umhersprangen. Das Plätachern hätte Cassandra früher auf sie aufmerksam machen müssen. Scheinbar steckte ihr die Müdigkeit tatsächlich noch in den Knochen, was sie hätte besorgen sollen. In drr Gegenwart ihrer Freunde jedoch fürchtete sie sich nicht davor, unachtsam zu sein. Wer sie überrumpeln wollte, musste schon sehr viel Glück haben, um sie alle unaufmerksam anzutreffen - seien es nun Menschen oder Tiere. 

Die Naturkatastrophen und Kriege, die die Menschheit zurückgedrängt hatten, hatten einigen Tieren einen komplett neuen Lebensraum eröffnet und so hatten sich gefährdete Tierarten wieder erholen können. Auch die Wälder waren dichter geworden, über Jahre hinweg hatte sich die Natur zurückgeholt, was ihr der Mensch genommen hatte. Es war eines der wenigen Themen im Unterricht gewesen, das Cassandra wirklich interessiert hatte. Man hatte ihnen Bilder davon gezeigt, wie die Natur ehemalige Städte zurückerobert hatte und Cassandra war fasziniert davon gewesen. 

"Wenigstens werden wir nicht verhungern", meinte Noah schließlich, der ihrem Blick ebenfalls gefolgt war. Savannah ging neben ihr in die Knie, während Cassandra ihre Flasche zuschraubte und die Hände an ihrer Kleidung trocknete. 

"Schön hier", meinte Savannah. 

"Schade nur, dass wir nicht hier sind, um die Natur zu bewundern", erwiderte Cassandra. Savannah stieß ein Lachen aus, das Cassandra nicht deuten konnte. Nach all den Jahren war ihr ihre Freundin noch immer ein Rätsel. Savannah stand wieder auf und reichte Cassandra eine Hand. Dann übernahm Noah die Führung, während Cassandra Savannah beobachten konnte. Unwillkürlich erinnerte sie sich daran, wie sie sich das erste Mal getroffen hatten. 

 

***

 

 Das Mädchen mit den roten, langen Haaren hing kopfüber, die Beine um einen Ast der riesigen Eiche geschlungen. Ihr langer Zopf hing herunter und schaukelte albern hin und her, was Cassandra irgendwie hypnotisierte. Sie war sich sicher, noch nie in ihrem Leben so lange Haare gesehen zu haben.

"Was guckst du denn so?"

Das Mädchen griff nach dem Ast und löste die Beine. Mit einer Rolle vorwärts landete sie auf den Beinen und blickte herausfordernd zu Cassandra hoch. Wenn sie sich gegenüber standen, mussten sie gleichgroß sein, doch das Mädchen schien nicht vorzuhaben, sich aufzurichten. Zusammengekauert wie ein junger Gorilla, bevor er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete, um anzugreifen, saß das Mädchen vor ihr im Gras und blickte hoch. Cassandra strich ihre Haare hinter ihre Ohren. Damals hatte sie sie noch kurz getragen. Eine Erzieherin hatte ihr die schwarzen Locken bis auf Kinnlänge geschnitten, da sie sie nie gekämmt hatte. Die Knoten waren nicht mehr herauszukämmen gewesen, also hatte nur noch die Schere geholfen.

"Deine Haare", sagte Cassandra zu dem Mädchen und wies mit dem Kopf darauf. Das Mädchen musste neu hier sein, denn Cassandra hatte sie hier noch nie gesehen, und das wollte etwas heißen. Sie wohnte hier schon seit zehn Jahren und kannte jeden hier, vor allem die Kinder in ihrem Alter, denn davon gab es nicht viele im Heim. Aus diesem Grund kam im Waisenheim nie viel Abwechslung auf. Vielleicht hatte das Mädchen deswegen ihre Aufmerksamkeit erregt, weil sie neu war. Ihre Haare machten sie zudem noch auffällig und einzigartig.

Das Mädchen rümpfte die Nase. Erst jetzt richtete sie sich auf. Ihre Latzhose war an den Knien zerrissen und Cassandra konnte aufgeschürfte Knie darunter erkennen, die jedoch bereits verschorft waren. Vermutlich landete sie nicht immer so sanft, wenn sie aus größeren Höhen sprang.

"Stört dich etwas daran?", wollte das Mädchen wissen. Cassandra schüttelte erschrocken den Kopf.

"Nein", sagte sie. "Sie sind nur ... so lang."

"Und rot", fügte die Fremde hinzu. Cassandra nickte.

"Und rot", gab sie zu und zuckte mit den Schultern, um ihre Antwort etwas nebensächlicher wirken zu lassen und sie abzuschwächen.

Als wollte sie das unterstreichen, warf die Fremde ihre Haare nach hinten über die Schulter. Offenbar war Cassandra nicht die erste, die sie wegen ihrer Haare anstarrte, denn die Fremde ging durchaus gekonnt damit um. Jetzt streckte sie Cassandra die Hand entgegen.

"Ich bin Savannah McLeod", stellte sie sich selbstbewusst vor und ihre Stimme nahm dabei einen Klang an, den normalerweise nur die Erwachsenen innehatten. Vorsichtig ergriff Cassandra die Hand und schüttelte sie verunsichert und etwas schüchtern.

"Cassandra Blackburn", antwortete sie und stellte sich damit artig vor, wie es ihr beigebracht worden war.

Savannah richtete die Träger der Latzhose, die sie trug. Sie hatte mehrere Flicken, und einer Träger rutschte immer wieder von der Schulter des Mädchens. Ob er falsch eingestellt oder ausgeleiert war, wusste Cassandra nicht und sie wollte das Mädchen nicht noch länger anstarren. Jetzt jedoch starrte Savannah zurück und beobachtete sie dabei genau, als wolle sie versuchen, sie einzuschätzen. Was sie wohl dachte?

"Du wohnst wohl schon immer hier, was?", wollte sie dann wissen und ihre blauen Augen verengten sich etwas zu Schlitzen. So sah sie aus wie eine kleine Katze und unwillkürlich kam Cassandra in den Sinn, dass grüne Augen zu ihr viel besser passen würden. Die blauen Augen ließen sie so unschuldig wirken und Cassandra war sich sicher, dass sie das nicht war. Im Gegenteil - sie war sich sicher, dass Savannah es faustdick hinter den Ohren hatte.

"Woher..."

"...ich das weiß?", vervollständigte Savannah ihren Satz. Dann zuckte sie mit den Schultern, bevor sie begann, mit der Fußspitzte im Sand zu scharren, der auf dem ganzen Gelände verteilt war. Nur vereinzelt gab es Grasflächen.

"Nur so ein Gefühl", meinte sie dann und zuckte erneut mit den Schultern. "Irgendwie sind wir doch alle gleich."

"Was meinst du damit?", wollte Cassandra wissen. Savannah schnaubte und erst glaubte Cassandra, sie verärgert zu haben, dann jedoch merkte sie, dass das Mädchen dabei weiterhin auf den Boden sah. Dabei wirkte sie das erste mal fast etwas schüchtern. Als sich ihre Blicke wieder trafen, zuckte Savannah jedoch ein drittes Mal die Schultern, wobei der lange Zopf etwas auf- und abwippte.

