Ich wache auf und versuche, in dem dämmrigen Licht meine Umgebung auszumachen. Zuerst nehmen die verschwommenen Schemen der Betten meiner Geschwister Gestalt an, dann höre ich draußen vor der Zimmertür Schritte und Licht fällt unter der Türschwelle hindurch. Ich schäle mich aus dem Bett und ziehe mich im Dunkeln an, um meine Schwestern Reya und Clya nicht zu wecken. Als ich das Zimmer verlasse höre ich unten im Wohnzimmer die Stimmen meiner Eltern. Die Sonne strahlt durchs Fenster, doch ich weiß, dass es noch nicht spät ist. Ich spüre sogar durch die Fenster hindurch die Wärme der Sonne auf meiner Haut. Ich schleiche mich an der Wohnzimmertür vorbei und verlasse leise das Haus. Als die Tür hinter mir ins Schloss fällt, laufe ich los. Mein Weg führt mich immer weiter, schließlich aus dem Dorf hinaus, in den Wald. Meine Eltern sind es gewohnt, dass ich früh morgens das Haus verlasse. Sie unterbinden es auch nicht. Sie halten mich für erwachsen genug, allein zu entscheiden.
Ich renne auf einem Feldweg entlang, fühle die warme Sommersonne auf meiner Haut, meinen Armen und Beinen, meinem Gesicht. Als ich die ersten Bäume des Waldes erreiche, kühlt sich die Luft schlagartig ab. Im Schatten der Büsche und Bäume ist die Luft angenehmer als auf dem Feld, wo schon so früh die Sonne auf meine ungeschützte Haut brennt.
Ich ziehe meine Schuhe aus, die ich nur zum Rennen auf dem heißen Asphalt der Straßen angezogen habe, und laufe barfuss durchs Gestrüpp. Meine Haut ist das Pieksen der Dornen in meinen Fußsohlen gewohnt, mich kümmern die Brennnesseln nicht, die rechts und links von dem kleinen Wildwechsel wachsen, auf dem ich durch den Wald schlendere. Ein Sprung und ich stehe auf einem umgefallenen Baumstamm, von dem aus ich auf eine junge Buche klettere. Die Äste sind dünn und der Stamm biegt sich unter meinem Gewicht, während sich die glatte Rinde an meine Füße und Beine schmiegt. Ich klettere nahe am Stamm, um nicht zu fallen. In zwei Metern Höhe erreiche ich den Ast einer älteren Buche, deren Stammdurchmesser gut einen halben Meter beträgt. Der Ast reicht so nahe an meinen jungen Baum heran, dass ich es wage, mich auf ihn zu ziehen.
Meine Schuhe habe ich an den Schnürsenkeln zusammengebunden und mir um die Schultern gelegt, wo sie mich kaum beim Klettern behindern. Schnell erreiche ich auf dem älteren Baum eine Höhe von vier, fünf Metern, doch ich bin noch nicht zufrieden. Die Buche steht am Rand des Waldes und ich kann auf die Felder sehen, weiter hinten unser kleines Dorf. Zwischen meinem jetzigen Standpunkt und dem Dorf liegt ein See, auf den man sehen kann. Während ich noch etwas weiter klettere, bewundere ich das schillernde Sonnenlicht, das wie verzaubert auf dem See tanzt.
Als ich fast sieben Meter über dem Boden eine kräftige Astgabel erreiche, lasse ich mich hineingleiten und lasse rechts und links die Beine baumeln, während ich mich an den robusten, rauen Stamm der Buche schmiege und aufs Feld sehe. Ich sitze oft hier, weit oben über dem Boden und ignoriere die Gefahr, zu fallen. Entspannt hänge ich meine Schuhe auf einen Zweig über mir und stupse sie an, so dass sie im Sonnenlicht schwingen und lustige Schatten auf den Stamm werfen. Weit in der Ferne im Osten steigt die Sonne über die Dächer der Stadt und scheint zu mir herüber. Das Glitzern des Sees und das Gold der sich im leichten Sommerwind wiegenden Getreidesorten unter mir auf den Feldern machen diesen Moment perfekt und ich schließe die Augen. Über mir schreit ein Vogel, ich lasse den Ast los, an dem ich mich festgehalten habe, und lege meine Hände flach auf die kühle, schützende Rinde meiner Buche. Links von mir wächst ein Kirschbaum. Jetzt, im Juli, biegen sich die Zweige von dem Gewicht der süßen, dunkelroten Kirschen. Gerne würde ich mich hinüberlehnen, um ein paar abzupflücken, doch meine Finger streifen nicht einmal die dunkelrote Haut der Früchte, obwohl die Bäume hier sehr nah aneinander stehen. Ich werfe einen Blick in die Baumkrone in den hellblauen Himmel, der von dem Grün der Blätter über mir durchzogen wird. In Gedanken lege ich mir meinen Weg zurecht, wie ich weiter hochklettern könnte, um in den Kirschbaum zu klettern, doch dann verwerfe ich den Gedanken wieder. Die Rinde des Kirschbaumes ist zu rau, ich würde mir die Füße aufreißen. Außerdem wachsen die Äste zu weit auseinander, ich könnte nicht hinüberklettern, ein Sprung wäre zu riskant. Also schaue ich wieder auf die endlose Ebene, die sich vor mir erstreckt. Immer wieder sehe ich neue Einzelheiten. Unter mir hat sich auf der frisch gemähten Wiese ein Schwarm Störche niedergelassen und schnappt im glänzenden Tau der Wiesen nach Fröschen, Grillen und anderen Kleintieren. Über mir schreit wieder ein Vogel, diesmal näher, ein paar Rehe betreten zaghaft und vorsichtig die Wiese. Von hier oben sehe ich, dass auch sehr junge Tiere dabei sind, ihr Fell ist heller als das der Muttertiere. Sie sind unvorsichtiger und nicht so misstrauisch, wie die Älteren. Übermütig tollen sie durch das Gras, während der Rest der Herde die jungen Gräser kostet.
