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Kapitel 1: Streifzüge

Der warme Sommerwind fuhr durch das Laub der Bäume und die leergefegten Straßen der Stadt, die kurz hinter dem Wald anfing. Seit mehreren Wochen hatte in den Häusern, die rechts und links die Straßen säumten, niemand mehr gewohnt. Einsam und verwaist standen sie dicht an dicht und ließen häufig kaum genug Platz, um in den Zwischenräumen einen Unterschlupf zu finden.

Ein junges Mädchen jedoch nutzte die Einsamkeit für seine Zwecke. Der Wind zerzauste ihr dunkles Haar, als sie nur mit einem Rucksack und den Kleidern, die sie am Leibe trug, durch die verlassene Stadt huschte. Es war kurz nach Tagesanbruch und die letzte Nacht hatte sie gut geschützt in einer der verlassenen Ruinen verbracht, so wie es auch die Nächte davor der Fall gewesen war. Jetzt jedoch musste sie weiter.

Vor einem verlassenen Haus, dessen Tür offen stand, blieb das Mädchen stehen. Zögerlich sah sie sich um und trat dann kurzentschlossen durch die Tür in den Flur des Hauses. Es musste sich um ein Mehrfamilienhaus handeln, denn das erste, was sie empfing, war ein kahler Flur und eine Holztreppe, die in den zweiten Stock führte, wo sich mehrere Wohnungen befanden. Trotzdem ließ sie sich nicht dorthin locken.

Stattdessen schritt sie die dunkelblau gestrichenen Wohnungstüren im Erdgeschoss ab, die jedoch allesamt verschlossen waren. Hinter der Treppe im Erdgeschoss stand eine Art Hutständer – was genau er hier draußen zu suchen hatte, war dem Mädchen gleich, denn sie packte ihn und nutzte ihn als Hebel, um eine der hässlichen, blauen Holztüren aufzubrechen.

Es gelang ihr auf Anhieb, nicht nur weil sie stärker war, als man es bei ihrer Statur glauben mochte, sondern auch, weil Wind und Wetter die Türen morsch und das Schloss rostig gemacht hatten.

Ihr wilder Blick schoss durchs Zimmer, in dem sie sich nach dem Eintreten befand. In der Zwischenzeit wusste sie sehr gut, wo sich die Dinge versteckten, die sie benötigte. Mit schnellen Griffen durchwühlte sie die Kommode neben der Tür und ging dann weiter ins Innere der Wohnung.

Unter anderen Umständen hätte Darlia Hepburn ein ganz normales Mädchen sein können, was sie auch gewesen war, bis das eingetreten war, was jedes normale Mädchen zu dem gemacht hätte, was sie jetzt war.

Angefangen hatte alles mit einer harmlosen Infektionskrankheit, die nach und nach die Menschen in der Umgebung befiel. Fieber, Schwindel, später Verhaltensänderungen. In den Nachrichten wurde darüber berichtet, besonders, als andere Symptome dazukamen. Die Verhaltensänderungen wurden gravierender, bis von dem Menschen, den man einmal gekannt hatte, nichts mehr übrig war – nichts, außer einem erbarmungslosen Hunger auf Menschenfleisch, der mit jedem Tag zu wachsen schien.

Anfangs schien alles unter Kontrolle. Die Betroffenen wurden von den anderen Bewohnern abgesondert und bei jedem Verdacht auf den Virus musste umgehend ein Arzt hinzugezogen werden. Irgendwann jedoch hatte sich die Krankheit trotz aller Quarantänemaßnahmen verbreitet und nach und nach war Panik ausgebrochen. So war es kein Wunder, dass mit der Zeit sämtliche geregelten Abläufe und bekannten Strukturen über Bord geworfen wurden.

Manche Familien hatten die Stadt verlassen, in Scharen waren sie geflohen, bis schließlich kaum noch jemand übriggeblieben waren. Die Infizierten hatten sich daraufhin über alle Reste hergemacht, die die Flüchtenden zurückgelassen hatten.

Darlia hatte gefunden, was sie suchte. In wenigen Minuten hatte sie gefunden, was sie suchte. In einem Kleiderschrank hatte sie eine Regenjacke gefunden, die sie sich nun um die Hüfte band, neben dem Kühlschrank war eine große Wasserflasche gestanden, der Kühlschrank selbst jedoch hatte schon seit mehreren Wochen keinen Strom mehr bekommen und so waren alle Lebensmittel darin verdorben. Dünne Stoffhandschuhe waren auf dem Tisch im Wohnzimmer gelegen und obwohl Darlia nicht wusste, woher diese kamen, hatte sie sie eingepackt.

Im Badezimmer hatte sie Schmerztabletten eingepackt, denn sie hatte nichts an Medikamenten dabei und als sie weitergesucht hatte, hatte sie Tabletten gefunden, mit denen man Wasser reinigen und trinkbar machen konnte. Ganz hinten im Medikamentenschrank hatte Darlia zwei Packungen Pflaster und eine Mullbinde eingepackt. Über die Jacke und die Handschuhe war sie besonders froh, denn sie wusste nicht, wie lange es dauern würde, bis sie jemanden fand, der ihr helfen konnte. Sie wusste gar nicht, ob sie hier überhaupt noch jemanden finden würde.

Sie selbst hatte noch keinen Kontakt zu Infizierten gehabt und wann immer sie am Horizont einen Menschen erblickte, hatte sie schnell eine andere Richtung eingeschlagen, immer aus Angst, vielleicht doch plötzlich einem Infizierten gegenüberzustehen. Sie war unbewaffnet und scheute den Kampf gegen selbige, denn in ihre Kampfkünste hatte sie kein Vertrauen und ganz allein wollte sie sich ihnen ohnehin nicht stellen.

Noch immer hoffte sie darauf, früher oder später Verbündete zu treffen, doch mit der Zeit hatte sie das Gefühl bekommen, der letzte Mensch auf Erden zu sein. Ihr Vater hatte sie in den letzten Wochen kaum noch aus dem Haus gelassen, aus Angst, sie könnte sich anstecken. Was anfangs nach einem Grippevirus der besonderen Art aussah entpuppte sich schon bald als tödliche Infektionskrankheit, die das Gehirn angriff und nach und nach abtötete, bis Betroffene weder Schmerz noch Reue spürten – nur der Hunger blieb. Und den wollten sie um jeden Preis stillen.

Als ihr Vater eines Tages nicht nach Hause zurückgekehrt war, hatte Darlia schon mehrere Wochen das Haus nicht mehr verlassen. Sie hatte gewartet, eine Stunde, zwei, dann wurden aus den Stunden Tage. Am vierten Tag, als ihre Vorräte zur Neige gingen, war Darlia sich sicher, dass ihr Vater nicht zurückkehren würde. Also hatte sie alles zusammengesucht, was ihr beim Überleben nützlich erschien und war ihrerseits geflüchtet. Zu dem Zeitpunkt hatten die meisten ihrer Nachbarn schon längst die Flucht ergriffen.

Darlia verließ die Wohnung durch das Fenster, denn sie hatte sich schon lange angewöhnt, denselben Weg nicht zweimal zu gehen. Während sie aus dem Fenster kletterte, konnten durch die Wohnungstür bereits Feinde eindringen – egal ob infiziert oder nicht.

Flink schwang sie sich aus dem Fenster und landete in einem Blumenbeet, das jedoch längst von Unkraut überwuchert war. Mit einem kurzen Blick nach rechts und links checkte sie die Lage, doch sie war nach wie vor allein. Sie löste den Zopf, der ihre Haare in ihrem Nacken zusammengehalten hatte und band ihn neu, denn einzelne Strähnen waren herausgefallen, fielen ihr in die Augen und kitzelten sie im Nacken.

Am Himmel brauten sich dunkle Wolken zusammen und jetzt war Darlia froh über die Regenjacke und die Handschuhe. Noch war zwar August – vielleicht auch schon September? – doch der Winter würde nicht mehr lange auf sich warten lassen und sie trug nur ein einfaches, schwarzes Top und eine lange Jeans, die jedoch vor allem an den Knien schon lange Risse aufwies.

Bevor der Virus ausgebrochen war, hatte Darlia immer viel Sport gemacht, was ihr jetzt das Vorrankommen erleichterte. Sie war die beste Läuferin in ihrer Klasse gewesen und das erlaubte es ihr, im Laufschritt durch die Straßen zu joggen, ohne allzu sehr außer Atem zu kommen.

Sie hatte es sich angewöhnt, nachts Schutz in einem alten Gebäude zu suchen und am Tage von einer Stadt zur nächsten zu laufen. Was sie suchte, wusste sie nicht – andere Menschen, einen Ort, an dem sie sicher war. Nur nicht mehr allein hier draußen sein, wo sie jeden Moment angegriffen werden konnte.

Jetzt beschloss sie, etwas langsamer zu gehen, denn noch hatte sie sich nicht für eine Richtung entschieden. Hinter einer kleinen Reihe heruntergekommener Häuser begannen erneut Felder und nur vereinzelt zierten große, alte Bäume den Wegrand. Bisher hatte Darlia sich vom Wald ferngehalten, denn dort fürchtete sie, sich nicht so gut zurechtzufinden, auch wenn sie vielleicht dort unbehelligter vorrankommen würde. Sie hielt es für unwahrscheinlich, dass sich viele Infizierte im Wald aufhalten würden, denn diese machten sich zumeist über die zurückgelassenen Reste in den Städten her – und wenn es sein musste auch über vereinzelte Flüchtende wie Darlia. Trotzdem entschied sie sich jetzt dagegen, weiter durch die Stadt zu streifen. Ihr erster Streifzug war erfolgreich gewesen und ihr Rucksack fast voll. Das Gewicht der Wasserflasche würde sie ohnehin beim Laufen stören, doch jetzt begann Darlias Magen zu knurren und erinnerte sie dadurch daran, dass sie heute noch nicht gefrühstückt hatte.

Sie legte eine Hand auf ihren Bauch, als er erneut laut knurrte und Darlia dachte kurz darüber nach, ob sie vielleicht doch noch einmal den kaputten Kühlschrank durchsuchen sollte, doch der Gestank von verschimmeltem Käse und verwesendem Fleisch hing ihr noch immer in der Nase und sie wusste, dass es ihr Todesurteil sein konnte, wenn sie jetzt krank wurde – auch wenn es sich nur um eine Lebensmittelvergiftung handelte.

Sie zwang sich dazu, aus dem Blumenbeet zu treten und sich in die nächste Stadt aufzumachen. Wenn sie etwas Glück hatte, fand sie auf dem Feld etwas zu Essen: Ein paar Obstbäume, von denen sie frühe Früchte pflücken konnte, Beerensträucher oder etwas Sauerampfer, auch wenn sie selbst nicht wusste, wie diese aussah. Sie war in der Stadt aufgewachsen und kannte das Leben und Überleben im Wald und auf den Feldern nur von Filmen und Büchern, die sie früher gerne gelesen hatte.

Sie verdrängte den Gedanken an ihre Kindheit, denn so viel gab es da ohnehin nicht zu erzählen. Ihre Mutter war gestorben, als Darlia noch klein war und von da an war sie mit ihrem Vater allein gewesen – bis sie eines Tages plötzlich ganz allein gewesen war.

Erneut knurrte ihr Magen und Darlia wusste, dass sie jetzt etwas zu essen brauchte. Sie trat aus dem Schatten der Häuser hinaus auf einen Feldweg und sah sich zu beiden Seiten um. Bei den Bäumen, die hier wuchsen, schien es sich in erster Linie um Eichen zu handeln, doch in einiger Entfernung erkannte Darlia kleine Bäume, möglicherweise Apfelbäume.

Ohne zu zögern verließ Darlia den Weg und lief querfeldein zu den Bäumen. Tatsächlich hingen Äpfel daran, doch sie waren klein und als Darlia in einen hineinbiss, schmeckten sie säuerlich. Doch Darlia war nicht wählerisch. Sie pflückte alle Äpfel, an die sie herankam und knabberte dann das harte Fruchtfleisch um das Kerngehäuse herum weg, bis sie halbwegs gesättigt war. Die übrigen Äpfel ließ sie in ihren Rucksack gleiten und hoffte, dass sie möglichst platzsparend in die Lücken rutschen würden.

Dann schulterte sie den Rucksack erneut und setzte ihren Weg fort.

Kapitel 2: Erster Kontakt

Mit kalten Händen und Füßen erwachte Darlia am nächsten Tag. Sie hatte in der Nacht Schutz in einem alten Schuppen gesucht, doch das Dach schien nicht dicht gewesen zu sein, denn als es mitten in der Nacht zu regnen begonnen hatte, waren eiskalte Regentropfen wie kleine Nadeln auf sie gefallen und jetzt war nicht nur ihr Haar nass, sondern auch ihre Kleidung.

Mit tauben Zehen und Fingern setzte sie sich auf und bewegte testweise die Zehen. Anschließend nahm sie einen Schluck aus der Wasserflasche und aß einen Apfel, bevor sie sich dazu zwang, aufzustehen und so viele Kilometer wie möglich hinter sich zu bringen. Draußen waren die Straßen nass, es musste viel Regen gefallen sein, denn teilweise standen sie unter Wasser, sodass Darlias Schuhe nicht trocknen konnten, während sie die ersten Schritte durch die überschwemmten Straßen machte.

Bei jedem Schritt quellte eiskaltes Regenwasser aus Darlias Turnschuhen heraus und es war fast unmöglich, lautlos vorranzukommen, denn sowohl das spritzende Wasser als auch das Quietschen der nassen Schuhe ließen jeden von Darlias Schritten durch die verlassene Stadt hallen.

Wenigstens war ihr Rucksack wasserdicht gewesen, so dass Darlia jetzt die dünnen Stoffhandschuhe aus der Tasche zog und sie sich über die tauben Finger zog. Der Himmel war noch immer wolkenbedeckt, doch als es einige Stunden später wieder zur regnen begann, kletterte Darlia geschickt durch ein zerbrochenes Fenster in das Wohnzimmer eines Einfamilienhauses. Hier drinnen war es überraschend warm.

Ein Bücherregal war umgefallen und hatte die einzige Türe versperrt, die hinaus aus dem Zimmer führte, sodass nur das Fenster Darlia als Ausweg blieb. Eigentlich mochte sie das nicht, denn sollte ihr dieser versperrt sein, saß sie in der Falle, andererseits war ihre Bereitschaft, sich ein anderes Versteck zu suchen, bei dem Wetter, das draußen herrschte, sehr gering und sie musste auch nur einen Eingang bewachen. Schließlich war sie aufgrund der kalten und kurzen Nacht noch immer müde und würde ihre Augen nicht überall haben können.

Ein gemütlich aussehendes Sofa stand einladend in der Mitte des Raumes, ein Couchtisch mit einer geblümten Tischdecke darauf stand davor und am anderen Ende des Raumes hing ein großer Flachbildfernseher an der Wand, dessen Bildschirm gesprungen war. Das Wohnzimmer hätte ganz friedlich aussehen können, wäre der Boden nicht von dunkelroten Blutspuren bedeckt. Kurz versuchte Darlia, die Situation einzuschätzen und entschloss sich schließlich dazu, ein Nickerchen zu machen. Wenn sie den regnerischen tag nutzte, um etwas Kraft zu tanken, würde sie schneller weiterziehen können, sobald der Regen aufhörte. Außerdem war es an jedem Ort mit einem Risiko verbunden, zu schlafen – da war sie hier in diesem Haus vielleicht noch am ehesten in Sicherheit.

Eigentlich hatte sie nur kurz die Augen schließen wollen, doch als sie sie jetzt wieder öffnete, fielen helle Sonnenstrahlen durch das Fenster. Der Regen hatte aufgehört, und so wolkenlos wie der Himmel war, schon seit mehreren Stunden.

Darlia setzte sich auf und fuhr sich durch die Haare, dann band sie ihren Zopf neu, der durch ihren unruhigen Schlaf außer Form geraten war. Sie holte ihren Rucksack unter dem Sofa hervor und trank wieder einen Schluck Wasser, denn ihr Mund war ausgetrocknet und ihre Zunge fühlte sich pelzig an. Die Mittagssonne war heiß und brannte auf sie herab, als sie ans Fenster trat. Ihre Kleidung war noch immer etwas klamm, doch sie war sich sicher, dass sich das ändern würde, sobald sie nach draußen an die frische und warme Sommerluft treten würde.

Sie hob den ebenfalls geblümten Vorhang an und wollte durchs Fenster hinaussteigen, als etwas sie zurückhielt. Vielleicht war es nur ein seltsames Gefühl, vielleicht der metallische Blutgeruch, der plötzlich in der Luft lag und durch eine Windböe zu ihr herübergetragen wurde, doch als sie aufsah, konnte sie in einigen Metern Entfernung eine Gestalt erkennen. Sie lief etwas gebückt und ließ die Schultern hängen, schien etwas zu suchen und bewegte sich seltsam. Nicht taumelnd oder kriechend, noch immer wie ein Mensch, aber auf eine andere Art und Weise, die Darlia nicht zu beschreiben vermochte.

Noch war Darlia selbst nicht entdeckt worden und instinktiv duckte sie sich unter das Fenster, so dass nur noch ihre zu Schlitzen verzogenen, dunklen Augen über den Fensterrahmen blickten.