"Das was ich gesagt habe", antwortete sie ohne weitere Erklärungen und machte sich daran, wieder den Baum zu erklimmen. Sie war dabei geschickt und ihre Füße fanden schnell und sicher Trittstellen, während ihre Hände sich immer etwas oberhalb ihres Kopfes befanden, bereit dazu, die nächsten Zweige zu ergreifen.

"In dem alten Waisenhaus war kein Platz mehr für mich", erklärte das Mädchen, als es wieder kopfüber hing. "Also haben sie mich hierher geschickt."

"Dann lebst du also auch schon immer in einem Heim", meinte Cassandra. Savannah nickte.

"Immer", wiederholte sie und dabei runzelte sie die Stirn, was seltsam aussah, da sie kopfüber hing. Sie schien über die genaue Bedeutung des Wortes nachzudenken, doch was dabei herauskam, teilte sie Cassandra nicht mit.

"Was?", fragte Cassandra daher, doch ihr Gegenüber schüttelte den Kopf. Es schien, als habe Savannah nicht vor, sich mit ihrer neuen Bekanntschaft auszutauschen. Dennoch spürte Cassandra, dass in dem fremden Mädchen mehr vorging. Dass ihre Gedanken unablässig um etwas kreisten, das sich sowohl Cassandras Vorstellung, als auch der aller anderen hier im Heim entzog. Irgendetwas hatte ihre Aufmerksamkeit gefesselt und Cassandra wusste, dass es sich dabei um wichtigere Dinge handelte - zumindest in Savannahs Augen.

"Hast du hier schon Freunde gefunden?", fragte Cassandra, nur, um das Gespräch am Laufen zu halten. Erneut runzelte Savannah die Stirn, dieses Mal jedoch legte sie auch noch den Kopf schief. Ihr Gesicht wurde langsam rot, was davon kam, dass ihr das Blut in den Kopf lief und Cassandra fragte sich, ob das gesund war.

"Du bist wohl sehr gut im Freunde finden, was?", wollte das Mädchen wissen.

Cassandra erwiderte darauf nichts.

"Ich bin erst seit heute hier", erklärte Savannah, ohne die Frage wirklich zu beantworten. Dennoch griff Cassandra das als ein Nein auf.

"Magst du beim Mittagessen neben mir sitzen?", wollte sie daher wissen. Savannah runzelte erneut die Stirn und legte den Kopf etwas schiefer. Dann begann sie mit dem Oberkörper hin und her zu schwingen und schloss die Augen, als wolle sie einschlafen. Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen, das sie verträumt wirken ließ.

"Mal schauen, wer sonst noch so da ist", antwortete sie.

 

***

 

 Das Klappern des Geschirrs erfüllte die Halle, in der gegessen wurde und übertönte die leisen Gespräche der Kinder. Geredet wurde nicht viel, denn das wurde beim Essen holen nicht gern gesehen. Erst, wenn die Kinder ihr Essen hatten und sich wieder am Tisch befanden, durften sie sich leise miteinander unterhalten - immer in Zimmerlautstärke, um die anderen nicht zu stören. Wer zu laut war, wurde von den Betreuern gemaßregelt.

Cassandra hatte sich schon längst ihr Essen geholt und saß wieder am Tisch. Beginnen durften die siebzehn- bis vierzehnjährigen mit dem Essen holen, anschließend die dreizehn- bis zehnjährigen. Cassandra war stolz darauf, schon zur zweiten Gruppe zu gehören, denn noch vor ein paar Wochen hatte sie mit den anderen neun- bis sechsjährigen im Gedränge stehen müssen. 

Jetzt ließ sich jemand neben sie auf den freien Sitzplatz fallen. Es war Savannah, ihre Haare, die sie offen trug, wippten auf und ab.  Ihren Teller hatte sie sich bis zum Rand mit Spaghetti vollgeladen und Cassandra war erstaunt darüber, denn sie glaubte nicht, dass Savannah das alles aufessen würde und hier wurde es mit Küchendienst bestraft, wenn man seinen Teller nicht aufaß. Ob sie das nicht wusste? Cassandra war sich ziemlich sicher, dass die Regeln in dern anderen Heimen ähnlich streng waren, also sagte sie nichts. Savannah sah ohnehin nicht so aus, als wolle sie sich von ihr maßregeln lassen.

"Wusste nicht, dass du zu den Kleinen gehörst", stellte Cassandra daher erstaunt fest. Savannah streckte ihr die Zunge heraus und begann zu essen. 

"Nur noch vier Tage", antwortete sie mit vollem Mund. Während sie kaute, tropfte ihr Spaghettisoße vom Kinn, doch davon ließ sie sich nocht beirren. 

"Dann hast du bald Geburtstag?", wollte Cassandra wissen. Savannah nickte. 

"Vier Tage", wiederholte sie und krempelte ihren Ärmel hoch. Sie deutete auf ihren Unterarm und Cassandra wusste, was das bedeutete. "Hat ihnen mein Chip gesagt", erläuterte Savannah ihr. "Sonst hätten sie es nie herausgefunden. Ich war nicht einmal ein Jahr alt, als ich ins Heim gekommen bin."

Auch Cassandra legte ihren Unterarm frei. 

"Ich hab auch so einen", meinte sie und deutete auf die kleine, helle Narbe auf der Innenseite ihres Arms. Es war nichts besonderes. Die meisten Kinder, die nach dem Ende der Rebellion auf die Welt gekommen waren, besaßen einen solchen Chip. Der kleine Datenträger hielt die wichtigsten Informationen bereit: Name, Geburtstag, Geburtsort. Von einem Computer der Regierung aus konnten bestimmte Dinge hinzugefügt werden, beispielsweise wenn jemand vorbestraft war oder gesucht wurde. Um sie zu lesen brauchte man bestimmte Geräte, die jedoch nicht weiter teuer waren, sodass sie fast überall vorhanden waren. Auch im Heim besaß man so eines. Es ermöglichte den Erzieherinnen, die Identität eines Neuzugangs festzustellen.

"Ich war auch erst ein Jahr alt, als ich hierhergekommen bin", antwortete Cassandra, während Savannah schmatzend weiteraß. Eine der Erzieherinnen lief an ihnen vorbei und Savannah fing sich des Schmatzens wegen eine Backpfeife ein. Sie wartete, bis die Betreuerin vorbeigegangen war, dann zog sie eine Grimasse. Offenbar waren auch in ihrem alten Heim Schläge normal gewesen, denn sie schien kein bisschen überrascht. 

 Stattdessen strich sie sich mit dem Ellenbogen die Haare aus dem Gesicht, die sie jetzt offen trug.

"In welche Klasse gehst du?", wollte Cassandra von ihr wissen. Die Kinder im Heim waren in Klassen eingeteilt, meist gab es eine in jedem Jahrgang. Wenn Savannah in ihrem Jahrgang war, dann wären sie zwangsläufig in den selbsen Kursen.