Die Sonne steigt weiter. Ich habe mich nach vorne gelehnt, um die Tiere besser sehen zu können, jetzt lehne ich mich zurück an den Baum. Noch ist die Luft frisch und ich atme tief ein, bevor sie sich erwärmt und sich mit drückender Schwere auf mich und meine Welt legen kann. Ich schaue wieder in die Wipfel der Bäume und folge mit meinem Blick einem Käfer, der mit mir in halsbrecherischer Höhe die Aussicht genießt.
Die heller werdende Sonne zieht meinen Blick magisch an und als ein leichter Wind durch die Bäume weht, bekomme ich eine Gänsehaut, die sich über meinen ganzen Rücken erstreckt. Als im Norden Wolken aufziehen weiß ich, dass es schon spät ist und klettere von Baum. Den Weg zurück nach Hause sprinte ich barfuss und ignoriere den Schmerz an meinen nackten Füßen. Zu Hause angekommen laufe ich hoch in mein Zimmer. Meine Schwestern kommen die Treppe herunter und murmeln mit ein müdes: „Morgen“ zu. Ich lächle sie an, hetze an ihnen vorbei und schlage die Tür zu unserem Zimmer hinter mir zu. Dann mache ich mich fertig für die Schule…
Als ich das Haus verlasse schaue ich noch einmal zurück in Richtung Wald. Ich bin es gewohnt, früh morgens in den Wald zu gehen, und danach in die Schule zu müssen, doch ich wünschte jedes Mal, ich könnte länger bleiben. Meine Sehnsucht vermischt sich mit einem warmen Luftstoß und wird dem Wald entgegengetragen. Ich stelle mir vor, wie die Tiere dort meine Witterung aufnehmen und den Kopf wieder beruhigt sinken lassen, um weiterzugrasen. Ich bin zu weit weg, doch ich wünschte, ich wäre es nicht. Ich folge meinen Schwestern zum Bus. Bald sind Ferien und ich werde den ganzen Tag hoch oben in meiner Buche sitzen können, die hellen Flecken auf der Erde beim Tanzen beobachten, die die Sonne hinterlässt, wenn ihre ersten, wärmenden Strahlen durchs Laub fallen. Ich werde jeden Tag mit der Sonne aufstehen, und mit dem Sonnenuntergang zurückkommen. Jeden Tag der Ferien. Jetzt ist es Sommer. Jetzt ist Juli.
Als ich mich in den Bus setze, ist die Hitze bereits unerträglich geworden. Ich wünsche mich wieder in meinen Wald, meinen kühlen, hellen Wald, in dem ich unter mir die Hasen durchs Unterholz laufen höre, die Flügel der Greifvögel schlagen höre, wenn sie sich auf ihre Beute stürzen und wieder aus dem hohen Gras in den hellblauen, wolkenlosen Himmel steigen.
In der Schule werde ich dasitzen, wie immer. Regungslos, unbeteiligt, immer in Gedanken an die Zeit nach dem Schulschluss. Ich werde nichts sagen. Seid vier Jahren habe ich nichts mehr gesagt. Worte sind überflüssig. Ich brauche sie nicht, denn ich sehe, was ich sehen will, und dann merke ich es mir und vergesse es nie wieder. Die Sonnenstrahlen fallen durchs Fenster auf den leeren Platz neben mir. Plötzlich fällt ein Schatten darauf. „Kann ich mich zu dir setzen?“, fragt mich ein Junge. Er ist in meinem Alter, hat dunkles Haar, wie ich und noch dunklere Augen. Ich streiche mir mein langes Haar hinter die Ohren und will gar nicht antworten, als mir etwas in die Augen fällt. Etwas an diesem Jungen vor mir ist anders. Er ist nicht wie die anderen Menschen. Ich brauche keine Sekunde, bis mir auffällt, was ihn so anders macht. In seinem gestylten Haar ist etwas, das ihn verrät. So wie alle anderen Jungen trägt er makellose Klamotten, hat seine Haare gestylt und ist muskulös. Ich trage meine Haare wie alle anderen Mädchen lang, fast immer offen, trage eng anliegende Klamotten, und schminke mich dezent. Niemand erahnt, dass ich jeden Morgen in eine andere Welt abtauche, denn die Schule und meine Welt im Wald trenne ich vollkommen. Und dieser Junge ist mir ähnlich. Denn in seinem kurzen, dunklen Haar, über dem linken Ohr, hängt etwas, was er übersehen haben muss, als er sich heute Morgen fertig für die Schule gemacht hat. Ein kleines, junges Buchenblatt.
Immer noch sieht er mich fragend an und mir schießen tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf, bis ich den Mund öffne, und einfach und schlicht: „Setz dich“ sage.
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2015
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