Schließlich verschwand die Gestalt um das Haus und Darlia war froh, dass die Tür, die ins Wohnzimmer führte, von innen verbarrikadiert war. Sie lehnte sich aus dem Fenster, um nachzusehen, ob das seltsame Wesen, das Darlia für einen Infizierten hielt, wirklich verschwunden war oder ob ihm vielleicht noch weitere folgten, doch die Luft schien rein zu sein.

Plötzlich hörte Darlia hinter sich an der Tür ein lautes Scharren und fuhr herum. Dann folgte ein Schlag gegen das Holz der Tür und die Türklinke bewegte sich auf und ab, doch niemand trat ein, denn die Tür ließ sich durch das Bücherregal nicht bewegen und wer immer dahinter stand war nicht stark genug, um es zur Seite zu schieben.

War sie etwa doch entdeckt worden? Hatte der Infizierte den Eingang ins Haus gefunden und vermutete nun richtig, dass sich jemand hinter der Tür befand? Hatte er sie vielleicht sogar gerochen?

Darlia hatte so viele Filme über Zombies gesehen, dass sie nach dem Ausbruch dieser Krankheit fast alles für möglich hielt, auch wenn sich bisher nie jemand getraut hatte, das Wort als solches auszusprechen. Immer war von „Kranken“ oder „Infizierten“ die Rede gewesen, doch Darlia wusste es besser. Wenn eine Krankheit Teile des Gehirns so zerfraß, dass die Betroffenen jedes Gespürt für Reue und Moral verloren, und ihr Hunger so groß wurde, dass sie sogar Menschen fraßen, dann handelte es sich ihrer Meinung nach eindeutig um Zombies.

In ihrer Angst war Darlia nicht in der Lage, sich zu bewegen, obwohl sie nur durch das Fenster springen und weglaufen müsste, doch daran dachte sie nicht. Sie suchte nach etwas, um sich zu verteidigen, doch da war nichts, was ihr als Waffe dienen konnte.

Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein Fuß drängte sich hinein. Der Fuß steckte in dreckigen, abgenutzten Turnschuhen und jemand versuchte weiterhin, die Tür zu öffnen. Darlia wich zurück, bis sie das Fensterbrett im Rücken spürte.

Der Fuß versuchte, die Tür aufzustemmen und eine dunkle Jeans kam zum Vorschein, als sich jemand mit dem Knie in die Tür schob und versuchte, hineinzukommen. Das Bücherregal verrutschte etwas nach vorne und die Tür ging so weit auf, dass sich der Eindringling hineinschieben konnte.

Es war ein Mädchen in Darlias Alter mit dunklen Locken, vielleicht auch etwas jünger oder älter. Sie hatte so lange nichts mehr mit Menschen zu tun gehabt, dass es ihr merkwürdig schwer fiel, diese einzuschätzen.

Ohne sich für Darlia zu interessieren wandte sich das Mädchen um und stemmte sich gegen die Tür, dann schob sie das Bücherregal wieder davor. Darlia stand wie angewurzelt da und sah ihr dabei zu.

Einen Moment lang war es ganz still und das Mädchen schien zu lauschen, dann atmete sie tief durch und drehte sich zu Darlia um. Erst jetzt schien sie sie gesehen zu haben, denn sie erstarrte erschrocken und wich einen Schritt zurück.

Darlia hob abwehrend die Hände, aus Angst, das Mädchen könnte sie angreifen, doch dieses blieb mit dem Rücken zur Tür stehen und starrte sie auf dieselbe Art und Weise an. Ein paar Augenblicke lang blieben sie so stehen und es kam Darlia vor wie eine Ewigkeit, bis sie schließlich die Hände sinken ließ und sich etwas entspannte. Das Mädchen hatte nicht vor, ihr etwas zu tun.

„Ich tu dir nichts“, teilte Darlia ihr mit und auch das Mädchen entspannte sich etwas. Zuvor hatte das Mädchen ängstlich gewirkt, jetzt nur noch erleichtert und Darlia fragte sich, ob sie jetzt vielleicht eine Mitstreiterin gefunden hatte. Allein durch die Stadt zu ziehen erschien ihr als gefährlich und so konnten sie vielleicht sogar abwechselnd schlafen und mussten nicht in der ständigen Angst leben, während des Schlafs angegriffen zu werden.

Darlia wusste natürlich, das sie viel zu weit dachte, denn noch kannte sie nicht einmal den Namen des Mädchens und dieses hatte sich auch noch keine Mühe gemacht, mit Darlia zu reden. Sie beäugte sie noch immer misstrauisch, doch nicht mehr in der Abwehrhaltung, die sie noch vorher innegehabt hatte.

Darlia fragte sich, ob das Mädchen nicht vielleicht doch infiziert war, denn sie hatte gehört, dass diese nach und nach die Fähigkeit zu sprechen verloren und sie wich wieder etwas zurück.

Das Mädchen musterte sie noch immer von oben bis unten. „Du hast einen Rucksack“, stellte sie dann fest.

Darlia nickte. Das Mädchen hatte nichts dabei, auch sie trug nur eine Jeans, die schon einiges mitgemacht hatte, und ein dunkles T-Shirt. Sie besaß nicht einmal eine Jacke, geschweige denn schien sie eine Tasche zu haben, in der sie möglicherweise Waffen mit sich führen konnte, also schloss Darlia aus, dass sie eine Gefahr für sie darstellen würde. Seit es nur noch ums nackte Überleben ging, kam es nicht selten vor, dass sich auf gesunde Menschen gegenseitig umbrachten, um an die Ausrüstung der anderen zu kommen. Dieses Mädchen hier schien jedoch nicht so zu sein und wenn, dann würde es wahrscheinlich den Kürzeren ziehen, denn Darlia war etwas größer als sie und war sich sicher, dass sie im Notfall schneller weg wäre, als ihr Gegenüber.

„Ich heiße Darlia“, stellte sie sich vor und das Mädchen zuckte mit den Schultern. „Hast du Durst?“, wollte Darlia wissen, als das Mädchen sich nicht selbst vorstellte. Das Mädchen schüttelte den Kopf, doch Darlia wusste, dass sie log. Ihre Augen funkelten entschlossen, doch etwas in ihnen verriet Darlia, dass sie in Wirklichkeit verunsichert war und wahrscheinlich schon lange Zeit weder getrunken noch gegessen hatte.

Daher nahm Darlia den Rucksack ab und stellte die Wasserflasche neben sich auf den Tisch. Zwei Äpfel legte sie daneben. „Bedien dich“, bot sie dem Mädchen an.

„Ich hab keinen Durst“, wiederholte das Mädchen jetzt laut. Darlia warf ihr einen Apfel entgegen, den sie geschickt mit einer Hand fing. Sie drehte ihn in ihren Händen, obwohl er kaum groß genug war, eine einzige Hand zu füllen und wischte darüber, doch als sie sich sicher war, dass mit ihm alles in Ordnung war, biss sie gierig hinein. Sie saugte den Saft aus dem Apfel, so gierig, wie sich ein ausgehungerter Wolf über ein frisch gerissenes Reh hermachen würde.

„Willst du mir deinen Namen verraten?“, fragte Darlia sie und das Mädchen war den Apfel weg, als nichts mehr als das Kerngehäuse davon übrig war. „April Wilkinson“, stellte sie sich ebenfalls vor und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Herausfordernd sah sie Darlia an. „Was ist?“, fragte diese.

„Sag‘s schon“, forderte April sie auf.

Darlia schüttelte verständnislos den Kopf, doch April schien ihr nicht zu glauben.

„Wilkinson“, wiederholte sie. „Der Name war oft genug in den Nachrichten.“

Darlia kramte in ihrem Gedächtnis, doch es kam ihr so vor, als hätte sie seit Jahren keine Nachrichten mehr gesehen. Dann jedoch erinnerte sie sich an etwas.

„Mein Vater war Joseph Wilkinson“, teilte April ihr mit und fegte Darlias letzte Unsicherheit über ihre Identität hinfort.

„Dein Vater war der Wissenschaftler, der den Virus entdeckt hat“, stellte sie fest und April nickte.

„Und was hat das mit dir zu tun?“, wollte sie wissen. April zuckte mit den Schultern und griff mit einem plötzlich aufgetretenem Selbstbewusstsein nach der Wasserflasche. „Keine Ahnung. Ist ja nicht so, als wäre es meine Schuld, dass diese Zombies existieren“, stimmte sie Darlia zu. „Trotzdem sind einige dieser Meinung.“

Sie trank einige große Schlucke, während Darlia überrascht die Augenbrauen hob. „Warum?“, fragte sie. April zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht glauben sie, es wäre besser gewesen, wenn niemand von dem Virus erfahren hätte. Als ob es dann nicht existiert hätte“, sagte sie, als sie die Flasche abgesetzt und Darlia zurückgegeben hatte.

„Hast du schon viele Menschen hier gesehen?“, fragte Darlia und verpackte die Flasche wieder in ihrem Rucksack. Gut die Hälfte war schon leer.

April zuckte mit den Schultern. „Früher schon“, erzählte sie. „Mein Vater war einer der ersten, der mit mir und meiner Mutter geflohen ist, als er merkte, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Da waren noch viele Menschen auf den Straßen. Jetzt eher nicht mehr.“

„Wo sind dein Vater und dein Mutter?“, wollte Darlia wissen. April zuckte nur mit den Schultern. „Wo sollen sie schon sein?“, fragte sie zurück. Darlia fragte nicht weiter.

„Was hast du sonst noch dabei?“, wollte April von Darlia wissen. Darlia packte ihren Rucksack aus. Darin befanden sich die Mullbinde, und die beiden Pflasterpackungen, Schmerztabletten und die Tabletten um Wasser zu reinigen, noch ein paar Äpfel, eine leere Wasserflasche, die Darlia in eine Ecke des Raumes warf, um wieder Platz im Rucksack zu schaffen und die dünnen Handschuhe, die sie zusammengerollt und in eine Ecke unten im Rucksack gesteckt hatte. Die Regenjacke hing noch immer um ihre Hüften.

„Und du?“, forderte Darlia April auf, ihre Taschen ebenfalls zu leeren. Alles, was diese jedoch zu Tage förderte, waren ein paar Münzen und ein Schlüsselbund.

„Alle Lebensmittel habe ich sofort verbraucht. Ich habe ja eh keinen Rucksack“, rechtfertigte April sich, obwohl Darlia ihr keinen Vorwurf gemacht hatte. Stattdessen zuckte sie mit den Schultern.

„Macht ja nichts, dann müssen wir uns eben zu zweit auf Nahrungssuche machen“, schlug sie vor. April musterte sie, während Darlia sich auf den Boden kniete und ihre Vorräte wieder einpackt. 

„Wir zusammen?“

Darlia sah auf und zuckte die Schultern. „Nur wenn du willst“, fügte sie hinzu. April zuckte mit den Schultern und nickte dann. „M-hm“, sagte sie zustimmend und Darlia schulterte wieder den Rucksack. „Dann lass uns gehen“, sagte sie zu April. Sie schlichen bis zum Fenster und Darlia sah hinaus. Sie waren wieder allein, es war totenstill und nur der Wind heulte durch die Straßen.

April stand neben ihr und tippte vorsichtig gegen das Glas, das zum Großteil aus dem Rahmen gebrochen war, doch ein paar Splitter hingen noch darin.

„Pass auf, dass du dich nicht verletzt“, warnte Darlia das Mädchen, als sie aus dem Fenster kletterte und im trockenen Gras landete. April folgte ihr und landete leichtfüßig neben ihr im Gras.

„Los geht’s“, sagte Darlia mit belegter Stimme und so leise sie konnten rannten sie durchs Gras, immer darauf gefasst, entdeckt zu werden, doch sie waren und blieben allein.

 

Kapitel 3: Der erste Angriff

Unbehelligt waren sie durch zwei kleinere Städte gezogen und hatten dort das ein oder andere Haus durchsucht, doch nichts gefunden, was der Rede wert war. Für am Wichtigsten hielt Darlia es, dass auch April bald einen Rucksack bekam, denn sie würde auf Dauer nicht das Gepäck für zwei tragen können, zumal April ohne irgendetwas in der Hand dastehen würde, wenn sie sich verloren und Darlia durch das Gewicht des Gepäcks langsamer war als April.

Zwar bot April an, sich mit dem ragen des Rucksacks abzuwechseln, doch Darlia lehnte ab. Sie wollte ihr Hab und Gut bei sich tragen, um im Notfall schnell verschwinden zu können.

Über April hatte sie kaum etwas herausgefunden, denn das Mädchen schien nicht gerne über sich selbst und noch weniger gerne über ihre Familie zu sprechen.

Alles, was Darlia aus ihr herausbekommen konnte, war ihr Alter. Sie war sechzehn und damit ein Jahr jünger, als Darlia selbst. Vielleicht kam es Darlia nur so vor, doch seit sie zusammen unterwegs waren, hatte sie immer das Gefühl, April würde den Ton angeben. Hätte sie ihr Alter nicht gewusst, hätte sie sie nun älter als sich selbst eingeschätzt, zumindest reifer. Mit April zusammen fühlte sie sich gleich viel sicherer. Wann immer sie eines der leer stehenden Häuser durchsuchten, hielt einer von ihnen Wache, während der andere die Zimmer durchkämmte. Sie schliefen abwechselnd und teilten ihre Vorräte miteinander, obwohl es nicht viel war.

Sie mieden jetzt die befestigten Straßen, denn jetzt waren sie in einer der größeren Städte angekommen und vor allem im Morgengrauen hatten sie immer wieder seltsame Gestalten am Horizont erblickt, bei deren Anblick sie sich sofort versteckt hatten. Da sie beide keine Waffen und keine Erfahrung im Kampf hatten, fürchteten sie sich vor allem vor Infizierten, fast noch mehr jedoch vor Plünderern, die hier zu Hauf unterwegs waren. Dies zeigten die teilweise aufgebrochenen Türen, zerwühlten Schränke, die ein Infizierter wohl kaum geöffnet hätte.

Es war spät am Abend, obwohl es noch nicht dunkel war, denn die Tage waren im Hochsommer hier so lang, dass die Nacht nur wenige Stunden dauerte, als sie in einem leer stehenden Haus Schutz suchten. Die meisten Türen waren von innen blockiert oder abgeschlossen, also gingen sie in eines der wenigen, welches nicht versperrt war: Die Küche.

Darlia legte den Rucksack ab, ihr Rücken war verschwitzt und sie war froh, nicht mehr das Gewicht auf ihren Schultern spüren zu müssen. April hatte bereits den Kühlschrank unter die Lupe genommen, doch auch hier hatten sie wieder kein Glück.

Auch in dieser Stadt gab es keinen Strom mehr, und das schien schon die letzten Wochen so gewesen zu sein. Die Lebensmittel hatten der Sommerhitze nicht lange standgehalten. Ein widerlicher Geruch schlug ihnen entgegen, als April den Kühlschrank öffnete. Mit den Fingerspitzen durchsuchte sie pikiert die Reste, doch es war nichts mehr übrig, was nicht verschimmelt oder anderweitig verdorben war.

„Wieder kein Abendessen“, seufzte Darlia und setzte sich. April schnaubte und lief auf und ab.

„Wir können nicht länger ohne Essen reisen“, erklärte sie Darlia und verschränkte die Arme. „Ich habe Hunger und wir werden immer schwächer. Morgen wird ein harter Tag und wir müssen gestärkt sein, sonst kommen wir nich mehr weit.“

„Wo wollen wir überhaupt hin?“, fragte Darlia und gähnte. April schnaubte erneut, auch wenn es sich dieses Mal eher nach einem Grunzen anhörte. Ohne zu antworten griff sie nach einem Besen, der in der Ecke stand und trennte den Stiel vom Rest.

„Was machst du da?“, fragte Darlia, als April die improvisierte Waffe schwang.

„Ich geh auf Nahrungssuche“, antwortete sie grimmig und zog den Stock hinter sich her. Sie verließ das Zimmer und Darlia folgte ihr unsicher. Ihren Rucksack ließ sie zurück, während April zielstrebig voranschritt.

Da sie dieses Haus schon durchkämmt hatten, machte sich April in den Nachbarhäusern auf die Suche. Als sie merkte, dass Darlia ihr dabei keine große Hilfe war, drückte sie ihr den Stock in die Hand. „Du stehst schmiere, und wenn jemand kommt, dann …“ Sie dachte nach. „Dann warnst du mich“, fügte sie hinzu und klopfte Darlia auf den Rücken. Darlia wollte widersprechen, doch April war bereits durch eine öffnete Tür in ein anderes Zimmer verschwunden. Darlia blieb in der Eingangstür stehen und ließ ihren Blick über die weite Landschaft streifen.

Die Häuser standen dicht an dicht, ein dunkelgrauer Asphaltstreifen war das einzige, was das Bild von dreckigen Hauswänden und roten Ziegeldächern unterbrach. Wenn Darlia hier einen Angreifer erkannte, so würde sie ihn nur in letzter Sekunde sehen.

Erschrocken fuhr sie herum, als hinter ihr etwas zu Boden krachte. April fluchte und Darlia wollte einen Schritt ins Innere des Hauses machen, doch sie hörte April kramen und war sich sicher, dass April ihr sagen würde, wenn sie ihre Hilfe benötigte, also bleib sie am Eingang stehen.

Die Häuser gegenüber von ihr waren hoch und warfen einen langen Schatten auf den Asphalt vor ihr und Darlia lehnte sich in den Türrahmen, um ihre müden Beine zu entlasten und trotzdem hinaussehen zu können.