"In die vierte", erklärte Savannah bereitwillig. Cassandra hatte also recht gehabt. Es wäre auch komisch gewesen, wenn man Savannah wegen ein paar Tagen noch in eine untere Jahrgangsstufe gesteckt hätte.

In ihrer Jahrgangsstufe waren nur sechzehn Kinder. In den meisten anderen waren mehr, doch ihr Jahrgang war erstaunlich schwach ausgefallen, ebenso wie die beiden oberhalb ihres Alters. Das konnte an der Rebellion liegen, die nur zwei Jahre vor ihrer Geburt gescheitert war und daran, dass die Regierung von da an härtere Geschüzte aufgefahren hatte, um die Bevölkerung ruhig zu halten. Mit Gewalt hatten sie erneute Unruhen zu verhindern gewusst und dafür gesorgt, dass sich kein Unterstützer der Rebellen sich mehr offen auf den Straßen zweigen konnte, ohne erschossen zu werden. Cassandra kannte die Geschichten. Alle. Jedes Kind tat das, und es verging kein Tag, an dem in der Schule das Gespräch nicht darauf gelenkt wurde. Am liebsten hätte Cassandra sich die Ohren zugehalten, wenn erneut einer der Lehrer oder Lehrerinnen darüber sprach und sie daran erinnerte, sich niemals gegen die Regierung zu stellen - denn das war der Sinn hinter den ständigen Wiederholungen der alten Geschichten. Es war der einzige Grund.

Nach der Rebellion waren die Geburtenraten aus diesen Gründen gesunken und hatten die ohnehin schon dezimierte Bevölkerung noch kleiner werden lassen. Erst jetzt, mehr als zehn Jahre danach, begannen die Geburtenraten sich langsam zu erholen und es kamen wieder mehr Kinder zur Welt.

Aufgrund der kleinen Klassen kannte Cassandra jedes Kind in ihrem Jahrgang und sie waren alle untereinander gut befreundet. Die Klassenräume jedoch waren auf mehr Kinder ausgelegt, sodass beim Unterricht immer viele Plätze frei blieben - so wie der zwischen Cassandra und dem Fenster, durch das sie während des Unterrichts so gerne hinaussah und die Blätter der Bäume im Wind beobachtete.

"Dann sind wir in derselben Klasse", antwortete Cassandra und lächelte das Mädchen freundlich an. Sie wollte versuchen, das Eis zu brechen, denn sie war sich sicher, dass sie sich mit Savannah anfreunden konnte, wenn sie sich Mühe gab - und das wollte sie gerne. Das fremde Mädchen hatte irgendetwas an sich, das sie interessant machte und Cassandra war sich sicher, dass es mit ihr nie langweilig werden würde.

"Tatsächlich?", wollte das Savannah wissen und Cassandra wusste nicht, ob es ernst oder ironisch gemeint war. Wieder hatte das Mädchen den Kopf schief gelegt und musterte Cassandra interessiert, mit gerunzelter Stirn und strahlend blauen Augen. Auf der einen Seite schien Savannah sehr abweisend zu sein, andererseits glaubte Cassandra nicht, dass sie es böse meinte. Vermutlich war Cassandra zu einigen Fremden ebenfalls so. So war man nun einmal, wenn man in einem Heim aufwuchs und Cassandra wusste, dass sie nicht die einzige war. Viele der Kinder verhielten sich sehr misstrausich Fremden gegenüber. Daher nickte sie.

"Wir könnten im Unterricht nebeneinander sitzen", schlug Cassandra vor. "Neben mir ist ein Platz frei." Savannah zuckte mit den Schultern, während sie die letzte Gabel ihrer Spaghetti aß.

"Warum nicht?", meinte sie dann und schob den leeren Teller zufrieden von sich.

 

***

 

Mit einer Handgeste befahl Noah ihnen, anzuhalten.

"Habt ihr das auch gehört?", fragte er und wandte sich zu ihnen um. Die anderen lauschten, doch Cassandra konnte nichts hören.

Savannah schüttelte ebenfalls den Kopf.

"Da ist nichts", meinte sie und sah sich um. Plötzlich spürte Cassandra ein Stechen im Nacken und sie keuchte auf. Mit der Hand griff sie an die Stelle und als sie ihre Finger ansah, bemerkte sie einen kleinen Blutstropfen. Tumult brach um sie aus, doch die Ursache war ihr nicht klar. Sie versuchte, Blickkontakt zu Savannah aufzunehmen, doch alles schien sich plötzlich um sie herum zu drehen. Vor ihren Augen verschwamm der Wald und ihre Freunde konnte sie nicht mehr sehen.

Dann knickten ihre Beine weg und bevor ihr schwarz vor Augen wurde, bemerkte sie noch, wie starke Arme nach ihr griffen und sie festhielten.

 

Kapitel 2: Erwachen

 Nur zwei Wochen nach Savannahs zehntem Geburtstag hatte sie Cassandra dazu überredet, auf einen der Bäume zu klettern und sich ebenfalls kopfüber an einen Ast zu hängen. Der Ast war abgebrochen, genau in dem Moment, in dem Cassandra losgelassen hatte. An den Aufprall konnte sie sich nicht mehr erinnern, nur noch daran, dass plötzlich viele Leute um sie herumgestanden waren und zwei der Erzieherinnen mit einem Erste-Hilfe-Kasten über ihr gekniet waren.

Die Platzwunde und er Schmerz waren zu ertragen gewesen. Am Schlimmsten war es gewesen, dass sie die nächsten Tage im Bett mit einer Gehirnerschütterung zu verbringen, während die anderen draußen spielen durften. Während der Aufprall ihr nicht in Erinnerung geblieben war, waren es die Kopfschmerzen, die Übelkeit und der Schwindel umso mehr.

Genau so fühlte sie sich nun, als sie aufwachte. Cassandra hatte das Gefühl, jemand würde mit einem Vorschlaghammer gegen ihre Schädelwände schlagen. In Wellen kam der Schmerz und als sie das erste Mal die Augen öffnete, wurde es noch schlimmer. Um sie herum war es dunkel und sie konnte nichts erkennen, sodass sie die Augen sofort wieder schloss.

Beim nächsten Mal kam nicht nur der Schmerz, sondern auch die Übelkeit und sie richtete sich instinktiv auf, bevor sie sich auf den Boden übergab. Jetzt ging das Licht an und in ihrem Kopf explodierte der Schmerz. Jemand griff nach ihren Schultern und hielt sie aufrecht, dann wischte ihr jemand den Mund ab. Ihr Kopf fiel zurück und sie blickte in dunkle Augen, die von dichten, kunstvoll geschwungenen Augenbrauen eingerahmt waren. Ein dunkler Vollbart bedeckte die untere Hälfte des Gesichts und jetzt bewegten sich die Lippen des Mannes, doch Cassandra konnte kein Wort verstehen. Stattdessen wanderte ihr Blick an die Decke, sie konnte nicht anders, als ins helle Licht der Deckenlampe zu blicken, obwohl dadurch die Kopfschmerzen verstärkt wurden. Die Deckenkacheln waren beige, was Cassandra aus irgendeinem obskuren Grund verwirrte. Die Farbe war so seltsam, so unwirklich und lächerlich, sodass sie fast zu lachen begann. Stattdessen jedoch drang ein Husten aus ihrem Mund und ihr wurde wieder schwarz vor Augen.

