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Somewhere

Der nasse Asphalt glänzte dunkel im Licht der Straßenlaternen. Die Räder des Zuges ratterten über die Schienen, der Zug wurde langsamer, als das Bahnhofsgebäude in Sichtnähe rückte und schließlich stand er. 

Die Türen öffneten sich und Menschen stiegen aus. Sie zogen ihre Koffer hinter sich her, begrüßten ihre Freunde und Verwandten, die sie trotz der späten Stunde im Regen am Bahnhof abholten. 

Das Glas der Fensterscheibe war kühl, als das dunkelhaarige Mädchen seinen Kopf dagegen lehnte und nach draußen sah. 

Die Beine hatte sie übergeschlagen und der Koffer drückte gegen ihre Schienbeine, als sie sich anders hinsetzte. Sie sah auf, als sich die Tür zum Abteil öffnete und sich ein Junge gegenüber von ihr auf den freien Sitzplatz sinken ließ. 

Das Mädchen musterte ihn aus den Augenwinkeln, während dieser ein Buch aufschlug und darin zu lesen begann. Unter den dunklen Haaren blitzten dunkelbraune Augen hervor, die die Seiten des Buches verschlangen. 

Das Mädchen strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah wieder aus dem Fenster, als der Junge aufblickte und sich ihre Blicke trafen. 

Draußen hatte es wieder zu regnen begonnen, die Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheibe und liefen die Scheibe entlang nach unten bis zum Rand des Fensters. 

Müde ließ das Mädchen seine Stirn wieder gegen die kühle Fensterscheibe sinken. Seit nunmehr zwei Wochen hatte sie ihren Schulabschluss. Nur mit einem Koffer und tausend Dollar in der Tasche war sie aufgebrochen. Als ein Mädchen, das aus einer Kleinstadt in der Nähe von Chicago kam, hatte sie bisher kaum etwas von der Welt gesehen, doch das wollte sie nun ändern.

Keine drei Tage nach der Abschlussfeier hatte sie ihre Koffer gepackt, sich von ihren Eltern verabschiedet und war in den ersten Zug gestiegen, der am Bahnhof gestanden war. Sie hatte beschlossen, einfach irgendwo hin zu fahren, in einem Hotel zu schlafen, wenn sie ein Zimmer bekam, oder, sollte dies nicht der Fall sein, die Nacht am Bahnhof zu verbringen. Wann sie zurück sein würde, wollten ihre Eltern wissen, wo sie sich aufhielt, mit wem sie unterwegs war. „Allein“, war alles gewesen, was sie gesagt hatte. Sie wusste nicht, wohin sie wollte, wen sie treffen würde und wann sie zurücksein würde. Damals hatte sie vorgehabt, spätestens in ein oder zwei Wochen wieder nach Hause zu gehen. Jetzt jedoch hatte sie kurzfristig beschlossen, sich wieder in einen anderen Zug zu setzen und zu warten, wohin er sie bringen würde.

Eine Haltestelle wurde angekündigt, und als das Mädchen sah, wie der Junge ihr gegenüber sein Buch in seine Tasche packte und seinen Koffer griff, stand sie ebenfalls auf.

Der Zug wurde langsamer, es ruckelte unsanft, dann blieb er stehen. Der Junge ließ ihr den Vortritt, als sie das Abteil verließen und sie zog den Koffer den engen Gang entlang. Unsicher, wohin sie sich wenden sollte, blieb sie vor einer der Türen stehen, der Junge stellte direkt hinter ihr seinen Koffer ab und hielt sich an einer der Haltestangen fest.

Die Türen öffneten sich und sie stieg aus, der Junge folgte ihr. Während sie jedoch kurz an den Bahngleisen stehen blieb und überrascht über den kühlen Abendwind ihre Jacke enger um sich zog, wandte sich der Junge sofort in eine Richtung und ging los. Das Mädchen warf schnell die Haare über die Schulter, dann folgte sie ihm.