Sie blinzelte müde, doch die Müdigkeit verflog sofort, als sie gegenüber von ihr im Schatten eines Hochhauses eine Bewegung wahrnahm.

„April?“, flüsterte sie leise, doch diese hörte sie nicht. Der Schatten gegenüber verschwand zwischen zwei Häusern und Darlia atmete auf. Sie sah ins Haus hinein und fragte sich, wo April sich gerade aufhielt. Um nachzusehen, verließ sie ihren Posten. Ein Rascheln verriet April. Sie hatte sich in der Küche über einige Vorratsschränke hergemacht. In ihrem Mund steckte eine Scheibe Knäckebrot und in ihren Armen hatte sie mehrere Konservendosen gestapelt. Als sie mich kommen hörte, fuhr sie überrascht zu mir herum. Mit dem Kopf wies sie mich an, mich ebenfalls aus dem Schrank zu bedienen. Das ließ ich mir nicht zwei Mal sagen. Die Knäckebrotpackung war noch halb voll und ich bediente mich gleich mit mehreren Scheiben. Mein Magen knurrte auffordernd, als ich mir die Brotscheiben in den Mund stopfte und April dann beim Tragen der Konservendosen half.

Als Darlia und April das Haus wieder verlassen wollten, sah Darlia in unmittelbarer Entfernung, kaum zehn Meter von ihnen entfernt auf der anderen Straßenseite eine Gestalt, die sie zuerst für einen Plünderer gehalten hatte, bei genauem hinsehen jedoch erkannte sie die zerrissene und blutige Kleidung, und roch den fauligen Gestank, der von dem Infizierten ausging. Noch waren sie nicht entdeckt und Darlia blieb wie angewurzelt stehen.

Sie erstarrte, als April hinter ihr die Gestalt ebenfalls erkannte und vor Schreck die Konservendosen fallen ließ. Jetzt waren sie nicht länger unentdeckt, denn der Kopf des Infizierten fuhr hoch und zu ihnen herum, der kalte, hungrige Blick des Mannes traf die beiden und einen Moment erstarrten alle drei.

Dann begann April zu schreien.

Darlia schob sie zurück, als der Infizierte auf sie zugerannt kam und Darlia schlug die Tür zu. Eine Sekunde überlegte sie, ob sie fliehen sollten, doch sie wusste nicht, wohin, also stemmte sie sich stattdessen gegen die Tür.

Sie spürte einen heftigen Schlag gegen das Holz und wusste, dass ihr Gegner direkt hinter der Tür war. Eine Flucht war jetzt unmöglich. „Hilf mir!“, schrie Darlia April an, als diese sich wieder beruhigt hatte und sie stemmten sich zu zweit gegen das starke Holz der Tür, in der Hoffnung, ihr Angreifer könnte von ihnen ablassen und ein neues Ziel finden, auch wenn sie beide wussten, dass die Chance gering war.

Mit jedem Schlag gab die Tür ein weiteres Stück nach und Darlia sah, wie langsam die Scharniere der Tür brachen. Plötzlich hörten sie einen Schuss und als Darlia an der Tür herabsah, sah sie direkt neben sich ein kleines Einschussloch. Der Druck hinter der Tür verschwand und April und Darlia sahen sich an, unsicher, ob sie von der Tür zurücktreten und sich zeigen sollten.

Die Entscheidung wurde ihnen abgenommen, denn als sie ein Stück zurücktraten wurde die Tür aufgestoßen und ein junger Mann mit dunkler Haut und einem Gewehr im Anschlag stand im Türrahmen. Instinktiv hoben beide Mädchen die Hände, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet waren.

„Gib mir deinen Rucksack“, befahl der junge Mann Darlia und zeigte mit dem Gewehr auf den Beutel auf ihrem Rücken. „Aber langsam.“

Vorsichtig ließ Darlia ihre Hände sinken und reichte dem Mann den Rucksack. Außer dem Gewehr hingen an seinem Gürtel mehrere Magazine und er trug eine schusssichere Weste, obwohl Darlia sich fragte, wo er diese herbekommen hatte. Darunter kam ein dunkelgrünes Shirt zum Vorschein, das teilweise blutbefleckt war, doch Darlia konnte nicht feststellen, ob das Blut von ihm oder von jemand anderem war. Er trug ebenfalls einen Rucksack, aber einen etwas größeren, als Darlia, dunkelgrün mit Tarnmuster, welches mit Sicherheit praktischer war als das hellblau von Darlias Rucksack.

„Das war mein vorletztes Magazin“, sagte der Mann, als er den Rucksack an sich nahm. „Ich hoffe, es hat sich gelohnt.“

„Wir haben fast nichts“, teilte Darlia ihm mit.

„Ich will nur schauen, ob ihr Waffen habt“, entgegnete der Mann und fuhr sich mit einer Hand durch die kurzen, schwarzen Locken, bevor er den Rucksack öffnete und darin herumkramte.

„Wir haben keine Waffen“, beteuerte April. „Wir haben ja kaum essen.“

Der Mann hatte die Mullbinden und Schmerztabletten gefunden und sie aus dem Rucksack gezogen, dann warf er April den Rucksack zu.

„Die nehm ich an mich“, teilte er den beiden mit, wies auf die Tabletten und Verbände und nahm seinen eigenen Rucksack ab. Er bewegte sich vorsichtig, als hätte er Schmerzen. Vielleicht war das Blut tatsächlich von ihm.

„Wir könnten zusammen weiterreisen“, schlug Darlia vor, doch der junge Mann lachte und zeigte eine Reihe schimmernd weißer Zähne, die sich von seiner dunklen Haut abhoben. „Was habe ich davon, mit zwei Kindern weiterzureisen?“, fragte er sie.

„Wir sind keine Kinder“, empörte Darlia sich, doch April, die jetzt ebenfalls die Händen hatte sinken lassen, brachte sie mit einer Handgeste zum Schweigen.

„Wir könnten dir helfen“, meinte sie.

„Ich brauch keine Hilfe“, entgegnete der Mann und drückte eine Schmerztablette aus der Schachtel in seine Hand.

„Du bist verletzt“, stellte April fest und wies auf das Blut auf seinem Shirt. „Ich kann dir helfen.“

„Ich brauche keine Hilfe“, wiederholte der Mann mit Nachdruck und schluckte die Schmerztablette trocken. Er ließ erst jetzt das Gewehr sinken und verzog das Gesicht, schluckte noch einmal trocken und April reichte ihm ihre Wasserflasche.

„Du musst viel trinken“, befahl sie ihm.

Wütend schlug der Mann ihre Hand weg, sodass April fast die Wasserflasche aus der Hand gefallen wäre. Dann keuchte er vor Schmerz auf und presste seine Hand auf seine Seite. „Ich brauche deine Hilfe nicht, Kleine“, knurrte er und schulterte sein Gewehr, zum Abmarsch bereit.

„Wenn du da rausgehst, wirst du verbluten“, behauptete April und verschränkte die Arme.

„Die Wunde blutet schon seit zwei Tagen nicht mehr“, entgegnete der Mann.

„Dann wird sie sich entzünden und du wirst sterben“, erklärte April ihm.

Der Mann knurrte wieder, blieb jedoch stehen setzte sein Gewehr wieder ab. „Und was willst du dagegen tun?“, fragte er April.

„Ich kann die Wunde versorgen und das Fieber behandeln, wenn sie sich entzündet.“

„Und was ist der Haken an der Geschichte?“

April schüttelte den Kopf.

„Es gibt keinen“, antwortete sie. Der Mann lachte.

„Es gibt immer einen“, behauptete er. „Und ihr beiden seid Lügner, das sehe ich euch an.“

„Lügner, die dir das Leben retten könnten“, behauptete April.

„Wieso willst du mir helfen?“, fragte der Mann misstrauisch. April zuckte mit den Schultern.

„Ich bin einfach ein netter Mensch“, antwortete sie. „Außerdem sind wir allein und unbewaffnet und du …“

„Daher weht der Wind“, knurrte der Mann, doch das Gewehr ließ er unten. Er hatte es neben sich abgestellt und musterte die beiden.

Jetzt hob er es wieder an, warf es sich über die Schultern und wies mit dem Kopf ins Haus. „Na los, ich werde nicht ewig bei euch bleiben. Sobald die Wunde heilt, seid ihr wieder auf euch allein gestellt.“

Darlia warf April einen überraschten Blick zu. Sie hätte sie weder als Ärztin eingeschätzt, noch als Diplomatin, die in der Lage war, ihnen nicht nur Waffen zu besorgen, sondern auch einen Beschützer, der damit umgehen konnte.

Eine Treppe führte in ein Stockwerk weiter oben und Darlia folgte April und dem jungen Mann nach oben. Im oberen Stockwerk trat der Mann die Tür zu einem Schlafzimmer ein und April und der Mann ließen sich auf einem Bett nieder.

„Gibt mir das Gewehr“, sagte April und streckte die Hand danach aus. Der Mann zögerte und schüttelte schließlich den Kopf. „Gib es schon her“, forderte April ihn auf. „Du musst mir jetzt einfach vertrauen. Ich könnte dich auch anders töten, wenn ich wollte.“

Darlia wusste nicht, ob sie April das glauben konnte, doch der Mann wusste es scheinbar auch nicht. Schließlich überwogen seine Zweifel und er reichte April das Gewehr, dann zog er auch die schusssichere Weste und das Shirt aus.

April reichte Darlia alles und diese verstaute ihr Gepäck und das des Fremden auf Aprils Befehl hin unter einem Bett. Auch den größeren Rucksack des Mannes hatte dieser Darlia ausgehändigt und sie schob ihn ebenfalls unter das Bett.

April untersuchte währenddessen vorsichtig die Wunde.

„Woher stammt die Verletzung?“, wollte sie wissen.

„Man hat leider auf mich geschossen“, knurrte der Mann und beobachtete jeden von Aprils Handgriffen.

„Nur ein Streifschuss“, stellte April fest und wusch die Wunde mit etwas Wasser aus. „Wie heißt du?“, fragte sie währenddessen.

„Was interessiert dich das?“, gab der Angesprochene grob zurück.

„War nur aus Interesse. Außerdem wollte ich deinen Bewusstseinszustand prüfen“, fügte April sich rechtfertigend hinzu.

„Ich bin bei Bewusstsein, mehr musst du nicht wissen.“

„Na schön“, meinte sie und tupfte die Wunde trocken. „Wie Wunde ist entzündet“, teilte sie dem Mann mit. Dieser brummte etwas und April ließ sich von mir Mullbinden reichen, die sie mit einem Messer, welches Darlia im Rucksack des Fremden gefunden hatte, in kleine Stücke schnitt und als Kompressen verwendete. Mit dem Pflaster klebte sie die Kompressen anschließend auf die Wunde.

Dann nahm sie die Schmerztabletten an sich.

„Morgen früh bekommst du noch eine, außer, du solltest heute Nacht Fieber bekommen“, erklärte sie ihm.

„Ist mir egal“, entgegnete der Mann bissig und Darlia wusste nicht, was genau der Fremde damit meinte, denn scheinbar war er ohnehin gegen alles.

In dem Zimmer standen zwei Betten, es schien sich um ein Kinderzimmer gehandelt zu haben, denn die Betten waren mit Pferdebettbezügen bezogen und an den Wänden klebten Poster.

Ein einem der Betten lag der Fremde und April wies nun Darlia an, es sich auf dem anderen bequem zu machen. „Ich halte Wache und wecke dich in ein paar Stunden“, sagte sie und Darlia war einverstanden.

Irgendwie fühlte sie sich seltsam, als es draußen langsam dunkel wurde und sie die bedrohlichen Geräusche um sich herum wahrnahm, doch das Gewehr und ein frisches Magazin lagen direkt unter ihrem Bett griffbereit, so gelang es ihr, die Stunden tief zu schlafen, bis April sie weckte, um sie bei der Wache abzulösen.

 

 

Kapitel 4: Ein neuer Morgen

Darlia wurde durch die leichten Sonnenstrahlen geweckt, die durch eine der dreckigen Fensterscheiben fielen. Sie blinzelte und merkte erstaunt, dass sie eingeschlafen war. Sie hätte Wache halten sollen. April und der junge Mann schliefen noch beide. Sie lagen jeder auf einem der Betten, zugedeckt mit den dünnen Decken mit Pferdebezügen, während Darlia auf dem Boden mit dem Rücken an die Wand gelehnt saß.

Es musste noch sehr früh sein, doch jetzt fühlte Darlia sich wach und stand auf. Sie streckte sich und sah sich in dem Zimmer um, in dem sie sich befand.

Draußen war es still und der Himmel erstaunlich klar und wolkenlos. Ein großes Fabrikgebäude stand gegenüber von ihnen und der große Schornstein ragte hoch in die Luft, stieß jedoch schon lange keinen Rauch mehr aus. Da sie sich hier in einem ehemaligen Industriegebiet befanden, war es kein Wunder, dass dieses Haus so schmucklos gestaltet war und die vergangenen Wochen hatten dem Anblick des Hauses nicht unbedingt zugetragen.

Darlia öffnete die Tür des Kinderzimmers und ging die Treppe herunter. Das Haus bestand aus zwei Stockwerken, im oberen befanden sich lediglich die Schlafzimmer, von denen jedoch nur zwei begehbar waren. Bei dem anderen war die Tür aus den Angeln gerissen und hatte sich im Türrahmen verkantet, sodass man zwar ins Zimmer sehen, es jedoch nicht betreten konnte.

Unten gab es ein kleines Wohnzimmer, an das ein Esszimmer und eine Küche angrenzten. Darlia bediente sich aus einem Vorratsschrank, in dem sechs kleine Wasserflaschen standen. Eine davon nahm sie und trank sie fast ganz leer, drei weitere nahm sie mit nach oben. Die anderen Schränke waren bereits am Vorabend von April geplündert worden, sodass Darlia dort nichts essbares mehr fand.

Mit den drei Wasserflaschen in den Händen ging sie wieder hoch ins Schlafzimmer, wo April bereits erwacht war. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte Darlia, dass auch Aprils Patient schon wach war und sich ein intensives Blickduell mit ihr leistete. Ob sie diskutiert oder sogar gestritten hatten, wusste Darlia nicht, auch nicht, worum es ging und sie wollte sich nicht einmischen. Stattdessen warf sie die Trinkflaschen auf das Bett und zog somit die Aufmerksamkeit der beiden auf sich.

„Die hab ich unten gefunden und gedacht, ihr hättet vielleicht Durst“, teilte sie ihnen mit und setzte sich auf ein Bett. Der junge Mann setzte sich auf und griff nach der Flasche, doch er bewegte sich noch immer vorsichtig.

„Wolltest du nicht Wache halten?“, hielt er Darlia vor.

„Habe ich, Klugscheißer“, entgegnete diese und zog die Beine aufs Bett, um ihre nackten Füße unter der Decke zu vergraben. „Dann habe ich Durst bekommen und gedacht, ich suche nach Frühstück.“

„Als ich heute Nacht aufgewacht bin, hast du tief und fest geschlafen“, behauptete der Andere, nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte.

Darlia schnaubte abfällig, wollte es leugnen, wusste dann jedoch, dass es keinen Zweck hatte und trank ebenfalls einen Schluck, ohne etwas zu erwidern. „Verrätst du uns vielleicht jetzt deinen Namen?“, fragte Darlia, als April aufgestanden war und dem jungen Mann noch eine Schmerztablette reichte.

Dieser schluckte sie mit einem Schluck Wasser und sah dann zu Darlia. Seine dunklen Augen musterten sie argwöhnisch, seine dunkle Haut glänzte, denn auf seiner Stirn sammelten sich Schweißtropfen. Er schien noch Fieber zu haben.

„Warum willst du das wissen?“, fragte er sie.

„Weil ich dich nicht immer mit „Du da“ ansprechen will“, konterte sie und lehnte ihren Kopf gegen die Wand. „Was haben Namen jetzt außerdem für eine Bedeutung? Glaubst du, du wirst im Nachhinein vielleicht dafür belangt, dass du Menschen erschossen hast? Ich glaube kaum, dass es ein Nachhinein geben wird.“

Der junge Mann schwieg, sah ins Leere, trank noch einen Schluck und antwortete dann: „Gregory. Gregory Johnson.“

Dann sah er zu Darlia. „Willst du sonst noch was wissen? Meine Blutgruppe vielleicht?“

Darlia schnaubte, beleidigt darüber, dass Gregory sie so neugierig darstellte. Schließlich war es doch nicht zu viel verlangt, den Namen ihres neuen Mitstreiters wissen zu wollen, oder?

Eine Weile lang saßen sie im Zimmer, immer damit beschäftigt, ihren Körper langsam mit Flüssigkeit wieder aufzufüllen.

Als ihre Flaschen leer waren, entschied Darlia sich dafür, die restlichen Wasserflaschen auch noch hoch in das Zimmer zu holen. Schließlich konnte es nicht schaden, wenn sie jetzt etwas Ruhe hatten und so viel tranken, wie sie zur Verfügung hatten.

Gregory hatte sie dauerhaft misstrauisch beobachtet, wenn sie sich in der Nähe ihres Gepäcks aufhielten. Als er jedoch gegen Mittag wieder zu schlafen begann, packte Darlia die Neugierde und sie nahm das Gewehr genauer unter die Lupe.