Ein leises Piepen weckte sie das nächste Mal. Sie lag in einem Bett, hatte sich auf den Bauch gedreht und als sie die Augen öffnete, lag ihre Hand in ihrem Sichtfeld, zur Faust geballt und in einen dünnen, weißen Verband gehüllt. Der Verband bedeckte eine Kanüle, die in ihrem handrücken steckte und von der ein kleiner, dünner Schlauch wegführte. Sofort war sie hellwach und richtete sich auf.

Der Kopfschmerz war wahnsinnig schnell wieder da und Cassandra musste sich am Bettgitter festhalten, um nicht herauszufallen, als ihr schwindelig wurde.

Die Tür öffnete sich und während Cassandra noch um ihr Bewusstsein kämpfte, trat jemand in das kleine Zimmer, das Cassandra als Zimmer einer Krankenstation erkannte. Ein Schatten fiel über sie, als sie sich zurück in die Kissen sinken ließ und aufblickte. Sie erkannte das Gesicht des Mannes wieder und während dieser sie musterte, fuhr er sich mit der Hand über den Bart.

"Wer sind Sie?", flüsterte Cassandra müde.

"Du bist also endlich wach", antwortete der Mann statt einer Antwort und zog sich einen Stuhl heran. "Gut. Ich hatte schon lange niemanden mehr, der die Betäubungsmittel so schlecht weggesteckt hat, wie du."

In ihr kam wieder Übelkeit hoch und gerade noch rechtzeitig hielt der Fremde ihr eine Nierenschale vor das Gesicht, bevor sie sich erneut übergab. Der Mann klopfte ihr auf die Schulter, als sie zu husten begann.

"Brauchst du etwas gegen die Übelkeit?", wollte er wissen. Eigentlich wollte Cassandra nicken, doch sie wagte es nicht. Sie kannte den Mann nicht, sie wusste nicht, wo sie war und sie wollte erstrecht keine Medikamente von einem Fremden bekommen. Anstatt ihre Antwort jedoch abzuwarten, drückte der Mann einen kleinen Knopf auf einer Fernbedienung neben ihr und kurz darauf kam eine junge Frau in weißer, uniformartiger Kleidung ins Zimmer.

"Sie braucht etwas gegen die Übelkeit", erklärte der Mann ihr und die Frau drückte an einem Perfusor neben dem Bett zwei Knöpfe. Dann ging sie wieder und Cassandra blieb mit offenem Mund zurück. Die ganze Situation erinnerte sie sehr an die Krankenstation im Heim, auf der sie nach ihrem Sturz vom Baum gelegen war, sie war sich jedoch sicher, nicht dort zu sein.

"Wo sind meine Freunde?", brachte sie schließlich heraus. Der Mann lachte.

"Keine Sorge", sagte er. "Sie alle haben die Medikamente besser weggesteckt, als du und sind wohlauf."

Das erleichterte Cassandra etwas, doch ihre eigentliche Frage hatte er damit nicht beantwortet. Erschöpfte drehte Cassandra sich von dem Mann weg und sah sich im Zimmer um. Die Neonlampe an der Decke verströmte ein unangenehmes Licht, das Cassandra in den Augen brannte und sie fragte sich, ob es Nacht war. Als sie auf der anderen Seite des Zimmers aus dem Fenster blicken wollte, stellte sie fest, dass sich dort nur eine Wand befand. Das gesamte Zimmer hatte keine Fenster, aus denen Man herauschauen könnte.

"Wo bin ich?", wollte Cassandra von dem Mann wissen und drehte sich ruckartig wieder zu ihm. Der Schmerz brandete von innen gegen ihren Schädel, wie Meerwasser gegen Felsen oder Klippen brandete und das Pochen ließ nur langsam nach.

"In einem Bunker", antwortete der Mann ihr. Cassandra zog die Stirn zusammen, was erneut Wellen des Schmerzes durch ihren Kopf jagte, aber immerhin schien die Übelkeit etwas nachzulassen.

"In einem Bunker?", wiederholte sie.

"In einem Bunker", stimmte der Mann zu und nickte. Dann stand er auf.

"Genaueres wirst du zu gegebener Zeit erfahren", antwortete er und schob den Stuhl an die Wand, weg vno Cassandras Bett. "Jetzt solltest du dich ausruhen. In ein paar Stunden haben die Medikamente deinen Körper verlassen und es wird dir deutlich besser gehen. Dann wird dich jemand abholen kommen."

Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, löschte das Licht und Cassandra sank zurück in die Kissen.

 

***

 

Das nächste Mal erwachte sie davon, dass jemand das Licht anschaltete.

"Genug geschlafen, Mädchen!", rief eine Stimme, die ihr in der Zwischenzeit nicht mehr vollkommen fremd vorkam und sie fuhr erschrocken auf. Sie erwartete, dass erneute Kopfschmerzen aufkommen würden, doch dem war nicht so. Sie fühlte sich besser, noch nicht wieder ganz gesund, aber vielleicht so, wie man sich nach einem schlimmen Migräneanfall fühlen würde und noch dazu war sie erstaunlich ausgeschlafen.

"Zeit, aufzustehen", meinte der Fremde, der sich ihr noch immer nicht vorgestellt hatte. "Deine Freunde warten schon."

Cassandra schwang die Bettdecke zurück und setzte sich auf. Misstrauisch testete sie, ob ihre Beine sie trugen und als der Mann ihren Oberarm griff, zuckte sie zurück. Sie war es nicht gewohnt, von Fremden berührt zu werden. Der Mann jedoch ignorierte ihre Reaktion und zog sie sanft, aber mit bestimmendem Druck mit sich. Ob er sie hielt, um sie zu stützen oder damit sie nicht weglaufen konnte, wusste Cassandra nicht. Falls es letzteres war, so war das lachhaft, denn sobald sie die Krankenstation verlassen hatten war sich Cassandra dessen bewusst, dass niemand, der sich hier nicht auskannte, alleine aus diesem Bunker herausfinden würde. Die einzelnen Türen waren mit Sicherheitscodes geschützt und Cassandra blickte angestrengt weg, als der Mann den Code der ersten Tür eingab - allerdings auch erst, nachdem ihr der Mann einen auffordernden Blick zugeworfen hatte.

Die Tür schwang auf und sie standen in einem kleinen Flur, der Cassandra sehr an einen Bunker in einem Science-Fiction-Film erinnerte. Einige Rohre verliefen an den Wänden und die Glühbirne von einer der Neonlampen schien langsam aber sicher den Geist aufzugeben, denn sie flackerte immer wieder. Der Mann führte Cassandra weiter durch den Flur. Immer wieder waren Brandschutztüren eingebaut, die mit Codes gesichert waren, hinter denen sich allerdings nur weitere Flure verbargen. Ab und an bogen sie links oder rechts ab oder gingen durch eine andere Tür, bis sie letzten Endes in einer Art Treppenhaus landeten. Der Bunker musste riesig sein, denn als Cassandra an das Gitter der Treppen trat, konnte sie viele, viele Meter tief hinuntersehen und keinen Boden erkennen.