Es war schon dunkel, wie spät es war, wusste sie nicht. Der Junge verließ zielstrebig den Bahnhof und eine Weile lang wusste das Mädchen nicht, was sie machen sollte. Weshalb war sie ihm überhaupt gefolgt? Mit Sicherheit würde er von jemandem abgeholt werden, von seinen Eltern, einem Freund – oder vielleicht von seiner Freundin? Was hatte sie sich erwartet?

Als der Junge kurz verunsichert stehen blieb und sich umsah, hielt auch das Mädchen an und stellte den Koffer ab. Kurz trafen sich ihre Blicke und sie packte schnell wieder den Griff des Koffers. Es war ihr unangenehm, dass sie entdeckt worden war. Sie fühlte sich, als würde sie ihm heimlich hinterherschleichen.

Schnell überquerte sie eine Straße und ging auf der anderen Straßenseite ziellos die Straße hinab. Jetzt brauchte sie eine Unterkunft für die Nacht, und das möglichst schnell. Viel Auswahl würde sie nicht mehr haben, denn es war schon spät. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Es war schon nach Mitternacht. Sie hatte gar nicht gewusst, dass die Zugfahrt so lange gedauert hatte. Wo war sie überhaupt?

Sie hatte nicht darauf geachtet, wie die Haltestelle hieß, an welcher sie ausgestiegen war. Obwohl es spät war, war die Straße alles andere als leer. Über ihrem Kopf blinkte Leuchtreklame, die Schaufenster waren zwar vergittert, doch man konnte dennoch hineinsehen. Sie beeilte sich, denn jetzt begann es etwas zu regnen. Mit schnellen Schritten zog sie ihren Koffer hinter sich her, sie bog in eine Straße ab, ohne auf einen Straßennamen zu achten oder sich irgendwelche Gedanken darüber zu machen.

Sie war nie in einer größeren Stadt gewesen, bis sie jetzt vor zwei Wochen losgezogen war. Sie war in Chicago gewesen, später in Springfield und dann war sie mit dem Zug immer weiter nach Westen gefahren. In Springfield hatte sie eine Zeit lang als Kellnerin gearbeitet und jetzt überlegte sie sich, ob sie vielleicht auch hier einen Job finden konnte. Ein paar Tage, vielleicht auch eine Woche und dann weiter. Vielleicht noch etwas weiter in den Süden.

Das Mädchen hielt den Blick gesenkt, während sie durch die Straßen eilte. Die Straßenlaternen warfen ein spärliches Licht auf die nassen Straßen. Sie hoffte, dass es bald aufhören würde, zu regnen, denn sie wusste nicht, wie lange sie noch durch die nächtlichen Straßen würde laufen müssen.

Entlang der Straße standen Frauen in kurzen Röcken und Hosen, mit Netzstrumpfhosen und viel zu weit ausgeschnittenen Oberteilen, die ihre Figuren betonten. Sie lachten und rauchten, schienen freundlich, trotzdem hatte das Mädchen ein ungutes Gefühl in der Gegenwart der Prostituierten. In der Kleinstadt, aus der sie kam, gab es keine Bordells oder Straßenstrichs. Zwar hatte sie in Chicago und in Springfield Begegnungen mit diesen Etablissements gemacht, doch hier war es dunkel und kalt und sie fühlte sich unsicher.

Am Ende der Straße sah sie ein Schild, das ein Gasthaus ankündigte. Das Mädchen unterdrückte den Impuls, zu rennen und lief mit gemäßigten Schritten weiter. Der Regen wurde stärker, doch sie trug nur ihre Jeansjacke ohne eine Kapuze, die sie über die Haare ziehen konnte. Als sie schließlich unter das Dach vor dem Gasthaus trat, waren ihre dunklen Haare nass und klebten an ihrem Gesicht.