„Passt auf, nicht, dass es geladen ist“, warnte April sie und Darlia drehte den Lauf so von sich und den andere beiden weg, dass im Falle eines sich lösenden Schusses niemand getroffen wurde. Darlia fuhr mit ihren Fingern am Lauf entlang, betastete das kühle Metall. Die Kälte zeigte, dass schon länger kein Schuss mehr abgegeben wurde und Darlia legte das Gewehr an und zielte damit in den Raum.

Es überraschte sie, wie schwer es war, obwohl sie gewusst hatte, dass die Dinger ziemlich viel wogen. Ihr Vater war ein strikter Waffengegner gewesen, weshalb Darlia in ihrem Leben bisher nie eine Waffe in der Hand gehalten hatte. Es faszinierte sie und schreckte sie gleichzeitig ab, doch sie war froh, dass sie wenigstens nicht mehr vollkommen Schutzlos waren – zumindest solange, bis Gregory beschloss, sich alleine weiter durchzuschlagen oder sich sogar gegen sie stellte.

„Macht dir das Spaß?“, fragte April sie und schreckte sie damit aus ihren Gedanken. Schnell legte Darlia das Gewehr zur Seite.

„Nein“, behauptete sie und zog wieder die Beine aufs Bett.

April musterte sie aufmerksam und griff dann selbst nach dem Gewehr. Völlig furchtlos blickte sie direkt in den Lauf des Gewehrs und drehte es dann von sich weg.

„Könntest du jemanden töten?“, wollte sie dann von Darlia wissen.

Darlia zuckte mit den Schultern. „Wenn ich mich verteidigen müsste“, erklärte sie. „Einen Infizierten vielleicht. Keinen Menschen.“

„Wer sagt, dass es keine Menschen sind?“, fragte April sie. Darlia verstummte und zuckte mit den Schultern.

„Keine Ahnung“, gab sie zu. „Für mich jedenfalls …“

„Es sind immer noch Menschen“, behauptete April. „Der Hunger hat sie nicht unmenschlich gemacht. Mein Vater hat lange geforscht, aber …“ Sie brach ab und schwieg einen Moment.

„Was hat dein Vater über sie herausgefunden?“, fragte Darlia sie interessiert. Vielleicht gab es irgendeine Möglichkeit, den Virus aufzuhalten. April zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf.

„Kaum mehr, als bereits ohnehin in den Nachrichten gesagt wurde“, wehrte sie. „Der Virus verbreitet sich hauptsächlich über Blut und andere Körperflüssigkeiten. Er greift Areale im Gehirn an, die sie sämtliche Moralvorstellungen und Menschliche Züge verlieren lässt. letzten Endes bleibt nur eins übrig.“

„Hunger“, vollendete Darlia ihre Erklärung. Sie nickte. Genau so war es ihnen allen mitgeteilt worden, dennoch musste es irgendeine Möglichkeit geben, sie aufzuhalten.

„Was weißt du sonst noch über sie?“, fragte sie daher. April wehrte ab und stand auf. „Nichts“, behauptete sie bissig. „Es gibt nicht mehr über sie zu wissen.“
„Wie kann man sie aufhalten?“

„Warum muss ich das wissen?“, fragte April aufgebracht. „Mein Vater hat den Virus auch nur entdeckt. Reden deine Eltern etwa den ganzen Tag mit dir über ihre Arbeit?“

„meine Eltern sind tot“, erinnerte Darlia sie. April schien mit den Schultern zucken zu wollen, doch sie besann sich eines Besseren. Dennoch ging sie auf Darlia nicht mehr ein, vielleicht auch, weil diese übergangen hatte, dass auch April ihre Familie verloren hatte.

„Selbst wenn mein Vater es gewusst hätte“, begann April wieder, „so weiß ich es zumindest nicht. Und ich glaube nicht, dass es überhaupt jemand weiß.“

Sie war ans Fenster getreten und sah hinaus, beobachtete die Stadt und sah hinter das Industriegebiet auf die an die Stadt angrenzenden Felder. Sie schien beruhigt, also musste draußen alles ruhig sein.

„Vielleicht verhungern sie einfach eines Tages“, gab April zu bedenken. „Sie müssen auch essen, so wie wir.“

„Ist es dann nicht wahrscheinlicher, dass wir vor ihnen verhungern?“, fragte Darlia sie.

April zuckte mit den Schultern.

„Wahrscheinlich“, antwortete sie.

 

Kapitel 5: Neue Pläne

Es dauerte zwei Tage, bis April beschloss, dass Gregory in der Lage war, mit ihnen weiterzuziehen. Da sie jedoch sowohl die Mullbinden als auch die Schmerztabletten immer bei sich trug, band sie Gregory dadurch weiter an sie.

Dieser murrte zwar, schien sich jedoch langsam mit dem Gedanken anzufreunden, sich für seine Schmerzmittel noch weiter mit den beiden Mädchen abzugeben. Zu dritt schleifen sie mehr, als zu zweit, denn sie teilten die Nacht jetzt in drei unterschiedliche Wachen ein, doch sie kamen auch langsamer voran, da Gregory wegen der Wunde nicht allzu ausdauernd war und sie mehr Nahrungsmittel für sie drei besorgen mussten.

Es war mehr als Glück gewesen, dass Darlia in einem alten Fabrikgebäude eine Landkarte gefunden hatte. Somit konnten sie das erste Mal seit Langem mit Sicherheit feststellen, wo sie sich befanden. Somit planten sie auch ihre Routen etwas besser.

Darlia hatte zwar zu bedenken gegeben,  dass sich in großen Städten mehr Infizierte und auch mehr potentielle Plünderer aufhalten würden, doch sowohl April als auch Gregory waren von der Aussicht auf Nahrung und Ausrüstung geblendet, so dass sie die Gefahren nicht wahrhaben wollten. Schließlich stimmten sie ab und natürlich überstimmten die beiden Darlia.

Einen kurzen Moment fragte Darlia sich, ob sie sich nicht von den beiden trennen und ihren Weg allein weitergehen sollte, wenn sie glaubte, dass sie sich durch das betreten größerer Städte unnötig in Gefahr begaben, doch dann wägte sie die Risiken gegeneinander ab und beschloss, dass sie sicherer war, wenn sie mit den beiden weiterzog.

Gregory bestand darauf, sein Gepäck selbst zu tragen, weshalb sie zusätzlich langsamer waren. April las die Karte, während Darlia ihren Rucksack trug. Sie hatte Gregory auch angeboten, ihm das Gewehr abzunehmen – sie hatte ihm beim Tragen helfen wollen und auch, weil sie von dem Teil fasziniert war – doch alles, was sie erreicht hatte, war ein weiterer grimmgier Blick von ihm.

Aus diesem Grund mied Darlia die Konversation mit ihm, April hingegen redete munter mit beiden von ihnen. Während Darlia gerne mit dem jüngeren Mädchen sprach, gab Gregory auch ihr nur einsilbige Antworten.

Da es mittags nach wie vor sehr heiß wurde, nutzten sie nun häufig die heißen Mittagsstunden, um sich auszuruhen und wanderten dafür abends bis in die Dämmerung hinein. Während April die Mittagspause zum schlafen nutzte, waren Gregory und Darlia beide hellwach. Darlia konnte mittags nicht schlafen, so kam es, dass sie sich meist einige Stunden lang anschwiegen. Darlia beschäftigte sich mit Dingen aus ihrem Rucksack und mit der Zeit, als Gregorys misstrauische Blicke sie kalt ließen, griff sie immer wieder nach dem Gewehr und begutachtete es.

„Ich würde gerne mal damit schießen“, meinte sie eines Tages, als sie mit dem Gewehr in dem alten Fabrikgebäude herum zielte, in dem sie sich befanden. Daraufhin nahm Gregory es ihr aus der Hand.

„Ich glaub nicht, dass es dazu kommen wird“, meinte er und verstaute es grimmig neben seinem Rucksack.

„Warum nicht?“, fragte Darlia beleidigt. „Glaubst du, ich kann nicht schießen?“

„Ich glaube, dass dir die Übung fehlt“, widersprach Gregory. „Und die Munition ist zu wertvoll, um dich damit üben zu lassen. Im Notfall werde ich dich wohl kaum an das Gewehr lassen. Dann haben wir wohl alle andere Probleme.“

Darlia schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust, wusste jedoch, dass Gregory recht hatte.

„Wo hast du das überhaupt her?“, wollte das Mädchen wissen.

Gregory hatte seine Arme unter seinen Kopf geschoben und die Augen geschlossen, jetzt jedoch öffnete er sie wieder. „Habe den Safe meines Vaters aufgebrochen, bevor ich gegangen bin“, meinte Gregory emotionslos.

„War dein Vater Jäger?“, versuchte Darlia, ein Gespräch zu entwickeln.

„Waffennarr“, entgegnete Gregory kurz angebunden. „Es war nicht einzige, was er dort in seinem Safe hatte, aber ich konnte nur eins tragen.“

Darlia dachte an all die Gewehre, Pistolen und die Munition, die ungenutzt im Safe von Gregorys Vater verstauben würde, während sie hier zu dritt saßen, sich ein Gewehr und nur noch ein letztes Magazin Munition teilten und beschloss, von nun an die Häuser vor allem nach Waffen zu durchsuchen. Sie würde nicht wieder riskieren, schutz- und wehrlos durch die Städte streifen zu müssen, sollte Gregory sich von ihnen lossagen.

Darlia versuchte nicht noch einmal, ein Gespräch mit Gregory zu beginnen. Stattdessen ging sie zu ihrem Rucksack und zog die Karte heraus. Gregory würde wohl kaum ewig bei ihnen bleiben. Der junge Mann war ein Einzelgänger und sobald er wieder vollständig auf den Beinen war, würde er mit seinem Gewehr und der Munition verschwinden. Dann würden April und Darlia wieder allein sein. Ihre einzige Chance bestand darin, noch vor ihm mit der Waffe zu verschwinden.

April hatte eine Route geplant, in der sie innerhalb möglichst kurzer Zeit möglichst viele große Städte abklapperten – in der Hoffnung auf Nahrung, Wasser und vielleicht sogar neue Mitstreiter oder eine Basis, die für Überlebende errichtet worden war.

Darlia suchte sich jetzt eine neue heraus. Mit dem Finger fuhr sie über die Karte, überlegte sich, welche Richtung sie einschlagen sollte.

„Was machst du?“

Darlia fuhr herum. Ihr Verhalten musste Gregorys Misstrauen geweckt haben. Jetzt verzog sie wütend die Stirn und fauchte: „Unsere Route anschauen, was denn sonst?“

Gregor runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts. Stattdessen drehte er sich auf die Seite und sah von Darlia weg. Das Gewehr lag ganz dicht neben ihm, eine seiner Hände hatte er auf dem Lauf platziert, bewachte es wie einen Schatz. Darlia wusste, dass es nicht einfach werden würde, es ihm zu entwenden. Er war zwar verletzte, doch wenn Darlia ihn angreifen würde, würde er April wecken und diese würde sie aufhalten. Gregory schien nicht so, als wolle er einen Mittagsschlaf halten, also musste Darlia zu anderen Mitteln greifen.

Sie kramte in ihrem Rucksack, zog ihre Wasserflasche heraus und ließ dabei die Schmerztabletten herausfallen, als wäre es ein Versehen gewesen. Sie hob sie auf, doch Gregory sah gar nicht zu ihr. Trotzdem drehte Darlia sich von ihm weg und schirmte ihr Handeln durch ihren Rücken von ihm ab. Sie wusste, dass Schmerzmittel in höheren Dosen eine einschläfernde Wirkung hatte, also drückte sie jetzt mehrere Tabletten aus der Verpackung heraus und hielt sie in ihrer Hand versteckt.

„Hast du ein Feuerzeug?“, fragte Darlia Gregory und dieser wandte sich wieder zu ihr um. „Wofür?“, wollte er wissen.

„Ich hab Hunger und will Essen machen“, antwortete Darlia patzig.

Sie zog eine Konservendose aus ihrem Rucksack und öffnete sie mit einem Taschenmesser, welches sie aus Gregorys Rucksack gekramt hatte. Da dieser sie nicht davon abhielt. Zog sie jetzt auch noch eine Packung Streichhölzer heraus.

„Das sind die letzten“, teilte Gregory ihr mit, als sie die Packung öffnete und noch zwei Hölzchen darin fand.

Darlia stand auf und ging nach draußen, wo sie trockenes Gras und ein paar kleine Äste sammelte, die sie drinnen auf dem Boden des alten Gebäudes zu einem kleinen Lagerfeuer schichtete. Sie wusste, dass sie wohl kaum in der Lage war, mit zwei Streichhölzchen ein richtiges Feuer anzuzünden, doch sie spekulierte auf Gregorys Mithilfe. Und tatsächlich stand der junge Mann auf, als Darlia nach den Streichhölzchen griff.

„Ich mach das“, murmelte er und schob Darlia zur Seite. Mit einem einzigen Streichholz gelang es ihm, Darlias kleines Lagerfeuer zum Brennen zu bringen.

„Dose“, forderte Gregory sie kurz angebunden auf. Darlia reichte ihm die Konserve und Gregory platzierte sie in der Glut.

„Umrühren“, forderte er Darlia anschließend auf, obwohl diese nicht wusste, mit was sie das tun sollte. Schließlich nahm sie einen dünnen Stock, schälte die Rinde ab, bis nur noch das helle Holz zu sehen war, und rührte damit das Essen um. Als Gregory nicht hinsah, begann sie unauffällig, die Tabletten zu zerkleinern und ins Essen zu mischen.

Die dunkelrote Tomatensoße dampfte, als Darlia die Dose mit einem Stock aus der Asche zog und neben sich auf den Boden stellte. Zwar roch es verlockend, doch sie wusste, dass sie die Konserve mit den Medikamenten für sie selbst unbrauchbar gemacht hatte – jedenfalls wenn sie vorhatte, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Gregory lag ein paar Schritte von ihr entfernt auf dem Boden, die Augen geschlossen, doch schlafen tat er nicht. Als er merkte, dass Darlia sich erhob, öffnete er die Augen.

„Hier.“ Darlia schob vorsichtig die heiße Dose zu ihm. „Iss.“

„Was ist mit dir?“, fragte er schon wieder misstrauisch. Irgendetwas musste in seiner Vergangenheit vorgefallen sein, was es ihm unmöglich machte, anderen Menschen zu vertrauen. Dass er von Natur aus so misstrauisch war, hielt Darlia für unmöglich.

„Ich hab Hunger und esse nachher“, log Darlia und legte sich hin. Sie hatte keine Decke, doch die brauchte sie gar nicht. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Gregory sich tatsächlich n der Konservendose zu schaffen machte und schließlich genüsslich kaute.

Darlia schloss die Augen und stellte sich schlafend, als der junge Mann die Reste der Dose wieder in die Asche schob und sich ebenfalls hinlegte.

Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis das gleichmäßige Atmen neben ihr Darlia ankündigte, dass ihr Plan aufgegangen und Gregory eingeschlafen war. Sie setzte sich vorsichtig auf und überblickte die Lage.

April lag auf dem Rücken, beide Hände neben ihrem Kopf und schlief tief und fest. Sie war in der Nacht mit der Wache als letzte dran gewesen und konnte so die verlorenen Stunden Schlaf nicht mehr aufholen  - bis jetzt. Und sie schien die Mittagspause nutzen zu wollen.

Gregory lag auf der Seite, den Blick in Darlias Richtung, doch seine dunklen Augen waren geschlossen. Das Gewehr lag hinter ihm, noch in seiner Reichweite, doch er würde es nicht bemerken, wenn Darlia damit verschwand, also stand sie auf.

Sie schnallte sich das Gewehr um und kramte in Gregorys Rucksack nach dem letzten Magazin, das sie in ihre Hosentasche packte. Danach schulterte sie ihren Rucksack und verließ auf Zehenspitzen das Fabrikgebäude. 

 

Kapitel 6: In Gefahr

Entgegen ihrer Erwartungen gefiel Darlia das Alleinsein sofort. Die letzten paar Tage hatte sie immer in Begleitung eines anderen Menschen verbracht, sie war nie eine Sekunde für sich gewesen. Das mochte zwar seine Vorteile haben, jetzt jedoch war sie froh, dass sie bewaffnet und allein war.

Gregory hätte sie früher oder später im Stich gelassen und sein Gewehr mitgenommen, wenn er es nicht sogar gegen sie verwendet hätte, um an ihre Vorräte zu kommen. Von daher konnten sich April und er glücklich schätzen, dass Darlia einfach gegangen war und alles andere zurückgelassen hatte. Sie hatte Gregorys Rucksack nicht einmal durchwühlt, das meiste war ungesehen von ihr noch unten auf dem Boden des Rucksacks. Wenn sie schon eine Diebin war und die beiden schutzlos und unbewaffnet zurückließ, so erschien es ihr noch schändlicher, auch noch Gregorys Privatsphäre, auf die er so viel Wert legte, zu missachten. Sie selbst hätte es auch nicht gewollt, dass jemand ihren Rucksack durchwühlte. Zwar hatte sie nichts dabei, was sie an ihre Familie erinnerte, wäre es jedoch so, so hätte sie nicht gewollt, dass jemand anderes diese Dinge zu Gesicht bekam oder in die Hände nahm.

Vielleicht hatte sie dadurch einen Verlust gemacht, vielleicht waren da noch andere Dinge, die zu stehlen es sich gelohnt hätte, doch schließlich wollte Darlia weder April noch Gregory etwas böses. Sie war sich nur selbst der nächste.