Der Mann zog sie am Arm von den Gittern weg, als wolle er sie davon abhalten, hinunterzuspringen, was Cassandra lächerlich fand.

"Komm", sagte er und dieses mal hielt er sie nicht fest, als er begann, die Treppenstufen hinabzusteigen.

Es musste sich um zwei, oder drei Stockwerke handeln, die sie hinuntergingen, dann bog der Mann in einen Korridor ab. Zwei Türen später fand sich Cassandra in einer Art Vorraum wieder, in der nur das schwache Licht einer einzigen Neonlampe den Raum erhellte. An der Wand sah Cassandra zwei Gestalten sitzen, die jetzt aufblickten. Beide hatten sie das Gesicht in die Hände gestützt gehabt und im schwachen Lichtschein konnte Cassandra jetzt ihre Gesichter erkennen. Es handelte sich um Savannah und Thien.

Savannah sprang auf, als sie sie erkannte.

"Cassandra!", rief sie erleichtert und stürtzte auf sie zu. "Da bist du ja. ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht."

Die Umarmung ihrer Freundin erwiderte Cassandra gerne.

"Mir geht es gut", meinte Cassandra und lächelte schief. Dann sah sie sich um.

"Wo sind Noah und Lily?", wollte sie wissen.

Thien deutete mit dem Kopf auf eine weitere Tür, sagte jedoch nichts dazu. Der Mann, der Cassandra hergebracht hatte, stand noch immer hinter ihnen. Jetzt wandte er sich um und wollte gehen.

"Warten Sie!", rief Cassandra, doch der Mann reagierte nicht auf sie. "Was passiert hier mit uns?"

Seelenruhig tippte der Mann den Code in die Tür ein und als sie aufschwang, sah er noch einmal kurz zu den Kindern.

"Du musst dir keine Sorgen machen", meinte er zu Cassandra. "Wir sind nicht die Bösen."

Dann trat er durch die Tür und diese schwang hinter ihm zu.

Kurz darauf jedoch öffnete sich die an der anderen Seite des Raumes. Eine Frau trat durch sie hindurch, sie trug ein Klemmbrett unter arm und einen Stift in der Hand. Ihre kurzen Haare waren schwarz und glatt, sahen im Licht der Lampen aus wie gegelt und glänzten unwirklich.

"Der nächste!", sagte sie und betrachtete die drei abwartend. Savannah straffte die Schultern und wollte schon vorgehen, als Cassandra sie zurück hielt. Sie wollte unbedingt wissen, was hier vor sich ging. An Savannahs Stelle trat Cassandra vor auf die Frau zu. Die Frau war ein Stück kleiner als sie, was erstaunlich war, wenn man bedachte, dass Cassandra auch nicht unbedingt groß war.

Sie führte Cassandra in einen Raum, der besser beleuchtet war und als die Tür hinter ihnen automatisch zuschwang, lief Cassandra ein Schauer über den Rücken. In der Mitte des Raumes stand eine Art Sessel, daneben ein Schreibtisch, auf dem ein Computer stand. Ein Mann saß davor, der geschickt und schnell einige Dinge in den Computer eintippte. Die Brille und die schwarzen Haare verliehen ihm ein Aussehen, das dem von Thien glich und als der Mann aufblickte, schob er seine Brille etwas nach oben, so, wie Thien es an seiner Stelle auch getan hätte.

Die Frau ließ Cassandra auf dem Sessel Platz nehmen, der erstaunlich gemütlich war. Dann holte sie ein kleines Gerät heraus, das Cassandra bekannt war. Damit konnte man die Chips lesen, sofern vorhanden. Aus Gewohnheit legte Cassandra bereitwillig ihren Unterarm frei und hielt ihn der Frau entgegen, diese schien überrascht, sagte jedoch nichts. Stattdessen hielt sie das Gerät an die gut sichtbare, weiße Narbe auf der Innenseite von Cassandras Unterarm und Cassandra konnte auf dem kleinen Display sehen, wie das Gerät langsam die Informationen las. Gelangweilt tippte der Mann am PC einige Tasten, bevor er sich an sie wandte.

"Vorname?", fragte er. Die Frage erstaunte Cassandra, denn er musste bereits alle Informationen auf dem Bildschirm sehen, auch wenn er bisher noch keinen Blick auf hin geworfen hatte.

"Cassandra", antwortete das Mädchen daher, denn sie war sich sicher, getestet zu werden.

"Nachname?"

"Blackburn."

Jetzt regte sich eine Miene im Gesicht des Mannes und er scrollte schnell auf dem Blidschirm nach oben. Er schien einige Zeilen zu überfliegen und sah von Cassandra zu seiner Assistentin, die ebenfalls erstaunt schien.

"Alter?", fragte er Mann, doch dieses Mal schien es tatsächlich ein Test zu sein. Cassandra hob die Augenbrauen.

"Sechzehn", antwortete sie, erstaunt darüber, dass er sie nach dem Alter und nicht nach dem Geburtsdatum fragte. Die Frau neben ihr klickte mehrere Male mit dem Kugelschreiben in ihre Handfläche, was Cassandra nervös machte, dann trug der Mann ihr auf, den Chip erneut zu lesen. Sie tat, wie ihr geheißen und als die Ergebnisse wieder vorlagen, stand der Mann am Computer auf und kam zu Cassandra herüber.

"Gibt es ein Problem?", wollte Cassandra nun ehrlich interessiert wissen.

"Aufstehen", befahl der Mann ihr und packte sie grob am Arm. Cassandra war überrascht über die grobe Behandlung und schlug seine Hand weg.

"Pfoten weg!", fauchte sie, als sie sich widerwillig erhob und zu ihrer Verwunderung gehorchte der Mann. Er wartete bis sie aufgestanden war, dann wandte er sich an seine Kollegin.

"Du machst die anderen beiden allein", befahl er ihr und ging zur Tür am anderen Ende des Raumes. Dort tippte er schnell einen sechsstelligen Code ein und Cassandra bemerkte erstaunt, dass dieser Code länger war, als die, die sie zuvor benötigt hatten. Ob sie sich nun in einem anderen Teil des Bunkers befinden würden, der besondere Sicherung brauchte?

"Mitkommen", befahl der Mann ihr als die Tür aufschwang und Cassandra folgte ihm.

 

***

 

 Cassandra folgte dem Mann durch weitere Flure, die noch verzweigter schienen, als die vorherigen. Ins Treppenhaus jedoch kamen sie nicht zurück, was Cassandra davon ausgehen ließ, dass sie weiter ins Innere des Bunkers gingen.