Sie strich sich die nassen Strähnen hinter das Ohr, bevor sie die Tür öffnete. Der Geruch von Zigarettenrauch schlug ihr entgegen, als sie eintrat. Bei genauerem Hinsehen handelte es sich hier eher um eine Bar, als um ein Gasthaus. In der Ecke stand auf einer kleinen, improvisierten Bühne ein Sänger mit einer Gitarre und sang langsame, melancholische Lieder in ein Mikrofon, welches seine Stimme über die Lautsprecher im ganzen Raum verteilte. Die Luft hier drinnen war etwas stickig, doch es war trocken, weshalb das Mädchen nicht zögerte, einzutreten.

Sie fragte sich, ob es ihr hier möglich war, ein Zimmer zu bekommen, als sie ihren Koffer über den alten Holzboden zog und zur Bar schlich. Sie setzte sich auf einen Barhocker und zog den Koffer zwischen ihre Beine. Aufmerksam sah sie sich um, suchte die Bar ab, doch die meisten Menschen hier waren mit ihren Gesprächspartnern beschäftigt und schenkten ihr keine Aufmerksamkeit.

Sie bestellte nur eine Cola, als der Barkeeper zu ihr kam. Als sie einen kleinen Schluck genommen hatte und den Barkeeper nach einem Zimmer fragen wollte, öffnete sich die Tür und sie drehte sich um.

Der Junge trat ein, seine dunklen Haare waren ebenso nass, wie ihre eigenen und sie hielt die Luft an, als er sich neben sie auf einen Barhocker setzte. Anstatt den Blick auf die Theke zu richten, wie sie es getan hatte, sah er sie an und sprach sie an. Sie wusste erst nicht, wie sie reagieren sollte, doch er bestellte sich ebenfalls eine Cola und setzte ihre Unterhaltung dann fort. Sie tauschten die Namen aus, er erzählte ihr, dass er aus Detroit kam und sie erzählte von ihrem Geburtsort. Als sie ihr Glas leergetrunken hatte, bestellte er ihr ohne zu fragen noch eine Cola, was sie etwas erröten ließ.

Er strich sich durch die nassen Haare und wischte seine feuchte Hand an seiner Hose ab. Kurz redete er über das Wetter draußen, dann jedoch wechselt er schnell das Thema. Er fragte sie, ob sie tanzen wollte und nach einem kurzen Zögern nickte sie.

Selbstbewusst nahm der Junge ihre Hand und zog sie auf die Tanzfläche. Die Musik war schön und sanft, das Lied langsam, sodass sie fast nicht anders konnten, als eng miteinander zu tanzen. Sie war müde und als sie schließlich vorsichtig den Kopf gegen seine Brust sinken ließ, legte er sein Kinn auf ihre Haare.

Es war spät in der Nacht, als ihr Tanzpartner den Barkeeper nach einem Zimmer fragte. Dieser gab ihm den Schlüssel und der Junge zahlte sofort. Als er ihr einen Blick zu warf, wusste sie sofort, was er sie fragen wollte. Sie teilten sich die Rechnung für den Abend, die Getränke, ebenso wie das Zimmer.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als die beiden eng aneinander gekuschelt wieder aufwachten. Sie packten ihre Koffer und gingen gemeinsam zum Bahnhof. Dort angekommen tauschten sie die Handynummern aus und umarmten sich.

Ihr Zug stand schon am Bahnhof und sie hörte eine Durchsage, die sie zum Einsteigen aufforderte, doch sie wollte in diesem Moment gar nicht gehen. Er küsste sie zum Abschied auf den Mund, während sie sich fragte, ob sie sich jemals wieder sehen würden. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, drückte er zum Abschied ihre Hand und kurz bevor sich ihre Finger verloren, sagte er leise mit einem Lächeln im Gesicht: „Man sieht sich immer zwei Mal im Leben.“

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.05.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Vielen Dank für das Cover! Es ist wunderschön geworden und wurde von Wolf erstellt!

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