Zufrieden mit sich selbst und das schlechte Gewissen verdrängend, durchkämmte Darlia weiterhin ihre Umgebung. Sie hatte erst etwas Abstand zwischen sich und ihre ehemaligen Mitstreiter bringen wollen, falls diese aufwachten und sie verfolgten, doch jetzt hatte sie das Gefühl, das zu Genüge getan zu haben.

Sie war schon eine knappe Stunde einfach immer geradeaus gegangen, also fing sie jetzt an, sich umzusehen und auf weitere Beute zu hoffen.

In einem Haus fand sie neben einem Kamin ein Feuerzeug, das noch funktionierte und steckte im Vorbeigehen eine Mütze ein, die auf einem Regal im Flur lag. Die anderen Schubladen waren leergeräumt – entweder waren die Bewohner geflohen und hatten alles mitgenommen, oder Darlia war nicht die erste, die sich hier umsah.

Sie überlegte sich, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, dass April und Gregory ihr folgten. Gregory würde rasen vor Wut, wenn sein Gewehr fehlte und Darlia schätzte ihn auch so ein, als würde er ihr hinterherjagen wollen. Ob April ihn davon abhalten konnte? Ob sie es überhaupt tun würde? Darlia konnte ihr nicht verdenken, wenn sie mit ihrer Aktion die zarten Bande der Freundschaft, die zwischen den beiden Mädchen entstanden waren, wieder zerstört hatte. Vielleicht war April genauso wütend auf sie, wie Gregory und die beiden waren ihr schon auf der Spur.

Darlia verwarf den Gedanken. Sie hatte eine Stunde Vorsprung, wenn die beiden jetzt überhaupt schon wach waren. Schließlich war April hundemüde gewesen und Gregory von den Tabletten sicher noch benommen. Wie lange hielt die Wirkung an? Einige Stunden mussten es mit Sicherheit sein. Hatte sie die Tabletten hoch genug dosiert? Vielleicht zu hoch? Sie wollte ihm nichts antun, ihn nur für ein paar Stunden ruhigstellen, damit sie verschwinden konnte.

Sie befahl sich, an etwas anderes zu denken und durchwühlte eine weitere Schublade, doch auch hier fand sie nichts Brauchbares, also machte sie sich auf den Weg nach draußen. Gregory und April wussten nicht einmal, in welche Richtung sie gegangen war. Sie sollte sich andere Sorgen machen.

Kaum stand sie wieder draußen auf der Straße, gab es auch schon etwas anderes, das ihre Aufmerksamkeit forderte. Sie war vielleicht unentdeckt weggelaufen, es jedoch nicht lange geblieben, denn kaum, dass sie das Haus verließ und sich nach links wandte, hörte sie ein Geräusch hinter sich.

Es war das Geräusch einer umstürzenden Mülltonne, das Darlia herumfahren ließ. Einen Augenblick später fand sie sich Angesicht in Angesicht mit einem Infizierten wieder. Er war nicht allein, eine ganze Meute stürmte auf Darlia los und ihr blieb keine andere Wahl, als zu rennen. Das Gewehr von ihrem Rücken zu nehmen, Munition einzulegen und zu zielen hätte zu lange gedauert und Darlia verteufelte ihre Unvorsichtigkeit. Sie hätte die Waffe sofort schussbereit machen sollen, als sie mit ihr verschwunden war.

Ihr Gepäck war schwer und das Gewehr behinderte sie beim Laufen, sodass sie in das erste Haus sprintete, dessen Tür offen war und mit großen Sprüngen die Steintreppe in das erste Stockwerk hinauf erklomm. Eine Zimmertür war offen, Darlia erblickte einen Balkon, von dem aus sie mit etwas Geschicklichkeit auf ein angrenzendes Garagendach springen und von dort wieder nach unten in den Vorgarten des Grundstücks gelangen konnte, wenn sie schnell genug war. Damit könnte sie ihre Verfolger hinter sich lassen, denn sie glaubte kaum, dass diese ihr über diesen Weg so schnell und wendig folgen konnten, wie sie ihnen entkommen würde.

Mit einigen großen Schritten hatte Darlia den Balkon erreicht, öffnete die Tür und zog sie hinter sich wieder zu, um wenigstens kurzzeitig eine Barriere zwischen sich und den Infizierten zu schaffen, die ihr mit hungrigem Knurren folgten. Vom Balkon aus waren es zwei Meter, bis auf das Dach der Garage und Darlia ließ sich keine Zeit für Zweifel. Sie schwang sich auf die Brüstung und sprang.

Erstaunlich leichtfüßig landete sie auf dem Dach, von sich selbst überrascht, und sprang von dort wieder auf den Boden. Sie landete in einem Vorgarten, der von einem kleinen Holzzaun umgeben war. Teile von ihm waren einstürzt oder umgeworfen, andere standen noch und boten einen kleinen, wenn auch kaum ausreichenden Schutz vor Angreifern.

Bevor Darlia sich für eine Richtung entscheiden konnte, hatten drei Infizierte sie gestellt. Mit dem Rücken zur Wand stand sie an der Garage, versuchte weiter zurückzuweichen, bis sie den rauen Putz in ihrem Rücken spürte, doch die Zombies kamen unaufhaltsam näher. Es waren nur ein paar Meter, die Darlia von ihnen trennte und Darlia konnte den Geruch von Blut und verwesendem Fleisch riechen.

Ob es das Fleisch der Infizierten selbst war oder nur die Reste, die in ihrer Kleidung und ihren Zähnen hingen, vermochte das Mädchen nicht zu sagen.

Blut rann über die Gesichter der näherkommenden Infizierten, befleckte ihre Kleidung und tropfte auf den Boden. Scheinbar war Darlia nicht ihr erstes Opfer heute.

Einer der Infizierten, eine Frau mit dunklem verfilztem Haar, streckte ihre Hand nach Darlia aus und diese griff nach ihrem Gewehr, in der Hoffnung, sich damit verteidigen zu können, doch bevor sie selbst es anlegen konnten, hallten Schüsse durch die Luft. Es waren zwei, Schüsse, die danebengingen, dann ein dritter und einer der Angreifer ging mit einem Kreischen zu Boden, ein zweiter wurde mit dem vierten Schuss erledigt und das Blut spritzte, als die Frau vor Darlia von einer Kugel getroffen wurde und ebenfalls wegsackte.

Darlia stand noch immer eng an die Wand gepresst und beobachtete, wie das Zucken der Kreaturen auf dem Boden erstarb.

Als sie aufsah, stand Gregory in Begleitung von April vor ihr, eine Handschusswaffe auf sie gerichtet. „Das ist meine letzte Kugel, und wenn du sie nicht gleich abbekommen willst, dann gibst du mir jetzt sofort mein Gewehr“, knurrte er warnend.

Darlia zog das Gewehr von ihrem Rücken und warf es vor Gregory ins trockene Gras. Ihr Herz pochte und ihre Hände zitterten. Sie musste sich gegen die Wand hinter sich lehnen, um nicht zu Boden zu gehen.

„Haben sie dich erwischt?“, fragte Gregory sie. Darlia schüttelte stumm den Kopf. April stand wortlos neben Gregory und musterte Darlia mit emotionslosem Blick, die Hände vor der Brust verschränkt.

„Dachtest du, du kommst einfach so davon?“, fragte Gregory Darlia und sie musste unwillkürlich nachdenken, ob sie ihn jemals so viel am Stück mit ihr hatte Reden hören.

„Du hast wohl gedacht, ich lasse dich einfach mit meinem Gewehr davonlaufen, was?“, wollte Gregory wütend wissen und kam auf sie zu. Das Gewehr hängte er sich um die Schulter, anschließend zog er Darlia zu sich und nahm ihr den Rucksack ab.

„Was hast du vor?“, fragte April und sprach das erste Mal, seit sie Darlia gerettet hatten.

„Sie ist unsere Gefangene und alles, was sie dabei hat, gehört jetzt uns“, knurrte Gregory grimmig. Er warf April den Rucksack zu, den sie geschickt auffing. „Kontrolliere, was sie sonst noch hat mitgehen lassen und dann komm mit“, befahl Gregory ihr. Er griff in seinen Rucksack und fesselte Darlias Hände mit Klebeband, das er aus einer Seitentasche holte, dann packte er sie unsanft am Arm und zog sie mit sich.  April hatte in der Zwischenzeit seinen Befehl befolgt und den Rucksack durchsucht. Einen Moment lang hatte Darlia das Gefühl, April würde sie mitleidig ansehen, als sie den Rucksack selbst aufzog, dann jedoch war der Blick hinter einer Maske aus Wut und Abscheu verschwunden.

Wortlos folgte April ihnen, als Gregory die Führung übernahm und Darlia mit sich aus dem Vorgarten schleifte.

Kapitel 7: Neuankömmlinge

Darlias Handgelenke brannten und ihre Arme waren eingeschlafen, als sie am nächsten Tag erwachte. Ihre Handgelenke waren noch immer auf ihren Rücken gefesselt und unter dem Klebeband juckte ihre Haut entsetzlich.

Gregory saß einige Meter von ihr entfernt, das Gewehr über seinen Schoß gelegt und starrte sie wütend an.

„Bindet ihr mich los?“, fragte Darlia, als April in ihrem Blickfeld auftauchte und mit dem Feuerzeug, das Darlia am Vortag gefunden hatte, ein Feuer entzündete.

April sah zu Gregory und dieser rümpfte die Nase.

Das sah Darlia als „Nein“, auch, da sie keine weitere Antwort von den beiden erhielt.

April hatte eine weitere Konservendose geöffnet und in ein kleines Feuer geschoben, das sie angezündet hatte. Irgendwo hatte sie einen Löffel und Plastikgeschirr gefunden. Jetzt, als das Essen aufgewärmt war, füllte sie den Inhalt der Dose in drei kleine Plastikschalen und kam zu Darlia. Diese sah, dass es sich beim Inhalt um Linseneintopf oder so etwas in der Art handeln musste.

April rührte in der Schüssel und stellte sie auf Darlias Knien ab. Dann holte sie einen mit Eintopf gefüllten Löffel aus der Schüssel heraus und hielt ihn Darlia unter die Nase.

„Glaubst du, ich lasse mich von dir füttern?“, fragte Darlia April aufgebracht.

April nahm die Schale und stellte sie neben Darlia, dann ließ sie den Löffel hineinfallen, sodass der heiße Eintopf hochspritzte und Darlia am Bein traf. Die Hose jedoch schützte sie vor der Hitze.

„Dann verhunger doch“, knurrte Gregory hinter ihnen.

„Willst du was trinken?“, fragte April stattdessen. Darlia stieß ein knurren aus und trat nach ihr, doch April sprang geschickt zurück und wich ihr dadurch aus. Gleichgültig stellte April die halb gefüllte Wasserflasche neben Darlia ab, drehte jedoch den Deckel drauf, damit Darlia die Flasche nicht umkippen und das Wasser dadurch verschütten konnte.

„Hast du eigentlich daran gedacht, dass du Gregory hättest umbringen können?“, fragte April sie. Sie hatten die fast leere Tablettenpackung gefunden und hatten wohl eins und eins zusammengezählt. Und dass es April merklich schwer gefallen war, den jungen Mann aus seinem Tiefschlaf zu erwecken, hatte sie sofort stutzig gemacht.

Wie es ihnen gelungen war, Darlia zu finden, hatten sie ihr nicht erzählt. Vielleicht war es einfach nur Pech für Darlia und Glück für die beiden anderen gewesen.

Darlia schnaubte abfällig und sah an April vorbei, um ihren Blick nicht zu treffen. Sie wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte, aber in dem Moment hatte sie nur an sich gedacht. War das so falsch? In den Wochen seit Ausbruch der Epidemie hatte sie kaum jemanden getroffen, der nicht nur noch an sich dachte.

Dass Gregory jetzt derjenige war, der am Lagerfeuer saß und Darlia mit bösen Blicken bombardierte, passte ihr gar nicht. Schließlich war er der Grund ihres Fortlaufens gewesen. Wie lange es wohl dauern würde, bis er selbst sich aus dem Staub machen würde? Im Gegensatz zu ihr jedoch hatte er es von Anfang an angekündigt und wenn Darlia ehrlich war, glaubte sie auch nicht, dass er mehr als sein eigenes Zeug mitnehmen würde – im Gegensatz zu ihr.

April stand auf, sie schien kein Interesse mehr an einer Konversation mit Darlia zu haben und Darlia erging es ebenso, also hielt sie April nicht zurück, als sie das große Fabrikgebäude durchquerte und auf der anderen Seite aus einem Fenster sah. Darlia war aufgefallen, dass sie das öfter tat. Vielleicht war sie paranoid, vielleicht nutzte sie das Raussehen auch nur, um sich abzulenken und sich beschäftigt zu geben, damit niemand mit ihr sprach.

Dieses Mal jedoch verdunkelte ihre Miene sich. Sie hatte etwas erblickt.

„Da draußen ist jemand“, sagte sie und wandte sich zu Gregory um. Dieser stand auf und sah ebenfalls durch das Fenster. Dann griff er sein Gewehr und hängte es sich um.

„Was ist dort draußen los?“, fragte Darlia, doch sie bekam keine Antwort von den beiden.

„Ich geh da raus“, sagte Gregory und griff das letzte Magazin, das er jetzt ins Gewehr schob. April hielt ihn auf.

„Das ist Selbstmord“, stellte sie fest, doch Gregory schüttelte den Kopf.

„Wir wissen doch nicht mal, was dort los ist“, behauptete April.

„Ich habe eine gute Chance gegen die und sie stellen eine Gefahr für uns da, so lange sie dort draußen sind“, entgegnete Gregory und schob sich an April vorbei zur Tür. April schien das eingesehen zu haben und ließ ihn durch. Ungläubig sah Darlia zu, wie Gregory mit dem Gewehr und nur einem Magazin Munition bewaffnet nach draußen ging.

„Du lässt ihn da einfach raus gehen?“, fragte sie April verwundert. „Er ist noch verletzt, hast du das vergessen?“

„Warum interessiert dich das?“, fauchte April. „Du hättest ihn fast vergiftet, was geht dich seine Gesundheit an?“

„Ich hatte nie vor, einem von euch wehzutun“, entgegnete Darlia.

„Du hast uns unbewaffnet zurückgelassen, in einer Stadt voller Infizierten und Plünderer, die jeden Moment auftauchen könnten. Was glaubst du, was mit uns passiert wäre?“

„Ihr wart nicht unbewaffnet“, erinnerte Darlia sie, als sie an die kleine Handfeuerwaffe in Gregorys Hand dachte.

„Das wusstest du nicht“, entgegnete April kalt. „Und ich auch nicht.“

Draußen ertönten einige Schüsse, die das Gespräch von April und Darlia unterbrachen. April sah nach draußen, doch Darlia saß auf dem Boden und konnte dadurch nicht aus dem Fenster sehen. „Was ist da los?“, fragte sie, doch April gab ihr keine Antwort.

„Runter“, befahl sie und drückte Darlia zu Boden. Auch sie duckte sich und kurz darauf hörte Darlia Schritte. „Wer ist das?“, flüsterte sie zu April. „Was ist das?“

April sah hoch. Zwischen ihnen und dem Eingang verdeckten ein paar Kisten die Sicht, sodass sie etwas geschützt waren, doch Darlia war sich sicher, dass es nicht Gregory war, der zurückgekehrt war. Was war passiert? War er tot?

April warf sich flach auf den Boden und kroch vorsichtig zu Gregorys Rucksack. Vielleicht hoffte sie, rechtzeitig zu der kleinen Waffe zu gelangen, doch Darlia wusste, dass die Chance gering war. Ihre einzige Chance war, zu hoffen, dass Gregory die Eindringlinge bemerkte und zu ihnen zurückkehrte.

Schwere Schritte schlurften über den Boden, was Darlia in der Annahme bestärkte, dass es sich nicht um Plünderer handelte, die sie mit einigen materiellen Dingen zufriedenstellen konnten.

April hatte den Rucksack erreicht und kramte darin herum. Jetzt fiel ein Schatten über sie und Darlia erkannte die verzerrte Fratze eines Zombies mit langen, dunklen Haaren und einer dürren, abgemagerten Statur, sodass sie auf den ersten Blick nicht erkennen konnte, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte.

Getrocknetes Blut war um den Mund des Zombies verschmiert, als sich das Wesen suchen umsah. Es erblickte April und Darlia und stieß einen hungrigen Schrei aus. April riss ihre Hand, die sie um die kleine Pistole geschlossen hatte, aus dem Rucksack und feuerte einen Schuss ab, der das Wesen in die Schulter traf. Es taumelte, ging jedoch nicht zu Boden und stieß noch einen Schrei aus, der zweite traf ihn im Kopf und seine Knie knickten ein, kurz bevor es zu Boden sank.

Darlia hielt die Luft an, als April die Waffe sinken ließ, doch schon näherten sich weitere Schritte. Man hatte die Schüsse gehört und nun wussten auch andere Zombies, wenn sich draußen noch welche aufhielten, wo sie zu finden waren.

„Bind mich los“, rief Darlia April zu, doch diese schüttelte stumm den Kopf und sah sich um.

Draußen waren die Schüsse verstummt, wo Gregory war, wusste Darlia nicht.