Die Schritte des Mannes waren schnell und groß, sodass Cassandra es schwer hatte, mit ihm mitzuhalten. Der Mann jedoch schien genau das von ihr zu erwarten, denn er wartete nicht auf sie und drehte sich auch nicht zu ihr um, bis sie vor einer weiteren Tür standen. Der Mann gab den achtstelligen Code ein, ohne sich Mühe zu geben, ihn vor Cassandra zu verbergen. Diese Tür musste in einen noch wichtigeren Raum führen, denn der Code war der längste, den Cassandra bisher hier gesehen hatte und ihr klappte der Mund auf, als sie die Zahlen erkannte.

27032287

Ihr Geburtsdatum. Der 27. März 2287 war ihr Geburtsdatum.

Die Tür schwang auf und gab den Blick auf einen Raum frei, der aussah wie ein Kontrollraum.

Cassandra erschrak und zuckte zusammen, als sie die beiden Männer neben der Tür bemerkte, die beide bewaffnet waren. Jeder von ihnen hatte ein Maschienengewehr in den Händen und Cassandra ging erst weiter, als ihr Begleiter sie mit einer Hand weiterschob.

Erst jetzt bemerkte Cassandra die anderen Anwesenden. Bei ihnen handelte es sich um einen groß gewachsenen Mann mit dunklen Haaren, dessen Wangen glatt rasiert waren und einer deutlich kleineren Frau mit rabenschwarzem Haar, das dem von Cassandra sehr ähnelte. Die Frau hatte ihnen den Rücken zugewandt und las etwas auf einem breiten Bildschirm an der Wand. Der Mann, der sich auf einen Tisch gestützt hatte, blickte nun auf und musterte Cassandra. Es war offensichtlich, dass er etwas Wichtiges zu tun hatte und keine Störung wünschte.

"Wen hast du da, Martin?", fragte er Cassandras Begleiter und erst jetzt fiel ihr auf, dass dieser ein Stück zurückgetreten war, sodass sie selbst sich jetzt wie auf dem Präsentierteller fühlte. Sie widerstand dem Drang, ein paar Schritte zurückzuweichen, als der Mann sie musterte. Sowohl er als auch die Frau strahlten eine seltsame Autorität inne, die Cassandra glauben machte, dass es sich bei den beiden um irgendeine Art Anführer handeln musste. Was oder wen sie anführten, das wusste Cassandra jedoch nicht.

Der Mann versetzte ihr einen leichten Stoß und instinktiv machte Cassandra einen Schritt nach vorne, um das plötzliche Ungleichgewicht auszugleichen.

"Das ist Cassandra Blackburn, Sir", sagte der Mann und irgendwie hatte Cassandra bei seinen Worten das Gefühl, dass jedem in diesem Raum dieser Name ein Begriff war, außer ihr selbst, obwohl es doch hätte anders herum sein müssen. Schnell überlegte Cassandra sich, was der Mann namens Martin auf ihrem Chip gelesen haben könnte, doch nichts rechtfertigte eine solche Behandlung. Selbst, wenn man bereits von ihrem Verschwinden wusste und diese Anmerkung sogar auf ihrem Chip hinzugefügt hätte, so hätte das auch bei Noah und Lily der Fall sein müssen, doch diese waren nicht hier. Ganz offensichtlich erfuhr Cassandra hier gerade eine Sonderbehandlung. Ob sie darauf stolz sein sollte, wusste sie jedoch nicht.

Beim Klang des Namens richtete sich der Mann vollkommen auf und die Frau, die bisher mit dem Rücken zu ihnen gestanden war, fuhr herum. Sie beide betrachteten Cassandra aufmerksam, in ihren Mienen regte sich etwas, das das Mädchen jedoch nicht deuten konnte. Der Mann und die Frau warfen sich einen Blick zu und auch diesen konnte Cassandra nicht deuten. Dann sagte die Frau zu Cassandras Begleiter: "Lass uns allein."

Martin nickte, er schien eine Verbeugung anzudeuten, doch das konnte Cassandra auch missinterpretiert haben, dann zog er sich zurück.

"Ihr auch", sagte der Mann zu den beiden Wachen an der Tür. Diese nickten und verließen ebenfalls den Raum, noch bevor die schwere Brandschutztür hinter Martin ins Schloss fallen konnte.

Dann jedoch fiel die Tür zu und Cassandra fühlte sich mit einem Schlag noch viel unwohler. Irgendetwas sagte ihr, dass hier etwas nicht stimmte, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte, wenn man sich mit zwei Fremden im Raum befand.

Die Frau war die erste, die sich aus ihrer Starre löste und auf Cassandra zuschritt, was diese etwas zurückweichen ließ.

"Bist du es wirklich?", wollte die Frau von ihr wissen und Cassandra fragte sich, womit sie die plötzliche Vertrautheit verdient hatte. Dann zog die Frau sie in eine Umarmung, die Cassandra noch mehr erstaunte. Sie wand sich aus dem Griff der Frau und schob sie von sich.

"Hey hey hey!", sagte sie abwehrend und zog sich noch etwas weiter zurück, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand. "Wer zur Hölle sind Sie überhaupt?"

Der Mann war jetzt ebenfalls neben sie getraten und zog die Frau sanft am Arm etwas zurück.

"Lass sie, Liebling", sagte er zu ihr und zog sie zu sich. Die beiden waren also offenbar verheiratet, oder führten zumindest eine Beziehung. In den Augen der Frau konnte Cassandra jetzt Tränen stehen sehen, was sie erstaunlicherweise betraf, denn sie fragte sich, was diese emotionale Reaktion bei ihr hervorgerufen haben konnte. Wohl kaum Cassandras abweisendes verhalten, oder? Tief in ihrem Inneren wusste Cassandra jedoch, dass genau das der Fall war, was erneut Fragen aufwarf und sie dazu veranlasste, sich noch enger an die Wand zu pressen.

"Wir haben dich seit Jahren nicht gesehen", sagte die Frau zu ihr, ohne auf ihren Mann zu achten. Langsam spürte Cassandra noch mehr als schon zuvor, dass hier irgendetwas vor sich ging. Die beiden schienen sie zu kennen, doch Cassandra erkannte sie nicht. Das und die Tatsache, dass der Code zu dem Kontrollraum ihr Geburtsdatum war, ließ ihr Herz schneller schlagen.

"Ich kenne euch nicht", sagte Cassandra, war jedoch automatisch zu der vertrauteren Anrede gewechselt, denn noch nie zovor war sie sich so sicher gewesen, dass das, was sie aussprach, nicht stimmte.

"Du erinnerst dich nur nicht mehr, Cassandra", antwortete der Mann. "Du warst gerade erst ein Jahr alt, als sie dich uns weggenommen haben."

Cassandra schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnte nicht verstehen, was sie gerade gehört hatte.

"Das ist nicht möglich", flüsterte Cassandra und trat schwungvoll von der Wand weg. "Was meint ihr damit? Wo bin ich hier? Wer seid ihr? Warum ist mein verdammtes Geburtsdatum der Code zu diesem Raum? Und wer bin ich überhaupt?"

Wieder wechselten die beiden einen Blick und dieses mal schienen sie besorgt - oder waren sie verzweifelt?

"Cassandra", begann der Mann, "wir sind deine Eltern."