April lud die Waffe neu und zielte, als noch jemand die Halle betrat. Sie schoss und eine leere Patronenhülse fiel aus der Pistole, eine weitere folgte, als das Mädchen noch einen Schuss abfeuerte, dann hielt sie inne.

„Sind da noch mehr?“, rief Darlia ihr zu, doch April antwortete nicht und zielte schon wieder.

Darlia konnte durch ihr eingeschränktes Sichtfeld kaum etwas sehen, April jedoch trat jetzt sogar einen Schritt aus ihrer Deckung heraus, als sie weitere Schüsse abfeuerte. Ob die Schüsse ihr Ziel trafen oder nicht, wusste Darlia nicht mit Gewissheit, doch seit April die Waffe in der Hand trug, hatte es kein Infizierter mehr in ihr Sichtfeld geschafft.

April drückte noch einmal ab, doch dieses Mal ertönte kein Schuss, nur ein leises Klicken. Das Magazin war leer. April warf kurzentschlossen die kleine Pistole nach dem näherkommenden Infizierten und traf ihn damit am Kopf, was ihn jedoch nicht aufhielt, während Darlia sich auf die Beine kämpfte. Sie suchte etwas, an dem sie die Handfesseln durchscheuern konnte – schließlich handelte es sich nur um Klebeband, das konnte nicht so schwer sein – doch sie war überrascht, wie leer das gesamte Gebäude war. Auch April sah sich nach etwas um, das sie als Waffe verwenden konnte und sprang dann schnell und gelenkig über eine Kiste, um aus der Reichweite eines Infizierten zu kommen.

Kurz darauf ertönten zwei Schüsse direkt hintereinander und der letzte Infizierte, der hinter ihnen her war, stürzte zu Boden. Darlias Blick fuhr zur Tür herum, erwartete sie doch, Gregory dort zu sehen, doch es war nicht der junge Mann, der in der Tür stand. Dort standen drei Gestalten und erst konnte Darlia gegen das durch die Tür einfallende Sonnenlicht nichts erkennen, dann jedoch traten sie ein und Darlia erkannte ihre Gesichter.

Es handelte sich um zwei junge Männer in ihrem Alter und ein kleines Mädchen mit zwei blonden Zöpfen. Das Mädchen konnte kaum älter als zehn Jahre sein, ihre Zöpfe fielen ihr auf die Schultern, während sie von den beiden jungen Männern flankiert auf Darlia und April zukam.

Einer der Männer hielt sie jetzt zurück, während der andere, ein Sturmgewehr in den Händen, auf Darlia und April zuschritt. „Habt ihr Waffen?“, fragte er, ohne das Gewehr zu senken.

April schüttelte für sie beide den Kopf. „Die kleine Knarre ist leer“, erklärte sie mit einem Blick auf die Pistole, die am Boden zwischen zwei toten Zombies lag.

Der junge Mann wandte sich an das Mädchen und schickte sie, die Pistole aufheben, was der andere Mann stirnrunzelnd zur Kenntnis nahm.

„Wo ist unser Freund?“, fragte Darlia den jungen Mann, der jetzt auf sie zukam und ihre gefesselten Hände begutachtete.

„Redest du von mir so gut?“, fragte Gregory, der jetzt ebenfalls das Lagerhaus betrat. Darlia fuhr zu ihm herum, doch er schien keine neuen Verletzungen zu haben. Als April ihn fragte, ob alles okay war, nickte er.

„Und wer seid ihr?“, fragte der junge Mann, der noch immer neben dem kleinen Mädchen stand, in die Runde. Er hatte ebenso blondes Haar, wie die Kleine – vielleicht war er ihr Bruder. Der andere hatte hellbraune Haare, die er kurz rasiert hatte.

„Ich heiße April Wilkinson“, stellte April sich vor, ohne auf Reaktionen beim Nennen ihres Nachnamens einzugehen, die auch eher rar ausfielen. „Und das sind Darlia Hepburn und Gregory Johnson.“

Der junge Mann mit den kurzen, braunen Haaren griff jetzt in seine Tasche und zog ein Klappmesser heraus, dann schnitt er die Fesseln an Darlias Händen durch. „Danke“, sagte Darlia, während April zu protestieren begann.

„Sie war unsere Gefangene!“, wehrte sie ab und schritt zielsicher auf den jungen Mann zu. Dieser wandte sich um und hob das Gewehr. „Stehen bleiben, April Wilkinson“, befahl er und zielte auf Aprils Gesicht.

April hob instinktiv die Hände, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet war.

Gregory legte jetzt seinerseits das Gewehr an und zielte auf den Fremden, während der blonde Mann im Hintergrund das Mädchen zur Seite zog.

„Wer bist du?“, wollte Gregory von dem anderen Schützen wissen und dieser ließ schließlich das Gewehr sinken, als er sich der Pattsituation bewusst wurde. „Ich heiße Alistair Carter. Die beiden dahinten sind Zachary und Justine Preston.“

Also hatte Darlia Recht gehabt, es handelte sich um Geschwister bei den beiden.

„Na dann, Alistair“, sprach Gregory ihn an und ließ ebenfalls das Gewehr zu Boden sinken. „Du darfst jetzt verschwinden. Vielen Dank für deine Hilfe und dafür, dass du unsere Gefangene befreit hast, gerne darfst du sie mitnehmen, wenn sie dir gefällt. Wir brauchen sie nicht mehr.“

Damit wies er mit dem Gewehr auf Darlia und einen Moment stockte ihr Atem, als der Lauf des Gewehrs in ihre Richtung zeigte. Sie wusste, dass sie Gregory und April verärgert hatte, doch dass sie sie so hassten, hätte sie nicht gedacht.

Gregory stellte das Gewehr zur Seite, betont lässig, und ließ sich an der Asche des kleinen Feuers nieder.

„Vielleicht könnten wir etwas Hilfe brauchen, Gregory“, entgegnete April. Gregory fuhr zu ihr herum und grunzte unzufrieden. Als April merkte, dass von ihm keine Hilfe zu erwarten war, wandte sie sich persönlich an Alistair, der der Anführer der Truppe zu sein schien.

„Du bist ein guter Schütze“, stellte sie fest. „Und wir können gute Schützen gebrauchen. Wenn ihr euch uns anschließt, könnte das für unsere Gruppen gleichermaßen sinnvoll sein.“

Alistair musterte sie von oben bis unten und meinte dann: „Ich bin froh, dass du fragst, denn ich hätte durchaus kein Problem damit, mich euch anzuschließen. Ich denke, Zach und Justine würden mir da zustimmen?“

Die beiden wechselten einen Blick und schwiegen beide. Offenbar war Alistair keine Persönlichkeit, der man widersprach.

„Eine Bedingung“, meinte Alistair jetzt und kam zu mir. „Bei mir gibt es keine Gefangenen.“

April sah zu Gregory, doch der tat so, als würde er nichts mitbekommen.

„Einverstanden“, stimmte April schließlich zu. Alistair trat einen Schritt von mir zurück und ich traute mich erst jetzt, meine Handgelenke von den Kleberesten zu befreien und die gerötete Haut zu untersuchen.

„Interessiert dich denn gar nicht, was sie gemacht hat?“, wollte April wissen und zeigte anklagend auf mich.

„Nein“, antwortete Alistair kalt, bevor er sich neben Gregory ans Feuer setzte und Justine und Zach zu sich winkte.

 

Kapitel 8: Eine Unterkunft für die Nacht

Alistair war Darlia von Anfang an sympathisch gewesen, obwohl er jetzt etwas seltsam wirkte. Er war kalt und hart, aber gerecht und ein guter Anführer, denn diese Rolle hatte er ungefragt übernommen, als sie sich mit ihnen zusammengeschlossen hatten.

Während April und Gregory sich weiterhin von Darlia fernhielten, hielt diese sich jetzt eher an die Neuankömmlinge Zach, Alistair und auch an die kleine Justine. Justine war schüchtern und blieb in erster Linie bei ihrem Bruder Zachary, dieser jedoch freundete sich schnell mit Darlia an.

Alistair hatte die Vorräte sofort aufgeteilt. Jetzt besaßen alle drei Jungen eine Waffe und genügend Munition und auf ihren Rücken große Rucksäcke, in denen sich in erster Linie die schweren Dinge wie Decken, Geschirr und schwere Konservendosen befanden. Trotzdem hatte Alistair dafür gesorgt, dass jeder von ihnen, sollte er von den anderen getrennt werden, allein klarkommen würde. Jeder besaß essen und so viel Kleidung, dass er nicht fror – gerade genug, aber nicht zu viel. Alles war streng rationiert.

Darlia jedoch kam damit gut klar. Sie merkte, dass Gregory das nicht allzu gut hieß, und auch April schien unzufrieden, doch Darlia wusste nicht, ob das daran lag, dass sie mit Alistair generell nicht gut klar kamen und ihm gegenüber misstrauisch waren, oder ob ihnen sein Vorgehen nicht gefiel.

Während Alistair immer im Vordergrund stand, hielten Zachary und Justine sich im Hintergrund. Bei Justine konnte Darlia das verstehen – immerhin war sie viele Jahre jünger, als die anderen – Zach jedoch schien von sich aus eher schüchtern zu sein. Ob er vielleicht einfach nur ein Einzelgänger war, wie Gregory, wusste Darlia nicht. Dafür kannte sie ihn nicht gut genug.

Seit sie zusammen unterwegs waren, waren sie länger unterwegs. Das Gepäck war so aufgeteilt, dass sie alle länger gehen konnten und nicht so schnell ermüdeten. Darlia war skeptisch gewesen, weil Justine noch so jung war, doch obwohl sie kürzere Beine hatte, als die anderen, hielt sie mit ihnen Schritt. Zachary hatte dafür gesorgt, dass seine Schwester nicht allzu viel tragen musste, dadurch war die Kleine häufig schneller als ihre älteren Kameraden.

Das lange Reisen am Tag sorgte jedoch auch dafür, dass sie am Abend besonders müde waren. Zwar war die Gefahr nicht mehr so groß, draußen ungeschützt zu sein, wenn sie kein versteck fanden, denn zwei von ihnen hielten immer Wache und waren bewaffnet, trotzdem wusste Darlia, dass sie besser schlafen konnte, wenn sie sich in einem geschlossenen Gebäude befanden.

Es war spät am Abend, als sie zusammen durch eine ausgehebelte Tür in ein Mehrfamilienhaus stiegen und es sich dort gemütlich machten. Die Wohnungen waren zugesperrt, sodass sie sich im Flur aufhalten mussten.

Alistair holte, kaum dass sie im Flur angekommen waren, ein Utensil heraus, das ihn immer begleitete: Es war eine Packung Zigaretten. Er ging sehr sparsam damit um, wohl weil er wusste, dass solche Luxusgüter hier Mangelware waren, dennoch ließ er es sich nicht nehmen, hin und wieder eine zu rauchen. Dies führte dazu, dass er von April und Gregory noch skeptischer angesehen wurde.

Gregory stellte seine Waffe an die Wand und rümpfte die Nase, als er durch den Rauch von Alistairs Zigarette laufen musste. Auch Zach und Alistair legten ihre Waffen weg, ließen sie jedoch in Reichweite neben sich liegen.

April kramte in ihrem Rucksack und förderte einige Konservendosen zu Tage. Sie brach sie mit einem Schraubenzieher auf, den sie aus einem der Rucksäcke gekramt hatte und sah sich um. Der Flur war fast ganz geschlossen, er hatte keine Fenster, nur eine Tür und diese hatten sie hinter sich geschlossen. Der Boden bestand aus Parkett, sodass es mehr als leichtsinnig wäre, hier drinnen ein Feuer zu entfachen.

„Wir bräuchten einen Campingkocher“, murmelte sie, als sie den kalten Eintopf auf Tellern verteilte. „Sind wir hier auf Klassenfahrt, oder was?“, fragte Gregory und nahm stirnrunzelnd den kalten Eintopf entgegen. Er stocherte unzufrieden mit der Gabel im Essen herum und Darlia spürte, wie ein seltsames Gefühl der Abneigung gegen ihn aufstieg.

Auch Darlia nahm einen Teller entgegen, den April ihr reichte, ohne sie anzusehen. Darlia unterdrückte einen Seufzer und griff nach einem Plastiklöffel, während April das Essen weiterverteilte. Es handelte sich um mit Hackfleisch gefüllte Tortellini, und Darlia war froh, wieder etwas im Bauch zu haben, denn ihre Vorräte schwanden und kaum, dass Alistair das gemerkt hatte, hatte er angefangen, alles noch strenger zu Rationieren. Von nun an bekam jeder nur noch zwei Mahlzeiten am Tag, ein Mittagessen viel trotz des beschwerlichen Marsches aus.

Sie begannen gemeinsam zu Abend zu essen, anschließend stellte April die schmutzigen Teller zusammen, um sie bei nächster Gelegenheit irgendwo abzuspülen. Alistair sah zu Zach und Gregory und griff nach dem Schraubenzieher, der neben April lag. „Lasst uns mal nachsehen, was hinter diesen Türen ist“, schlug er vor und stand auf.

Auch Darlia erhob sich, auch wenn sie glaubte, dass sie nicht in den Plan mit inbegriffen war. Alistair trennte sehr klar, dass nur die Männer unter ihnen Waffen trugen und die Mädchen beschützten, während die Mädchen in erster Linie für das Essen und die Versorgung zuständig waren.

Alistair sagte nichts, als Darlia ihnen folgte, doch Gregory, der sein Gewehr gegriffen hatte, warf ihr einen finsteren Blick zu. Darlia ging hinter Zach her, der, ebenfalls mit einem Gewehr im Anschlag, Gregory und Alistair folgte.

Alistair machte sich an der ersten Tür im Erdgeschoss, direkt links von ihnen zu schaffen. Er arbeitete mit dem Schraubenzieher an den Scharnieren der Tür und schließlich hoben Gregory und er die Tür aus den Angeln.

Zach hatte sein Gewehr angelegt und zielte in die jetzt offene Wohnung, doch dort schien alles in Ordnung zu sein. „Alles sicher“, teilte Zach auch seinen Freunden mit und setzte das Gewehr ab.

Alistairs ging als erstes hinein und sah sich um. Es handelte sich um einen kleinen, fast leeren Flur. An der Wand hingen leere Kleiderhaken, ein kleiner Schuhschrank, der sich ebenfalls als leer entpuppte, stand darunter und daneben ein trockener Wassernapf – wahrscheinlich für einen Hund oder eine Katze.

Im Inneren der Wohnung waren die Türen nicht mehr verschlossen. Es war absolut ruhig, weshalb sie sich aufteilten und die Wohnung getrennt voneinander durchsuchen. Darlia nahm sich das Wohnzimmer vor, während Alistair die Küche, Zachery das Badezimmer und Gregory eines der Schlafzimmer durchstöberten.

Darlia fand eine dünne Decke, die voller dunkler Haare war – vermutlich hatte hier tatsächlich ein Hund oder eine Katze gewohnt. Sie wischte die gröbsten Haare von der Decke und rollte sie zusammen, dann durchforschte sie die Schränke, doch darin befanden sich in erster Linie Bücher, Spiele und Büromaterialien, wovon sie nichts gebrauchen konnten.

Als sie sich draußen wieder trafen, lieferten sie ihre Beute bei April und Justine ab, die allein zurückgeblieben waren. Vor allem Zachery hatte im Badezimmer große Beute gemacht. Er hatte einige Packungen Tabletten mitgebracht, die er alle an April übergab. Diese sah sie stirnrunzelnd an und sortierte sie dann in ihre Tasche ein. Ihr Blick sagte Darlia, dass sie wusste, um was es sich dabei handelte.

Alistair hatte in der Küche weitere Konservendosen gefunden und außerdem eine Schale voll Nüsse mitgebracht. Das Essen legte er in die Mitte, dann zog er eine angebrochene Packung Zigaretten aus seiner hinteren Hosentasche und packte sie in seinen Rucksack. Er musste sie gefunden haben.

Darlia reichte die dünne Decke Justine, die die Arme um die Knie geschlungen hatte. Es kühlte langsam ab, der Hochsommer war vorbei. Zwar fror sie noch nicht, doch es war nicht mehr so drückend heiß. Wie lange es wohl noch bis zum Einbruch des Winters war?

Darlia hatte jegliches Gespür für die Zeit verloren. Sie konnte nicht sagen, ob es September war, oder vielleicht sogar schon Oktober.

Sie horchte auf, als sie ein leises Klopfen hörte. Instinktiv griff Zachary nach seiner Waffe, die er auf die Seite gestellt hatte, doch Alistair berührte ihn sachte am Arm, um ihn zu beruhigen. „Regen“, sagte er nach einer kleinen Pause, in der alle gespannt gehorcht hatten. Un tatsächlich erkannte Darlia jetzt, da er es gesagt hatte, das leise Tropfen von Regentropfen auf dem Dach.

Darlia zog ihre Jacke an, denn im Hausflur zog es jetzt unangenehm, dann beschlossen sie, in die aufgebrochene Wohnung umzuziehen. Dort erschien es ihnen sicherer und auch wärmer, als hier draußen.

Gregory gelang es sogar, die Tür wieder in ihre Angeln zu heben, auch wenn sie etwas schiefer aussah, als zuvor und sicher nicht mehr so viel standhalten würde.

Justine und April machten es sich im Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich, während Darlia sich in einen großen Sessel fläzte. Die Jungen verteilten sich auf die anderen beiden Sessel und den Boden. Darlia spürte die Müdigkeit in sich aufsteigen, sodass sie sich einfach nur noch auf ihrem Sessel zusammenrollte und dem beruhigenden Geräusch des Regens, der gegen die Fensterscheiben peitschte, lauschte und einschlief.

 

Kapitel 9: Der erste Kontrahent

Darlia erwachte von leisen Schritten. Erst glaubte sie, einer der andere wäre aufgewacht und würde nun schlaflos durch die Wohnung streichen, doch es waren alle da und die Schritte kamen von draußen. Als sie die Augenöffnete, blickte sie in Alistairs dunkle Augen. Auch er war wach, er saß im Sessel ihr gegenüber und hatte den Kopf auf eine der Armlehnen gelegt, während er mit wachem, aufmerksamem Blick den leisen Schritten lauschte. Er legte einen Finger an die Lippen, als er aufstand und leise aus dem Wohnzimmer in den Flur ging. Darlia zögerte keinen Moment und folgte ihm. Alistair war überrascht, als er sie hinter sich erblickte, doch er erschrak nicht.

Sie standen im Flur vor der Tür und Alistair legte ein Auge an den Spion, der in die Tür eingelassen war. Sein Gesichtsausdruck verriet nicht, was er dort draußen erblickte, doch Darlia wich zurück, als sie das Licht einer Taschenlampe durch einen kleinen Schlitz fallen sah, dort, wo die Tür nicht mehr richtig mit dem Türrahmen schloss.

Auch Alistair schlich zurück und zog Darlia mit ins Wohnzimmer. Er redete jetzt leise mit ihr. „Ich halte Wache. Schlaf du nur weiter“, befahl er ihr und griff nach seiner Waffe. „Wie sollen wir hier wieder rauskommen?“, fragte Darlia ihn mit gedämpfter Stimme, doch Alistair winkte ab. „Wahrscheinlich nur Plünderer“, behauptete er. „Die verschwinden in ein bis zwei Stunden und wenn sie hier reinkommen, dann …“ Er zielte mit seiner Waffe auf den Türrahmen und nickte Darlia dann siegessicher zu. Diese fürchtete zwar, dass die Plünderer ebenfalls bewaffnet sein könnten, doch sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich darüber Gedanken zu machen. Die Wohnung befand sich im Erdgeschoss und vielleicht hatten sie die Chance, morgen früh unerkannt durch ein Fenster zu fliehen.

Sie kuschelte sich wieder in den Sessel, doch es dauerte auch nach dem Verstummen der Schritte noch lange, bis sie wieder einschlafen konnte.

Als sie wieder erwachte, waren die anderen schon wach und redeten leise miteinander. Alistair schien ihnen von den Ereignissen vergangene Nacht berichtet zu haben, denn Darlia hörte April leise „Und wie kommen wir hier jetzt raus?“ fragen.

Darlia richtete sich auf, fuhr sich über das Gesicht und sah sich um. Sie war die einzige, die noch geschlafen hatte. Vielleicht hatte Alistair dafür gesorgt, dass sie länger schlafen konnte, um den verlorenen Schlaf der letzten Nacht aufzuholen, vielleicht waren es auch April und Gregory gewesen, die sie hatten ausschließen wollen – es war Darlia egal. Sie konnte es ohnehin nicht ändern, dass die beiden sie jetzt auf dem Kicker hatten.

Jemand hatte die Vorhänge zurückgezogen und damit die Hoffnung, durchs Fenster zu entkommen, zunichte gemacht. Die Fenster waren von außen vergittert. Daumendicke Metallstäbe, die mit metallenen Blumen und Blättern versehen waren, zierten das Fenster, doch die Verzierung änderte nichts daran, dass die Fenster vergittert waren.

„Wir müssen es wohl einfach riskieren … Hoffen, dass sie uns nicht bemerken oder schon längst wieder weg sind“, schlug Zachary vor.

„Was, wenn nicht?“, wollte April wissen.

„Vielleicht sind sie sogar bewaffnet. Du hast gesagt, du hast gesehen, wie sie die Treppe hoch sind“, wandte sich Justine an Alistair. April nickte.

„Dann erschießen sie die Hälfte von uns, bevor wir sie überhaupt bemerken.“

„Haben wir eine Wahl?“, fragte Alistair. „Wer einen besseren Vorschlag hat, kann sich gern melden.“

Alle blieben still, Darlia eingeschlossen, die der Diskussion still gelauscht hatte. Alistair griff nach seiner Waffe, Gregory und Zachary taten es ihm gleich.

„Ich geh vor“, sagte Alistair und leckte sich nervös über die Lippe. Er hatte einen Finger auf den Abzug seines Gewehrs gelegt und Zach und Gregory reihten sich hinter ihm ein, als er sich auf den Weg in den Flur machte.

Vor der Wohnungstür blieb er stehen und wandte sich an Zach. „Prescott, du stehst links von mir“, sagte er mit belegter Stimme. „Johnson“, wandte er sich an Gregory. „Rechts.“

Zach und Gregory gehorchten ohne nachzufragen und Zach versäumte es nicht, seine Schwester hinter April zu schieben.

Dann drückte Alistair lautlos die Klinke herunter und zielte mit dem Gewehrlauf in den Flur. Nichts passierte.

Alistair machte einen Schritt in den Flur, als es plötzlich vom oberen Stockwerk herunter Kugeln hagelte. Erschrocken waren sie allesamt zurückgesprungen, sodass Alistair jetzt in den Schutz des Türrahmens taumeln konnte. Er legte sein Gewehr ebenfalls an und zielte blind nach oben, ließ einige Schüsse fallen.

Oben verstummten die Schüsse, jemand lud nach,  was ein leises Klicken verriet, doch dann blieb alles still. Auch Zach und Gregory zielten nach oben, doch sie hatten noch nicht geschossen.

Was jetzt?, formte April mit den Lippen, doch Alistair legte einen Finger an den Mund und bedeutete ihr, leise zu sein. Dann machte er einen kleinen Schritt aus seiner Deckung heraus, ohne jedoch ins Blickfeld des anderen zu treten.

„Wirf die Waffe runter, dann tun wir dir nichts“, rief Alistair zu ihm hoch, doch nichts passierte. Er musste direkt über ihnen am Geländer sitzen, Sodass sie ihn auf keinen Fall erwischen konnten, bevor er sie traf.

Darlia spürte, wie stark ihr Herz gegen ihre Brust hämmerte, als wieder drei Schüsse fielen, doch niemand wurde getroffen.

„Waffe weg“, rief Alistair noch ein weiteres Mal und feuerte ebenfalls einen Schuss nach oben ab, doch wieder reagierte der Angreifer nicht. Wer auch immer es war, er schien sich nicht ergeben zu wollen. Sie waren hier gefangen. Niemand von ihnen konnte dieses Haus verlassen, ohne gesehen und getötet zu werden. Es war nur eine Frage der Zeit, wer als erstes verhungerte.

„Wir wollen dir nichts tun“, fügte Alistair noch einmal hinzu. „Wir sind friedlich und wollen einfach nur hier raus.“

Er machte wieder einen kleinen Schritt nach vorne und erneut hagelte es Schüsse. Dieses Mal schoss Alistair so lange zurück, bis sein Magazin leer war, dann hielt er schwer atmend inne. Es war still. Absolut still.

„Wirf die Waffe weg“, wiederholte Alistair mit etwas belegter Stimme, doch nichts passierte. Kein Geräusch durchbrach die Stille, auch nicht das angestrengte Atmen des Kontrahenten, der sich ja mindestens so sehr fürchten musste, wie sie.

„Wie viele waren es?“, wollte April leise von Alistair wissen.

„Einer“, presste dieser zwischen den Lippen hervor. Er hatte gestern Nacht durch den Türspion gelinst und  musste im Licht der Taschenlampe die Silhouette des Schützen erkannt haben.

„Vielleicht sind gestern Nacht noch welche dazugekommen“, wisperte Justine und drückte sich hinter April an die Wand.

Alistair schüttelte den Kopf, horchte noch eine Weile, doch von oben kam kein Geräusch mehr.

„Vielleicht hat ihn ein Querschläger getötet“, mutmaßte Zach.

„ich geh da hoch“, erklärte Alistair und trat einen weiteren Schritt hinaus. Er versuchte, mit angelegter Waffe so lange wie möglich aus der Sicht des potentiellen Angreifers zu bleiben, dann ging er um die Treppe herum und sah hoch.

Sein Gesichtsausdruck war angespannt, jeder seiner Sinne bis aufs Äußerste geschärft, als er langsam die erste Treppenstufe erklomm. Darlias Herz pochte so stark, dass sie glaubte, es würde ihr aus der Brust springen und sie rechnete fest damit, dass Alistair jeden Moment von Kugeln durchbohrt wurde, doch dazu kam es nicht. Auf der vierten Treppenstufe ließ Alistair sein Gewehr sinken und ging wieder herunter.

„Gehen wir“, sagte er zu den anderen.

„Ist er tot?“, wollte Justine wissen, doch Alistairs blasser Gesichtsausdruck sprach Bände. Er zitterte leicht, als Darlia neben ihn trat und sie fragte sich, ob sie ihn irgendwie beruhigen konnte, doch sie glaubte nicht, dass der junge Mann sich von ihr beruhigen lassen wollte.

„Kommt schon“, fügte er hinzu und schulterte sein Gewehr, bevor er durch den Flur nach draußen stapfte und die anderen ihm zögerlich folgten.

 

Kapitel 10: Kontakt zur Zivilisation

Es war einer der ersten Tage gewesen, an dem sie wieder ein Mittagessen bekamen, denn Alistair hatte nach den erfolgreichen Beutezügen in der letzten Nacht beschlossen, ein paar weitere Konserven anzubrechen.

Sie waren am Morgen in einen verwüsteten Supermarkt eingestiegen, wo sie einige weiter Konservendosen hatten mitgehen lassen, unter anderem jedoch auch eingelegte Sardellen und sogar Dosenbrot, sodass sie jetzt das erste Mal seit langer Zeit wieder richtig gut essen konnten.
Darlia aß, bis ihr übel war und lehnte sich dann zufrieden zurück. Sogar Zachary hatte sich sattgegessen, der sonst häufig für seine Schwester zurückgesteckt hatte. Auch Alistair war statt geworden, der sonst wirklich einen guten Hunger hatte.

Sie hatten die letzte Stadt schon am frühen Mittag hinter sich gelassen und saßen nun an einer Holzhütte draußen auf einem Feld, wo sie sich auf die Veranda gesetzt hatten. Hier konnten sie das Feld weit überblicken und sahen am Horizont die Silhouette der Stadt, die sie am frühen Mittag verlassen hatten.

Sie waren es leid, sich zu verstecken, weshalb sie jetzt provokativ auffällig draußen auf der Veranda der Hütte herumlungerten. Die Tür war nur zugezogen, nicht abgeschlossen, sie hatten es vorher schon ausprobiert und ihr Gepäck drinnen in Sicherheit gebracht. Im Falle eines Angriffes, konnte man von innen einen Riegel vor die Tür schieben und den ersten Angriff dadurch abwehren. Die Hütte hatte auch nur zwei kleine Fenster, eins an jeder der beiden Seiten und keines an der Rückseite, weshalb es nicht so leicht war, von innen die weite Fläche zu überblicken, jedoch konnte man so auch nicht so leicht in die Hütte eindringen.

Sie waren entspannt und erzählten sich Geschichten, die Gewehre hatten die Jungen weggestellt, schon fast außer Reichweite. Darlia hatte sogar das Gefühl, dass hier draußen in der freien Natur sogar April und Gregory etwas sanfter zu ihr waren. Mit April verstand sie sich jetzt besser und sie hatte im Moment auch nicht das Gefühl, als würde Gregory sie mehr als die anderen hassen. Er war generell kurz angebunden, zu allen, nicht nur zu ihr.

April sprach sie direkt an, fragte sie, ob sie noch Suppe wollte, was sie zuvor lange vermieden hatte. Sie schenkte ihr sogar ein kleines Lächeln und fast glaubte Darlia, sie hätte ihr verziehen, doch so weit wollte sie noch nicht denken.

Sie konnte den Groll verstehen, den die beiden gegen sie gehegt hatten. Sie glaubte sogar, selbst genauso reagiert zu haben.

Alistair hatte einen Witz gemacht und Darlia musste losprusten, sodass sie sich an ihrer Suppe verschluckte. Zach klopfte ihr auf den Rücken und Darlia hustete, vor Lachen liefen ihr Tränen über die Wange. Sie wischte sie weg und kicherte.

Ihr fielen Haarsträhnen ins Gesicht und sie band sich ihren Zopf neu. Gregory musterte sie abfällig und erneut hatte Darlia das Gefühl, dass er einfach niemanden ausstehen konnte.

„Wir sind hier nicht auf einer Party, du musst dich nicht dauernd schick machen, Prinzessin“, meinte er, als Darlia seinen Blick erwiderte. Darlia knurrte und wiederstand dem Impuls, ihm die Zunge herauszustrecken.

Gregory hatte ohnehin den Blick schon wieder abgewandt und kümmerte sich um seine Suppe. Während Darlia sich noch über ihn ärgerte, hörte sie ein Geräusch, das von hinter der Hütte kommen musste.

Erst glaubte sie, sie hätte sich geirrt, doch als zach nach seiner Waffe griff und April aufsah, wusste sie, dass sie es sich nicht eingebildet hatte.

Alistair, Gregory und Zach waren im Bruchteil einer Sekunde bewaffnet und April zog Justine in die Hütte. Darlia folgte den Mädchen und zog die Tür hinter sich so weit zu, dass sie nur noch durch einen kleinen Schlitz sehen konnte, die Jungen jedoch nicht aus den Augen verlor. Darlia hörte Alistair etwas rufen, was genau es war, verstand sie jedoch nicht, dann warf jemand ein Gewehr vor den Jungen ins Gras. Gregory trat vor und hob es auf, dann trat ein Junge in Darlias Blickfeld. Er war in ihrem Alter, mit schwarzem Haar und asiatischen Gesichtszügen. Er hatte die Hände gehoben, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war, doch die jungen Männer hielten noch immer ihre Waffen auf ihn gerichtet.

Darlia stieß die Tür auf und trat hinaus auf die Veranda.

„Er ist unbewaffnet, seht ihr das nicht?“, fragte sie die jungen Männer, die ihre Gewehre nicht senkten. „Ich entscheide hier, Hepburn“, knurrte Alistair.

Der Junge sah von Darlia zu Alistair und wieder zurück. Sein Blick blieb auf ihr hängen und sie sah die Angst in seinem Gesicht. Der Junge würde ihnen nichts tun.

Darlia machte einen weiteren Schritt nach vorne und drückte den Lauf von Alistairs Gewehr nach unten, sodass er es senken musste. Dieser fuhr zu ihr herum undfunkelte sie böse an, kurz sah er aus, als wollte er sie schlagen, doch er hielt sich zurück. Seine Nasenflügel zuckten vor Wut, doch er hielt das Gewehr gesenkt.

„Er wird uns nichts tun, nicht wahr?“, wandte Darlia sich jetzt an den jungen Mann. Dieser schüttelte den Kopf und als auch Zach und Gregory ihre Waffen senkten, ließ der junge Mann die Hände sinken.

„Was willst du?“, fragte Alistair ihn rau.

Der junge Mann zog seinen Rucksack vom Rücken, was Zach, Gregory und Alistair sofort wieder in Alarmbereitschaft versetzte und innerhalb einer Sekunde waren die Mündungen der Waffen wieder auf den jungen Mann gerichtet. Dieser ließ den Rucksack fallen und hob erneut die Hände.

„Ich habe keine Waffen“, stieß er hervor. „Aber ich habe andere Sachen. Sachen zum tauschen. Ich bin hungrig.“

Alistair sah zu seinen Freunden nach hinten, doch niemand wagte, etwas zu sagen. „Wir könnten tauschen“, schlug der Junge erneut vor. „Wir könnten dich auf abknallen“, knurrte Gregory und sein Finger lag schon am Abzug.

„Nein“, widersprach Darlia und stellte sich vor den Lauf von Gregorys Gewehr.

„Geh zur Seite“, knurrte dieser, doch Darlia schüttelte den Kopf.

„Sie kann stehen bleiben, wo sie will“, sprang Alistair ihr zur Seite. „Heute wird hier niemand erschossen.“

Darlia atmete auf, denn sie war sich tatsächlich einen Moment unsicher gewesen, wie das ausgehen würde. Sie traute Gregory fast alles zu.

„Lasst ihn näherkommen“, sagte Alistair und die Jungen senkten ihre Waffen. April und Justine blieben weiterhin versteckt.

Der junge Mann hob seinen Rucksack hoch und kam näher.

„Wir haben Essen, aber wir tauschen nicht alles“, erklärte Alistair ihm und der junge Mann nickte verständnisvoll. Er kramte verschiedene Dinger heraus, unter anderem ein paar Dietriche, mit denen er wohl schon das ein oder andere Schloss geknackt hatte, ein paar Schrauben und Zahnräder, ein kleine Taschenmesser, das Gregory aufmerksam beäugte, als könnte er sie damit jeden Moment angreifen und als letztes ein kleines Radio.

Besonders dieses Weckte Darlias Interesse, denn sie fragte sich schon länger, ob es irgendwo Überlebende oder vielleicht eine Militärbasis gab, in der man versuchte, vor den Infizierten Schutz zu finden.