 

***

 

 Das Metall des Stuhles in ihrem Rücken kühlte ihre schwitzige Haut, während sie das kalte Wasser herunterkippte. Peinlich genug, dass sie nicht schon viel früher darauf gekommen war, doch ihre Reaktion auf das Geständnis des Paares hatte alles noch getoppt. Sie war vollkommen überfordert gewesen und hatte die beiden angestarrt, als waren sie Aliens. Kurz darauf hatten ihr ihre Beine den Dienst versagt und sie hatte sich auf dem Boden wiedergefunden, mit dem Rücken an die kalte Wand gelehnt. Das schien ja langsam zur Gewohnheit zu werden.

Robert Blackburn trat mit einer Decke hinter sie und wollte sie ihr um die Schultern legen, doch Cassandra schob sie abwehrend von sich. Die Schweißausbrüche waren so schon schlimm genug und ihre Kehle fühlte sich staubtrocken an.

Sie reichte das Wasserglas zurück an Aylin Blackburn, die vor ihr kniete und sanft ihr Knie tätschelte, was Cassandra zuließ. Sie war zu schwach, zu widersprechen.

"Möchtest du vielleicht einen Kaffee?", bot der Mann ihr an, als er die Decke wieder zusammengelegt und in einem Fach unter dem Schreibtisch verstaut hatte, in dem Cassandra allerhand Notfallequipment hatte erkennen können - Medikamente, Decken, Wasser, sogar Dosenessen und ein Feuerlöscher.

"Bloß nicht", murmelte sie und schluckte trocken, was ihren Hals schmerzen ließ.

"Magst du etwa keinen Kaffee?", wollte die Frau von ihr wissen, doch Cassandra zuckte die Schultern. Sie hatte noch nie Kaffee getrunken.

"Mir ist zu warm", antwortete sie daher ausweichend und senkte den Blick auf den Boden. Aylin goss etwas Wasser nach und reichte ihr das Glas wieder, welches Cassandra dankbar annahm und einen weiteren Schluck nahm.

"Das ist wohl alles ziemlich viel für dich, nicht wahr?, fragte die Frau sie. Cassandra nickte und war überrascht darüber, wie trocken ihre Kehle sich noch immer anfühlte, also nahm sie einen erneuten Schluck aus dem Wasserglas.

"Vermutlich", antwortete sie dann mit belegter Stimme.

"Wenn du möchtest, lassen wir dich erst einmal allein", schlug die Frau vor. Cassandra zuckte mit den Schultern, dann schüttelte sie jedoch den Kopf.

"Wo sind wir hier?", wollte sie wissen.

Das Paar wechselte erneut einen Blick, dann zuckte Robert die Schultern.

"Du als unsere Tochter hast wohl ein größeres Recht darauf, es zu erfahren, als jeder andere", meinte er. Er ging um sie herum und zog sich einen Stuhl heran, so, dass er bequem darauf sitzen und gleichzeitig Blickkontakt zu Cassandra halten konnte.

"In diesen Bunker haben sich die Rebellen zurückgezogen, nachdem klar wurde, dass die Rebellion keine Aussichten auf Erfolg mehr hatte", begann er dann zu erklären. "Der Bunker existiert schon lange und als die Rebellion zu scheitern drohte, war uns klar, dass das hier unser einziger Rückzugsort sein würde. Wir haben dafür gesorgt, dass nicht nur die Rebellen, sondern auch deren Familien hier in Sicherheit sein würden."

Auch deren Familien ...

"Wieso war ich nicht hier?", wollte Cassandra wissen. "Wenn ihr doch auch hier unten gelebt habt, was ist mit mir passiert?"

Wieder wechselte das Paar einen Blick. Was überlegten sie denn? Cassandra war sich nicht sicher, ob sie etwas vor ihr verheimlichen wollten, oder ob sie sich nur absprechen wollten, wer ihr die Geschichte erzählen sollte.

"Als wir mit dir fliehen wollten, wurden wir ... aufgehalten", erklärte Robert und er stockte kurz.

"Dein Vater wurde angeschossen", fuhr Aylin fort, "und ich habe versucht, mit dir zu fliehen, doch das ist mir nicht gelungen. Ein paar Freunde konnten eingreifen und die Männer der Regierung in die Flucht schlagen, doch..."

"...dich haben wir nie wieder gesehen", beendete Robert die Erzählung. "Sie haben dich uns weggenommen und wenn unsere Verbündeten auch nur ein paar Augenblicke später gekommen wären, wären deine Mutter und ich heute nicht mehr am Leben."

Er schwieg kurz.

"Unsere Leute waren zu geschwächt, als dass wir sie auf eine Mission hätten schicken können", fuhr er fort. "Wir haben ein halbes Jahr gebraucht, um neue Kräfte zu sammeln und bis dahin hatte die Regierung längst alle Spuren verwischt. Wir haben vier Jahre nach dir gesucht. Dann haben wir aufgegeben."

Cassandra hatte ihm schweigend zugehört und jetzt wusste sie nicht, was sie dazu sagen sollte. Es war offensichtlich, dass die beiden der Gedanke daran schmerzte, also versuchte sie, das Thema zu wechseln.

"Und ihr beide", begann sie, "ihr seid quasi die Anführer hier?"

Ein Lächeln huschte jetzt über das Gesicht der beiden.

"Sozusagen", antwortete Robert, doch er schien nicht weiter darauf eingehen zu wollen, also hakte Cassandra nicht nach. Mit einem weiteren Schluck trank sie ihr Wasser leer, dann stand sie vorsichtig auf. Ihre Beine hielten sie, daher stellte sie das Glas auf den Tisch neben sich und fuhr sich durch die Haare, die sie noch immer in einem unordentlich geflochtenen Zopf trug.

"Ich würde mich gern etwas hinlegen", gestand sie den beiden und blickte sie fragend an.

"Natürlich", sagte Aylin und legte ihr einen Arm um die Schulter, was Cassandra widerwillig zuließ, denn sie wollte keinen Keil zwischen sich und diese Leute treiben, die ihr gestanden hatten, ihren Eltern zu sein.

"Andrew wird dir dein Zimmer zeigen", meinte Robert und tippte einen Code in die Tür ein, woraufhin diese aufschwang und die beiden bewaffneten Wachmänner dahinter zum Vorschein kamen.

Robert gab einem von ihnen einen Befehl, den Cassandra nicht verstehen konnte, dann nickte dieser und kam auf Cassandra zu, was diese unwillkürlich etwas zurückzucken ließ. Sie war es nicht gewohnt, Bewaffnete zu sehen, und schon gar nicht, dass diese sich auf sie zubewegten. Robert schiend as zu bemerkten.

"Lass deine Waffe hier", sagte er zu dem Mann und dieser reichte sein Maschienengewehr an ihn weiter. Er sah nach wie vor eher angsteinflößend aus, so wie er sich bewegte, durch seine Größe und die breiten Schultern, und natürlich aufgrund der Uniform und dem Helm, der die Form und Größe eines Motorradhelmes hatte und dessen verspiegeltes Visier sein Gesicht komplett verdeckte.