„Was willst du für das Radio?“, fragte auf Alistair den jungen Mann. Dieser musterte die vier auf der Veranda Stehenden und verschränkte dann die Arme.

„Was habt ihr zu bieten?“

Alistairs rief April herbei, die ihr Gepäck herausbrachte. Der junge Mann schien merklich verunsichert über ihr Erscheinen – er schien sie vorher tatsächlich nicht bemerkt zu haben. Justine blieb glücklicherweise in der Hütte versteckt, sodass der junge Mann sie nicht zu Gesicht bekam.

April packte einiges aus, hielt jedoch sowohl weitere Waffen als auch Munition versteckt. Der junge Mann starrte interessiert auf die Konservendosen und Darlia sah ihm an, dass er hungrig war. Er griff nach einer Konservendose, musste sich beherrschen, um sie nicht sofort zu öffnen. Wie lange er wohl schon hungerte?

„Wie viele gebt ihr mir für das Radio?“, fragte er die anderen und sah sie an.

„Drei“, sagte Gregory.

„Bei fünf sind wir im Geschäft“, entgegnete der junge Mann selbstsicher und Alistair hielt ihm die Hand hin.

„Schlag ein“, sagte er.

Der junge Mann zögerte keine Sekunde mehr, dann sammelte er fünf der Dosen ein und packte sie zu seinen restlichen Gütern in den Rucksack.

„Das Radio ist voll funktionstüchtig“, teilte er ihnen mit, während er seinen Rucksack schulterte. „Ihr müsst nur einen Sender finden, auf dem etwas läuft.“

Damit verschwand er wieder so schnell, wie er gekommen war.

Alistair hob das Radio auf und schaltete es an. Es rauschte und er drehte an den kleinen Rädchen. Mal wurde das Rauschen laute, dann wieder leiser. Darlia fragte sich, ob sie wirklich einen guten Tausch eingegangen waren, doch Alistair schien sich seiner Handlungen bewusst.

„Gehen wir rein“, sagte er und machte sich auf den Weg ins Innere der Hütte.

 

Kapitel 11: Überlebende

Darlia konnte nicht schlafen, denn Alistair hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Radio zum Laufen zu bringen. Das Rauschen war nicht besonders laut, doch es war durchdringend und hielt Darlia wach. Es war die einzige Abwechslung zum Regen, der schon wieder auf das Dach tropfte. Der Himmel schien nicht aufreißen zu wollen, denn die letzten Nächte hatte es immer geregnet und auch tagsüber war es jetzt zunehmend bewölkt.

Darlia bewunderte Alistair dafür, dass er nicht deprimiert war. Schließlich hatten sie fünf Konservendosen für das Radio getauscht, und jetzt schien es nicht zu laufen.

Die Hütte war fast leer, bis auf einen alten Holztisch und ein paar Stühlen, also hatten sie sich auf den Boden gelegt, um zu schlafen. Alistair saß in der Mitte und drehte die kleinen Rädchen am Radio.

Kurz glaubte Darlia, eine menschliche Stimme aus dem Radio zu hören, doch sie war sofort wieder verschwunden.

Deprimiert schlug Alistair gegen das Radio und stand auf. Er vergrub die Hände in den Hosentaschen und seufzte tief, dann ging er zur Tür und öffnete sie. Darlia stand ebenfalls auf und folgte ihm leise hinaus auf die Veranda.

Alistair erschrak, als sie neben ihm zum Stehen kam.

„Ich habe dich nicht kommen hören“, erklärte er ihr, als er sie erkannt. Sie standen zu zweit nebeneinander und starrten hinaus in den Regen.

„Was glaubst du, gibt es überhaupt Überlebende?“, fragte Alistair sie.

„Wir haben uns gefunden, und gestern wieder einen Überlebenden getroffen. Es gibt sie mit Sicherheit“, behauptete Darlia. Alistair seufzte und fuhr sich durch die Haare.

„Aber wie lange noch?“, fragte er dann.

Darlia antwortete nicht.

Alistair lehnte sich mit den Unterarmen auf ein morsches Geländer der Veranda, das leise knarrte, als er sein Gewicht darauf niederließ.

„Vielleicht wäre es einfach, sich die Kugel zu geben“, sinnierte er und sah hinaus in den Regen.

„Vielleicht“, meinte Darlia und verschränkte die Arme vor der Brust. Plötzlich richtete Alistair sich auf und trat näher zu ihr. „Aber jetzt noch nicht“, sagte er und senkte seinen Kopf zu ihr herunter. Sie standen so nah beieinander, dass Darlia kaum merkte, wie er sie küsste. Sie war überrascht, doch es war ihr nicht unangenehm, also ließ sie es zu und küsste ihn zurück. Schon zuvor hatte sie gemerkt, dass Alistair nett zu ihr war, doch sie dachte, dass das einfach sein Wesen wäre. Dass ihm mehr an ihr lag, als an den andere, hatte sie nicht geglaubt. Sie hatte so lange zuvor nichts mehr mit Menschen zu tun gehabt, dass es ihr schwer viel, selbige einzuschätzen.

Als Alistair von ihr zurücktrat und sie losließ, wusste Darlia nicht, was sie sagen sollte, also warf sie ihm ein kleines Lächeln zu. Alistair lächelte zurück, doch er sah traurig aus. Plötzlich sah er wieder in den Regen, etwa hatte seine Aufmerksamkeit geweckt und Darlia folgte seinem Blick. Es waren Gestalten, die sich im Regen herumtrieben und Alistair schob sie in Richtung der Tür.

„Geh wieder rein“, befahl er ihr. Er lehnte sich in die Hütte und griff sein Gewehr, welches neben der Tür stand. Dann weckte er Zach und Gregory.

Diese griffen ebenfalls nach ihren Gewehren und zu dritt postierten sie sich draußen auf der Veranda.

Dalia ging zur Tür und sah heraus. In den Regenschauern konnte sie ihre Feinde nicht mehr ausmachen. „Kommt rein!“, rief sie den Männern zu. „Vielleicht sehen sie uns gar nicht.“

In dem Moment sprang etwas auf die Veranda und riss Alistair mit sich zu Boden.

„Alistair!“

Darlia wollte die Türe öffnen und den Männern zu Hilfe eilen, doch sie wurde gepackt und wieder ins Innere der Hütte gestoßen. Dann stellte April sich vor die Tür und schob den Riegel vor.

„Was glaubst du, was du dort draußen bewirken kannst?“, fragte das Mädchen sie, als draußen die ersten Schüsse fielen.

„Was glaubst du, was wir hier drinnen bewirken können?“, konterte Darlia und stand auf. April zuckte die Schultern.

„Da draußen werden wir jedenfalls ohne Waffen sofort getötet“, entgegnete sie.

Justine stand im Hintergrund an die Wand gedrückt da, als es plötzlich an der Tür rüttelte. „Lasst uns rein!“, rief Zachary durch die Tür. April zögerte nicht einen Moment und öffnete wieder die Tür. Darlia fragte sich, ob sie gerade das richtige taten, doch noch bevor sie zu einer Entscheidung kam, stürzten Zach und Gregory herein, die den verletzten Alistair stützten.

„Tür zu! Schließ die Tür!“, rief Gregory April zu, während er und Zach Alistair zu Boden sinken ließen. Er hatte eine blutende Wunde am Hals und presste beide Hände darauf. Darlia wollte auf ihn zustürzen und ihm helfen, doch er hielt sie von sich fern, als sie beide Hände auf die Wunde pressen wollte.

„Gib mir nur ein Tuch“, presste er mit schmerzverzerrtem Gesicht zwischen den Lippen hervor. „Nicht, dass du dich ansteckst.“

„Hat dich einer gebissen?“, fragte Darlia, als sie Alistair ein Tuch reichte, welches dieser auf die Wunde drückte. Er gab ihr keine Antwort, stieß nur ein heiseres Zischen zwischen den Zähnen hervor, als er das Tuch auf die klaffende Wunde drückte.

April hatte in der Zwischenzeit den Riegel vor die Tür geschoben. Mit ihrem ganzen Gewicht warfen sich die Infizierten gegen die Holztür, doch diese hielt der Wucht stand und ließ ihre Insassen aufatmen.

„Wie viele sind es?“, wollte April wissen.

„Ein knappes Dutzend, die meisten davon haben wir erledigt“, teilte Zach ihr mit.

„Wie viele sind noch da draußen?“, fragte April.

„Drei oder vier“, antwortete Gregory.

„Alistair ist verletzt“, unterbrach Darlia die drei. Die Köpfe der anderen fuhren zu ihnen herum.

„Was ist passiert?“, fragte Gregory. „Wurdest du gebissen?“

Alistair antwortete nicht. Sein Blick blieb auf den Boden geheftet und er drückte weiterhin stumm das Tuch auf die Wunde, um die Blutung zu stoppen.

„Verdammt, Alistair, sag endlich was!“, fuhr Gregory ihn an. „Wurdest du gebissen?“

„Ja, er hat mich gebissen“, erwiderte Alistair in demselben, aufgebrachten Tonfall, wie Gregory. „Ich habe ihn nicht kommen sehen, da hat er mich erwischt.“

Eine Weile lang schwiegen sie alle, wohl wissen, was der Kontakt mit Blut oder Speichel eines Infizierten nach sich zog. Es war fast ausgeschlossen, dass Alistair nicht infiziert war.

„Was sollen wir machen?“, fragte Justine.

„Wenn er hier drinnen bleibt, wird er uns früher oder später töten“, sagte Gregory, als wäre Alistair gar nicht da. Alistair wollte protestieren und etwas erwidern, doch er schloss den Mund, ohne etwas zu sagen. Er zitterte.

„Wir können ihn nicht rausschicken“, entgegnete Zachary. „Dort draußen werden sie ihn töten.“

„Er wird auch hier drinnen sterben“, erinnerte Gregory ihn.

„Ihr müsst mich erschießen“, ergriff Alistair das Wort. Er biss sich fest auf die Lippe und schloss die Augen. „Das ist der einzige Weg.“

Vielleicht gibt es ein Heilmittel“, gab Darlia zu bedenken, doch April schüttelte den Kopf.

„Es gibt kein Heilmittel“, sagte sie bestimmt. „Man kann den Zerfall des Gehirns nicht aufhalten.“

„Dann erschießt mich“, bat Alistair wieder. „Es geht nicht anders.“

„Was, wenn es vielleicht doch ein Heilmittel gibt?“, fragte Darlia April. „Willst du dafür verantwortlich sein, dass wir einen von uns töten?“

Darauf erwiderte April nichts, auch wenn Darlia wusste, dass sie sie nicht überzeugt hatte.

„Wir werden niemanden töten“, sprang auch Zach ihr zur Seite. „Es gibt mit Sicherheit einen anderen Weg. Und wir werden es sicher nicht heute Abend entscheiden.“

Er sah zu Alistair, der das Tuch jetzt von der Wunde genommen hatte. Sie hatte fast aufgehört zu bluten, erstaunlich schnell für einen so tiefen Biss, nur noch helles Blut sickerte aus der Wunde, vermischt mit Wundsekret.

„Wir sollten schlafen. Auch du“, wandte Zachary sich an Alistair. „Du musst dir keine Sorgen machen. Dir wird hier niemand etwas tun.“ Damit sah er in die Runde und Darlia wusste, dass das eine unausgesprochene Drohung war. Sollte jemand heute Nacht das Problem selbst in die Hand nehmen wollen, würde er es mit Zachary zu tun bekommen.

„Ihr seid nicht diejenigen, vor denen ich Angst habe“, murmelte Alistair halblaut und lehnte sich an die Wand der Hütte.“

„Ich übernehme die erste Wache“, sagte Gregory und griff sein Gewehr, auf welches er sich während des Gesprächs gestützt hatte.

„Nein“, widersprach Alistair. „Ich mach es. Solange ich euch noch helfen kann, will ich es machen.“

Gregory wollte widersprechen, doch Zachary stimmte zu, bevor er etwas sagen konnte.

„Na schön.“

Es viel Darlia schwer, Schlaf zu finden, obwohl sie müde gewesen war, doch sie war in Gedanken beim Morgen und bei der Entscheidung, die sie dann treffen würden. Als sie einschlief, dauerte es nicht lange, bis sie von einem Schuss geweckt wurde.

Sei fuhr auf und sah sich um, auch die anderen waren wach geworden.

Alistair saß zusammengesunken an eine Holzwand gelehnt, in der rechten Hand die Pistole von Gregory, aus seiner Schläfe lief Blut. Er hatte ihnen die Entscheidung abgenommen und sein Schicksal selbst in die Hand genommen.

 

Kapitel 12: Warten

Sie konnten Alistair unmöglich in der Hütte liegen lassen, doch mit einem Blick aus dem Fenster stellten sie fest, dass sich die wenigen Infizierten, die noch übrig waren, noch nicht von der Hütte entfernt hatten.

„Es sind noch vier Stück“, teilte Gregory Zach mit. „Wenn wir jeder zwei erschießen, bevor sie zur Hütte gelangen, haben wir sie erledigt.“

Zach griff nach seinem Gewehr und ging zum Fenster. „Jeder zwei also“, sagte er und legte an. Auch Gregory zielte. Als einer von ihnen in ihr Sichtfeld kam, schossen sie durch die zerbrochenen Scheiben de Hütte.

„Den ersten hab ich“, erklärte Zach den anderen und lud nach, doch der Schuss hatte die Aufmerksamkeit der restlichen drei infizierten erregt. Sie kamen jetzt von den Seiten angelaufen und sahen ihre Beute durch die zerstörten Fenster, was sie rasend machte. Darlia wusste, dass die brüchigen Fensterscheiben sie nicht abhalten würden.

„Schieß“, befahl Zach Gregory, doch dieser verfehlte in seiner Hast den auf sie zurasenden Zombie. Auch der zweite Schuss ging daneben. „Schieß, verdammt!“, brüllte Zach und feuerte ebenfalls einen Schuss ab, der den infizierten in der Schulter traf, jedoch nicht bremste. Zu dritt stürmten sie auf das Fenster zu und gerade, als einer von ihnen im Begriff war, durch das Fenster in die Hütte zu klettern, traf ihn ein Schuss. Justine hatte das Gewehr Alistairs genommen und den Zombie außer Gefecht gesetzt, während die Jungen zurückgewichen waren, um den blutigen Fängen der Infizierten zu entkommen.

Ein zweiter erklomm das Fenster und wurde von Gregory mit einem Schuss in den Kopf getötet. Als der dritte und letzte jetzt durch das Fenster kletterte, drückte Justine erneut ab, doch es kam nur ein leises Klicken, das verkündete, dass das Magazin leer war.

Bevor einer der Jungen zielen konnte, hatte der Zombie Gregory das Gewehr entwunden und es weggeschleudert, um sich dann auf ihn zu stürzen. Zach zielte auf ihn, doch er konnte nicht schießen, ohne Gefahr zu laufen, Gregory zu töten.

„Schieß, Zach!“, schrie dieser, als der Infizierte ihn zu Boden geworfen hatte und er mit bloßen Händen den Mund des geifernden Angreifers von seiner Kehle fernhalten musste. Die anderen waren wie erstarrt vor Angst, wussten nicht, wie sie helfen sollten und einen Moment glaubte Darlia, dass dieser eine Zombie sie jetzt alle töten würde, als er plötzlich glucksend und keuchend zusammenbrach und auf Gregory zu liegen kam.

Darlia sah zu Zach, um zu sehen, ob dieser geschossen hatte, doch sowohl er als auch Justine, die einzigen beiden Bewaffneten, waren genauso erstaunt wie sie.

„Ist es tot?“, fragte Justine und trat näher, als Gregory den stinkenden Leichnam von sich schob.

„Bist du verletzte?“, wollte April wissen, doch Gregory schüttelte den Kopf.

„Was ist passiert?“, fragte Zach und stieß mit dem Gewehrlauf den leblosen Körper an. Er wies mehr Spuren der Verwahrlosung und Verwesung auf, als die vorherigen.

„Vielleicht ist es der Virus“, murmelte April.

„Was?“, fragte Darlia. April fuhr zu ihr herum. „Der Virus zerstört das Gehirn. Er frisst sich langsam hindurch. Zuerst fallen Moralvorstellungen weg, dann zivilisiertes Verhalten, bis nur noch die untersten Triebe bestehen: In erster Linie Hunger. Aber warum sollte der Virus nun halt machen?“ Sie kniete sich neben den Toten und begutachtete ihn, jedoch ohne ihn zu berühren.

„Er frisst sich weiter hindurch und irgendwann stirbt der Betroffene“, erklärte sie den anderen.

„Dann wird sich das Problem von allein lösen?“, fragte Darlia sie. April zuckte mit den Schultern und nickte dann.

„Hoffen wir es“, sagte sie.

Sie begruben Alistair draußen, auf dem freien Feld, während Zach und Gregory abwechselnd Wache hielten, doch kein weitere Infizierte kam in Sicht, bis sie fertig waren. Anschließend gingen sie wieder in die Hütte und ließen sich dort nieder. April verteilte etwas eintopf, doch die Stimmung war bedrückt.

„Wenn sie wirklich irgendwann einfach sterben“, wollte Zach wissen und sah zu April, „was tun wir dann jetzt?“

April lehnte sich mit dem Kopf gegen die Wand und schloss ergeben die Augen.

„Warten.“

 

 

Ende

 

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Tag der Veröffentlichung: 31.10.2015

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