Widerstrebend ließ Cassandra sich von ihm aus dem Raum führen und vertraute darauf, dass er sie heil durch das Gewirr aus Gängen und Korridoren bringen würde.

 

***

 

Das Zimmer, in das Andrew sie geführt hatte, war klein und spärlich möbliert. Eine Art Koje war in die Wand eingelassen. Oberhalb der Koje hing eine kleine Lampe, deren Kabel in die Wand hinter dem Bett führte. Noch nie hatte Cassandra so ein schmales Bett gesehen und abgesehen von einem Heizgerät und einem kleinen Schrank war es das einzige Möbelstück - wenn man es denn als solches bezeichnen konnte.

Trotzdem ließ Cassandra sich jetzt darauf nieder und strich die Decke glatt, als sie aufsah. 

"Mein Rucksack ...",  begann sie, doch Andrew deutete in eine Ecke und tatsächlich - da stand ihr Rucksack. 

"Wenn es recht ist, lasse ich Sie jetzt alleine", sagte Andrew dann und Cassandra war überrascht darüber, wie förmlich er sie behandelte. Noch nie zuvor war Cassandra gesiezt worden, da war sie sich sicher. Langsam nickte sie und Andrew zog die Tür hinter sich zu. Augenblicklich war es stockdunkel und Cassandra tastete mit der Hand nach der kleinen Lampe über ihrem Bett. Sie folgte dem Kabel und erspürt schließlich den Knopf, um sie anzuschalten. 

Unangenehmes Licht flutete die Ecke, in der die Koje sich befand, während der Rest des Zimmers fast komplett dunkel blieb.

Gerne hätte Cassandra sich nach ihren Freunden erkundigt, ihnen Bescheid gegeben, dass es ihr gut ging, doch als sie aufstand und die Tür öffnete, war niemand weit und breit zu sehen und sie fürchtete sich davor, in dem Wirrwarr aus Gängen in dem Bunker verloren zu gehen. Aus diesem Grund zog Cassandra wieder die Tür ins Schloss und ging zurück zum Bett. Erst jetzt merkte sie die Nachwirkungen des Schlafmittels, das man ihr verabreicht hatte. Offenbar hatte das Adrenalin und die Aufregung die Müdigkeit zuvor verdrängt. Jetzt jedoch wünschte sie sich nichts mehr, als zu schlafen, so dass sie aus ihren Schuhen schlüpfte, die Beine anzog und auf dem Bett einschlief, bevor sie sich zudecken konnte.

 

***

 

Ein Klopfen riss sie aus ihren Träumen. Es war hart und erinnerte sie eher an ein Hämmern, weshalb sie einen Moment brauchte, bevor sie sich aufsetzte und "Herein" sagte. 

Ein Mann steckte den Kopf ins Zimmer. Es war nicht Andrew, auch wenn er dieselbe Uniform trug. Den Helm hatte er abgenommen und er war gut einen Kopf kleiner und deutlich schmaler gebaut als Andrew. 

&quot;Ihre Eltern haben mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass es Abendessen gibt&quot;, sagte der Mann. Cassandra richtete sich auf. <br>

&quot;Ich komme&quot;, sagte sie artig und fuhr sich durch das Haar. Der Zopf hatte sich komplett gelöst und sie blieb in den Knoten hängen, die sich gebildet hatten. Nach dem Essen musste sie sie kämmen. 

Ihr Begleiter führte sie durch die Korridore und Cassandra machte sich nicht die Mühe, sich den Weg zu merken. Sie war sich sicher, dass man sie zurück bringen würde und es würde sie ohnehin viele Tage oder Wochen kosten, bis sie sich die ersten Wege merken konnte. 

Dies erst ließ Cassandra sich die Frage stellen, wie lange sie wohl hierbleiben würde. 

Sie kam zu keiner Antwort, denn der Mann öffnete eine Tür und führte Cassandra in einen großen Raum, der dem Esssaal im Waisenhaus kaum ähnlich war. Auch in ihm befanden sich eine Vielzahl von Stühlen und Tischen, das war es jedoch auch schon an Gemeinsamkeiten. 

Dieser Raum hier war deutlich größer und man merkte, dass er mit einer ganz anderen Intention gebaut worden war. Er war neuer, technisch versierter und die Wände waren aus Metall, nicht aus Stein wie es in der Burg der Fall gewesen war. Dieser Bunker war nicht wie das Waisenhaus gebaut, um seine Bewohner drinnen zu halten - es sollte alle anderen draußen halten.

Cassandra fragte sich, wie viele Leute von der Existenz des Bunkers wussten und ob es Leute gab, die sie suchten.

Als der Esssaal immer voller wurde, versuchte Cassandra, ihre Freunde ausfindig zu machen, doch das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Auch ihren Begleiter hatte sie offensichtlich im Gedränge verloren. Dafür stand plötzlich jemand anderes vor ihr, dessen Gesicht ihr bekannt vorkam. Es handelte sich um den Mann, der Cassandra im Krankenzimmer abgeholt hatte.

"Hast du dich verirrt?", fragte er, während er

unbeirrt einen Teller vom Stapel nahm und begann, sich Essen darauf zu laden. Cassandra reihte sich hinter ihm ein, unsicher was sie sagen sollte. Stattdessen nahm sie sich ebenfalls einen Teller und nahm sich einfach genau dasselbe, was ihr Gesprächspartner sich genommen hatte, auch wenn sie nicht sicher war, um was es sich dabei handelte. Es war ein gelblicher, fester Brei mit Soße und Cassandra war sich nicht sicher, ob sie das essen konnte. In einer Schüssel daneben befand sich etwas, bei dem es sich um eine Art Brokkolisalat handeln musste, denn die kleinen Fasern erinnerten Cassandra an Brokkoli. 

"Das ist Polenta und das andere ist Brokkoli", klärte der Mann sie über die Identität des Essens auf, bevor Cassandra sich vom Brokkoli nahm. Dann ging sie neben dem Mann her, der ihr eine Hand auf die Schulter gelegt hatte und sie durch die Menge führte. Nach wie vor hielt Cassandra nach ihren Freunden Ausschau, doch stattdessen hatte ihr Begleiter sie zu einem anderen Tisch geführt.

"Darf ich vorstellen", begann er, während die dort Sitzenden zu ihnen auf sahen. "Cassandra Blackburn."

Sofort schoss Cassandra das Blut in die Wangen, denn sie wusste in der Zwischenzeit, welchen Eindruck ihr Name auf andere machte. 

Die Männer und Frauen an diesem Tisch waren deutlich älter als Cassandra oder ihr Begleiter und von alleine wäre sie wohl nie auf die Idee gekommen, sich zu ihnen zu setzen, weshalb sie jetzt etwas schüchtern stehen blieb. Erst, als sie unter den Leuten ihre Eltern entdeckte und ihre Mutter sie zu sich winkte, wagte sie einen Schritt nach vorne und ließ sich auf dem leeren Stuhl zwischen ihren Eltern nieder, der offensichtlich für sie freigehalten worden war. 

 

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Tag der Veröffentlichung: 31.12.2016

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